Kurzgeschichten
Hier findet ihr viele schöne und interessante Kurzgeschichten zur WoW-Welt.Der dunkle Spiegel von Steve Danuser
Nathanos Marris schloss die Augen und atmete tief durch die Nase ein, die schon unzählige Male gebrochen worden war. Ein Hauch von Herbst hing in der feuchten Luft und vermischte sich mit dem Duft der Wildblumen, die zwischen den Steinplatten des Weges erblühten. Es war ein guter Duft, vertraut und erdig. Er wollte niemals auf ihn verzichten müssen.
Die Stiefel der Waldläufergeneralin machten kein Geräusch, als sie an ihn herantrat. Wie immer trug Sylvanas Windläufer den Geruch der Rosengärten mit sich, die in der Stadt der Hochelfen in voller Blüte standen. Diesen Duft würde Nathanos überall wiedererkennen.
Eine Weile stand der Mensch regungslos da, um im Stillen die Anwesenheit der Elfe möglichst lange auszukosten. Um sie herum sangen Vögel im Sonnenuntergang und das leise Blöken einiger Schafe drang von der anderen Seite des Holzzauns zu ihnen herüber, den er als Junge mit seinem Vater errichtet hatte.
Er öffnete seine Augen. Von dieser kleinen Anhöhe aus konnte er auf Marris' Siedlung hinabblicken: auf das Haus, in dem er sein ganzes bisheriges Leben verbracht hatte, die Scheunen, die bald winterfest gemacht werden mussten, den Weizen, dessen Ernte bevorstand.
Sein Zuhause.
Nathanos liebte diesen Anblick. Er war stolz. Vielleicht ließ er den Augenblick deshalb noch ein wenig andauern, bevor er sein Bestes gab, ihn zu ruinieren.
„Du solltest nicht hier sein“, knurrte er.
„Begrüßt man so seine Kommandantin?“, gab Sylvanas zurück und wandte sich ihm zu. Obwohl ein Lächeln ihre Lippen umspielte, lag etwas Bestimmendes in ihrem Blick, das Autorität ausstrahlte. Sie trug eine Rüstung aus blau gefärbtem Leder und einen kunstvoll verzierten Bogen auf dem Rücken. Mit seiner verschlissenen Arbeitskleidung und dem zerzausten Bart kam er sich neben ihr wie ein Landstreicher vor.
Er schüttelte den Kopf. „Du weißt genau, was ich meine, Sylvanas. Seit du mich zum Waldläuferlord ernannt hast, macht sich Unmut unter den Weltenwanderern breit. Diese Besuche sind nicht unbemerkt geblieben – und deine ach so noblen Waldläufer tratschen fast noch schlimmer als Waschweiber.“
Sylvanas streifte ihre tiefblaue Kapuze zurück und das lange, blassgoldene Haar ergoss sich über ihre Schultern. „Ich wuste ja gar nicht, dass es dich interessiert, was andere von dir denken.“ Er hörte den feinen Hohn in ihren scheinbar mitfühlenden Worten, der wohl seine Entschlossenheit auf die Probe stellen sollte.
Seine Zähne knirschten vor Anspannung. Es ärgerte ihn, dass Sylvanas seine schroffe Art bereits so vertraut war, dass sie völlig unbeeindruckt davon blieb. „Mir ist es gleich, was man über mich erzählt. Du aber bist ihre Anführerin und du kannst es dir nicht erlauben, ihren Respekt zu verlieren.“
Sylvanas strich Nathanos eine Strähne seines rostbraunen Haars aus dem Gesicht. „Als Waldläufergeneralin ist es meine Pflicht, die Berichte meiner Späher im Feld einzuholen. Und da du dich lieber in die Wildnis Lordaerons zurückziehst, anstatt in Quel'Thalas deinen Dienst zu verrichten, bin ich dazu gezwungen, hin und wieder nach dir zu sehen.“
Er zuckte die Schultern. „Es ist besser, wenn ich Abstand wahre. Mir fehlt die Geduld für die Machtspielchen in deiner Stadt. Hier kann ich … atmen. Ich lege Wert auf die einfachen Dinge im Leben, und die würde ich im Schatten eurer uralten Türme vergeblich suchen.“
„Lor'themar zufolge versteckst du dich hier nur vor Vergleichen mit elfischen Bogenschützen“, sagte sie mit hochgezogener Augenbraue.
„Lor'themar Theron ist ein Narr! Das Gewand eines Politikers stünde ihm besser als das eines Waldläufers. Mit seinen Schießkünsten könnte ich es jederzeit aufnehmen, Pfeil um Pfeil.“ Nathanos wollte noch mehr sagen, doch er biss sich auf die Zunge. Sein Ärger belustigte sie und er weigerte sich, ihr noch mehr Genugtuung zu verschaffen.
„Es erleichtert mich, die Gründe für deinen Rückzug zu erfahren. Ich hatte bereits befürchtet, dir wäre meine Gesellschaft lästig geworden.“ Die untergehende Sonne ließ Sylvanas' ebenmäßige Gesichtszüge aufleuchten und ihre graublauen Augen funkelten im goldenen Licht. Das Ergebnis war so vollkommen, dass er hätte schwören können, es müsse sich um einen Zauber handeln, den sie immer perat hielt, um Gesprächsverläufe in ihrem Sinne zu lenken oder einen Rivalen abzulenken.
Und natürlich verfehlte er nicht seine Wirkung. Bevor er sich selbst davon abhalten konnte, gab er ihrer Eitelkeit nach.
„Es ist nicht so, als hätte ich dich nicht gerne um mich, Sylvanas. Doch dein Volk braucht seine Generalin – in diesen dunklen Zeiten mehr denn je.“
Die Elfe runzelte die Stirn. „Dein Wunsch wird sich schon bald erfüllen. Ich werde mich mit meiner Schwester Alleria treffen. Sie glaubt, dass es die Orcs auf Quel'Thalas abgesehen haben und einen Angriff auf unsere Heimat planen. Sollten sich ihre Befürchtungen bestätigen, könntest auch du zur Verteidigung der Stadt nach Silbermond zurückbeordert werden, ganz gleich ob du nun möchtest oder nicht.“
Er fasste sie am Arm und zog sie an sich heran. „Sylvanas, du weißt, dass ich meine Pflicht erfüllen werde und –“
Bevor er den Satz beenden konnte, hörten sie aufgeregte Rufe von der anderen Seite des Feldes. „Nathanos!“, rief ein Junge, während er mit wedelnden Armen durch die auseinanderstiebende Schafherde lief. Als er nur noch wenige Meter von den beiden Waldläufern entfernt war, sah er die Hochelfe und riss vor Staunen den Mund auf. Bei seinem Versuch, über den Zaun zu klettern, stürzte er fast zu Boden und kam nur knapp vor ihren Füßen zum Stehen.
„Waldläufergeneralin Sylvanas Windläufer,“ begann Nathanos förmlich, „darf ich Euch meinen Cousin Stephon Marris vorstellen. Er ist zwar erst neun Jahre alt, aber wie Ihr sehen könnt, stehen seine mangelnden Umgangsformen den meinen bereits in Nichtsnach.“ Stephon errötete und Nathanos sah ihn streng an, um ein Grinsen zu verbergen. Er mochte den Jungen, dessen Haare und Gesichtszüge den seinen so sehr ähnelten. Er erinnerte ihn ständig daran, wie es war, in einer Welt zu leben, die einen tagtäglich mit neuen Wundern überraschte.
„Unsinn, Nathanos.“, sagte Sylvanas und kniete sich mit einem freundlichen Lächeln auf Augenhöhe zu dem Jungen. „Ich bin mir sicher, dass aus ihm eines Tages ein zuvorkommender junger Mann werden wird – unabhängig von Eurem schlechten Einfluss.“
„Ihr ... Ihr seid eine Waldläuferin? Wie mein Cousin?“, stammelte Stephon mit aufgerissenen Augen.
"Nein, Junge. Sylvanas ist weit mehr als das. Sie befehligt alle Waldläufer in diesen Landen!", entgegnete Nathanos.
Stephon blickte ehrfürchtig von einem zur anderen und überlegte fieberhaft, was er antworten sollte.
Die Hochelfe neigte ihren Kopf und flüsterte leise in das Ohr des Jungen, als wollte sie ihm ein Geheimnis verraten: „Möchtest du auch ein Waldläufer werden, wenn du groß bist?“
Der Junge schüttelte entschlossen den Kopf. „Ich will ein Ritter sein, mit einer glänzenden Rüstung und einem riesigen Schwert und einem eigenen Schloss! Ich will nicht im Wald leben oder auf Bäume klettern und mit Pfeilen schießen.“ Er erstarrte vor Schreck. „Ich wollte nicht sagen, dass Waldläufer ... Ich meine ... Euch zu dienen wäre eine Ehre, Generalin!“
Sylvanas entfuhr ein leises Lachen, sanft und melodisch. Nathanos seufzte. „Stephon, es wird spät. Geh lieber nach Hause und belästige nicht meine Kommandantin.“
Bevor der Junge davonlaufen konnte, fasste ihn Sylvanas mit einer fließenden Bewegung am Handgelenk. „Nimm das und verwahre es“, sagte sie und drückte ihm eine Goldmünze in die Hand, „bis dein Cousin findet, dass du alt genug für dein erstes Schwert bist.“
Stephons Augen leuchteten auf, als wollten sie mit der untergehenden Sonne konkurrieren. „Danke! Vielen Dank!“ Er sprang auf, kletterte über den Zaun und rannte zurück über die Wiese. Blökende Schafe flüchteten auseinander, um seinem Ansturm Platz zu machen. „Ein eigenes Schwert, ein eigenes Schwert!“, rief er in den Abendhimmel.
„Na großartig“, brummte Nathanos verdrossen und strich sich durch den Bart. „Jetzt wird er mir tagtäglich damit in den Ohren liegen.“
Sylvanas wartete mit ihrer Antwort, bis Stephon hinter dem Hügel verschwunden war. „Er braucht einfach jemanden, der an ihn glaubt. Wie wir alle von Zeit zu Zeit.“ Nathanos vernahm einen wehmütigen Klang in ihrer Stimme und fragte sich, wie sie wohl in ihrer Kindheit gewesen sein musste.
Für eine Weile beobachteten sie still die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Erst als das Zirpen der Grillen den Gesang der Vögel ablöste, brach er das Schweigen.
„Wann brauchst du auf?“
Sie schenkte ihm den Hauch eines Lächelns. „Im Morgengrauen, denke ich. Es ist spät und Ihr schuldet Eurer Waldläufergeneralin eine Mahlzeit ... und etwas Gesellschaft.“ Sie ging auf das Haus zu. Im Vorübergehen streiften ihre Fingerspitzen leicht seinen Handrücken.
Für einen Moment dachte er an die ewigen Ränkeschmiede Silbermonds, das verächtliche Grinsen Lor'themar Therons und die drohende Gefahr durch die näher rückenden Armeen der Horde. Ein Teil von ihm sehnte sich nach einem ruhigeren Leben. Ein Leben auf dem Land, wie es sein Vater und Großvater vor ihm geführt hatten. Er könnte den Weltenwanderern den Rücken kehren und hier in der Siedlung in Frieden leben. Zuhause sein. Doch dafür würde er etwas aufgeben müssen, was sehr viel kostbarer war als sein Rang bei den Weltenwanderern.
Als er seine Schritte entlang des ausgetretenen Pfads in Richtung des Hauses lenkte, wusste er, dass er seine Entscheidung getroffen hatte. Zum Teufel mit der Politik. Zum Teufel mit der ganzen Welt! Er hatte Sylvanas ein Versprechen gegeben und um nichts in der Welt würde er von ihrer Seite weichen.
* * *
„Was zögert Ihr, mein Champion?“
Die Ungeduld in Sylvanas' Stimme war nicht zu überhören und riss Nathanos unsanft aus seinen Erinnerungen. Er dachte selten an die Vergangenheit. Es waren die Erinnerungen eines anderen Mannes, dessen Leben bereits vor vielen Jahren sein Ende fand. Alles, was ihn als Mensch ausgezeichnet hatte – sein Zuhause, seine Familie, seine Verpflichtungen – waren in weite Ferne gerückt und hatten jegliche Bedeutung für die Kreatur verloren, die er geworden war. Er war der Pestrufer, ein Verlassener. Und er diente nicht länger der Waldläufergeneralin der Hochelfen.
Er diente der Bansheekönigin.
„Ich verstehe noch immer nicht, wozu das gut sein soll.“ Seine Worte hallten in den dunklen Gewölben des Königsviertels wieder und einen Moment lang war er entsetzt über die dröhnend tiefen Laute, die seinem Mund entwichen. Noch halb in Erinnerung schwelgend hatte ein Teil von ihm erwartet, seine einst menschliche Stimme zu hören. Was für ein sentimentaler Narr er war!
„Das Ritual wird Euch erstarken lassen“, antwortete sie, während sie mit rot glühenden Augen auf der Estrade inmitten der gewaltigen kreisrunden Kammer auf- und ablief. „Und dank des Vorstoßes der Legion in die Territorien der Horde benötige ich einen mächtigen Champion.“
Nathanos wandte seinen Blick von Sylvanas ab und betrachtete die stoische Val'kyr, die hinter ihr schwebte. Die Spannbreite ihrer Flügel maß an die zwanzig Schritt und ihre Spitzen berührten beinahe die gewaltigen Säulen an beiden Enden der Plattform, auf der sie sich alle befanden. Obwohl es in Unterstadt, dem Regierungssitz seiner Königin, nur so von Geistern und grotesken Kreaturen wimmelte, waren es doch die Val'kyr, die ihm als einzige Unbehagen bereiteten. Es war die Ungewissheit dessen, was sich hinter ihren Helmen verbergen mochte, die ihn nicht loszulassen schien. Gerüchten zufolge dienten die eindrucksvollen Vrykulkriegerinnen einst als Wächterinnen der Toten und waren beauftragt, würdigen Seelen ihrer verdienten Ruhe zuzuführen. Doch diese hier war gemeinsam mit ihren Schwestern der Herrschaft des Lichkönigs unterworfen und dazu gezwungen worden, dem Monster eine Armee zu geben, das Sylvanas Windläufer in den Tod gestürzt und sie zu ihrem ruhelosen Dasein als Untote verdammt hatte.
Ein plötzlicher Anflug von Misstrauen ließ ihn innehalten. Hatte seine Königin die richtige Entscheidung getroffen, als sie nach dem Sieg über den Lichkönig diese Kreaturen in ihren Dienst stellte? Sofort schalt er sich für diesen Gedanken und verbannte jeglichen Zweifel aus seinem Bewusstsein. Die Val'kyr hatten ihren Wert bereits unter Beweis gestellt. Ihnen war es zu verdanken, dass sie bereits viele neue Verlassene in den eigenen Reihen hatten begrüßen können. Die Dunkle Fürstin wusste stets, was das Beste war.
Trotzdem ließ er es sich nicht nehmen, sie ein wenig zu provozieren. „Falls Euch meine Stärke als Champion nicht ausreicht, solltet Ihr vielleicht jemand anderen auserwählen.“
Sylvanas Augen loderten blutrot auf. „Warum ziert Ihr Euch so sehr?“ In ihrer Stimme hallte ein Hauch der Zerstörungskraft wider, die das Markenzeichen des Bansheeschreis war. Die Wandbehänge schienen wie vor Ehrfurcht zu erzittern.
Er genoss ihre Frustration, doch er durfte es nicht zeigen.
Nachdem die Dunkle Fürstin einige Momente stillschweigend um Fassung gerungen hatte, fuhr sie fort: „Die Macht der Val'kyr wird meinen Körper über Jahrhunderte bewahren. Doch Eure einst menschliche Erscheinung, wie die all der anderen Verlassenen, wird die Äonen nicht überdauern. Ich möchte Euren drohenden Verfall aufhalten und Euch den Schmerz ersparen, den ich ertragen musste, als ...“
Er nickte, um ihr die verbleibenden Worte zu ersparen. Ihm allein hatte sie von den Dingen erzählt, die sich am Tag nach dem Fall des Lichkönigs ereignet hatten. Wie sie in dem Glauben, endlich ihren Zweck in der Welt erfüllt zu haben, die ewige Ruhe einfordern wollte, die ihr so lange verwehrt worden war. Wie sie ihren Körper die eisigen Klippen der Eiskronenzitadelle hinabgestürzt hatte, nur um am Ende doch lediglich vom unerbittlichen Hunger der Leere heimgesucht zu werden. Auch wenn sie sich geweigert hatte es auszusprechen, kannte er sie gut genug, die wahre Angst in ihr zu erkennen.
Sylvanas war an jenem Tag durch ihren Pakt mit den Val'kyr gerettet worden und dafür – diesen Egoismus musste er sich eingestehen – war er dankbar. Und doch, hätte er seine Königin verloren, wäre mit ihr auch der einzige Grund gestorben, diese Farce eines Lebens fortzuführen. Wäre sie auf ewig den Qualen einer unendlichen Dunkelheit ausgesetzt, so hätte er zumindest sein eigenes Dasein aufgeben und die Verdammung an ihrer Seite ertragen können.
„Vielleicht“, begann er, „solltet Ihr mich einfach ziehen lassen.“
Das Feuer in ihren Augen erlosch. Für eine Sekunde schimmerten ihre Augen in dem grau-blauen Licht früherer Zeiten. Doch im nächsten Moment blickte sie ihn wieder kalt und fordernd an. „Zweimal habe ich euch bereits in meinen Dienst gerufen, Nathanos Pestrufer. Er wird nicht enden, bis ich den Befehl dazu erteile!“
Er sah die Welt durch einen dichten Nebelschleier. Aller Sinn und Verstand war kaltem Hass gewichen. Ein Hass, der sich tief in seinem Geist festgesetzt hatte und dessen Ausläufer weit in sein verdorbenes Wesen hineinreichten. Der Mann, dem dieser Körper in früheren Zeiten gehört hatte, existierte nicht mehr. Sein Blut war auf den Äckern vergossen worden, die er einst sein Zuhause nannte. Doch etwas hatte von seinem Körper Besitz ergriffen und lebte in ihm fort. Diese Kreatur verfügte über keinen eigenen Willen. Der einzige Sinn ihrer Existenz war es, dem Lichkönig zu dienen.
Er wandte sich wieder der halbverzehrten Leiche zu, die vor ihm auf dem Boden lag – sein jüngstes Opfer. Mit den Zähnen riss er ein Stück ihres Halses heraus und sofort überkam ihn ein Gefühl von Stärke. Er erinnerte sich an die Ekstase, die ihn ergriffen hatte, als ihre Schreie langsam verstummt waren und das Leben in den vor Schreck geweiteten Augen erloschen war. Gierig schlang er noch ein Stück herunter, erpicht darauf, das Gefühl ein weiteres Mal zu erleben.
Waren Tage oder bereits Jahre seit seiner Wiedererweckung vergangen? Es machte keinen Unterschied. Zeit war eine Sorge der Sterblichen und das Geschenk seines Meisters hatte ihn von dieser Bürde befreit. Seit seiner Verwandlung verspürte er nur einen einzigen Drang: die Seuche des Untodes im gesamten gefallenen Königreich von Lordaeron zu verbreiten und die Länder, denen sich seine menschliche Seele einst so verbunden fühlte, zu verwüsten. Wäre sein Herz nicht so von Hass und Boshaftigkeit erfüllt gewesen, er hätte wohl laut und ausgiebig über die Ironie seiner Existenz gelacht.
Er beendete sein Mahl und wartete. Er wartete, denn so wollte es sein Meister.
Einen Moment später spürte er sie. Die unheilige Magie, die auch seinen Körper wiederbelebt hatte, regte sich nun auch in ihrem. Voller Ehrfurcht beobachtete er die Verwandlung der Leiche in eine Kreatur der Geißel. Wie er wurde nun auch sie von dem Verlangen getrieben, jeglichem Leben ein Ende zu setzen. Die Angst war aus ihren untoten Augen verschwunden. Stattdessen sah er glühenden Hass darin aufblitzen.
Hätte ihr Kiefer nicht nur an zwei Hautstreifen gebaumelt, hätte sie ihm womöglich ein Lächeln geschenkt. Und vielleicht hätte er es erwidert, wäre nicht plötzlich ein Pfeilregen auf sie niedergegangen. Der Körper seiner neuen Gefährtin sackte zusammen und kam zuckend zum Erliegen.
Er wirbelte herum, um sich den Angreifern entgegenzustellen. Vor ihm erhoben sich drei verhüllte Gestalten. Etwas in ihm erkannte die Art ihrer Waffen wieder, wusste, wie tödlich ein Bogen sein konnte. Doch diese Erinnerungen waren unerheblich. Die flüchtigen Gedanken des Verstorbenen, die noch immer Teil seines Geistes waren, interessierten ihn nicht. Stattdessen loderte Hass in ihm auf und verlangte, entfesselt zu werden.
Gerade als er zum Sprung ansetzen wollte, gab der mittlere der drei Angreifer einen kurzen Befehl. Die Gestalten zu beiden Seiten setzten ihre Bögen an und schwere, stumpfe Pfeile bohrten sich in seine Beine. Er stürzte. Jeder Versuch seinerseits, sich aufzurichten, wurde durch weitere Pfeile vereitelt. Verfluchte Kreaturen! Er hielt nicht inne, um sich zu fragen, wieso sie ihn noch nicht niedergestreckt hatten. Er wollte einzig seine Zähne in ihr Fleisch senken, das zwischen Teilen ihrer dunklen Rüstung zum Vorschein kam. Nach ihrer Wiedererweckung als Diener der Geißel wären ihre Bögen nutzlos. Hass würde ihre Waffe sein, so wie er bereits die seine war.
Er witterte lauernd, um seinen Hunger zu schüren, doch ihr Geruch ließ ihn stutzen. Seine Feinde schienen weder Menschen noch Elfen zu sein. Tatsächlich handelte es sich überhaupt nicht um lebendige Wesen – wie er waren auch sie untot. Aus welchem Grund hielten ihn diese Kreaturen davon ab, den Willen des Meisters zu erfüllen? Angst und Verzweiflung eines waidwunden Tieres ergriffen Besitz von ihm, während ihn Pfeil um Pfeil tiefer in die Knie zwang.
„Nathanos!“
Die Stimme einer Frau rief seinen Namen. Nein. Diesen Namen gab es nicht mehr. Der Mann, dem er einst gehört hatte, war auf den verderbten Ländereien von Marris' Siedlung gefallen. Wie konnte es diese Kreatur nur wagen, die Erinnerung daran zu wecken! Ein heißer Zorn begann, in ihm zu brodeln. Er würde die Widersacherin umbringen. Er würde ihr Fleisch verzehren und sein Verlangen nach Tod und Zerstörung stillen.
Doch etwas in der Stimme dieser Frau ließ ihn innehalten. Sein Name wurde zu einem Befehl. Mit nur diesem einen Wort durchbrach sie die Wut, die seine Seele ersetzt hatte, und ergriff Besitz von ihm.
Nein. Der Hass. Der Wille des Meisters. Er würde diese drei Gestalten dafür umbringen, dass sie dem Lichkönig trotzten!
„Nathanos!“ Sie rief seinen Namen erneut. Ihre Stimme klang wie das Geheul der Banshees, die sein Meister in den Kampf schickte. Er war verwundert über die Kraft, die ihr innewohnte. Handelte sie etwa im Auftrag des Lichkönigs selbst?
„Nathanos!“ Sein Name ertönte ein drittes Mal. Die unbändige Wut, die er noch Sekunden zuvor verspürt hatte, war mit einem Mal wie weggefegt und er begann zu begreifen.
Diese Stimme. Natürlich.
Sylvanas.
Als sie die Kapuze zurückschlug, zeigte sich der kränkliche Schein der Pestländer auf ihren elfischen Gesichtszügen. Die Haut, die einst frisch und voller Leben gewesen war, schien fahl. Das Haar, das einst wie pures Gold geglänzt hatte, fiel ihr matt und stumpf über die Schultern. Und ihre blau-grauen Augen, die ihn in einem anderen Leben so fasziniert hatten, leuchteten in feurigem Rot. Eine Welle der Verzweiflung übermannte ihn, als er begriff, dass auch Sylvanas gefallen war. Doch dieses Gefühl verwandelte sich rasch in Ehrfurcht beim Anblick ihrer majestätischen neuen Form. Zu ihrer beider Lebzeiten hatte Sylvanas das Gebaren einer Königin, doch jetzt im Tode strahlte sie die Macht einer Göttin aus.
Er blickte hinab auf seine Hände. An den knorrigen Fingern klebte noch immer das Blut seines letzten Opfers. Seine Freude über das Wiedersehen mit Sylvanas wich einer tiefen Scham. Der Anblick, den er abgeben musste, erfüllte ihn mit Ekel und mit einem Arm versuchte er sein fauliges Gesicht vor ihr zu verbergen.
„Sylvanas.“ Die Stimme, die aus seinem vertrockneten Mund drang, war ihm fremd und er begriff, dass er seit seinem Tod kein einziges Wort mehr gesprochen hatte. Im Dienste des Lichkönigs hatte er nie sprechen müssen – nur töten.
„Ich bin Euretwegen hier, Nathanos. Schließt Euch mir wieder an.“
Er war es nicht wert, an ihrer Seite zu stehen oder auch nur seinen Blick auf sie zu richten. Doch ihre Macht nahm ihn in seinen Bann und ließ ihn den Arm senken, damit sie ihm in die Augen blicken konnte. „Ihr seht, was ... was aus mir geworden ist“, knurrte er. „Warum solltet Ihr ein Monster wie mich in Euren Dienst erheben wollen?“
Sylvanas winkte ab. „Ich errichte ein neues Königreich, Nathanos. Ein Königreich für die verlassenen Untoten, die aus den Klauen des Lichkönigs befreit wurden. Ihr werdet mein Champion sein und gemeinsam werden wir ihn ins Elend stürzen. Arthas muss für seine Gräueltaten zur Rechenschaft gezogen werden!“
Ein boshaftes Lächeln umspielte seine fahlen Lippen. Der dichte Nebel, der seinen Geist gefangen genommen hatte, war verschwunden. Er würde größten Gefallen daran haben, sich an seinem früheren Meister zu rächen. Noch immer war sein Herz von Wut und Hass verzehrt, doch sein Wille gehörte wieder ihm.
Nein. Nicht ihm.
Er gehörte ihr. Wie es schon immer gewesen war.
Die dunklen Waldläufer um Sylvanas beobachteten ihn mit angespannter Miene, als er sich aufrichtete. Er machte einen Schritt auf sie zu und verneigte sich. „Ich bin der Eure, Dunkle Fürstin. Heute und für alle Zeit.“
* * *
Nathanos blickte auf seine linke Hand herab. Es war noch genug von ihr übrig, um einen Bogen zu fassen und selbst dem ungeschicktesten Schüler beizubringen, wie die Waffe zu handhaben war. Doch er hatte an Kraft verloren, das wusste er. Das Fleisch seines untoten Körpers war einem unweigerlichen Verfall unterworfen und eines Tages würde ihm seine Hand den Dienst verweigern und schlichtweg abfaulen. Welchen Nutzen hätte er dann noch für Sylvanas?
Doch selbst als zerfallende Leiche, so sagte er sich, würde er seine Pflicht erfüllen. „Sagt mir, was Ihr von mir verlangt, meine Königin.“
Sylvanas nickte ihm zu. „Arthas zwang einst die Val'kyr, Todesritter für seine Armee zu erwecken. Dazu benutztn sie ein sehr viel mächtigeres Ritual als das, mit dem sie nun frische Leichen in Verlassene verwandeln. Mit ihren Kräften können sie Euren Körper neu formen und ihn stärker, ... beständiger machen.“
„Könnten die Val'kyr dieses Ritual nicht für alle Mitglieder unseres Volkes durchführen?“, fragte er.
Sylvanas blickte hinter sich in das ausdruckslose Antlitz der geisterhaften Maid. „Es ist ein mühsames Unterfangen, auf das sie sich nur widerwillig einlassen. Ohne die dunklen Kräfte des Lichkönigs, fürchte ich, müssen sie einen Teil ihrer eigenen Essenz zu diesem Zweck opfern.“ Sie wandte sich ihm erneut zu. „Doch es ist mein Wunsch, also wird es geschehen.“
Er trat näher an die Bansheekönigin heran und musterte aufmerksam ihr Gesicht. Er versuchte sich einzureden, dass er sie auch diesmal nur provozieren wollte. Doch das war gelogen. Er wollte weit mehr als das. „Wenn die Val'kyr das Ritual nur ein einziges Mal durchführen können ... wieso habt Ihr dann mich auserwählt?“
Sah er einen Hauch von Schmerz in ihren Augen? Was auch immer es war, im Bruchteil einer Sekunde war es wieder Sylvanas' üblichem resoluten Gesichtsausdruck gewichen. „Ich habe es Euch bereits erklärt. Die Legion stellt eine Bedrohung für uns alle dar. Ich brauche einen Champion, der mir zur Seite steht.“
Es war lächerlich, wie sehr er sich nach ihrer Bestätigung sehnte. Dennoch regte sich etwas in ihm, wann immer sie ihn mit diesem Titel ansprach.
„Dann sagt dieser Kreatur, sie solle sich beeilen“, knurrte Nathanos. „Ich habe Waldläufer auszubilden.“
Sylvanas schenkte ihm den Hauch eines Lächelns, bevor sie der Val'kyr zunickte. Die Kriegsmaid wandte sich um und näherte sich dem Alkoven an der Wand des Thronsaals. Die Königin flüsterte eine Zauberformel, das Mauerwerk teilte sich und gab den Blick auf einen dunklen Gang frei. Es handelte sich um einen von vielen Geheimgängen, mit deren Hilfe sie sich ungesehen durch die Stadt bewegte. Er vermutete, dass sie sogar ihm einige dieser Fluchtwege verschwieg.
Sie bewegten sich durch ein Labyrinth aus einander vielfach kreuzenden Gängen, das potenzielle Attentäter verwirren sollte. Die Val'kyr schien den Weg zu kennen. Womöglich wurde sie von den dunklen Kräften geleitet, die das Magieviertel durchdrangen. Nach einer kurzen Zeit begann auch Nathanos die magischen Schwingungen in der Luft zu spüren.
Sie bogen um eine letzte Ecke und fanden sich in einer Sackgasse wieder. Sylvanas sprach eine kurze Formel und mit einem Wink öffnete sich auch diese Wand. Sie traten durch die Öffnung hindurch.
Zu beiden Seiten der Kammer türmten sich Regale voller Folianten und magischer Instrumente auf, die im Schein der Lampen funkelten. In der Mitte des Raums erblickte er zwei Altäre, auf denen jeweils eine mächtige Steinplatte ruhte. Nur eine von ihnen war leer. Auf der anderen lag ein Mann, geknebelt und an Händen und Füßen gefesselt. Außer einem groben Stück Tuch um die Hüfte war er unbekleidet. Neben dem Unglückseligen lagen Teile einer goldenen Rüstung samt Kriegshammer und Schild. Nathanos erkannte sofort das Zeichen des Argentumkreuzzugs darauf. Abgesehen von der Demütigung durch seine Gefangennahme schien der Mann völlig unverletzt. Nathanos schnalzte anerkennend mit der Zunge. Seinerzeit hatte er unzählige Paladine getötet oder gefangen genommen, doch nur wenige hatten diese Prozedur so gut überstanden wie dieses Exemplar.
Er zeigte auf den Mann und fragte, an Sylvanas gerichtet: „Was ist das?“
„Energie“, entgegnete die Val'kyr mit eisiger Stimme.
Sylvanas umkreiste den Altar des Paladins. „Das Ritual erfordert ein Opfer. Fleisch das ... Eurem verwandt ist.“ Sie kam am Kopfende zu stehen und fixierte Nathanos mit ihrem Blick.
Wollte sie ihn prüfen? Welche Reaktion erwartete sie von ihm? Nathanos trat näher und betrachtete das Gesicht des Mannes genauer. Er meinte, in den ernsten Augenbrauen, dem kantigen Kinn und dem entschlossenen Ausdruck in den Augen des Sterblichen etwas Vertrautes erkennen zu können.
Das Gesicht des Mannes erinnerte ihn an sein eigenes. Damals, als er noch lebte. Sein Dasein als Sterblicher war so lange her, dass er geglaubt hatte, all jene Erinnerungen verloren zu haben. Doch dieser Mann war für ihn wie ein Spiegel seiner Vergangenheit ...
Seine Vergangenheit ...
In diesem Moment kreuzte sein Blick den des Gefangenen. Er las keine Angst in seinen Augen. Nur Verachtung … und anscheinend erkannte er ihn wieder.
Nathanos beugte sich hinunter und löste den Knebel. „Sei gegrüßt, Cousin.“
Stephon blickte ihn voller Abscheu an. „Ich habe zum Licht gebetet, dass du wahrhaftig gestorben seist und dass deine Seele Frieden finden konnte.“ In seinen Worten war Trauer, aber auch Verbitterung.
Nathanos entwich der Hauch eines Lachens. „Sag mir, hast du jemals die Goldmünze ausgegeben, die dir die Waldläufergeneralin gab?“
„Ich habe sie verwahrt“, antwortete der Paladin trotzig. „Ich verwahrte sie nach dem Fall von Stratholme, nach der Verwüstung Lordaerons durch die Geißel ... immer in der Hoffnung, dass mein Cousin wie durch ein Wunder überlebt haben könnte. Ich habe oft versucht, herauszufinden, was aus dir geworden ist. Doch als Antwort erhielt ich immer nur betretenes Schweigen. Schließlich hörte ich die Geschichte eines Scheusals namens Pestrufer. Es hauste in Marris' Siedlung und machte Jagd auf die Helden der Allianz, die wieder Frieden in die Region bringen wollten. Ich fürchtete, dass diese Kreatur für den Tod meines Vetters verantwortlich war und schwor, sie zu richten. Kurze Zeit später lauschte ich zufällig dem Gespräch zweier Flüchtlinge aus Darroheim, die das Monster bei seinem wahren Namen nannten. Erst da begriff ich, was aus dir geworden war.“
Stephon hielt einen Moment inne, ehe er fortfuhr: „An diesem Tag warf ich die Münze in den Fluss.“ Er spuckte auf den steinernen Boden.
Nathanos sagte nichts. Es gab keinen Grund, Stephons Worte abzustreiten. Alles, was er gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Auf Befehl seiner Königin war er auf dem Hof geblieben und hatte ihre Feinde in den Hinterhalt gelockt. Besondere Freude hatte es ihm bereitet, elfische Waldläufer des nördlichen Vorgebirges zu foltern. Sie gehörten zu eben jenen Weltenwanderern, die er einst selbst befehligt hatte. Mit dem Tod erstarrte ihr arroganter Gesichtsausdruck, um sich nach dem Tode in eine furchterregende Fratze zu verwandeln. Ganz gleich, ob er einem gefeierten Helden die Kehle herausriss oder das Herz eines guten Freundes mit Pfeilen durchbohrte, zu keinem Zeitpunkt hatte er Mitleid oder Gewissensbisse verspürt. Er fühlte rein gar nichts. Er hatte seine Pflicht, seine Aufgabe, erfüllt. Und er war gut darin. Seine Siege hatten ihm die Gunst der Dunklen Fürstin geschenkt und in seiner Vorstellung hätte ihm keine bessere Belohnung zuteilwerden können.
Sylvanas legte dem Gefangenen ihre Hand auf die Schulter, woraufhin dieser angewidert zusammenzuckte. „Wie ich erfahren habe, ging Euer geschätzter Cousin, nachdem er seinen Eid als Ritter abgelegt hatte, unweit Eures ehemaligen Hofes in den Pestländern auf Patrouille. Dort hat er eine recht beträchtliche Anzahl unserer Streitkräfte niedergestreckt.“ Als sie sich zu Stephon hinunterbeugte klirrte ihre Stimme mit Eiseskälte. „Ich hätte seinen Tod befehlen können, doch glücklicherweise bin ich nie dazu gekommen. Jetzt wird das Leben dieses Paladins einem höheren Zweck dienen.“
„Ich werde mich Euch niemals anschließen!“, stieß Stephon zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
„Keine Sorge, Cousin“, entgegnete Nathanos mit finsterer Miene. „Dieses Schicksal hat sie dir nicht zugedacht.“
Die Bansheekönigin lächelte. „Nicht ganz.“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stolzierte sie davon.
Während er auf seinen hilflosen Cousin hinabblickte, verspürte Nathanos etwas Ungewohntes in seiner Brust emporsteigen. War es Mitleid? Nein, er wusste, dass er zu diesem Gefühl nicht fähig war. Doch er hasste den Paladin nicht, zumindest nicht mit demselben Hass, den er für die restliche Menschheit empfand. Nein, er fühlte Stolz. Ein Teil von ihm war tatsächlich stolz auf Stephon, der seinen Kindheitstraum verwirklicht hatte. Auch wenn dieser Traum nun ein Ende finden würde.
Nathanos blickte auf und seine Augen suchten Sylvanas' Blick. War das seine wahre Prüfung? Erwartete sie, dass er sie hintergehen würde, um seinen Cousin zu retten? Fragte sie sich, ob er in diesem Moment der Entscheidung alles Bisherige aufgeben würde, um verzweifelt an einem letzten Rest seiner Menschlichkeit festzuhalten?
Aber er hatte überhaupt keine Wahl. Die Launen des Mannes, den er hinter sich gelassen hatte, ließen Nathanos Pestrufer seinen Schwur nicht brechen.
„Dann lasst uns endlich beginnen“, bellte er und schritt auf den leeren Altar zu.
„Das Licht wird mich retten!“, rief Stephon, doch die Verzweiflung in seiner Stimme verriet, dass er von seinen eigenen Worten nicht überzeugt war.
„Hier unten wird dich das Licht nicht finden, mein Junge“, antwortete ihm Nathanos, während er seinen Blick auf Sylvanas richtete. „Gemeinsam werden wir uns der Dunkelheit hingeben.“
Lautlos schwebte die Val'kyr zwischen beide Altäre – auf dem einen ein sich windender Mensch, auf dem anderen ein einsilbiger Untoter. Nathanos starrte die Kriegsmaid grimmig an. Sein Gesicht war eine Maske des Trotzes, hinter der er die in ihm aufsteigenden Zweifel zu verbergen suchte. Mit ausgebreiteten Flügeln und emporgestreckten Armen schien die Val'kyr den gesamten Raum auszufüllen. Mit kehliger Stimme setzte sie zu einem Gesang in einer ihm unbekannten, uralten Sprache an. Es waren entsetzliche Klänge, in denen die Macht des Lichkönigs noch deutlich spürbar war. Die Val'kyr ragte hoch über den Steinplatten auf, als blaue und goldene Blitze aus ihren Händen schossen. Um Nathanos herum verging die Welt in einer Kakophonie aus Feuer und Schmerz.
So viel Schmerz.
Er wusste nicht wie lange es gedauert hatte, aber irgendwann ließen die Schmerzen schließlich nach. Nathanos öffnete die Augen und der Raum, in dem er sich befand, gewann langsam an Form.
In einer Ecke kniete die Val'kyr. Dieses Wesen, noch vor wenigen Augenblicken so gewaltig, so erbarmungslos, schien nun zu einer kleinen und wehrlosen Gestalt zusammengesunken zu sein.
Neben ihm stand die Dunkle Fürstin. „Wie fühlt Ihr Euch, Pestrufer?“
„Tot“, antwortete er trocken. „Doch nicht ganz so tot wie zuvor.“
Er erkannte seine Stimme nicht wieder. Es war weder die kraftvolle Stimme eines lebenden Mannes noch das Krächzen eines langsam verwesenden Leichnams. Es war auch nicht die Stimme einer Banshee und doch war ihr Tonfall gebieterisch.
Sylvanas Augen leuchteten. „Erhebt Euch, mein Champion!“
Er schwang seine Beine über den Rand der Steinplatte und erhob sich. Ihm entfuhr ein unwillkürliches Keuchen, als er auf Beinen zu stehen kam, die sich nicht recht wie seine eigenen anfühlten. Gleich einem Kind, das ein Geschenk auspackt, streifte er den Handschuh seiner linken Hand ab und blickte voll Ehrfurcht auf sie hinab.
Er sah weder Knochen noch verfaultes Fleisch oder zerrissene Muskeln. Es war zwar nicht die Hand eines Lebenden, doch sie war unversehrt und kräftig.
Eine Hand, die dem Champion der Königin würdig ist, entschied er im Stillen.
Vorsichtig betastete er mit den Fingern sein Gesicht. Anstelle von ausgetrockneter, papierdünner Haut, die ihm in Fetzen vom Schädel hing, spürte er wohlgeformte Wangen. Er fuhr die Konturen seines Kiefers entlang und bemerkte einen drahtigen Bart. Erstaunlich! Er hatte beinahe das Gefühl, einen Menschen zu berühren.
Beinahe.
Er drehte sich zu Sylvanas um. „Wie sehe ich aus?“ Er bemühte sich, diese Frage möglichst beiläufig klingen zu lassen. Doch das war sie natürlich nicht.
„Plötzlich so eitel, Pestrufer?“ Sie wirkte belustigt, doch in ihren Worten schwang eine gewisse Freude mit. War es Stolz darüber, der mächtigen Val'kyr ihren Willen aufgezwungen zu haben? Oder genoss sie schlichtweg den Anblick ihres neuen Spielzeugs? Sie führte ihn zu einem großen, ovalen Spiegel, der in einem prächtigen Rahmen an der Wand hing. „Seht selbst.“
Die Waldläufergeneralin von Silbermond hatte zu Lebzeiten eine gewisse Schwäche für Spiegel besessen. Und warum auch nicht? Selbst unter den Hochelfen hatte die zweite der drei Windläuferschwestern als wahre Schönheit gegolten. Unzählige Lords der edelsten Häuser hatten um ihre Hand angehalten und selbst Prinz Sonnenwanderer wurde nachgesagt, dass er sie begehrt hatte.
Doch den Toten nützte ihr Spiegelbild wenig. Es erinnerte die Verlassenen nur unnötig an ihr furchterregendes Aussehen und das faulige Fleisch an ihren Knochen, das allein schon imstande war, Mitglieder der anderen Völker in die Flucht zu schlagen. Die Untoten waren die Personifikation eines unausweichlichen Schicksals, das jedem Lebenden bevorstand. Eines Tages würden ihre Körper unter der Erde verrotten ... sofern sie nicht in den Dienst der Bansheekönigin gerufen wurden.
Dennoch hingen in Sylvanas' Hallen immer noch einige Spiegel an den Wänden. Zwar besaß sie im Tod nicht dieselbe zeitlose Eleganz wie zuvor, doch auch als Wiederauferstandene strahlte sie eine dunkle Schönheit aus, die Nathanos in ihren Bann zog. Selbst unter ihren erbittertsten Rivalen, die in den Königreichen der Lebenden gegen ihre Herrschaft wetterten, gab es Einige, die im Stillen voller Ehrfurcht von der Dunklen Fürstin sprachen. Und obwohl sie es diesen Leuten nie eingestehen würde, ergötzte sich ein längst verdrängter Teil ihrer Persönlichkeit an dieser Aufmerksamkeit.
Nathanos blickte in den Spiegel. Sein Gesicht war hager und von gelblicher Färbung, doch sein Fleisch schien unversehrt. Zum ersten Mal seit seinem Tod stand er aufrecht, anstatt wie ein Greis vornübergebeugt zu sein. Wäre da nicht das rote Glühen seiner Augen, hätte er im fahlen Licht der Unterstadt für einen Menschen durchgehen können.
Er fand Gefallen an seiner Transformation, sah jedoch keinen Grund, es Sylvanas zu zeigen. „Das sollte dem Zweck Genüge tun.“ Für einen Moment verschwand ihr Lächeln und ihre Augen blitzten wütend auf, bevor der zufriedene Blick erneut ihr Gesicht zierte.
„Im Namen Eurer Königin werdet Ihr tausend Dämonen niederstrecken!“, verkündete sie.
Er wusste, dass sie Recht hatte. Seine neugewonnene Stärke würde ihr im kommenden Krieg mehr als dienlich sein. Sollten sie siegen und ihnen das Glück wohlgesinnt sein, könnten sie danach endlich ihren wahren Tod begrüßen und gemeinsam der ewigen Verdammnis entgegentreten.
Dann wurde ihm bewusst, dass dieses Gesicht, das ihm aus dem Spiegel entgegenblickte, nicht vollends sein eigenes war. Er wandte sich zum zweiten Altar um, doch sein Cousin war verschwunden. Bis auf ein Häuflein Asche und mehrere Pfützen einer öligen Flüssigkeit war die Steinplatte leer. Die einst strahlende Rüstung des Paladins lag verschrammt auf dem Boden verstreut. Nur die Überbleibsel eines gefallenen Feindes, sagte sich Nathanos. Ein weiterer Widersacher, mehr nicht.
„Ihr tragt schon zu lange die zerfetzte Kleidung aus Eurem vergangenen Leben“, drang Sylvanas‘ Stimme an sein Ohr. Sie hatte recht. Wieso trug er noch immer dieselbe verdreckte Uniform, die er als Mann ... als Diener der Geißel getragen hatte? War ihm die Hülle seines einstigen Lebens schlicht zu egal, um sie mit einer neuen Rüstung zu schützen? Oder spendete ihm dieses Relikt der Vergangenheit etwa Trost?
Sylvanas gab jemandem hinter Nathanos ein Zeichen. Er drehte sich um und bemerkte zum ersten Mal die dunkle Waldläuferin, die in einer Ecke des Raumes postiert war. Die Bansheekönigin war nicht dumm. Wäre die Zauberformel der Val'kyr fehlgeschlagen, hätte die Bogenschützin ihn ohne größere Probleme niederstrecken können. „Anya, geleitet meinen Champion in die Waffenkammer. Seht zu, dass er eine Ausrüstung erhält, die seiner Stellung würdig ist.“
Mit einer knappen Verbeugung gab die dunkle Waldläuferin zu verstehen, dass sie verstanden hatte und bedeutete Nathanos vorauszugehen. Er nickte Sylvanas zu, als er den Raum verließ. Der Schein der Lampen umschmeichelte ihr Antlitz.
Kurze Zeit später hatten sie die Geheimgänge hinter sich gelassen und bogen in einen längeren Korridor ein, der in den äußeren Ring der Unterstadt führte. Schnell bemerkte Nathanos einen Nachteil seiner neuen Form. Ähnlich seiner anderen Fähigkeiten hatte sich auch sein Geruchssinn verbessert. Als ihnen eine Gruppe von drei Verlassenen entgegentrat, trieb ihm der Gestank des verwesenden Fleisches die Tränen in die Augen. Unmittelbar nach dem Ritual hatte er den Geruch des Todes nicht bemerkt, doch hier, inmitten tausender Untoter, war er schier übermächtig.
Nathanos nahm sich zusammen und ließ die drei passieren. Stillschweigend schwor er, sich nie wieder derart überrumpeln zu lassen.
Falls Anya seinen Anfall der Schwäche bemerkt hatte, kommentierte sie ihn nicht. Stattdessen sagte sie: „Ich habe die Dunkle Fürstin schon lange nicht mehr derart erfreut gesehen. Kaum hatte sie von den Fähigkeiten der Val'kyr erfahren, schickte sie nach Euch.“
„Unsere Königin ist weise“, sagte er zustimmend. „Mit diesem Körper werde ich ihr besser dienen können.“
Anya kicherte. Bei dem Klang lief es ihm eiskalt den Rücken herunter.
„Seid Ihr anderer Meinung?“, blaffte er. Zumindest seinen Jähzorn hatte das Ritual nicht verändert.
„Das ist es nicht“, antwortete sie mit einem Schulterzucken.
„So? Was ist es dann?!“ Er brüllte beinahe, denn die dunkle Waldläuferin war ihm eindeutig zu selbstgefällig.
Sie seufzte. „Ihr habt recht, die Königin verfügt jetzt über einen mächtigeren Champion. Doch das war nicht, was sie am meisten begehrte.“
Er blieb stehen und blickte sie an. Ihre ausweichende Antwort brachte ihn zur Weißglut. „Sagt mir, was Ihr damit meint“, befahl er mit bebender Stimme.
Ein unverschämtes Lächeln umspielte Anyas Mundwinkel. „Sylvanas widersetzte sich einem ganzen Königreich und ernannte Euch zum Waldläuferlord. Sie durchkämmte die Pestländer, um Euch von der Geißel zu befreien. Und heute befahl sie ihren wertvollsten Streitkräften, ihre eigene Kraft zugunsten Eurer Stärke aufzuopfern. Denkt nach, Pestrufer, und erklärt mir anschließend, wie jemand von Eurer Scharfsicht seine Augen dermaßen vor der Wahrheit verschließen kann.“
Sein Blick durchdrang sie wie tausend geschärfte Messer. Das selbstgefällige Grinsen wich von ihrem Gesicht. Was für eine Närrin! Seine Königin würde sich nicht mit derlei Nichtigkeiten befassen.
Er selbst ebenso wenig. Zu welchen Gefühlen sein menschliches Herz auch einst fähig gewesen sein mochte, Hass und Verachtung bestimmten jetzt sein Leben. Er war Nathanos Pestrufer, Champion der Bansheekönigin. Beim Gedanken an das Chaos, in das er ihre Feinde bald stürzen würde, wich sein Zorn einer freudigen Erwartung.
Er setzte seinen Weg fort und Anya folgte ihm, die Augen in Demut gesenkt.
Als sie das Kriegsviertel betraten, war das ferne Klirren des Stahls zu einem ohrenbetäubenden Getöse angeschwollen. Eine Gruppe neuer Rekruten wurde angewiesen, ihre Kampfkunst an den Trainingsattrappen – und dem ein oder anderen Gefangenen der Allianz – zu trainieren. Nathanos hatte bereits unzählige Stunden damit verbracht, solche Anfänger in abgebrühte Soldaten zu verwandeln. Ein Blick genügte und er wusste, dass es sich dieses Mal um eine besonders erbärmliche Truppe handelte. Grimmig entschied er sich, diesen Neulingen später noch einen Überraschungsbesuch abzustatten.
Schließlich erreichten sie den Ausstatter. Die Mauern der Kammer waren gesäumt mit hohen Rüstungs- und Waffenständern. Nathanos entschied sich für eine Mischung aus Ketten- und Lederpanzer, der ihm zwar ausreichend Schutz bot, aber leicht genug war, um seine Bewegungsfreiheit nicht einzuschränken. Er wählte grüne und graue Ausrüstungsteile, um sich sowohl im Wald als auch im Schatten gut verbergen zu können.
Gerade, als er den Raum verlassen wollte, erregte das Blitzen eines Stücks Metall seine Aufmerksamkeit. Zwischen den unzähligen Rüstungsteilen eines besonders überladenen Ständers entdeckte er einen kunstvoll gearbeiteten Brustpanzer, in dem sich das Licht der Lampen widerspiegelte. Er dachte erneut an das Ritual und an den leeren Altar neben ihm. An eine getroffene Entscheidung.
Einen Lidschlag lang empfand er ein wahrhaft fremdartiges Gefühl. Ein Gefühl, das er seit seinem Tod nicht mehr verspürt hatte. Es war eine Schwäche der Lebenden, die ihn unmerklich verfolgt und nun schlussendlich eingeholt hatte.
Nathanos empfand Bedauern.
Apokryphen von Matt Burns
Asche regnete immer noch auf die Spitzen von Arak nieder. Das würde noch tagelang anhalten. Vielleicht sogar Wochen.
Reshad entschied für sich, dass es ihm nichts ausmachte. Rauch und Asche konnte er ertragen – Völkermord hingegen nicht.
Ihn umgab verkohlter Wald, angefüllt mit zerborstenen Bäumen und den geschwärzten Leichnamen anderer ausgestoßener Arakkoa. Über alledem türmten die zerklüfteten Spitzen der Himmelsnadel, der Heimat der Hocharakkoa, die versucht hatten, Reshad und seinesgleichen auszurotten. Die natürlich geformten Steintürme reckten sich gen Himmel wie Klauen. Auf dem Höchsten von ihnen ruhte ein riesiger goldener Kristall – die Waffe der Hocharakkoa, die Tod und Zerstörung auf die Ausgestoßenen und ihr Zuhause im Wald hatte herabregnen lassen.
Wenn Reshad die Augen schloss, konnte er alles noch einmal erleben: wie der Strahl weißglühenden Feuers, der sich die Kraft der Sonne zunutze machte, aus dem Kristall hinab schoss und seine Welt in Flammen aufgehen ließ. Er konnte hören, wie Holz gellend laut zersplitterte, genau wie die Schreie der Ausgestoßenen, die bei lebendigem Leibe verbrannten.
Doch er rief sich in Erinnerung, dass all das nun vorbei war.
Der Orden der Jünger von Rukhmar, der die Hocharakkoa mit unnachgiebigem Fanatismus regiert hatte, war zerschlagen worden. Ihre Waffe war vernichtet. Aus der Asche, die sie zurückgelassen hatten, entsprang etwas Neues. Langsam, aber sicher trat es ans Licht.
Reshad sah es direkt vor seinen Augen. Der Orden der Erwachten: eine neue Arakkoagesellschaft, die danach strebte, den Hass und die Rivalitäten hinter sich zu lassen, die ihr Volk über Generationen hinweg beherrscht hatten. In dem ausgebrannten Wald gingen ehemalige Feinde als Freunde Seite an Seite. Auf der einen Seite die flügellosen Ausgestoßenen, entstellt von Sethes Fluch. Auf der anderen Seite ihre Verwandten, die eleganten und mächtigen, geflügelten Hocharakkoa, die einst alle, die unterhalb ihrer Spitzen lebten, als minderwertig erachtet hatten.
Das wurde auch Zeit, dachte Reshad. Diese alten Knochen werden langsam müde …
Ein vertrautes Kreischen zog Reshads Aufmerksamkeit auf sich. Über ihm kreiste ein Wirrwarr aus roten Federn. Sein Kaliri Percy, preschte herab, eine vor Schriftrollen überquellende Tasche in seinen schwarzen Klauen.
„Ah, du hast sie gefunden!“ Reshad klatschte vor Freude in seine knotige Hände. Er hatte Percy losgeschickt, eines seiner Schriftrollenverstecke zu überprüfen. Im Laufe der Zeit hatte der gewitzte Gelehrte viele von ihnen über die Wälder verteilt. „Bring sie her –“
Percy ließ die Tasche neben Reshad fallen, was die Schriftrollen über den rußbedeckten Boden rollen ließ. „Kraaah!“, kreischte der Ausgestoßenenälteste. „Vorsicht, Percival! Du weißt doch, dass sie empfindlich sind!“
Der Kaliri landete auf dem zackigen Stumpf eines Baumes und krächzte eine scharfe Antwort.
„Ja, ja …“, seufzte Reshad und griff tief in einen Stoffbeutel an seiner goldbesetzten, violetten Robe. Als er seine Hand wieder aus dem Beutel zog, hielt er in ihr eine Mischung aus Körnern und Nüssen. „Ich habe deine Belohnung nicht vergessen …“
Er verstreute sie zu seinen Füßen und wischte sich die Handflächen an seiner Robe ab. Percy hüpfte vom Baumstumpf und stürzte sich Schnabel über Klaue auf die Körner.
„Leg etwas Würde an den Tag. Hier sind auch Fremde unterwegs“, rügte ihn Reshad, während er anfing, die heruntergefallenen Schriftrollen durchzugehen. Er sah sie liebevoll durch, so behutsam wie Kaliri-Eier. Sie enthielten alte Chroniken, die von der Arakkoagesellschaft erzählten, bevor sie in jene mit Flügeln und die Ausgestoßenen unterteilt worden war. Apokryphen – Wissen, das die Jünger von Rukhmar zurückgehalten hatten, um zu versuchen, ihresgleichen zu manipulieren und einer Gehirnwäsche zu unterziehen.
Reshad legte die Schriftrollen vorsichtig in die Tasche und untersuchte jede von ihnen auf Anzeichen dafür, ob sie durch das Feuer Schaden erlitten hatten. Bei einer Rolle mit dem Titel Vor dem Fall hielt er inne. Sie behandelte Terokk, den uralten König, der einst über die Arakkoa geherrscht hatte. Reshad hielt sie prüfend in seiner Hand.
So ein kleines Ding, dachte er. Nur Tinte und Pergament. Und doch so mächtig, dass sie es selbst mit der falschen Sonne, die die Hocharakkoa eingesetzt hatten, aufnehmen konnte.
„Reshad!“ Ein Ausgestoßener hüpfte heran. Seine mit Asche bedeckten Federn hatten die Farbe eines stürmischen Himmels. Ein Hocharakkoa, der über seinem seegrünen Gefieder eine dunkelblaue Ledertunika trug, schritt an seiner Seite.
„Wir konnten Iskar nicht finden“, fuhr der Ausgestoßene fort. „Späher sind ausgezogen, um nach ihm zu suchen. Doch wird es eine Weile dauern, bis sie zurückkehren.“
„So sei es“, sagte Reshad, den eine gewisse Kälte befiel. Der Schattenweise Iskar war der Anführer der Ausgestoßenen. Seine Abwesenheit gab Grund zur Beunruhigung. In den vergangenen Wochen hatte er reserviert und zornig gewirkt, und Reshad fragte sich, was wohl seine Absichten waren. Iskar war schon immer ein wenig von Macht besessen gewesen – eine Begleiterscheinung seiner eigenen Vergangenheit.
Aber worauf hat er es abgesehen? Genügt ihm diese neue Arakkoagesellschaft nicht?
„Sollten wir uns Sorgen machen?“, fragte der Hocharakkoa.
„Das wird sich noch zeigen“, antwortete Reshad. „Setzt Euch. Ihr beide. Ruht Euch aus.“
Der Hocharakkoa nickte und ließ sich auf einem umgefallenen Baum nieder. Der Ausgestoßene nahm auf einem kleinen Baumstumpf in der Nähe Platz und wischte sich den Ruß aus dem Gesicht.
Reshad rollte die Schriftrolle in seiner Hand auf. Das trockene Pergament war ihm sehr ähnlich: zerbrechlich und von der Zeit gezeichnet, aber voller Geheimnisse. Er hatte es sich zu seiner Lebensaufgabe gemacht, dieses Wissen zu sammeln, um es an eine neue Generation seines Volkes weiterzugeben. Arakkoa, die statt blinden Vorurteilen und dem Fanatismus der Vergangenheit endlich der Weisheit folgen würden.
Nun, dachte er sich, war ein ebenso guter Zeitpunkt wie jeder andere, damit zu beginnen.
„Was wisst Ihr über Iskar?“, fragte er und wandte sich dem Hocharakkoa zu.
„Nur, dass er die Ausgestoßenen anführt.“
„Und was wisst Ihr über die Gebieterin der Jünger, die Oberste Weise Viryx?“, fragte Reshad den Ausgestoßenen.
Glücklicherweise die tote Oberste Weise, dachte er. Sie war es gewesen, die die Hocharakkoa dazu veranlasst hatte, ihre Waffe einzusetzen, in der Hoffnung, die Ausgestoßenen auszurotten.
„Sie hat all das angerichtet … Hrrrrk!“ Der Ausgestoßene blickte auf den zerstörten Wald, seine Stimme rau und schrill.
„Ja“, fuhr Reshad fort. „Oberflächlich wirken sie sehr verschieden, was einige vielleicht auch von Euch beiden behaupten würden. Aber es gab eine Zeit, in der sie sich sehr ähnlich waren …“
***
Die Jüngerin Viryx neigte das Holzzepter über das Larvennest der Verheerer. Der goldene Kristall am Ende des Schmuckstücks pulsierte vor Wärme und Energie und leuchtete wie eine winzig kleine Sonne. Wieder einmal war Viryx von der Kraft fasziniert, die solch einem kleinen Ding innewohnte.
Sie hatte das Gerät selbst gefertigt und dabei Artefakte einer verlorenen, hoch entwickelten Arakkoakultur genutzt: den Apexis. Zeichen ihrer Kultur waren überall im Land rund um die Spitzen der Himmelsnadel verstreut. Für die meisten von Viryx' Volk waren die Artefakte der Apexis nichts weiter als Plunder. Viryx war eine von wenigen, die glaubten, dass man aus dem Studium der Apexis Nutzen ziehen konnte.
Eines Tages, dachte sie, werden sie die Dinge so sehen wie ich.
Der Kristall wurde immer heller, bis ein Strahl goldenen Feuers aus dem Stein brach und auf die Larven herabfiel. Die winzigen Maden wanden sich, als ihre Haut in der Hitze schmolz und brodelte.
„Jetzt erlöse sie schon von ihrem Leid“, rief der Jünger Iskar herüber.
Der Arakkoa mit dem violetten Gefieder ging in der Nähe auf und ab. Er trug die goldenen Armreife und die dunkelblaue Gewandung und Kapuze, die ihn als Sonnenweiser auswiesen. Er war in vielerlei Hinsicht ein seltsamer Arakkoa. Klein und gebeugt für sein Alter. Nicht unbedingt der klügste oder der vielversprechendste der Weisen, aber trotz alledem war er Viryx' Freund. Ihr Nestbruder. Für sie hatten Iskars seltsames Aussehen und seine Marotten etwas Liebenswertes.
„Du wirst doch nicht etwa sentimental, oder?“, fragte Viryx.
„Natürlich nicht, aber wir werden uns verspäten“, zischte Iskar. „Die Ältesten haben uns befohlen, bis zum Einbruch der Dunkelheit zurückzukehren.“
„Sie haben uns auch aufgetragen, das Ungeziefer zu beseitigen. Gründlich.“
„Aber wir werden uns verspäten. Genau so haben wir uns diesen Ärger überhaupt erst eingebrockt.“
Viryx sträubte die Federn vor Verärgerung, doch überkam sie auch ein Gefühl der Reue. Sie rief sich in Erinnerung, dass nicht Iskar schuld daran war, dass sie hier draußen waren. Sie war es gewesen, die gestern zu spät zum Morgenritual erschienen war. Die Strafe für ihr Vergehen hatte nicht nur sie getroffen. Vor Jahren hatten die Ältesten aus Viryx und Iskar ein Paar gebildet, wie sie es mit allen jungen Jüngern taten. Auf diese Weise konnten die neuen Mitglieder des Ordens aufeinander aufpassen und sicherstellen, dass jeder den Erlassen Rukhmars, ihrer Sonnengöttin, Folge leistete. Wenn einer von ihnen eine Heldentat vollbrachte, wurden beide mit Lob überhäuft.
Ebenso wurden beide bestraft, wenn einer die Regeln verletzte.
Und da waren sie nun, im Dreck unter der Himmelsnadel, und vernichteten lästige Verheerer. Die stumpfsinnigen Insekten drangen oft in Arakkoagebiete vor, wo sie ihre stinkenden Nester zwischen den Steinen der Spitzen bauten.
Die Vernichtung der Verheerer war eine niedere Arbeit, besonders für Sonnenweise wie Viryx und Iskar. Ihr ganzes Leben lang hatten sie geübt, Rukhmars feurige Macht zu gebrauchen, als wäre es ihre eigene, und ihr Licht als Waffe gegen ihre Feinde herabzurufen.
Und doch fand ein Teil von Viryx Gefallen an dieser Aufgabe. Sie war nicht in der Himmelsnadel, nicht unter den wachsamen Augen der Ältesten. Sie war frei. Und sie wollte dieses Gefühl so lange wie möglich auskosten.
„Sie werden Verständnis haben“, sagte Viryx. Sie blickte auf die grasbedeckten Hügel, die wie Wellen um die Gesteinsspitzen herum aufstiegen und abfielen. Verkohlte Verheererkadaver lagen auf dem Rücken, ihre langen, dürren Beine zum Himmel aufragend. „Wir haben gute Arbeit geleistet. Dafür werden sie uns nicht bestrafen.“
„Dafür werden sie dich nicht bestrafen …“, sagte Iskar.
Viryx öffnete den Schnabel für eine scharfe Erwiderung, als etwas Flinkes aus einem Gewirr aus Dornbüschen in der Nähe kroch. Ein weiterer Verheerer. Das große, grau gesprenkelte Insekt huschte über den Boden und verschwand in den dichten Wald direkt vor ihnen.
„Lass es …“, bat Iskar.
Aber Viryx hatte bereits die Verfolgung aufgenommen. „Wir haben unsere Befehle, Nestbruder. Gründlich.“
***
Dafür werden wir die Peitsche spüren, dachte Iskar, als er hinter Viryx herstolperte. Genauer gesagt: Ich werde es.
So lief es immer. Die Ältesten bestraften ihn immer härter als seine Nestschwester, egal wessen Schuld es war. Er kannte die Gründe dafür. Viryx war äußerst begabt. Alles – ob es nun darum ging, den Gebrauch von Rukhmars Kraft zu erlernen, oder darum, die verschiedenen Wissenschaften zu verstehen – gelang ihr mit Leichtigkeit. Selbst ihr Aussehen – ihre blassroten Augen und rosa Federn – galt in ihrer Gesellschaft als schön. Sie war das Paradebeispiel einer Jüngerin auf ihrem Weg zu großen, ruhmreichen Taten.
Aber Viryx hatte auch Fehler. Sie war ungehorsam, impulsiv und ruhelos. Sie genoss es, die Regeln bei jeder Gelegenheit zu brechen. Vielleicht, weil sie dafür nie einen wirklichen Preis zahlen musste. Wegen ihrer Gaben, so glaubte Iskar, milderten die Ältesten ihre Strafen ab.
So sehr Iskar auch versuchte, die Ältesten zufriedenzustellen, machte er doch oft irgendeinen dummen Fehler. Er war nicht so perfekt wie Viryx. Er hätte sie für ihre angeborenen Talente beneiden und hassen sollen, doch tat er es nicht. Wenn andere ihm Verachtung entgegenbrachten, war sie stets an seiner Seite. Immer beschützte sie ihn. Iskar wünschte nur, sie würde eines Tages die Folgen ihrer kleinen Abenteuer und rebellischen Taten begreifen.
Heute sollte dem nicht so sein.
Die Kälte, sie sich um ihn legte, ließ Iskar erzittern. Das dicke Blätterdach des Waldes ließ die letzten Lichtstrahlen der untergehenden Sonne nicht durch. Vorsichtig schritt er über dicke Wurzeln, wobei seine Klauen im nassen Schlamm versanken.
Sonderbare Talismane aus Holz und Stein hingen an Seilen, die an den Ästen über ihm angebracht waren. Es waren grob gefertigte Arakkoabildnisse. Räucherstäbchen brannten in den geschlossenen Klauen der Figuren und ließen dünne Rauchschwaden in den Wald aufsteigen. Der saure Geruch trieb Iskar das Wasser in die Augen.
Sie waren zu weit gegangen. Das war das Land der anderen: jener Arakkoa, die in Rukhmars Ungnade gefallen waren. Die verfluchten, flügellosen Kreaturen, die im Dreck unter den Spitzen hausten.
Die Ausgestoßenen.
Iskar sprach ein leises Gebet an Rukhmar. Er zog seinen Traumfänger unter seiner dicken Gewandung hervor. Er ergriff den runden, hölzernen Talisman, über dessen Mitte sich Lederfäden überkreuz spannten, fest mit beiden Händen.
Iskar hielt den Traumfänger vor sich, so wie die Ältesten es ihm beigebracht hatten. Er würde wie ein Netz wirken, das den Fluch einfing, unter dem die Ausgestoßenen litten, und ihn vor seinem schwächenden Effekt schützen.
In seinem Kopf plante Iskar schon, wie er den Traumfänger außerhalb seines Horsts anbringen würde, wenn er zur Himmelsnadel zurückkehrte. Bis zum morgigen Mittag würde Rukhmars Licht das besudelte Schmuckstück von allen Überresten des Fluches befreit haben, die es enthielt.
„Es ist uns nicht erlaubt, ohne die Führung der Ältesten hierher zu kommen“, sagte Iskar, als er Viryx einholte. „Lass es bitte einfach gut sein.“
„Sei still. Sieh nur.“ Viryx deutete nach vorne.
Iskar blickte durch den Wald. Er sah nichts weiter als Bäume und Schatten. „Ich kann den Verheerer nicht sehen.“
„Vergiss den Verheerer. Ich habe etwas Interessanteres gefunden. Da vorne.“
Dann sah Iskar es. Eine Gestalt. Ein Arakkoa.
Die Gestalt schlich durch die knorrigen Bäume. Leuchtend rote Federn ragten unter ihrem schäbigen Umhang hervor. Iskar schloss aus ihrem Gang und ihrer Größe, dass es ein männlicher Arakkoa war. Der geheimnisvolle Arakkoa lief zudem aufrecht, was bedeutete, dass er kein Ausgestoßener war. Er war einer von ihnen.
„Er sollte nicht alleine hier draußen sein, wenn in Kürze die Zeremonie beginnt“, sagte Viryx.
„Ja … die, an der wir eigentlich teilnehmen sollten“, antwortete Iskar.
Heute markierte den Anfang von Rukhmars Gnade – eine Zeit des Jahres, zu der die Sonne ihren höchsten Stand erreichte und die Tage lang und hell waren. Alle Jünger mussten der Zeremonie beiwohnen und Riten ausführen. Eine Tatsache, die Viryx trotz Iskars Warnungen so leicht abzutun schien.
„Fragst du dich denn gar nicht, was er vorhat?“, sagte Viryx.
„Nicht wirklich. Je länger wir hier verweilen, desto schlimmer wird unsere Strafe sein.“
Viryx antwortete nichts. Sie schoss nach vorne und schwang sich dann in die Luft, wo sie in das Blätterdach hinaufflog.
So stur, dachte Iskar, als er ihr folgte. Und so töricht.
Sie folgten dem seltsamen Arakkoa tiefer in den Wald und landeten dabei auf einem Ast nach dem anderen. Iskar wusste, dass die Ausgestoßenen dieses Gebiet das Akrazversteck nannten. Primitive Hütten, die mit violetten, runenverzierten Tüchern behangen waren, waren über den düsteren Wald verstreut. Die einzige Lichtquelle, insofern man überhaupt von einer solchen sprechen konnte, waren leuchtende lila Kugeln, die willkürlich hier und da über den Wald verteilt waren.
„Bitte …“ Iskar ergriff Viryx' Schulter, als er neben ihr auf einem weiteren dicken Ast landete.
„Er scheint anzuhalten.“
Der geheimnisvolle Arakkoa verschwand in einer großen Ansammlung von Ausgestoßenenhütten, einer Art Dorf. Kalte Furcht legte sich über Iskar und schürte seine Angst. Sein Atem ging schnell und laut und er hoffte, dass er den Fluch, der die Luft hier durchsetzte, nicht einatmen würde.
„Denk darüber nach, was du tust.“ Er hielt die Stimme gesenkt. „Der Fluch …“
„Wir sind nicht hier, um düstere Taten zu vollbringen. Rukhmar wird uns beschützen. Warte einfach … hier auf mich.“
Eine überschwängliche Mischung aus Angst und Aufregung rauschte durch Viryx, als sie sich leise hinter den armseligen Hütten der Ausgestoßenen entlang schlich. Sie hatte gemeint, was sie gesagt hatte. Sie hatte keine Angst davor, unter diesen Kreaturen zu sein. Selbst an diesem verlassenen Ort würde Rukhmars Licht, ihre Wärme, sie vor den Verfluchten beschützen.
Der verhüllte Arakkoa machte vor einer großen Hütte aus fauligen Holzstöcken halt. Kleine Schriftrollen hingen an ausgefransten Strängen über dem Eingang. Er blickte nach rechts und links und trat dann ein. Viryx landete auf einem kahlen, krummen Ast, der sich über die Behausung erstreckte.
Breite Stücke violetten und dunkelblauen Tuchs waren zusammengenäht und über die Hütte gelegt worden, um ein Dach zu bilden. Durch einen Schlitz zwischen zwei Streifen des abgewetzten Stoffes konnte Viryx den Arakkoa sehen.
Sie neigte den Kopf und lauschte.
„Der Schatten wächst …“, sagte der verkleidete Arakkoa.
Aus dem Nichts erschien eine Rauchwolke, die herumwirbelte, bis sie sich in einen Ausgestoßenen aus Fleisch und Blut verwandelte.
Faszinierend. Viryx hatte Geschichten über die dunklen Kräfte gelesen, derer sich die Ausgestoßenen bedienten.
Der, der Gestalt annahm, war ein männlicher Ausgestoßener mit matten roten Federn. Seine Finger hatten die Farbe von Asche und waren gekrümmt und abgenutzt wie die Haut von etwas Totem. Ein kleiner, roter Kaliri – allem Anschein nach gerade erst geschlüpft – klammerte sich an einen goldverzierten lila Schal, der seine Schultern schmückte.
„… wenn der Rabe den Tag verschlingt“, schnarrte der Ausgestoßene. „Dürfte ich eine bessere Verkleidung empfehlen?“
„Die Zeit drängt, Reshad. Wo ist die Schriftrolle?“
„Einen Augenblick, einen Augenblick …“ Der mit Namen Reshad senkte die Stimme.
Viryx bewegte sich auf dem Ast langsam näher heran, um zu hören, was sie sagten. Ein bisschen näher. Ein bisschen –
Der Ast knackte unter ihrem Gewicht. Der verkleidete Arakkoa riss den Kopf nach oben.
Und einen kurzen, beunruhigenden Moment lang blickte Viryx ihm in die Augen.
Dann war er weg. Er stürmte aus der Hütte, warf seinen Umhang ab und flog hinauf in das Blätterdach.
Viryx fluchte. Sie gab alle Vorsicht auf, sprang durch die Luft und sauste über das Dorf. Dicke, verharkte Äste kratzten über ihren Rücken und ihre Flügel, als sie die Verfolgung aufnahm.
Der dichte Wald erschwerte die Sicht ziemlich. Sie hüpfte von Ast zu Ast und schlug Blätter zur Seite, die Augen dabei beinahe geschlossen, um sie vor dem Schmutz zu schützen. Viryx sauste durch ein Gewirr aus Zweigen, als sie, eher zufällig, gegen den Rücken des anderen Arakkoa prallte. Die beiden fielen zu Boden, wo sie über Wurzeln rollten und durch den Matsch glitten.
Der Arakkoa war schnell. Er war wieder auf den Beinen, eine seiner Hände in die Luft gestreckt. Flammen züngelten wie Windschlangen um seine Krallen, als er anfing, Rukhmars Kraft anzurufen.
Bei Rukhmar, dachte Viryx. Sie erkannte ihn. Das ist Ikiss. Ein Jünger!
„Sie haben Euch geschickt, um mich zu verfolgen?“ Der Arakkoa schnappte mit dem Schnabel und stellte seine Schopffedern auf, um imposanter zu wirken.
„Ich …“ Viryx suchte nach Worten. „Wer?“
Der andere Arakkoa kniff die Augen zusammen. „Warum seid Ihr hier?“
„Dasselbe könnte ich Euch fragen.“ Viryx bewegte ihre Hand unauffällig auf den kleinen Knochendolch zu, der an ihrem Gürtel befestigt war. Sie ließ den anderen Arakkoa nicht eine Sekunde aus den Augen. Sie wog ihre Möglichkeiten ab. War er ein Feind der Himmelsnadel? Oder war er von Mitgliedern der Jünger für einen offiziellen Auftrag hierher entsandt worden? Letzteres war möglich, wenngleich nicht sehr wahrscheinlich. Schließlich war er ein Jünger.
Von Weitem hörte sie Stimmen und Flügelschlagen. Äste raschelten und knackten.
„Nein …“ Ikiss drehte sich herum und blickte zum Blätterdach hinauf. „Sie wissen es. Sie wissen es.“
Er stürzte nach vorne und ergriff Viryx an ihrer Sonnenweisengewandung, bevor sie ihren Dolch ziehen konnte. „Terokk. Der uralte König. Es sind Lügen … alles Lügen. Was er war. Was er getan hat. Was der Fluch ist.“
Vier Klingenkrallen, Elitekrieger der Jünger, brachen durch das Blätterdach. In jeder Hand trugen sie eine Flügelklinge, eine sichelförmige Waffe mit filigraner Goldverzierung.
„Das sind alles Lügen! Alles – kraaaah!“ Ikiss' Worte endeten in einem schrillen Schrei, als ihm einer der Krieger mit dem stumpfen Ende einer Flügelklinge auf den Kopf schlug. Ikiss fiel auf die Knie und rang nach Luft.
Eine zweite Klingenkralle stülpte eine schwarze Sichtschutzhaube aus Leder über Ikiss' Kopf, die seine Augen bedeckte, während eine andere einen Metallring mit eingravierten Runen über den Schnabel des Gefangenen schob, um ihn geschlossen zu halten. Die letzte der Klingenkrallen band Ikiss' Arme mit einem Stück dickem, purpurrotem Seil zusammen.
„Viryx!“ Iskar landete neben ihr. „Sie fanden mich. Gleich, nachdem du das Dorf betreten hattest. Wie es aussieht, folgen sie ihm schon eine ganze Weile.“
„Und Ihr hättet unsere Jagd beinahe verdorben.“ Eine der Klingenkrallen näherte sich Viryx, sie weit überragend. „Ihr solltet nicht hier sein.“
Viryx musste zurückweichen, um nicht von den Zacken der kupferfarbenen Rüstung geschnitten zu werden, die sich von der Brust der Klingenkralle bis über ihre Schultern erstreckten. „Wir waren dabei, Verheerer zu jagen“, sagte sie kleinlaut. Zum ersten Mal in ihrem Leben durchfuhr sie ein Schauer der Angst.
„Ich sehe keine Verheerer.“ Der Krieger sah sich demonstrativ um. Er wandte sich den anderen Klingenkrallen zu und deutete auf Viryx. „Bringt diese beiden mit zurück. Sie waren bei den Verfluchten.“
***
Der Knall von Rukhmars Schwanz hallte in Iskars Kopf wider. Die Peitsche sank wie Krallen aus Feuer in seinen Rücken und versengte Federn und Fleisch. Weißglühender Schmerz explodierte hinter seinen Augen.
Er schrie vor Schmerz, obwohl er sich gesagt hatte, dass er still bleiben und die Strafe würdevoll ertragen würde. Dasselbe Versprechen hatte er sich gestern gegeben und wieder gebrochen. Und auch den Tag zuvor.
„Ich bin jetzt fertig.“ Eine sanfte und doch strenge Stimme hallte in der Dunkelheit wider.
Der blendende Schmerz ließ langsam nach. Iskars Sehvermögen kehrte nach und nach zurück und er nahm das fahle Licht wahr, das das Zimmer erfüllte. Eine einzelne Sonnenkugel, die wie eine gläserne Miniatursonne loderte, hing von der Decke der fensterlosen Kammer. Es war einer der vielen abgelegenen Orte in der Großen Spitze der Himmelsnadel, wo sich die Akademien, Ritualsäle und Züchtigungsräume der Jünger von Rukhmar befanden.
Letztere kannte Iskar gut.
Zwei Klingenkrallen drehten Iskar herum und seinem Peiniger entgegen, dem Obersten Weisen Zelkyr. Der Gebieter der Himmelsnadel, ein Arakkoa, dessen Wort Gesetze ändern und über Leben und Tod entscheiden konnte, starrte mit zornigem Blick auf den Sonnenweisen herab. Iskar erzitterte in der Gegenwart dieses Arakkoas, der lebenden Stimme von Rukhmar.
Zelkyr trug eine verzierte orangefarbene Robe über seinen seegrünen Federn mit ihren gelben Spitzen. Das Gewand glänzte im Licht der Sonnenkugel. Es war ein feiner Zauber in den Stoff eingewoben worden, der Iskar an den Himmel bei Sonnenaufgang erinnerte. In seiner rechten Hand hielt der Oberste Weise Rukhmars Schwanz. Filigrane Goldverzierungen wanden sich um das Zepter. Von einem Ende hingen drei lange Ranken aus knisterndem Feuer.
„Du hast mich enttäuscht, Jünger Iskar“, sagte Zelkyr.
Es war nicht meine Schuld!, wollte Iskar schreien. Ich habe es versucht … Ich habe versucht, sie aufzuhalten …
Doch konnte er der Stimme von Rukhmar nicht widersprechen.
„Es wird nicht wieder vorkommen“, antwortete Iskar. „Das verspreche ich Euch.“
„Wie oft habe ich das schon von dir gehört?“, seufzte Zelkyr.
„Ich werde … mich mehr anstrengen.“ Iskar verneigte sich, bis sein Schnabel den Boden berührte. „Bei Rukhmars Gnade, ich werde es versuchen.“
„Wir werden sehen“, sagte der Oberste Weise. „Ich habe eine Aufgabe für dich. Eine wichtige.“
„Was immer Ihr wünscht.“
„Du wirst ein Auge auf Viryx haben. Beobachte ihre Aktivitäten: wohin sie geht, mit wem sie spricht, was sie tut. Komm sofort zu mir, wenn dir etwas Ungewöhnliches auffällt.“
„Etwas Ungewöhnliches?“
„Sie war bei den Ausgestoßenen. Ein Sonnenpriester hat Reinigungsrituale an ihr vollzogen, also droht uns durch den Fluch keine Gefahr. Doch könnte er eine bleibende Wirkung auf ihren Geist hinterlassen haben.“
Irgendetwas an der Sache beunruhigte Iskar. Hatte dieser Ketzer – Ikiss – Viryx etwas getan? Iskar war sich nicht sicher, was der Narr vorgehabt hatte. Doch stand es ihm nicht zu, zu fragen. Würde der Oberste Weise denken, dass Iskar diese Information benötigte, hätte er sie ihm bereits mitgeteilt.
„J-Ja …“, meinte Iskar nickend. „Verfügt über mich, Oberster Weiser. Ich stehe Euch zu Diensten, so Rukhmar will.“
Später ging Iskar hinaus auf eine der vielen offenen Terrassen der Großen Spitze. Er zuckte zusammen, als seine Füße die steinerne Plattform berührten. Jeder Schritt jagte einen frischen Schmerzimpuls durch seinen Rücken.
Niemand beachtete ihn, als er vorwärts hinkte. Eine Handvoll Jünger lief auf anderen Teilen der Terrasse umher, und fast alle von ihnen sprachen über Neuigkeiten zu Ikiss und seiner Gefangennahme.
Iskar ignorierte die Diskussionen und begab sich zu einer riesigen Messingsonnenuhr, die in der Mitte der Plattform emporragte. An Einkerbungen entlang des Rands des Geräts konnte man die verschiedenen Tageszeiten ablesen. Immer wenn der Schatten der Sonnenuhr auf eine dieser Einkerbungen fiel, hielten alle Jünger inne und sprachen Rukhmar leise ihren Dank dafür aus, dass sie ihr Licht mit den Arakkoa teilte.
Iskar wiederholte die Gebete im Stillen und holte dabei jene nach, die er verpasst hatte, während er im Züchtigungsraum seine Strafe empfangen hatte. Als er mit ihnen fertig war, suchte er sich eine Stelle am Rande der Terrasse und lehnte sich an das vergoldete Geländer.
Eine starke Brise sauste über die Plattform, wehte seine Kapuze auf und ließ die bestickten Banner, die von der Terrasse oberhalb herabhingen, wild umherpeitschen.
Ein purpurroter Kaliri landete krächzend auf dem Geländer. Iskar streichelte die Federn des Vogels und atmete tief ein. Er versuchte, sich zu entspannen; versuchte, sich einen Reim auf die letzten paar Tage zu machen.
Unter ihm erstreckte sich ein Meer aus grünem, rotem und gelbem Wald in alle Richtungen, das nur von den aufsteigenden Steinkrallen der Himmelsnadel unterbrochen wurde. Arakkoa sausten ober- und unterhalb der Stelle, an der Iskar stand, durch die Luft, darunter Paare aus jungen Jüngern.
Iskar fragte sich, ob jemand von ihnen dieselbe Aufgabe erhalten hatte wie er. Ein Auge auf seinen Nestbruder oder seine Nestschwester zu haben – das war für einen Jünger ganz selbstverständlich. Aus diesem Grund wurden aus den Anhängern von Rukhmar Paare gebildet. Ihnen wurde beigebracht, auf Anzeichen für den Fluch zu achten: Trägheit, Unpünktlichkeit, die Befehle der Ältesten zu hinterfragen. Das waren die ersten Warnhinweise, dass eine Infizierung stattgefunden hatte. Diese Gedanken waren in allen Arakkoa vom Moment ihres Schlüpfens fest verwurzelt.
Aber jede Bewegung der eigenen Nestschwester aktiv auszuspionieren und sie dann zu melden … das war etwas ganz anderes.
Verriet er Viryx dadurch? Oder beschützte er sie?
***
Lügen … alles Lügen …
Diese Stimme hatte Viryx die letzten drei Tage in ihren Gedanken verfolgt. Sie hatte diese Zeit allein in ihrem Horst verbracht – diese Strafe hatte der Oberste Weise ihr auferlegt. Jeden Tag war ein Sonnenpriester gekommen, um Reinigungsrituale zu vollziehen und so jegliche Überbleibsel des Fluches zu beseitigen, die sie trug.
Während alledem waren Viryx' Gedanken bei Ikiss geblieben. Sie verspürte kein Mitleid mit dem Ketzer. Laut dem Sonnenpriester hatte Ikiss sich mit den Ausgestoßenen gegen die Jünger verschworen. In ein paar Tagen würde er ins Exil geschickt werden. Seine Flügel würden abgeschnitten und er ausgestoßen werden. Das verdiente er, und noch mehr.
Aber was hatte jemanden wie Ikiss, jemand so Talentiertes, der so viel Respekt im Orden genoss, dazu bewogen, sein Leben wegzuwerfen? Und was war das für eine Schriftrolle, hinter der er her war? Wie konnte etwas Derartiges so gefährlich sein?
Dieses Geheimnis nagte an ihr, verfolgte sie. Sie konnte nicht eher ruhen, als bis sie die Antwort gefunden hatte.
Deshalb zog es sie an dem Tag, an dem sie aus ihrer Isolation entlassen wurde, in die tiefsten Winkel des Großen Archivs der Himmelsnadel, wo sie alsbald zwischen alten, verstaubten Folianten saß.
Viryx rieb sich die Augen und lehnte sich von dem Stapel Bücher auf dem Tisch der Lesenische zurück, die sie bezogen hatte. Es war eine von vielen, die in die steinernen Wände des Archivs hineingemeißelt worden waren. Außerhalb hingen Hunderte tränenförmige Nester voller Folianten und Schriftrollen von den Wänden und wanden sich die Länge der Kammer hinauf. Kaliri flogen zwischen den Nestern hin und her, um Besuchern Bücher auszuliefern und die Bücher zurückzubringen, die in den Lesenischen zurückgelassen worden waren.
Eine Weile lang beobachtete sie die gut ausgebildeten Vögel und dachte über alles nach, was sie gelesen hatte. Sie hatte etwas gefunden, das wusste sie. Etwas, das nicht stimmte.
Viryx lehnte sich wieder nach vorne und las erneut einen Absatz über Terokk, den sie in der Chronik der uralten Könige gefunden hatte. Er erzählte die Geschichte des legendären Arakkoakönigs Terokk, der einst über die Himmelsnadel geherrscht hatte. Der Foliant erzählte von seinen vielen Verbrechen und verwerflichen Taten. Er zeichnete ein Bild der Himmelsnadel unter seiner Herrschaft als eine Zeit des Leidens und der Tyrannei. Erst als die tapferen Jünger von Rukhmar sich gegen Terokk erhoben, fand diese tragische Ära ein Ende. Sie stürzten den König, verbannten ihn aus der Himmelsnadel und befreiten alle Arakkoa aus der Unterdrückung. Rukhmar wandte sich dann von Terokk ab. Er wurde ein Ausgestoßener, der durch den Fluch den Verstand verlor und verkümmerte.
Das war nichts Neues für Viryx. Sie hatte diese Geschichte schon zahllose Male gehört. Das Seltsame war, dass jede geschichtliche Schilderung dieses Ereignisses, die sie las, auf dieselbe Art und Weise formuliert war. Chronik der uralten Könige, Terokks Tyrannei, Rukhmars Erlösung – diese Dokumente waren angeblich in einem Abstand von Jahrzehnten oder sogar Jahrhunderten verfasst worden.
Und doch waren ihre Kapitel über Terokk identisch.
Viryx stellte sich vor, wie Ikiss im Archiv saß und genau dieselben Schriftrollen und Bücher las wie sie in diesem Augenblick. Was hatte ihn überhaupt hierher geführt? Wichtiger noch: Wohin war er danach gegangen?
Dass die Geschichten identisch waren, war eigenartig, doch sagte ihr das nichts Neues. Sie musste woanders nach Antworten suchen. Das Große Archiv war öffentlich und allen Arakkoa zugänglich. Doch gab es noch andere Aufbewahrungsorte des Wissens, Verstecke seltener Folianten, die nur den Jüngern von Rukhmar zugänglich waren.
Viryx tippte mit den Krallen auf den Tisch und dachte nach. In die Archive der Jünger einzudringen würde viel schwieriger werden, als hierher zu kommen. Die Sonnenschreiber, die über diese ehrwürdigen Orte wachten, würden ihr plötzliches Interesse für Terokk infrage stellen. Und das könnte die Ältesten misstrauisch machen.
Das wäre eine Herausforderung, dachte sie, und ein Schauer der Aufregung durchfuhr sie.
Viryx stopfte die Schriftrollen und Folianten in einen kleinen Korb, der an der Schwelle der Lesenische hing. Die Kaliri würden später vorbeikommen, um die Schriftstücke wieder an ihren richtigen Platz zu bringen.
Als sie aus der Nische sprang und anfing, zum Eingang des Großen Archivs hochzufliegen, musste sie an Iskar denken. Dieses Geheimnis hatte sie so sehr beschäftigt, dass sie ihn nicht aufgesucht hatte.
Der Sonnenpriester hatte ihr von Iskars Schicksal berichtet. Drei Tage Isolation und Peitschenhiebe mit Rukhmars Schwanz. Es war ihre Schuld gewesen, und sie wusste, dass ihre Strafe im Vergleich dazu nichts gewesen war. Sie schwor sich, ihren Nestbruder nicht in diese neuen Nachforschungen zu verwickeln.
Viryx entschied, dass sie ihn später aufsuchen würde. Doch jetzt hatte sie Fragen zu beantworten.
Aus dem Schatten seiner Lesenische beobachtete Iskar, wie Viryx davonflog. Er war ihr gefolgt, seit sie aus der Isolation entlassen worden war. Der Oberste Weise hatte ihm nicht verboten, mit ihr zu sprechen. Iskar hatte sich einfach dazu entschieden, es nicht zu tun. Er traute sich selbst nicht zu, seine Aufgabe geheim zu halten.
Als er zusah, wie sie ging, drängte ihn eine kleine Stimme in seinem Kopf, ihr von den Befehlen zu erzählen, die er vom Obersten Weisen erhalten hatte. Doch gebot ihm eine andere, viel lautere Stimme, zu gehorchen.
Das tat er.
Als er sich sicher war, dass Viryx das Große Archiv verlassen hatte, trat Iskar aus der Nische hervor und schwebte in Kreisen die Bibliothek hinab. Er glitt in die Nische auf der untersten Ebene. Jene Nische, in der Viryx so viele Stunden zugebracht hatte.
Fast alle anderen Lesebereiche waren frei. Warum also hatte Viryx einen ganz unten ausgewählt? Warum hatte sie sich einen gesucht, der so abgeschottet und abgelegen war?
Ein Kaliri erreichte die Nische kurz vor Iskar. Er begann, mit dem Schnabel den Korb zu durchforsten, der außerhalb der Nische hing. Iskar verscheuchte den Vogel und schüttete dann die Schriftrollen und Folianten aus. Er las jeden Titel, während er sie nebeneinander auf den Tisch legte.
Seltsam. Es waren alles Berichte über die Zeit, in der die Jünger die Macht in der Himmelsnadel ergriffen hatten. Das Problem war, dass Viryx Geschichte nicht ausstehen konnte, es sei denn, sie hatte etwas mit der verlorenen Kultur der Apexis zu tun. Diese Art von Büchern waren Iskars Spezialität. Gelehrsamkeit war eines der wenigen Dinge, in denen er sich in seinem Leben jemals hervorgetan hatte.
Ein tiefes, nervöses Trillern grollte in Iskars Kehle. Er nahm den größten Folianten, Chronik der uralten Könige, in die Hand. Er hielt das geschlossene Buch hoch und untersuchte es von allen Seiten. An der Art, wie der Buchrücken durchgedrückt war, konnte er ablesen, welche Seite Viryx am längsten gelesen hatte. Es war ein Trick, den ihm ein älterer Jünger einst beigebracht hatte. Eine Methode, mit der die Ältesten überprüften, ob ihre Schüler die Kapitel und Abschnitte lasen, die sie bei ihrer Ausbildung aufgetragen bekommen hatten.
Iskar blätterte zu dem Abschnitt, den Viryx gelesen hatte. Ein einzelner Name fiel im sofort ins Auge.
Terokk.
***
Die nächsten zwei Tage wurde Iskar zu Viryx' Schatten. Er folgte ihr überallhin und beobachtete jede ihrer Aktivitäten. Sie kehrte nicht ins Große Archiv zurück. Sie verbrachte jedoch viele Stunden allein in ihrem Horst. Aus Angst, verdächtig zu wirken, versuchte Iskar während dieser Stunden nicht, sie auszuspionieren. Aber er konnte sich gut vorstellen, was sie tat. Das wenige, was er von Viryx' Nachforschungen wusste, war, dass sie sich mit dem alten König Terokk und der Geschichte seines Exils beschäftigt hatte.
Das allein war kein Grund zur Beunruhigung. Schon als Junge lernten Arakkoa Terokks Geschichte. Doch wie sie die Nachforschungen anstellte, ausweichend und geheimnistuerisch, war seltsam. Viryx schien den anderen Arakkoa wann immer möglich aus dem Weg zu gehen und kam nur spät nachts aus ihrem Horst.
Waren das keine Anzeichen für den Fluch? Iskar wollte es nicht glauben. Rukhmar liebte Viryx. Sie war gesegnet. Würde die Sonnengöttin nicht jemand derart Talentiertes wie Viryx vor dem Fluch schützen?
Diese Frage lastete schwer auf Iskar, während er für sein Treffen mit dem Obersten Weisen zu den höchsten Ebenen der Großen Spitze flog. Die letzte Nacht hatte er wach gelegen und sich gefragt, was er Zelkyr erzählen würde.
Was konnte er anderes sagen als die Wahrheit?
Iskar machte den Obersten Weisen auf der höchsten Terrasse der Spitze aus, einer Plattform, in die buntes Glas in Form eines riesigen Federbüschels eingearbeitet war. Über ihr hingen Zierbanner und glänzende Sonnensteine an langen Holzstäben herab, die in die steinerne Fassade der Spitze eingelassen waren.
Die Dekorationen waren wunderschön, doch sie zu sehen erfüllte Iskar nicht mit Freude. Seine Aufmerksamkeit richtete sich nur auf eine Sache: einen Käfig aus Eisen, der mit schwarzem Tuch verhüllt war und von einer hölzernen Stange genau über der Terrasse hing.
In ihm war Ikiss. Seit seiner Gefangennahme war er dort drin gewesen. Und dort würde er bleiben, alleine und im Dunkeln, bis zu dem Tag, an dem er ins Exil verbannt werden würde. Ein Sonnenweisenältester hatte das schwarze Material, das den Käfig umhüllte, verzaubert, um ihm Wärme und Licht zu nehmen und von ihm fernzuhalten. Das war ein Teil seiner Strafe: So weit oben, so nah an Rukhmars Umarmung zu sein, aber nichts davon zu spüren.
Iskar graute es vor dem Gedanken, so von der Sonne abgeschnitten zu sein. Er hatte gehört, dass Arakkoa wahnsinnig würden, wenn sie in dem Käfig eingesperrt waren. Sie würden sich ihre eigenen Federn ausreißen.
Einen Moment lang stellte er sich Viryx in diesem Käfig vor, wie sie dort eingesperrt war, weil sie Anzeichen des Fluches gezeigt hatte. Ein furchtbares Gefühl der Einsamkeit ließ Iskar das Herz schmerzen.
„Jünger Iskar“, sagte der Oberste Weise Zelkyr.
Iskar zwang sich, seinen Blick von dem Käfig zu lösen. Er kniete nieder und senkte sein Haupt.
„Erhebe dich.“ Der Oberste Weise winkte ihn näher zu sich. „Was hast du in Erfahrung gebracht?“
„Ich habe sie beobachtet“, antwortete Iskar.
„Und?“
„Und sie hat sich verändert.“
Der Oberste Weise zeigte kein Zeichen der Überraschung. Er blieb so stoisch wie immer. „Auf welche Weise?“
„Sie ist, nun …“ Iskar zögerte. „Sie hat sich gebessert. Sie ist pflichtbewusster und gehorsamer als je zuvor.“
Die Lüge sprudelte einfach aus ihm heraus, als hätte jemand von seinem Geist und seinem Körper Besitz ergriffen. Jemand, den er nicht kannte. Doch selbst als er sprach, selbst als es Iskar vor Schock und Besorgnis schauderte, hörte er nicht auf. „Sie hat ihre Zeit damit verbracht, Gebete an Rukhmar zu sprechen. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.“
„Du bist dir sicher?“, fragte Zelkyr, sein Blick auf Iskar gerichtet.
Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte dieser Blick Iskar in Verlegenheit gebracht und dazu bewegt, um Vergebung zu flehen.
Doch trat etwas Unbekanntes, etwas Belebendes aus dem Selbsthass und der Scham, die seine Gedanken normalerweise bestimmten, an die Oberfläche. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich stark. Der Oberste Weise, der mächtigste Arakkoa der Welt, glaubte ihm. Iskar, der von den Gleichaltrigen verachtet worden war, der so oft von den Älteren übergangen worden war, hatte Einfluss auf die Stimme von Rukhmar.
„Ich bin mir sicher.“ Iskar sprach die Worte ruhig und ohne Zittern.
Der Oberste Weise wandte sich ab und winkte ihn weg wie einen Kaliri. „Beobachte sie weiter.“
Sobald er die Terrasse hinter sich gelassen hatte, verließ Iskar seine Stärke. Panik überkam ihn.
Was habe ich getan? Rukhmar, vergib mir …
Er landete auf einer kleinen Plattform weiter unten an der Großen Spitze, um wieder zu Atem zu kommen. Sein Magen krümmte sich. Einen Augenblick lang hatte er Angst, er würde seine Morgenmahlzeit wieder hochwürgen.
Es war für eine gerechte Sache, sagte er sich.
Er konnte die Lüge nicht zurücknehmen. Doch hatte er Viryx eine zweite Chance verschafft. Wenn es ihm gelang, sie von dem tollkühnen Weg, auf welchen auch immer sie sich begeben hatte, abzubringen, wenn er sie retten konnte, wäre es all das wert gewesen.
***
Die sanften Klänge von Windspielen trieben über die Himmelsnadel. Viryx hörte sie in ihrem Horst. Sie wusste, was dies bedeutete: Der Ketzer würde morgen bei Sonnenaufgang ins Exil verbannt werden.
Viryx war überrascht, dass es bereits soweit war. Sie hatte die Tage aus den Augen verloren und doch kaum etwas vorzuweisen. Ihre Nachforschungen hatten nichts Greifbares ergeben. Sie hatte die Archive der Jünger durchwühlt, so gut sie es vermochte, aber nur Verweise auf verlorene Texte über Terokk gefunden. Schriftstücke, die von den Jüngern als apokryph eingestuft wurden. Ob sie irgendwo in der Himmelsnadel zu finden waren, wusste Viryx nicht.
Sie ging in ihrem kleinen Horst auf und ab und fragte sich, was als Nächstes zu tun war. Hier herrschte ein heilloses Durcheinander. Betttücher baumelten vom Rand des kokonförmigen Nests, das von der Decke hing. Der Boden war mit offenen Folianten und Pergamentfetzen übersät. Auf ihrem Lesetisch stapelten sich zerbrochene Apexisartefakte, Werkzeug, Schreibfedern und Schüsseln mit halb gegessenem, verschimmelndem Essen.
Tatsache war jedoch, dass es ihr schlichtweg egal war. Auf eine derartige Sackgasse zu stoßen, machte sie unglaublich wütend. Das Geheimnis zog sie dadurch nur noch mehr in seinen Bann. Nichts anderes – nichts anderes – war von Bedeutung.
„Viryx!“, rief eine Stimme vor der Tür zu ihrem Horst.
Durch die trüben Glasfenster zu beiden Seiten des Eingangs konnte sie Iskar sehen, der in der Nische draußen saß. Viryx ließ ihn ein, voller Schuldgefühle dafür, dass sie den Kontakt zu ihrem Nestbruder tagelang gemieden hatte.
„Iskar.“ Sie erwog ein paar unterschiedliche Entschuldigungen. Harmlose Lügen, um zu erklären, warum sie sich so lange alleine zurückgezogen hatte. „Es tut mir leid, dass ich nicht rausgekommen bin, um dich zu sehen. Der Sonnenpriester –“
„Kriieek. Keine Lügen!“, unterbrach sie Iskar. Er stürmte in den Horst. „Ich weiß, was du getrieben hast.“
Viryx blieb einen Moment lang still. Sie war sich nicht sicher, was sie sagen sollte. Schließlich fragte sie: „Woher?“
„Woher? Weil der Oberste Weise mir befohlen hat, es herauszufinden. Dich zu beobachten. Er denkt –“
„Mich zu beobachten?“ Viryx' Worte trieften vor Gift. „Und du hast mir nichts davon gesagt?“
„Wirst du mir zuhören?“ Iskar trat näher heran und senkte seine Stimme. „Er hatte Angst, du könntest verflucht sein.“
„Verflucht?“ Viryx zwitscherte vor Lachen. „Das kann nicht dein Ernst sein.“
„Ich habe ihm nicht geglaubt. Deshalb habe ich deine Nachforschungen über Terokk geheim gehalten. Ich …“ Iskar drehte sich von Viryx weg. Er stieß einen langen, müden Seufzer aus. „Ich habe den Obersten Weisen belogen.“
Das überraschte Viryx. Sie hätte sich nie träumen lassen, dass Iskar den Mut haben würde, etwas so Kühnes zu tun.
„Das ist nichts Gutes“, sagte Iskar, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Sag mir einfach, warum du Nachforschungen über Terokk angestellt hast.“
Viryx erwog dies. Sie kam zu dem Schluss, dass Iskar es verdiente, die Wahrheit zu hören. Viryx erklärte, was mit Ikiss im Akrazversteck passiert war. Erzählte von seinem Treffen mit dem Ausgestoßenen und den rätselhaften Worten, die er vor seiner Gefangennahme gesprochen hatte. Dann erzählte sie von ihrer Entdeckung, dass sich jeder Bericht über Terokks Fall ähnelte.
„Ist es nicht seltsam, dass sie alle gleich sind?“, fragte Viryx, als sie fertig war.
„Vielleicht?“ Iskar ging um den Lesetisch. Er roch an den Schüsseln voll Essen und taumelte schaudernd zurück. „Aber wenn das Ereignis eindeutig war, sollten die Aufzeichnungen es genau wiedergeben.“
„Es gibt einen Unterschied zwischen Genauigkeit und …“ Viryx verstummte und wusste nicht recht, wie sie ihre Gedanken in Worte fassen sollte.
„Und was?“, drängte Iskar.
„Und Erfindung.“
Iskar schüttelte den Kopf. „Es ist ein Beweis dafür, dass die Aufzeichnungen sorgfältig erstellt wurden. Wonach genau suchst du überhaupt?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Viryx. „Vielleicht die Schriftrolle, hinter der Ikiss her war … Vielleicht enthält sie die Antworten.“
Iskars Krallen fuhren durch die Federn auf seinem Kopf. „Warum solltest du dem Ketzer überhaupt glauben? Er wollte dich manipulieren und in deinem Kopf Zweifel säen.“ Er breitete die Arme aus und deutete auf ihre verdreckte Kammer. „Du bist wie besessen. Ganz verrückt. Bekomm den Kopf wieder frei und bereite dich auf die Verbannung morgen vor.“
„Hiieek … Du brauchst nicht auf mich aufzupassen.“ Einen Augenblick lang ließ Viryx sich von ihrer Wut übermannen und sprach die Worte viel schärfer aus, als sie es beabsichtigt hatte. Doch stellte sie fest, dass sie langsam genug von dieser Unterhaltung hatte. Sie verschwendete ihre Zeit – Zeit, die sie für ihre Nachforschungen aufwenden konnte.
Iskars Augen weiteten sich ungläubig. „Es wäre schön, wenn du ausnahmsweise einmal über die Folgen deiner Handlungen nachdenken würdest. Wenn du daran denken würdest, wie sie sich auf andere auswirken.“
Wut stieg in Viryx auf, und ihre Stimme verzog sich zu einem harschen Kreischen. „Ich habe dich nie darum gebeten, für mich zu lügen.“
„Ich …“ Iskar starrte sie an und sie konnte in seinen Augen sehen, wie verletzt er war.
Er drehte sich ohne ein weiteres Wort um und stürmte aus der Kammer.
„Iskar –“, rief Viryx ihm nach, aber er war bereits verschwunden.
Sie ging zum Fenster und sah zu, wie er durch ein Dutzend in der Luft kreisender roter Kaliri davonflog. Viryx wusste, dass sie dankbar sein sollte. Sie war es auch. Er war für sie ein großes Risiko eingegangen.
Aber sie konnte nicht aufhören. Nicht, wenn noch die Chance bestand, Antworten zu finden – so gering sie auch sein mochte.
Vor Sonnenaufgang versammelten sich fast alle Mitglieder der Jünger von Rukhmar im Zeremoniensaal der Großen Spitze, um der glorreichen Verbannung beizuwohnen. Gemäß der Tradition nahmen die Jüngerältesten ihre Plätze entlang der Schwelle der aus Stein und Kristall gefertigten Plattform des Saals ein, wo das Ritual stattfinden würde. Sie standen in perfekt angeordneten Reihen und starrten nach vorne auf ein Paar Klingenkrallen, die den Ketzer an Ketten hielten, welche mit seinen Handgelenken verbunden waren. Zwei gewaltige steinerne Arakkoastatuen, die sichelförmige, mit Sonnenkugeln geschmückte Zepter in den Händen hielten, blickten auf den Verurteilten herab.
Die restlichen Jünger saßen nebeneinander auf Vorsprüngen über der Plattform. Sie unterteilten sich selbst anhand ihrer Berufe. Iskar nahm seinen Platz in einer Gruppe Sonnenweiser auf der östlichen Seite der Ritualebene ein. Zu ihrer Rechten waren die Sonnenschreiber. Auf der linken Seite waren die kriegerischen Klingenkrallen.
Einzelne Nachzügler kamen nach und nach herein und hofften, niemand würde es mitbekommen. Irgendjemand würde es. Irgendjemand bekam es immer mit. Sie würden die feurige Berührung von Rukhmars Schwanz spüren, wenn das Verbannungsritual vorbei war.
Iskar versuchte, Viryx in der Menge auszumachen, fand aber keine Spur von ihr. Er war immer noch wütend auf sie, ärgerte sich noch immer über ihre Selbstsucht … war aber auch besorgt. War sie wirklich so töricht, die Verbannung zu verpassen? Er glaubte nicht, dass ihre Besessenheit so weit reichte. Er fing an zu bereuen, nicht nach ihr gesehen zu haben.
Die Jünger verstummten, als der Oberste Weise Zelkyr eintraf. Er war in strahlende Zeremonienkleidung gehüllt, in silberne Bänder scharfzackiger Rüstung, die sich um seine Schultern wanden. Auf seinem Kopf trug er eine Krone aus gezacktem Metall in der Form verlängerter Krallen.
Zelkyr schritt nach vorne, die Kralle von Rukhmar in seiner rechten Hand. Um den Schaft des langen Stabes waren Goldfäden geschlungen und er war mit Edelsteinen in der Farbe eines klaren blauen Himmels verziert. Am oberen Ende der Waffe war eine geschwungene Steinklinge. Sie war ein heiliges Relikt aus uralten Zeiten, das angeblich aus Rukhmars eigenen Federkielen und Krallen gefertigt war.
Der Oberste Weise blieb vor dem Ketzer stehen. Ikiss, der noch immer die Sichtschutzhaube trug, sah viel dünner aus als das letzte Mal, dass Iskar ihn gesehen hatte. An seinem Körper fehlten Federbüschel, als hätte er sie sich selbst ausgerissen. Das einst strahlende Rot seines Gefieders war zu einem schlammigen Purpurrot verblichen.
„Sehet!“ Der Oberste Weise hob die Arme.
Draußen fing die Sonne an, aufzugehen. Licht fiel durch eine gelb getönte Kristallkuppel in den Raum, die in das Dach der Großen Spitze eingelassen war. Goldene Strahlen schimmerten auf den polierten Messing- und Kupferoberflächen im Saal. Nach kurzer Zeit schien alles, was man erblickte, vor Rukhmars Licht zu glühen.
„Der Morgen ist angebrochen“, fuhr der Oberste Weise fort. „Rukhmar ist für einen weiteren Tag zurückgekehrt, so wie sie es stets versprochen hatte. Ihr Licht wird den Himmel zieren und uns vor der Dunkelheit schützen. Alles, worum sie uns im Gegenzug bittet, alles, worum sie je gebeten hat, ist, dass wir ihren Willen ehren. Und doch steht hier einer, der sich von ihr abgewandt hat. Einigen von euch war er ein Freund. Ein Lehrer. Ein Mitglied unseres eigenen Ordens. Sein Name ist Ikiss und er trägt den Fluch der Ausgestoßenen.“
Von den anderen Jüngern stieg ein leises Trillern auf. Iskar suchte in der Menge erneut nach Viryx.
Wo bist du nur?
Der Oberste Weise erhob die Stimme, um die Jünger zum Schweigen zu bringen. „Dies soll uns als Erinnerung dienen, dass wir achtsam bleiben müssen, denn der Fluch kann seine Krallen selbst in die Besten von uns schlagen. Ikiss, der einst so vielversprechend war, hat sich mit den Ausgestoßenen verschworen, um uns Rukhmars Gaben zu entreißen und nur Schatten und Verzweiflung zurückzulassen. Ich frage mich also … wozu braucht er Flügel, wenn er seine Augen vor Rukhmars Licht verschlossen hat?Wozu braucht er Flügel, wenn er lieber mit seinen auf dem Boden hausenden Verbündeten im Schlamm gehen möchte, als an ihrem glorreichen Himmel zu fliegen?“
Der Oberste Weise näherte sich dem Ketzer und gab den Klingenkrallen in der Nähe ein Zeichen. Sie traten zurück, zogen fest an Ikiss' Ketten und zwangen ihn so, seine Hände mit den Handflächen nach oben seitlich auszustrecken. Ikiss' purpurrote Flügel waren unter seinen Armen ausgebreitet, wobei seine Federn beinahe den Boden berührten.
„Er brauchte keine Flügel mehr, denn er ist nicht länger ein Kind unserer geliebten, gütigen Göttin.“ Der Oberste Weise Zelkyr erhob die Kralle von Rukhmar. Er setzte die geschwungene Klinge der Waffe nahe der Achselhöhle des Ketzers an. Langsam strich Zelkyr mit der Kralle von Rukhmar die Unterseite von Ikiss' Arm entlang und machte am inneren Rand des Flügels halt.
Mit einem geübten Hieb schlug er die Klinge dann Ikiss' Arm entlang. Die Kralle durchtrennte Federn, Haut und Knochen gleichermaßen. Blut spritze auf den Boden und sammelte sich in dessen filigranen Mustern aus Kristall und Stein. Der Flügel des Ketzers fiel schlaff zu Boden.
Obwohl der Metallring den Schnabel des Ketzers fest verschloss, konnte Iskar erstickte Schreie hören.
Der Oberste Weise ließ seinen Blick über die Jünger streifen, und einen Augenblick lang verweilte er auf Iskar.
„Dieses Schicksal erwartet all jene, die sich von Rukhmar abwenden“, sagte Zelkyr.
Dann machte er sich am verbliebenen Flügel des Ketzers ans Werk.
***
Das Akrazversteck.
Viryx schlich durch den Wald, der das Dorf umgab. Sie trug eine dicke, graue Robe, die sie aus der Himmelsnadel mitgebracht hatte. Eine notwendige Vorsichtsmaßnahme, hatte sie sich eingeredet. Ihr war niemand gefolgt – zumindest hatte sie nichts bemerkt. Aber sie wollte kein Risiko eingehen.
Deshalb hatte sie beschlossen, das Akrazversteck während der Verbannungszeremonie zu besuchen. In diesem Moment trennte der Oberste Weise Ikiss' Flügel ab. Bald würden die Klingenkrallen ihn aus der Himmelsnadel tragen und auf den Boden werfen, wo er dann unter den Ausgestoßenen leben konnte. Die Jünger würden in der Großen Spitze bleiben und Rukhmars Herrlichkeit bis tief in die Nacht hinein feiern.
Viryx hielt den Kopf gesenkt, als sie weiter durch den Wald schritt. Sie bewegte sich von Schatten zu Schatten und ging dabei umherlaufenden Gruppen von Ausgestoßenen aus dem Weg. Sie sah mehr als bei ihrem ersten Besuch im Dorf. Damals hatte sie sich darauf konzentriert, Ikiss zu folgen. Den Großteil ihrer Umgebung hatte sie nicht beachtet.
Nun nahm sie alles wahr. Die Luft im Dorf war geschwängert mit dem Gestank von Schimmel und Fäulnis. Die Ausgestoßenen hinkten umher, ihre Körper durch den Fluch entstellt. Alles an ihnen war auf irgendeine Weise widernatürlich. Ekelerregend. Viryx fühlte sich krank, wenn sie sah, wie sie ihr Leben bestritten.
Sie fand die Hütte, zu der sie Ikiss gefolgt war; die mit den kleinen Schriftrollen, die über dem Eingang hingen. Sie sah sich um, ob irgendwelche Ausgestoßenen in der Nähe waren. Als sie keine erblickte, trat sie in die heruntergekommene Behausung ein.
Es war niemand da. Tränenförmige geflochtene Körbe voller modriger Folianten und Schriftrollen hingen von den hölzernen Dachbalken.
„Hallo?“, sagte Viryx.
Nichts.
Was hatte sie Ikiss sagen gehört? Schatten nahen … Schatten ziehen sich zusammen …
„Der Schatten wächst …“, sprach sie leise in die leere Hütte.
Dicker Rauch wirbelte in der Luft vor ihr umher und zog sich zum Umriss eines Ausgestoßenen zusammen. Die Schattenform wurde deutlicher, nahm Gestalt an. Vor ihren Augen erschien Reshad, mit dem kleinen roten Kaliri auf seiner Schulter.
„… wenn der Rabe den Tag verschlingt“, sagte Reshad. „Und wer mögt Ihr wohl sein?“
„Einer der Meinen kam hierher, um eine Schriftrolle zu holen. Ich bin an seiner Stelle hier.“ Viryx trat nah an den missgebildeten Arakkoa heran, zog ihre Kapuze zurück und stellte die Federn auf ihrem Kopf auf, um ihn einzuschüchtern. „Wo ist sie?“
„Ah, Ihr wart es, die ihm gefolgt ist“, antwortete Reshad. Der gelassene, beinahe spöttische Unterton in seiner Stimme verstimmte Viryx. „Wie kommt Ihr darauf, dass ich Euch die Schriftrolle geben würde?“
Innerhalb eines einzigen Atemzugs zog Viryx den Knochendolch aus ihrem Gürtel und drückte ihn an den Hals des Ausgestoßenen. „Ich kann ziemlich überzeugend sein. Und ich –“
Sie hielt inne, denn sie spürte, dass sich etwas Scharfes in ihre Brust bohrte. Viryx blickte nach unten. Reshad drückte einen kleinen schwarzen Dolch, der wie eine Kalirikralle geschwungen war, gegen sie.
„Ich mag vielleicht ein Gelehrter sein, aber das bedeutet nicht, dass ich ein Narr bin“, sagte Reshad.
„Vielleicht nicht.“ Viryx streckte ihre freie Hand langsam nach dem Kaliriküken aus. Sie ergriff es. „Aber ich muss Euch bitten, Eure Klinge zu senken und mir zu geben, was ich will.“
Viryx drückte den Kaliri in ihrer Hand. Der Vogel piepste vor Schmerz und schlug hilflos in ihrer Faust um sich.
„Genug! Genug!“ Reshad nahm seinen Dolch herunter. „Ich wollte mich nur Eurer Absichten vergewissern. Hätte ich Euch für einen Feind gehalten, hätte ich mich nicht gezeigt. Ihr habt die richtigen Worte gesprochen.“
Viryx ließ den Kaliri los. Sie nahm ihren Dolch herunter, behielt ihn aber in der Hand. „Was bedeuten die Worte?“
„Sie sind Teil eines Schlaflieds, aus einer Zeit vor … der Trennung.“ Reshad breitete die Arme aus und blickte auf seine Umgebung. „Vor dem Fluch, als die Arakkoa noch etwas anderes, noch mehr waren. Als sie weiser waren.“ Er vergrub die Hand in seiner abgenutzten Robe und zog eine Rolle alten Pergaments heraus. Eine lila gefärbte Lederhülle umgab das Papier. „Damit kann diese Zeit vielleicht wiederkommen.“
Viryx nahm die Schriftrolle. Sie drehte sie in ihrer Hand und betrachtete die verblichenen Runen, die auf die Hülle geschrieben worden waren.
„Ich bezweifle, dass Ihr wirklich eine Freundin des anderen Arakkoas wart, der hierher kam. Aber die Tatsache, dass Ihr hier seid, dass Ihr die Verbannung riskiert, sagt mir genug. Ihr seid eine Wahrheitssucherin. So jemanden findet man dieser Tage so selten oben in den Spitzen“, sagte Reshad. „Diese Schriftrolle kann alles verändern. Uns wieder zusammenführen.“
„Uns wieder zusammenführen.“ Dachte dieser Narr wirklich –
Ein Chor aus schrillen Schreien von draußen unterbrach Viryx' Gedankengang. Sie verließ die Hütte und steckte die Schriftrolle in ihren Gürtel. Ausgestoßene flohen in alle Richtungen. Oberhalb hastete etwas Großes durch das Dach aus grünen und purpurroten Blättern.
Etwas mit Flügeln.
Viryx fluchte und warf ihre Verkleidung ab, um ihre Flügel auszubreiten. Sie flog über die Hütten des Akrazverstecks. Dann landete sie ungraziös auf einem Baum gleich außerhalb des Dorfes und schreckte dabei ein Dutzend Kaliri auf, die sich zwischen den Zweigen geputzt hatten.
Bevor sich Viryx wieder in die Luft schwingen konnte, packte eine Hand sie am Arm. Sie wirbelte herum und stieß dabei ihren Angreifer fort, während sie gleichzeitig einen Ball Rukhmars Feuer in ihrer Handfläche heraufbeschwor.
Dann sah sie ihn. Iskar.
Ihr Nestbruder starrte sie an, die Arme weit gespreizt und sich an Ästen festhaltend, um sein Gleichgewicht zu finden. „Du solltest nicht hier sein!“ Seine Aufmerksamkeit wanderte zu der Schriftrolle, die in ihrem Gürtel steckte. „Ist das der Grund, warum du so viel riskiert hast? Und, was ist es denn?“
„Ich … ich weiß es noch nicht genau.“ Als Viryx sprach, ebbte die Woge der Aufregung, die sie verspürt hatte, ab. An ihre Stelle traten Furcht und Ekel. Sie erkannte, wie töricht sie klang – wie töricht sie gewesen war.
***
Erst als sie zur Himmelsnadel zurückgekehrt waren und Viryx' sicheren Horst erreicht hatten, wagten sie es, die Schriftrolle zu öffnen. Im Licht einer Sonnenkugel überflogen sie das alte Pergament. Es war eine Sammlung vieler uralter Dokumente. Der Großteil befasste sich mit Terokk und seiner Tochter, Lithic.
Diese Version der Ereignisse unterschied sich entschieden von der, die Iskar und seine Kameraden beim Aufwachsen gelernt hatten. Jene Version, welche in den Archiven und anderen offiziellen Schriften wiedergegeben wurde. Zunächst einmal wurde in keiner der Chroniken, die er gesehen hatte, jemals erwähnt, dass Terokk eine Tochter gehabt hatte. In dieser Version war er kein Tyrann gewesen, sondern ein ruhmreicher König. Ein gütiger und tapferer Herrscher. Die Jünger von Rukhmar hatten zu dieser Zeit sehr viel Respekt genossen, doch hatte es sie nach mehr Macht und Ansehen gelüstet.
Und nur eines hatte ihnen im Weg gestanden: Terokk.
„Die Jünger stürzten den König, um ihre eigenen Ziele zu verwirklichen. Sie nahmen ihn, Lithic und die engsten Verbündeten des Königs fest. Sie warfen sie vom Himmel in die Teiche der Sethekkniederung …“, las Viryx laut vor.
Sethekkniederung? Iskar kannte diesen Ort. Er war verboten. Ein schlammiges Sumpfgebiet östlich der Himmelsnadel, das, laut der Jünger, in Schatten versunken lag. Der Legende nach war der bösartige Gott Sethe, der Feind von Rukhmar, vor langer Zeit dort gestorben und hatte das Land mit seinem Blut verunreinigt.
„Ohne ihre Flügel, die sie in der Luft hielten, überlebte Lithic nicht. Der Sturz zerschmetterte ihre Knochen. Terokk überlebte jedoch“, fuhr Viryx fort. „Als er die verfluchten Wasser der Senke berührte, befiel ihn der … der Fluch des Sethe. Das Wasser – das ist der Grund für das Leiden.“
„Das ist die Quelle …“ Iskars Körper verließ alle Kraft. War das wahr? Konnte es wahr sein? Die Ältesten hatten ihn gelehrt, dass der Fluch das Resultat davon war, in Rukhmars Ungnade gefallen zu sein – das Resultat von Ungehorsam, unter anderem. Er war etwas, das durch die eigene Schwäche hervorgerufen wurde, nicht durch äußerliche Einwirkung. Aber dieses Schriftstück sagte, dass seine Quelle das Wasser in der Sethekkniederung war. Das bedeutete, dass jeder ihm zum Opfer fallen konnte, ganz unabhängig von seiner Tugendhaftigkeit.
Es bedeutete, dass alles, was Iskar wusste, eine Lüge war.
„Der Fluch verwirrte Terokks Verstand und er siechte langsam dahin“, sagte Viryx. „Dasselbe Schicksal ereilte viele seiner Anhänger, die die Jünger ebenfalls aus der Himmelsnadel verbannten. Sie wurden zu Ausgestoßenen. Da Terokk fort war, erlangten die Jünger die vollständige Kontrolle über die Arakkoa.“
Viryx legte die Schriftrolle auf den Lesetisch.
„Die ganze Zeit über …“ Kalte Wut stieg in Iskar auf. Sein ganzes Leben hatte er in dem Glauben verbracht, dass der Fluch ihn nicht befallen würde, wenn er seinen Glauben bewahrte und jedes Gesetz befolgte. All die Strafen, die er ertragen hatte, um seine Hingebung zu beweisen, all die Qualen und Entbehrungen, die er erlitten hatte … Wozu war all das gut gewesen?
„Wir wissen nicht, ob irgendetwas davon wahr ist“, sagte Viryx. „Das hast du gestern selbst gesagt. Woher wissen wir, dass die Ausgestoßenen das nicht erfunden haben, um uns zu manipulieren?“
„Wir wissen es nicht“, sagte Iskar.
Aber er würde es herausfinden. Wenn dieses Schriftstück existierte, wenn es echt war, dann würde es auch andere geben. Apokryphen, versteckt im Herzen der Großen Spitze. Schriftrollen und Chroniken, die mit der Zeit verloren gegangen waren, verborgen von den Ältesten. Hinweise. Geheimnisse. Wahrheiten.
„Aber wenn es wahr ist“, fuhr er fort, „dann wird das die Himmelsnadel für immer verändern.“
Viryx trat an ihr Fenster. Dutzende Kaliri sausten draußen durch den Nachthimmel. Sie krächzten und kreischten und landeten auf natürlichen Felsvorsprüngen entlang der Spitze. Jenseits davon leuchteten die Terrassen der Himmelsnadel im Licht der Sonnenkugeln. In diesem Moment war Viryx ganz fasziniert von der Schönheit dieses Anblicks.
„Wir müssen sie vernichten“, sagte sie und wandte sich Iskar zu.
„Sie vernichten?“ Ihr Nestbruder starrte sie ungläubig an. „Wir müssen sie irgendwo verstecken.“
„Das könnte alles verderben. Es ist zu gefährlich, sie hier aufzubewahren“, setzte Viryx entgegen, während sie sich auf die Schriftrolle zubewegte.
Iskar tat dasselbe und knallte seine Hand auf das Pergament. „Wenn das hier wahr ist, bedeutet das, dass wir eine Lüge gelebt haben. Ist dir das überhaupt nicht wichtig? Du hast all diese Mühen auf dich genommen, um sie zu beschaffen. Du hast alles riskiert, und jetzt willst du sie vernichten?“
„Was ich getan habe, war töricht. Das Geheimnis … hatte einfach Besitz von mir ergriffen.“ Sie ergriff ein Ende des hölzernen Stabs der Schriftrolle und zog daran. Iskar drückte seine Hand nach unten und hielt das Papier an Ort und Stelle fest. „Vergiss es wieder. Bitte.“
„Es wieder vergessen?“ Iskars Stimme war schrill. Mit seiner freien Hand ergriff er das andere Ende des hölzernen Stabs. „Wie könnte ich das jemals wieder vergessen?“
„Weil es unbedeutend ist.“ Viryx verstärkte ihren Griff. „Selbst wenn es wahr ist, ist es unbedeutend …“
In jenem Moment dachte sie an das Akrazversteck und die Ausgestoßenen. So viel Dreck und Verfall. So viel Hoffnungslosigkeit. Sie versuchte sich eine Welt vorzustellen, in der ihresgleichen zusammen mit den niederen Arakkoa als Ebenbürtige leben könnten. Jedes Bild, das sie sich vor ihrem geistigen Auge ausmalte, erfüllte sie mit Abscheu.
Die Himmelsnadel war mächtig und glorreich. Sie zu verändern, neue Bande mit den Ausgestoßenen zu knüpfen, würde alles zerstören, was sie kannte. Trotz all der lästigen Regeln, die sie als Jüngerin zu verabscheuen gelernt hatte, all der sinnlosen Studien und Rituale, wollte sie ihre Art zu leben nicht verlieren.
Was auf der Welt konnte sich jemals damit messen?
„Du bist nicht zwischen den Ausgestoßenen umhergelaufen wie ich.“ Viryx zog an der Schriftrolle. Sie war stärker als Iskar und konnte sehen, wie sich ihr Nestbruder abmühte, seinen Griff nicht zu verlieren. „Wärst du es, würdest du diesen Gedanken nicht erwägen. Wenn die Himmelsnadel nur durch Aufrechterhalten dieser Lüge so erhalten werden kann, wie sie ist, dann ist es das wert.“
Mit einem letzten Ruck riss Viryx Iskar die Schriftrolle aus den Händen. Ihr Nestbruder stürzte zu Boden. Viryx beschwor eine kleine Flamme Rukhmars Feuer in ihrer Handfläche herauf und zündete die Schriftrolle an. Kleine Flammen züngelten an den Kanten des alten, brüchigen Papiers entlang.
„Kriiieee! Nein!“ Iskar stürzte nach vorne und schlug mit der Hand nach Viryx. Sie blockte den Angriff mit ihrem Unterarm ab und schlug Iskar über die Schläfe. Er sank zu Boden.
Als das Feuer die Schriftrolle verschlang, regneten Glut und Asche um Iskar herab. Auf den Knien schaufelte er die Asche mit den Händen auf. „Wie konntest du das tun?“
„Es ist zum Wohle der Arakkoa“, sagte Viryx und drehte sich zum Fenster ihres Horsts zurück. „Es –“
Ihr blieb die Luft im Halse stecken. Eine Handvoll Kaliri hockte vor beiden Fenstern. Sie saßen dort, ohne auch nur den geringsten Laut von sich zu geben, und beobachteten sie durch das trübe Glas.
Merkwürdig. Sie hatte sie noch nie so konzentriert gesehen. Viryx' Magen krümmte sich vor eisigem Unbehagen.
Etwas Großes schlug gegen die Tür ihres Horsts. Einmal … zweimal …
Beim dritten Mal sprang die Tür aus ihren Angeln und krachte auf den Boden. Zwei Klingenkrallen drangen mit gezogenen Flügelklingen in die Kammer ein, gefolgt vom Obersten Weisen Zelkyr.
„Zum Wohle der Arakkoa“, sagte die Stimme von Rukhmar. „In der Tat.“
Überrascht trat Viryx einen Schritt zurück. Dann senkte sie ihr Haupt. „Oberster … Oberster Weiser …“
„Du warst schon immer neugierig, nicht wahr?“, sagte Zelkyr. Er deutete auf Iskar. „Legt ihm Fesseln an.“
Eine der Klingenkrallen sprang nach vorne. Sie zog Iskar eine Sichtschutzhaube über und verschloss seinen Schnabel dann mit einem Metallring. Iskar gab keinen Laut von sich und wehrte sich auch nicht.
Viryx nahm ihren Mut zusammen, um zu sprechen. „Ihn trifft keine Schuld. Er –“
„Ich weiß, was er getan hat. Und ich weiß, was du getan hast.“ Zelkyr riss Viryx' Fenster auf. Er streckte die Hand nach dem Schwarm Kaliri aus, der draußen hockte. Der Oberste Weise streichelte die Federn eines der Vögel. Dieser gurrte leise.
„Ich habe euch beobachtet“, fuhr Zelkyr fort. „Durch die Augen der Kaliri blicken zu können, ist eine seltene Fähigkeit, doch finde ich sie von Zeit zu Zeit überaus nützlich. Du wärst überrascht, was einige der Unseren sagen und tun, wenn sie meinen, allein zu sein.“
„Und Ihr habt uns einfach weitermachen lassen?“, fragte Viryx, deren Angst durch einen Anflug von Wut ausradiert wurde.
„Es ist nur natürlich, einem Geheimnis auf die Schliche kommen zu wollen. Die eigentliche Frage besteht darin, was man mit dem Wissen tut, das man entdeckt. Das ist es, was einen ausmacht. Diejenigen von uns, die durch die Ränge der Jünger aufsteigen, tragen die Last vieler Wahrheiten auf ihren Schultern. Viele Geheimnisse. Nur die Weisen können sie zum Wohle der Arakkoa verborgen halten.“
Zelkyr verscheuchte die Kaliri. Sie stiegen in den Nachthimmel auf. „Ich glaube, dass du über diese Weisheit verfügst. Du hast das Potenzial, zu jemand Großem in unserem Orden zu werden.“
Viryx wusste nicht, wie sie sich fühlen sollte. Sollte sie etwa dankbar sein? In einem solchen Moment?
„Jedoch gibt es da das Problem deiner Ruhelosigkeit. Dein Hang zur Rebellion.“ Der Oberste Weise legte eine Hand auf ihre Schulter. „Glücklicherweise gibt es … Mittel, diese Fehler zu korrigieren.“
Die andere Klingenkralle ergriff Viryx' Arm von hinten und drehte ihn auf ihren Rücken. Schmerz durchbohrte ihre Haut wie Nadelstiche und fuhr ihren Hals hinauf. Aus Instinkt versuchte sie, sich zu wehren, doch vergebens.
„Ich war stets zu nachsichtig mit dir, und dafür entschuldige ich mich. Wäre ich strenger gewesen, wäre es vielleicht nicht hierzu gekommen. Aber du sollst wissen, dass ich alles, was ich jetzt tue, tue, weil ich dich bewundere … Weil ich Vertrauen in das habe, was du eines Tages werden kannst.“
Viryx schrie, als die Klingenkralle ihr eine Sichtschutzhaube über die Augen zog.
Dunkelheit verschlang ihre Welt.
***
Viryx wusste nicht, wie viel Zeit sie in der Dunkelheit verbracht hatte. Tage … Wochen … ein Leben.
In Wahrheit kümmerte es sie nicht. Sie wollte nur, dass es vorübergehen möge.
Gnädigerweise tat es das. Jemand zog die Sichtschutzhaube von ihrem Kopf. Sie sah sich dem Obersten Weisen gegenüber. Viryx sagte nichts, als er ihr behutsam auf die Beine half und sie dann durch eine sich windende Katakombe irgendwo unterhalb der Großen Spitze führte.
„Weißt du, warum ich Iskar zu deinem Nestbruder gemacht habe?“, fragte der Oberste Weise.
Viryx' Zeit in der Dunkelheit hatte ihre Sinne getrübt. Sie brauchte einen Augenblick, um die Worte zu verstehen. Sie versuchte zu antworten, doch alles, was aus ihrem Schnabel drang, war ein leises Stöhnen.
„Ich wusste, dass er nie wirklich von dir lernen würde“, fuhr der Oberste Weise fort. „Ich dachte, auf ihn aufzupassen, würde dir etwas Verantwortungsbewusstsein beibringen. Vielleicht hat es das, wenngleich auf Umwegen. Deine Entscheidung, die Schriftrolle zu verbrennen, war weise. Sie war verantwortungsvoll.“
Sie folgte dem Obersten Weisen in den Hauptsaal der Großen Spitze. Lichtstrahlen strömten durch die Kristallkuppel im Dach. Viryx beugte sich nach hinten und seufzte erleichtert, als das Licht sie umhüllte und ihren Körper wärmte.
Mehr als nach Essen und Wasser hatte sie sich danach gesehnt. Licht.
Ohne darüber nachzudenken, streckte sie die Hände nach dem Licht aus, nichts weiter ersehnend, als es zu berühren, es zu halten. Es war nicht genug davon im Zimmer, um ihre Sehnsucht zu stillen. Es würde niemals genug sein, nicht in allen Tagen ihres Lebens.
„Doch erkenne ich nun, dass es nicht Verantwortungsbewusstsein war, was du lernen musstest“, sagte der Oberste Weise. „Was dir wirklich fehlte, war ein Bewusstsein dafür, was Konsequenzen sind.“
Die Worte rissen Viryx aus ihrem euphorischen Rausch. Sie bemerkte die drei Arakkoa, die in der Mitte des Saals standen. Zwei Klingenkrallen flankierten Iskar und hielten ihn an Ketten fest, mit denen seine Handgelenke gefesselt waren. Sein Schnabel war noch immer durch einen Metallring verschlossen, doch hatten die Krieger die Sichtschutzhaube entfernt, wodurch Viryx ihn ansehen konnte – und er sie.
Der Oberste Weise reichte Viryx die Kralle von Rukhmar und trat dann zurück. Sie hielt das heilige Artefakt prüfend in den Händen und sah sich im Raum um.
Es war niemand sonst anwesend, um zuzusehen. Dies war nicht wie die anderen Verbannungszeremonien. Dies war etwas viel Privateres, viel Geheimeres.
„Wirst du im Licht oder im Schatten leben?“, sagte der Oberste Weise leise hinter ihr.
Viryx trat nach vorne, mit dem Stab in der Hand. Iskar starrte sie an. Er bewegte sich nicht. Er gab keinen Laut von sich. In seinen Augen war nicht ein Hauch von Furcht. Nur Wut, eiskalte Wut.
Sie platzierte die Klinge unter seinem ausgestreckten rechten Arm.
Und sie traf ihre Entscheidung.
***
Es herrschte ein Moment der Stille, nachdem Reshad seine Geschichte zu Ende erzählt hatte.
Der andere Ausgestoßene erhob sich von dem Baumstumpf und streckte seinen gekrümmten Rücken, so gut er es vermochte. „Diese Geschichte über Iskar habe ich noch nie zuvor gehört. Er war von vornherein in die unterste Stufe der Gesellschaft geboren worden.“
„Ich kann mir vorstellen, dass er diese Geschichte nicht gerne erzählt. Und wie Ihr wisst, hat er einen gewissen Hang zum Lügen“, sagte Reshad. Er erhob sich ebenfalls. Seine Gelenke knackten, weil er zu lange still gesessen hatte.
Diese alten Knochen …
Der Hocharakkoa blieb auf dem umgefallenen Baum sitzen. Reshad gab ihm Zeit, über das Gehörte nachzudenken – über die Geschichte des Anführers, dem er einst geschworen hatte, bis zum Ende seiner Tage zu dienen.
Reshad dachte daran zurück, wie er Viryx im Akrazversteck begegnet war. Hätte ich damals nur gewusst, was aus ihr werden würde. Mit einem einzigen Stoß meines Dolches hätte ich so viele Leben retten können …
Natürlich war es töricht, so zu denken. Er hatte nicht gewusst, dass Viryx die Oberste Weise der Himmelsnadel werden würde. Er hatte nicht gewusst, dass ihre krankhafte Liebe zur Apexistechnologie die Hocharakkoa dazu bringen würde, Waffen wie diese falsche Sonne hoch oben auf ihrer Stadt zu bauen. Und er hatte nicht gewusst, dass Viryx den Befehl geben würde, sie gegen die Ausgestoßenen einzusetzen, um sie von der Erdoberfläche zu brennen.
Jetzt waren Viryx und ihre engsten Anhänger tot, doch hatten sie für all das gestanden, was in dieser Welt nicht stimmte. Hocharakkoa, die vom Licht der Sonne besessen und in Fanatismus verfallen waren.
Reshad musste sich daran erinnern, dass auch die Ausgestoßenen nicht ohne Schuld waren. Sie hatten in anderen Formen des Extremen Zuflucht gefunden. Sie waren von den Schatten besessen geworden, versunken in Scham und Selbsthass.
Der Schatten wächst, wenn der Rabe den Tag verschlingt. Das brennende Firmament ist nimmermehr, wenn die schwarzen Schwingen sich sanft über dem Himmel ausbreiten. Schlaft jetzt, meine Kinder, schlaft. Denn selbst die Sonne muss einmal ruhen.
Die uralten Arakkoa hatten gewusst, dass es natürlich war, Licht und Dunkel in gleichem Maße zu haben. Nur zusammen würden die Ausgestoßenen und ihre geflügelten Verwandten erfolgreich sein.
Reshads Volk hatte dies nun endlich erkannt.
Zumindest die meisten von ihnen. Er war sich nicht sicher, ob einige – Iskar zum Beispiel – Vernunft angenommen hatten.
Iskars Leben hatte sich geändert, wie auch das von Viryx, nachdem er die Wahrheit über Terokk herausgefunden hatte. Obwohl er zum Krüppel gemacht und ins Exil geschickt worden war, war er in den Rängen der Ausgestoßenen aufgestiegen und zu ihrem Anführer geworden. In den letzten Jahren hatte Reshad gespürt, dass etwas Dunkles in Iskar heranwuchs. Eine stille Sehnsucht nach Rache und Macht. Vielleicht war es in jenen letzten Tagen in der Himmelsnadel entstanden.
War Iskar erwacht wie die zwei Arakkoa in Reshads Gesellschaft? Hatte er die Vergangenheit zugunsten einer neuen Zukunft hinter sich gelassen? Oder war er noch im alten Leben gefangen und stolperte noch immer durch die Schatten?
„Reshad!“ Ein Hocharakkoa landete nahe dem Geschichtenerzähler, sein Blick panisch. „Wir haben die Späher gefunden, die nach Iskar suchen sollten. Sie sind tot.“
„Tot?“, fragte der Arakkoaälteste.
„Getötet. Kraaaa. Von Iskar. Andere setzen die Suche nach ihm fort“, sagte der Bote.
Der Geschichtenerzähler setzte sich wieder auf den verkohlten Baumstumpf. Gedankenverloren drehte er den Beutel mit Körnern und Nüssen um und verstreute seinen Inhalt auf dem Boden.
Percy legte den Kopf verwirrt zur Seite. Er blickte zu Reshad auf, als erwarte er eine Finte.
„Iss auf, iss auf.“ Reshad deutete auf die Nahrung. Seinem Volk standen solch glorreiche Dinge bevor, das wusste er, doch war es noch zu früh, um zu feiern. Es gab Arbeit zu erledigen, Überbleibsel aus der Vergangenheit zu überwinden. „Du wirst deine Kräfte brauchen in den Tagen, die vor uns liegen. Das werden wir alle …“
Regeln der Herrschaft von Ryan Quinn
Die Orc-Botin mit dem vernarbten Gesicht wanderte auf die Tore von Hochfels zu. Sie kämpfte sich Steinstufen empor, die halb so hoch waren wie sie selbst.
Die Oger von Hochfels hielten inne, um ihr zuzusehen. Widerliche Rohlinge grinsten ihr anzüglich aus der Dunkelheit entgegen, die sich über dem Pfad zum Gipfel abzeichnete. Wohlhabendere Gorianer blickten aus hügelförmigen Behausungen heraus, die mit Trophäen ihrer toten Feinde geschmückt waren.
Ein weiterer Beobachter sah zu, wie sich die Botin näherte, und Abscheu erfüllte seine beiden Geister. Diese Orcin stampfte über den Berg, den die Blutsfamilien der Oger über Generationen geformt hatten, dessen Fels sie gepresst und aufgebrochen hatten, bis er Stadt und Palast und Festung und Heimat geworden war.
Dennoch hatte man sie zum Aufzug, der zur zweiten Anhöhe von Hochfels führte, mit einem wortlosen Senken der Speere durchgelassen. Es war Tradition, einsamen Besuchern mit Neugier zu begegnen. Man könnte sie später immer noch töten.
Als der Aufzug zitternd zum Halten kam, sah die Botin ein Dutzend verhärmter Orcsklaven, die die Seilrollen bemannten. Einer nach dem anderen schlichen sie davon und warfen ihr über die Schultern kurze Blicke zu.
Die Botin sah weiter den Berg hoch. Sie konnte gerade noch die Umrisse eines gigantischen Balkons entdecken – den Thron des Kaisers, wo sich der Zaubererkönig der Oger aufhielt. Von ihrem Standort aus war es jedoch ein langer Anstieg bis dorthin. Schwer atmend stand sie in der staubigen Umgebung zwischen nach Dreck stinkenden Sklavenhütten. Sie rümpfte die Nase.
Eine Gruppe riesiger, in elegante Roben gekleideter Oger stampfte auf sie zu. Sie bewegten sich mit überraschender Schnelligkeit. Der größte und breiteste unter ihnen, der sich offenbar beeilt hatte, um als Erster vor Ort zu sein, brauchte nur Sekunden, um vor ihr zum Stillstand zu kommen wie ein bergab rollender Schubkarren, der wieder unter Kontrolle gelangt. Er stank nach mit Parfüm vermischtem Öl und Tierfett, doch seine strohfarbene, ärmellose Robe war makellos. (Sie war offensichtlich vor kürzerer Zeit gereinigt worden als sein Körper.) Der riesige Bauch des Ogers hing aus seiner Kleidung, und er hob ihn mit einer Hand an, um sich darunter zu kratzen, ohne dabei den Augenkontakt mit der Botin zu verlieren.
Seine Stimme war wie Seide. „Ich bin das oberste Ratsmitglied Vareg. Ich spreche für den König. Ihr könnt Eure Nachricht vortragen, bis ich meine Mahlzeit beendet habe. Danach soll es Euch gestattet sein, Hochfels zu verlassen, ohne dass Euch die weichen Knochen gebrochen werden.“
Mit diesen Worten zog er ein durchdringend riechendes Stück Elekkschulter hervor und nahm einen knirschenden Bissen daraus, wobei er weißes Fettgewebe versprühte. Sie war bereits halb verzehrt, mit Fleisch und Knochen, und er zog sofort die Lippen zu einem weiteren Biss zusammen – ein nachweislich hilfreiches Mittel, um für Eile zu sorgen.
Die Botin sah jeden der Oger der Reihe nach an. „Ich überbringe eine Botschaft von Grommash Höllschrei, Kriegshäuptling der Eisernen Horde, an alle Oger von Nagrand.“ Sie hielt inne. „Wenn Ihr wünscht, auch nur einen weiteren Tag Euer Dasein auf Draenor zu fristen, werdet Ihr es Euch verdienen müssen.“
Die Oger – alle Oger – lachten. Als sie fertig waren, rieselte als Resultat Sand vom Aufzug.
„Oh?“, wandte Vareg ein, während er mit einem Fingernagel Knorpel aus seinen gelben Zähnen zupfte, ohne sie anzublicken. „Fahrt fort. Wie?“
Die Botin zog ihre Worte irritiert in die Länge. „Kriecht mit gesenktem Blick vor der Eisernen Horde. Leert Eure Goldkisten in unsere Hände. Rollt auf Eure Bäuche und bettelt. Mir ist es einerlei. Beweist Euren Wert – oder werdet ausgelöscht.“ Das letzte Wort knurrte sie.
Vareg lehnte sich vor, wobei sich sein Körper wand, als würde er wie ein Erdrutsch auf sie stürzen. „Winzling, wir haben einhundert Orcfamilien in Ketten gelegt.“ Mit dem Stück Fleisch gestikulierte er in Richtung eines Sklaven, der hinter einem Futterwagen hertrottete. „Höllschrei mag Eurem Leben keinen Wert beimessen, aber wird er so leichtfertig mit ihrem umgehen?“
Die Botin sah den Oger geradeheraus an. „Sie sind bereits tot.“
Sie wandte sich um, um zu gehen.
Ihre Worte waren sonderbar gewesen. (Beweist Euren Wert, nicht unterwerft Euch oder ergebt Euch.) Die Orcs der Eisernen Horde hatten genug Selbstvertrauen, um dreist zu sein, aber sie stellten keine präzisen Forderungen nach Tribut oder der Rückgabe von Territorien. Es war ein offenes Ultimatum. Es lag am Zuhörer, zu handeln.
Der Zaubererkönig hatte selbst schon solche Forderungen gestellt.
Kaiser Mar’gok, der zweiköpfige Zaubererkönig der Hochfelsoger, er, dessen Vorfahren Lawine und Wind gezähmt hatten, um die ersten Festungen und Säulengänge und Zisternen im wilden Nagrand zu errichten, rührte sich nicht von seinem Balkon.
Der Kaiser hatte aus der Ferne zugesehen, wie sich der Tag entfaltet hatte. Durch eine Linse aus geschnittenem Quarz erstreckte sich sein Blick bis in die Straßen von Hochfels. Normalerweise boten ihm seine vier natürlichen Augen genug zu betrachten, aber die Stunden, die er damit verbracht hatte, durch die Linse zu starren, hatten einen seiner Köpfe schwindelig gemacht. (Gab es noch mehr zu sehen? Ob er wohl aufhören sollte?) Es war seltsam, in seinen Geistern Konflikt zu spüren, da er immer gefühlt hatte, wie seine beiden Gehirne zusammenarbeiteten, wie es zwei Beine tun sollten.
Mar’gok blinzelte und versuchte, sich vorzustellen, wie einer seiner Untertanen – ein zweiäugiger, einköpfiger Oger mit einem einzigen Gehirn – auf die Pracht der Stadt hinabblicken würde. Würde er seinen ganzen Blick, all seine Gedanken, auf nur einen Punkt gleichzeitig richten? Es wäre unmöglich, so zu herrschen. Alles würde verschwommen erscheinen.
Mar’gok sah, wie die sackförmigen Klumpen, die seine Berater waren, von ihrem Treffen zurückkehrten, wobei sie bei den Gärten Halt machten (vermutlich, um sich zu streiten). Dann sah er zu, wie der rotbraune Punkt, die Botin, davonging.
***
Der Angriff sollte nicht lange auf sich warten lassen. (Nachrichten wie diese wurden immer als Nachtrag überbracht, nicht als Auftakt.)
Aus jeder Richtung hallte Heulen durch Mar’goks Straßen, als wäre Draenor selbst von Wölfen umgeben. Hinter den westlichen Wehrgängen rauschten Kugeln aus Rauch und Flammen durch die Luft auf das ruhmreiche Hochfels zu. Sollten sie die äußeren Wälle treffen, würden Trommeltürme einstürzen und die Wege, die den Berg hinabführten, verbarrikadieren. Die Truppen auf den oberen Anhöhen von Hochfels würden nicht mehr in der Lage sein, die unteren zu unterstützen. Dazu waren die Aufzüge zu langsam. Verstärkungstruppen, die durch die Bresche eilten, würden vermutlich auf dem Geröll den Halt verlieren und in Massen abgeschlachtet werden. Ihre Leichen würden von Instrumenten des Krieges zu Hindernissen für ihre Kameraden werden.
Oder die Eiserne Horde würde den östlichen Skulpturengang auf dem Rücken ihrer Wölfe heraufstürmen, ihre Lefzen vor Blut triefend, während sie die Bäuche der Oger aufbissen. Die östliche Verteidigungslinie von Hochfels bestand fast nur aus Schlägern, und sie hatten die Angewohnheit, auf Sturmangriffe zu reagieren, indem sie ihre Speere von sich warfen, weil sie hofften, vor ihrem Tod einige schwächliche Kieferknochen mit den Händen zermalmen zu können. (Waren sie in letzter Zeit ausgepeitscht worden?)
Was, wenn die Orcs an ihnen vorbeistürmten und die Sklavenpferche erreichten? Könnten sie die Sklaven bewaffnen und eine Revolte anzetteln?
Es gab viele Risiken. Kaiser Mar’gok überdachte sie, während das Prasseln von Pfeilen auf seinem Balkon hörbar wurde. Er traf eine Entscheidung – er befahl.
Er hatte angeordnet, dass alle Sklaven in ihren Pferchen verbarrikadiert werden sollten; wer immer Widerstand leistete, sollte auf der Stelle getötet werden. Ihre Leichen, den Fliegen überlassen, würden mit den Lebenden eingesperrt werden.
Die niedrigste Ebene von Hochfels, wo die kleineren, ärmeren Gorianer hausten, die sich noch nicht bewiesen hatten, würde den ersten Angriff erfahren. Mar’gok befahl einen Pulk Wächter dorthin, erfahrene Krieger, die den Aufstieg ihrer Feinde aufhalten sollten. Die Wächter trugen die gold- und purpurfarbene Standarte des Kaisers, und ihr Gebrüll ließ Steine von den Hügeln fallen.
An der Front stürmten rothäutige gorianische Magiebrecher unversehrt durch die leuchtenden Zauber ihrer Feinde. Sie zerquetschten die Körper der Orcs unter mächtigen Keulenschwüngen und stampften Kehlen flach. Und doch näherten sich noch mehr Krieger der Eisernen Horde.
Zerlumpte Reiter des Kriegshymnenklans kämpften Seite an Seite mit anderen Orcs: Heuler mit Kriegsbemalung, deren Gesichter mit Spiralen aus Blut verziert waren, helmtragende Infanteristen, deren rußige Rüstungsplatten keinen Millimeter ihrer Muskeln preisgaben, verstümmelte Fanatiker, die sich dem Gladiator Kargath verschworen hatten und anstelle ihrer Hände Klingen trugen. Das Einzige, was sie gemeinsam hatten, war ein Abzeichen – eine stachlige, rote Schmiererei, die Banner und Schilde zierte.
Und Waffen. Jeder Hauch von Erfindungsgeist der Eisernen Horde war in ihre Tötungsmethoden geflossen. (Wie hatten sie so schnell so viel erfinden können? Es war, als wären ihnen Generationen des Fortschritts in den Schoß gefallen.)
Gruppen von Orcs, die sich hinter ihren Katapultketten ins Zeug legten, ließen Feuerräder kreischend durch die Luft sausen. Sie entzündeten das Fleisch der Oger und schmolzen Mauern zu Mörtel.
In den Händen der Orcs wirbelten zweizackige Klingen wie Räder. Stählerne Wagen, die auf spinnengleichen Beinen vorwärtsschwankten, trugen Soldaten über die Gräben, die Mar’goks Stadt einst so uneinnehmbar gemacht hatten. Die Eiserne Horde umzingelte die Verteidiger von Hochfels – selbst auf den schmalen Wegen, auf denen Oger Schulter an Schulter standen.
Fünf Orcs standen in einem Rammbock aus Metall, an dessen Spitze eine feuerspuckende Faust saß, und erstürmten mit ihm einen Viehpfad in die Stadt. Vor dem Rammbock fielen Oger wie große, brennende Weidenmänner zu Boden, bevor er in einem Funkenregen beim Zerquetschen eines mit einem Hammer bewaffneten Schlägers zum Stehen kam. Der Schläger fiel vom Weg hinab; seine halbe Brust war durchbohrt und Asche stäubte aus dem Austrittsloch.
Die Orcs machten keine Gefangenen. Selbst oben auf dem Kaiserstieg, an der Spitze von Hochfels, stieg der Rauch und der Leichengestank sterbender Oger in alle vier von Mar’goks Nasenlöchern. Sein Bauch rumorte gierig.
***
Während die Eiserne Horde die Stadt von den Zehen hinauf aufzehrte, stand der Zaubererkönig der Hochfelsoger hoch über dem Blutbad, umgeben von den gemeißelten Schiefersäulen seines ersten großen Projekts, der Hallen des Gorthenon.
Mar’goks Ratsmitglieder füllten den großen Saal. Sie waren große, uralte Oger. Manche waren zusammengekauert wie ruhende Tiger, manche posierten wie Götter auf gigantischen Steinen, die sie mehrere Treppen hinaufgetragen hatten. In respektvollem Abstand vom Rat warteten stocksteif Reihen von Militärberatern und Champions mit Hiebwaffen und abgetragener Rüstung. Einige trugen die seltsamen roten, blauen oder grauen Farben und archaischen Tätowierungen, die sie als Magiebrecher auszeichneten – Krieger, die sich Ritualen und Ausbildungsmethoden unterzogen hatten, die sie gegen bestimmte Magieschulen immun machten. Durch einen Erlass des Zaubererkönigs war diese Ausbildung während seiner Herrschaft einem von zwanzig Gorianern aufgezwungen worden. Der geringfügige Erfolg, den die Brecher im Kampf gegen die Eiserne Horde gehabt hatten, zeigte sich in ihrer Haltung; sie sahen aus, als wären sie jederzeit bereit, die Diskussion sprungartig zu verlassen und die Feinde von Hochfels augenblicklich zu zermalmen.
Sitzplätze gab es keine. Mehrere Ratsmitglieder schritten im Gorthenon auf und ab und umkreisten den Kaiser. Er war der größte Oger unter ihnen, ein riesenhaftes Geschöpf, dessen Muskeln und Fett seine Erscheinung gleichermaßen bestimmten. Aus seinem rechten Kopf ragte ein langes Horn hervor. Eine purpurne Schärpe umfloss seine Füße. Unter seinen Kapuzen biss Mar’gok konzentriert die Zähne zusammen. Er streckte seine schwieligen Handflächen der Versammlung entgegen.
Nur das oberste Ratsmitglied Vareg sah eifriger aus als er.
„Unsere Primalisten werden den Nordhang zerschmettern“, spuckte er. „Der nördliche Gipfel wird einstürzen, auf sie niederfallen und all ihre kleinen Köpfe auf einmal zerquetschen.“ Das Öl in seinem Gesicht glänzte.
Während sie Vareg zuhörten, sahen einige der Ratsmitglieder aus, als wären sie bereit, sein Blut zu trinken, doch die meisten, besonders die Magiebrecher, stampften zustimmend auf. In diesem Saal waren sowohl politische Führung als auch Gewalt beheimatet; wenn ein Streit zu lange andauerte, würden sich die Streitenden die Schädel einschlagen, um ihre Standpunkte zu verteidigen. Es war unerlässlich, sich zu einigen.
Mar’gok knurrte. Seine Stimmen hallten im Saal wider. „Nein.“
Der ungeduldige, hungrige Vareg (von niederer Geburt), der immer nur auf den Aufstieg, unaufhörlich auf den Aufstieg bedacht war, sah aus, als wäre er zum Tod im Kolosseum verurteilt worden.
Mit einem Kopf starrte Mar’gok Vareg an, der andere ließ seinen Blick über die versammelten Ratsmitglieder schweifen, bis ihr Murmeln verstummte. „Die Zahl der Orcs und ihrer Waffen ist zu groß. Wir werden sie nicht in einem Schlag zerstören können, und Ihr riskiert die Grundfesten der Stadt. Nein. Unsere Legionen an der Front werden sich zum Pfad der Sieger zurückziehen und den Feind zwingen, nach oben zu klettern. Wenn sie Seile brauchen, um unsere Stufen zu erklimmen, können wir sie verlangsamen.“
Hochfels hatte jeden Siedlungsversuch in einem meilenweiten Umkreis seiner Pracht zunichte gemacht. Das Reiten und Marschieren würde den Feind ermüdet haben. Eine echte Belagerung der Stadt könnte Tage dauern. (Die Versorgungszüge der Eisernen Horde würden umfangreich sein müssen.)
Vareg war mächtig. Er war ein Magierlord, der viele Siege errungen hatte und außergewöhnlich talentiert war, wenn es um Ungehorsam oder das Überleben ging. „Indem Ihr sie in die Stadt lasst, überlasst Ihr ihnen die Initiative. Selbst wenn wir ihre Versorgung stoppen oder ihre Seile zerschneiden, wird unseren Kriegern kaum Hoffnung auf ein Entkommen bleiben.“
„Entkommen?“, grübelte Mar’gok. „Ihr glaubt also, dass Hochfels fallen wird?“
Stille.
Mar’gok drehte einen Stein in seiner Hand. Seine Schwielen hatten ihn glattgerieben. „Ihr glaubt“ – er schnalzte mit einer Zunge – „dass es wichtiger ist, Tode in unserer Armee zu vermeiden, als den Tod von Hochfels abzuwenden?“ Das hatte niemand gesagt, aber niemand hob die Stimme, um es abzustreiten.
Varegs Stimme wurde lauter. „Kaiser, Ihr seid weit vom Schlachtfeld entfernt. Ihr könnt weder unsere Soldaten noch unsere Feinde sehen. Wenn Ihr nicht zulasst, dass wir den Berg zum Einsturz bringen, dann lasst uns ihnen mit unserem ganzen Heer entgegentreten. Wenn wir uns zurückziehen, werden wir schwere Verluste erleiden. Ihr werdet jeden davon bereuen, nachdem wir gesiegt haben.“
Varegs Worte hallten nach, und die meisten der Ratsmitglieder traten von ihm zurück, um sich neben ihren Kaiser zu stellen. Ihre Wortlosigkeit machte ihre Unterstützung nicht weniger lautstark. Als Vareg sie bemerkte, sah er noch erzürnter aus. „Die Orcs sind so klein, dass sie nicht einmal unsere Toten wegschaffen werden können!“, zischte er.
Mar’goks Gesichter blieben äußerlich ungerührt. „Vielleicht ist es einfacher, als ich dachte. Schließt Euch mir an und setzt Euer ausführliches Wissen über die Eiserne Horde ein, um uns zum Sieg zu führen.“
„Mich Euch ... anschließen, mein Kaiser? Ihr werdet kämpfen?“
„Nein. Während unsere Truppen zurückfallen und die Orcs aufhalten, werden wir zum Kriegshäuptling der Eisernen Horde reisen und ihn dazu bringen, uns Frieden zu zeigen. Indem er seine Botin geschickt hat, hat uns Grommash Höllschrei praktisch freies Geleit versprochen.“
Ein paar Zenturionen und ein Magiebrecher dazu würden als Leibwache des Kaisers dienen. Er wagte es nicht, noch mehr von der Front abzuziehen. Mar’gok wandte seine Köpfe den Magiebrechern zu und donnerte: „Der Stärkste von Euch wird mich begleiten.“
Bestürzt sah Mar’gok, wie ein blau bemalter Brecher augenblicklich von seinen Gefährten nach vorn gestoßen wurde. Er war mit unsauberen Runen bedeckt, die aussahen, als wären sie mit einem Stein auf seinen Körper geschabt worden. Anscheinend teilte der Brecher die Bestürzung seines Kaisers.
„Kaiser“, sprach er mit feierlicher Stimme, „ich habe heute vier Schamanenschädel zerquetscht. Es liegt mir nicht, Nettigkeiten auszutauschen. Lasst mich bleiben und für den Ruhm von Hochfels kämpfen.“
„Wie heißt Ihr, Brecher?“ Mar’gok stellte seine Frage langsam, sanft, als würde er mit einer Mahlzeit sprechen.
„Ko’ragh, mein Kaiser.“
„Ko’ragh“, fuhr Mar’gok fort. „Ihr dürft nicht bleiben. Euer Tod wird Hochfels weniger einbringen, als Euer Leben wert ist. Außerdem“ – Mar’gok unterband jede Hoffnung auf Einsprüche, und der Kiefer des Brechers schnappte zu – „liegt es an Eurem Kaiser, die Art und den Zeitpunkt Eures Todes zu bestimmen. Habt Ihr das verstanden?“ Als Antwort salutierte Ko’ragh. Eine seiner fleischigen Fäuste hämmerte auf seine Brust.
Vareg, der nie bereit war, andere länger als einen Moment lang im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit verweilen zu lassen, erhob schnell seine Stimme. „Und wie werde ich dienen, Kaiser?“
Mar’gok gestattete sich, ein doppeltes Lächeln zu zeigen. „Ihr werdet meinen Karren ziehen.“
Das oberste Ratsmitglied starrte ihn mit offenem Mund an. Einige der Versammelten lachten nervös. Das Geräusch ähnelte zwei Steinen, die gegeneinander gerieben wurden.
Der Kaiser hatte seinen Rat immer ermuntert, jederzeit gewaltlosen Widerspruch zu zeigen. Sie mussten ihm nur vor die Füße spucken. Keines seiner lebenden Ratsmitglieder zeigte seinen Widerspruch je auf die unhöfliche Art, die er vorgeschlagen hatte, aber dennoch hatte er das Angebot gemacht. Er war großzügig.
Mar’gok sah demonstrativ auf seine nackten Zehen, dann zurück zu der Versammlung. Brodelndes Feuer flog an einem Fenster vorbei und ließ einen Schauer heißer, geschmolzener Kiesel auf die Anhöhe niedergehen. Er zog die Brauen zusammen, erst die seines linken Gesichtes, dann die des rechten.
Der Kaiser sah erneut zu seinen Füßen hinab. Keine Spucke.
Mar’gok ließ den Blick über seinen Tross schweifen, wobei beide Köpfe ausdruckslos hin und her blickten, als würde er eine Auswahl an Bankettgerichten oder eine Handvoll Wettsteine in Augenschein nehmen.
Das oberste Ratsmitglied Vareg, der einen achträdrigen, stoffbedeckten Karren zog, der doppelt so groß war wie er selbst, hatte bereits beträchtliche Lehren aus seiner schmerzhaften Lektion gezogen. Sein Blick war zwar gesenkt, doch er gab keine weiteren Beschwerden von sich, selbst dann nicht, als seine Roben mit winzigen Matschflecken bespritzt wurden. Für den Moment half ihm Ko’ragh bei seinen Mühen.
Im Gegensatz zu Vareg mit seinen Roben war der Brecher für den Krieg gekleidet. Er trug eine zusammengestückelte Metallrüstung und eine grausame, mit einem Schädel bestückte Kriegskeule. Sein kahler Kopf und seine muskelbepackten, tätowierten Arme waren ungeschützt, so wie bei allen Mitgliedern von Mar’goks Gruppe. Ein modisches Aussehen würde bei den Hochfelsogern niemals der drohenden Ausrottung zum Opfer fallen.
Ko’ragh war nicht in der Lage, sich mit einer diplomatischen Mission abzufinden, während Hochfels belagert wurde, und hatte missmutig ausgesehen, bis Vareg ihm unaufgefordert befohlen hatte, einen besseren Gesichtsausdruck aufzusetzen. Varegs schmerzhafte Lektion kam auch anderen zugute.
Vareg mochte ehrgeizig sein und Ko’ragh eigenwillig und stumpfsinnig, doch beide waren mächtige, hochrangige Oger, die sich in Kampfübungen ausgezeichnet schlugen, früh aufstanden, schwere Wunden überstanden hatten (Ko’ragh: Ausweidung; Vareg: einen Schnitt am Oberschenkel, den er hatte verwesen lassen, um seine Stärke zu beweisen) und dutzendfach getötet hatten.
Den Rest seines Reisegefolges hatte der Kaiser aus Zenturionen ausgewählt, die nicht dem Rat angehörten. Er hatte sich ihre Leistungen aufmerksam angehört (auch wenn er sich ihre Namen nicht gemerkt hatte). Einer von ihnen hatte jahrelang in einem Schildvulkan geschlafen, bis das Magma ihm bedingungslos gehorchte. Einer war ein gefeierter Kämpfer im Kolosseum, der zehn großen Raubtieren die Klauen ausgerissen und sie in seine Kampfhandschuhe genäht hatte. Einer von ihnen hatte eine so starke Bindung an den Berg, dass kein Pfeil seine Haut durchdringen konnte. Jeder von ihnen konnte einen zwei Tonnen schweren Stein auf die Anhöhe tragen, ohne innezuhalten.
Die Zenturionen hatten den Kaiser noch nie persönlich gesehen. Mit ihrem König zu reisen, löste ihre Zungen. Mar’gok führte sie schwerfällig gehend an und versuchte, die Ablenkung ihres Geplappers zu ignorieren. Gelegentlich wandten sich seine Köpfe einander zu, um sich irritierte Blicke zuzuwerfen, bis ihm schwindelig wurde. (Sie zum Schweigen bringen? Sollen sie gaffen.)
Der Boden ging in weichen Schlamm über, wo er auftrat, sodass sein Tross von der Anhöhe den Hügel hinab stapfen konnte, ohne zu fallen. Alle paar Schritte wurde ihre behelfsmäßige Rampe hinter ihnen wieder steinig und undurchdringlich. Dann wurden sie schneller, und der Karren riss schlammige Furchen in den Boden. Vareg merkte an, dass die Orcs jetzt ihre erste Straße hätten, und selbst der Kaiser gestattete einem seiner Köpfe ein kleines Grinsen.
Mit gigantischen Schritten erreichten die Oger ihr Ziel kurz nach Sonnenaufgang. Der Kaiser selbst blieb zwar ruhig, doch die Gespräche seines Gefolges blieben über die gesamte Reise hinweg von Stolz erfüllt. Sein Volk war am Anfang geboren worden: Als die großen Schmiede das Licht aus dem gigantischen Feuerball gepresst hatten, der Draenor werden würde, hatten sie die Oger aus demselben qualmenden Lehm geformt und ihnen die Herrschaft über Stein und Erdreich übertragen. Die Welt selbst gehörte ihnen. Ihre Hauptstadt ragte über dem Gerüst der Vergangenheit empor.
Keiner von ihnen hatte bezweifelt, dass die Verteidiger von Hochfels die ganze Nacht hindurch gekämpft hatten, dass das Kaiserreich noch fortdauerte, bis sie Grommashar erblickten.
***
Als Mar’gok zuletzt das Lager des Kriegshymnenklans gesehen hatte, war es schwächlich gewesen. Beweglich. Holz und Leder, Hütten und Baracken, die behutsam auf dem Boden errichtet worden waren. Er hatte sich die gesenkten Blicke der Orcs vorgestellt, wenn Wind und Regen ihre Behausungen zum Einsturz bringen würden, wie sie mit stummer Verzweiflung reagieren und sich fragen würden, warum das geschehen war.
Jetzt schickte sich das Lager an, eine Zitadelle zu werden. Es war von rasiermesserscharfen Palisaden umgeben. Bis an die Zähne bewaffnete Orcs aus vielen Klans patrouillierten auf den Wällen, in deren Mauerkronen Mörderlöcher gehauen waren, und überall waren die schrecklichen, rasselnden Maschinen, die mehr Rauch und Feuer spuckten, als sie über die Wälle von Hochfels geschleudert hatten.
Die Oger trotteten offen durch Grommashar und hielten eine behelfsmäßige Parlamentärflagge hoch. Mar’gok hatte eine seiner eigenen purpur- und goldfarbenen Standarten in der Mitte durchgerissen, doch die Orcs hatten bei ihrem Eintreffen keinen Alarm geschlagen – als hätte man die Oger erwartet. Nur der gigantische, stoffbedeckte Karren zog Blicke auf sich.
„Was ist das?“, fragte ein stämmiger, gerüsteter Orc, der zwanzig weitere anführte, von denen alle Handkanonen auf sie richteten, deren poliertes Metall in der Sonne glänzte.
Vareg befreite verkrusteten Schleim aus seiner Nase und richtete sich zu voller Größe auf. Seine Handflächen waren, nachdem er einen ganzen Tag lang die Last des Karrens gezogen hatte, schwarz und gerötet. Ko’ragh umfasste aufgeregt die schädelbewehrte Keule, die er trug. Sie waren stark in der Unterzahl. Das Gelände war unbekannt und ihr Feind eifrig.
(Humor? Offenheit? Irreführung?) „Es ist nur Tribut“, murmelte Vareg, bevor Mar’gok etwas sagen konnte.
Das reichte aus. Einige Mitglieder der Eisernen Horde standen wachsam und schnüffelnd neben dem Karren, hoben den Stoff an und inspizierten das, was darunter lag. (Was könnten sie schon sehen?) Die riesigen Waffen der Oger wurden in die Zangarsee gehievt, auch wenn mehrere Speerspitzen noch immer aus dem Wasser ragten, so sehr sich die Soldaten von Grommashar auch mühten, sie zu versenken. Die Orcs waren irritierend klein. Auf ihren Armen waren kümmerliche Venen sichtbar, winzige Schweißtröpfchen perlten von ihren Gesichtern. Alles an ihnen war angespannt, komprimiert, nahe an der Oberfläche, als hätten sie keinen Platz in ihren Körpern.
Der Kaiser befahl seinem Gefolge, regungslos zu bleiben, während sie die Demütigungen der Diplomatie über sich ergehen ließen. Nur seine Blicke erhielten den Eindruck der Huldigung aufrecht, als sie Grommash Höllschrei vorgeführt wurden.
So sehr sich seine Heimat auch gewandelt hatte, Grommash hatte das nicht getan. Die Geißel Nagrands sah nicht anders aus, als er es getan hatte, als Mar’gok ihn zuletzt gesehen hatte: an der Spitze eines Kriegstrupps, mit einer Mähne aus dichtem Haar, muskelbepackt wie ein Tier, mit geschürzten Lippen und Zähnen, die in einem Fletschen aufblitzten.
Was Mar’gok jedoch überraschte, war der Thron, an den sich Grommash nun lehnte. Es war ein knorriger Baum, dessen dickes Holz unbequem erschien, und es war unwahrscheinlich, dass er auch nur eine weitere Generation von Häuptlingen des Kriegshymnenklans überstehen würde. Er erkannte diesen Baum und wusste, welche Mühe es den Orc gekostet haben musste, ihn in seinen Besitz zu nehmen.
Grommash hatte recht viel Zeit damit zugebracht, während der Herrschaft des letzten Zaubererkönigs an diesen Baum gefesselt zu sein. Nach einem fehlgeschlagenen Angriff auf Hochfels hatte man Grommash gefangen genommen, ihn geschlagen und hungern lassen, bis er halbtot war. (Und dann ...)
Ein brauner Ogerkopf mit faulendem Nacken starrte aus leeren Augenhöhlen von den Zweigen des Baums herab. Obwohl nur noch wenige Fetzen identifizierbaren Fleisches am Schädel hingen, war Mar’gok recht sicher, ihn erkannt zu haben. Es wäre kaum möglich gewesen, so lange den Tod seines Vorgängers zu erwarten, ohne sich mit einiger Genauigkeit vorzustellen, wie sein Kopf von seinem Körper getrennt aussehen würde.
„Kaiser“, sagte Grommash in seiner fließenden Bassstimme. „Was haltet Ihr von dem letzten Ogerfürsten, der sich mir widersetzt hat?“ Er gab sich keiner Theatralik hin und rührte sich nicht vom Fleck (obwohl seine Geste der Dominanz deutlich war). Seine Augen waren aufmerksam und konzentriert.
Die Oger spürten die Stiche, die einige Momente der Stille mit sich brachten, und blickten zu ihrem König.
„Ich halte ihn für einen Narren“, donnerte Mar’gok.
Vareg entspannte seine Hände. Sie lösten sich voneinander und er ließ sie an seinen Seiten herabhängen.
„Er war ein Narr, Euch nicht zu töten.“
Einem Orc in der Nähe des Throns entfuhr ein leises Zischen. Vareg und Ko’ragh fuhren zusammen, und ihre Hände griffen instinktiv nach nicht vorhandenen Waffen.
„Hätte Euer Leben in meiner Hand gelegen“, fuhr Mar’gok fort, „hätte ich Euch die Kehle aufgeschlitzt und Eure verrottende Leiche ins Meer geworfen – vor den Augen meiner Gefangenen. Dann hätte ich sie neben Euch versenkt.“ Er zeigt auf die Orcs hinter sich. „Euer Volk war gebrochen. Die Hochfelsoger würden jetzt über ganz Nagrand herrschen.“ (Wieder über ganz Nagrand herrschen.) Mar’gok gab sich immer einer gewissen Theatralik hin, wenn sie gerechtfertigt war.
Grommash zuckte nicht mit der Wimper, ungerührt von der beiläufigen Erörterung seines eigenen gewaltsamen Todes. Er konnte sich diesen Luxus leisten.
Mehrere weitere Orcs traten hinter dem Thron hervor (jetzt waren es zwei Dutzend allein in unmittelbarer Nähe). Einer von ihnen, breitschultrig, mit einem Gesicht voller Tätowierungen, das unter seiner braunen Kapuze kaum zu erkennen war, lehnte sich vor, um Höllschrei ins Ohr zu flüstern. (Wann hatte er je Rat angenommen?)
„Ich verstehe“, erwiderte Grommash ausdruckslos. „Dann sagt mir, was die Hochfelsoger wert sind. Erzählt mir von diesem Tribut, den Ihr mir gebracht habt, und vom Wert Eurer Leben.“
Dem Kaiser entging nicht, dass der Stand der Sonne ihn zwang, zu blinzeln und seine Köpfe leicht zu neigen. Er widerstand der Versuchung, einen Baum herauszureißen und seine Augen mit ihm zu beschatten. (Grommash sitzt jeden Tag auf einem Überbleibsel seines Grolls. Jede Verhandlung würde einfach und offensichtlich zu seinem Vorteil sein müssen.)
Mar’gok schnaufte. „Nun gut. Das Geschenk, das ich Euch bringe, ist Wissen. Die Eiserne Horde ist schwach.“
Jetzt lächelte Grommash. „Das sagt Ihr, während wir die Mauern Eurer Heimat zerschmettern.“ Er zeigte, so weit es ihre Größe zuließ, auf einen Punkt hinter den Ogern. „Sag ihnen, was du gesehen hast.“
Ein weiterer Orc sprang an Höllschreis Seite, und Mar’gok erkannte die narbengesichtige Botin, die seinem Volk als Erste den Krieg erklärt hatte. Zu schade. Er hatte gehofft, dass sie bei der Belagerung umgekommen wäre.
Ihr Gesicht zeigte ausgesprochenen Stolz. „Wir haben die Reihen der Hochfelsoger am Eingang ihrer Stadt durchbrochen. Der Berg ist umzingelt. Sie ziehen sich in ihre Behausungen zurück.“
Mar’gok hatte vermutet, dass das geschehen würde, aber nicht annähernd so schnell.
***
Es war eine List. Es musste eine sein. Nur einen Moment lang, während seine Leute sich stritten und die Orcs das Chaos genossen, schloss Mar’gok die Augen und versuchte, sich die Szene vorzustellen: wie die Oger Boden verloren, Kämpfe in den Straßen, der geschmolzene Stein zerstörter Hügelbehausungen, der vor den Formationen der Gorianer Pfützen bildete.
Es kostete ihn keine Anstrengung, sich vorzustellen, wie die Orcs seine Legionen umzingelten, wie die Zacken ihrer Waffen summten, während sie den Ogern die Beine abschlugen, sodass sie auf Stümpfe fielen. Das hatte er schon zu oft gesehen.
Danach würden die Orcs seine Statuen niederreißen. Seine Männer, Frauen und Kinder würden aufbrüllen und sich sammeln, zurückschlagen, unermüdlich für ihn skandieren: Der König! Der König. Je öfter sie es sagten, desto weniger klang es wie ein passender Todesschrei.
Sicherlich hatten sie diese Silben so lange beibehalten, weil sie einfacher zu rufen waren als Imperator, und nicht, weil sie seinen Titel, seinen Namen nicht aussprechen konnten.
Sie würden sicherlich standhalten.
Mar’gok wurde der Vorstellungen müde und öffnete die Augen. Er atmete aus und wandte sich an Ko’ragh und Vareg, die hörbar murmelten. Sie waren in Verteidigungshaltung. Ihren Gesichtern nach zu urteilen glaubten auch sie der Botin. Als Grommash zu sprechen begann, verstummten sie.
„Und nun erklärt mir, Kaiser“, sagte er, mit so viel Selbstvertrauen, als hätte er in Mar’goks beide Geister geblickt, „inwiefern die Eiserne Horde schwach ist.“ (Endlich.)
„Versteht mich nicht falsch, Kriegshäuptling. Ihr seid viele. Vielleicht werden sich Eure Orcs mit der Zeit bis an die Spitze von Hochfels durchkämpfen.“ Der Kaiser begann, auf- und abzuschreiten und gestikulierte lebhaft. „Aber das werdet ihr nicht ohne große Verluste tun, denn Euch fehlt unsere größte Stärke. Ihr steht der Armee eines Zaubererkönigs gegenüber. Unsere Traditionen sind so alt wie Draenor.“
Er hob beide Arme der Menge entgegen und presste gigantische Fäuste zusammen. „Wir werden aus dem Inneren unserer Behausungen Lawinen hervorrufen, Eure Wölfe mit Feuer in Angst und Schrecken versetzen, Euer Metall mit Schlamm verrosten lassen. Die Zauber Eurer Schamanen können uns nichts anhaben. Wir werden ihren falschen Donner verlachen und ihre Schädel zu Staub zermahlen.“ Bei diesen Worten sah Grommash beinahe ... fasziniert aus. (Die Orcs verehrten die Elemente. Wie typisch für kleine Kreaturen, etwas außer sich selbst lobpreisen zu wollen.)
„Und außerdem“, musste Mar’gok einfach hinzufügen, „seid Ihr klein. Selbst wenn Ihr Hochfels einnehmt, würdet Ihr ein ganzes Jahr allein damit verschwenden, unsere Leichen zu beseitigen.“
Mar’gok legte den Meißel seiner Worte beiseite und schloss seine Münder bestimmt. Die Mächtigen lobten ihre körperliche Stärke und ihren Körper über alles; die Klugen ihren grenzenlosen und alles überdauernden Geist; die Charismatischen ihre Führungsqualitäten und Überzeugungskraft. Doch wahre Stärke hatte immer alle Stärken bedeutet (weshalb er der König war), und Grommash würde immer von dem Gedanken verfolgt werden, dass es eine Stärke gab, die er nicht besaß. Mar’gok kannte nichts anderes genau genug, um zu riskieren, einem solchen Umstand die Rettung seines Reiches und seines Lebens anzuvertrauen.
Höllschreis Antwort kam schnell. „Wir wollen Eure Stadt nicht. Wir wollen Eure Leichen.“ Während er aufstand, umklammerte er den Griff einer gezackten Axt, die fast so groß war wie er selbst und an deren Klinge an diesem Tag vergossenes Blut zu erkennen war, das sich bräunlich zu verfärben begann. „Jedes Mitglied der Eisernen Horde ist bereit, in der Schlacht zu sterben. Wir siegen. Eure Drohung ist leer.“
Ko’ragh regte das auf, doch Mar’gok hielt ihm eine Hand vor, als sich Grommashs Zähnefletschen zu Nachdenklichkeit wandelte.
„Ihr sprecht nur eine Wahrheit aus. Eure Magie ist mächtig. Lehrt sie uns, und einige von Euch werden überleben.“
In einem von Varegs Speichelklumpen steckte mehr Flüssigkeit als im Mageninhalt eines Orcs.
Der Kaiser hatte um einige Minuten Zeit zur Beratung gebeten und sich in einiger Entfernung zu Grommashs Thron zurückgezogen. Nun starrten all seine Augen auf denselben Punkt. Die Spucke brodelte im Staub, wenige Zentimeter von seinen Zehen entfernt. Blasen bahnten sich einen Weg an die Oberfläche und platzten. Es sah aus, als könne sie sich aus eigener Kraft bewegen.
Solch offene Respektlosigkeit hatte sich erst vor Kurzem gezeigt, als Mar’gok beiläufig erwähnt hatte, dass es die vernünftige Entscheidung wäre, Höllschreis „Angebot“ abzulehnen. Noch hatte keiner der Zenturionen die Spucke gesehen. Erfolglos schubste er Steine über sie.
Vareg war kurz davor, in Geheul auszubrechen, während er auf und ab raste. Es schien immer wahrscheinlicher, dass sein animalisches Hin- und Herlaufen die Orcs dazu treiben würde, von ihren Waffen Gebrauch zu machen.
Ko’ragh kämpfte stumm um Verständnis. „Kaiser, das könnt Ihr nicht ernst meinen. Ihr ... Ihr wollt Zeit gewinnen, um Grommash zu überlisten und ...“
„Nein!“, brüllte Vareg, und seine sonst glatte Stimme brach. „Ihr habt es vor dem Rat mit beiden Stimmen geschworen. Ihr sagtet, Ihr würdet Frieden stiften. Jetzt scheut Ihr vor dem Preis zurück.“
Mar’gok löste seinen Blick von der Spucke; in den Paletten seiner Gesichter mischten sich Entrüstung und Belustigung.
Vareg hatte nicht aufgehört zu toben. „Was sind unsere Traditionen wert, wenn keine Hochfelsoger überleben, um sie fortzuführen? Ist Euch Eure Magie mehr wert als unsere Leben?“ (Faul. Eher eine Einladung als eine Frage.)
Mar’gok trat in einem Schritt auf Vareg zu und stampfte fest genug auf, dass Staub aufwirbelte. „Ihr sprecht vom Überleben wie ein Sklave, der nicht weiter sehen kann als bis zu seinen Ketten. Ihr habt das Herz eines Orcs, zufrieden damit, wenn die schlechten Momente ein Ende haben.“
Varegs Gesicht war fast purpurfarben. Er knurrte, laut genug, dass das ganze Lager es hören konnte. Die anderen Oger stampften näher an ihre Anführer heran.
Mar’gok fuhr fort. „Gog Gronntöter wusste, dass es nur der Anfang sein konnte, frei zu sein, zu überleben. Als er die Körper der Gronn zerschmetterte, ihre Knochen aufbrach und ihr Mark verschlang, um zu beweisen, dass sie keine Götter waren, hob er ihre Skelette empor, damit andere seinen Sieg sehen konnten. Er wollte mehr als das reine Überleben, also baute er seine Halle so, dass sie zu groß war, um von einer einzigen Blutsfamilie ausgefüllt zu werden. Andere fanden sich ein, und schon bald war seine Heimat ein Imperium. Er ist nicht einfach in die Berge geflohen, um sich in seiner Existenz zu suhlen.“
Vareg schien einen Teil seines Verstandes behalten zu haben, denn er sagte nichts, während der Kaiser sprach. (Zu Vareg? Zu den anderen? Wo es zwei Geister gab, war es immer nötig, drei Reden zu halten.) „Die Welt gehört uns. Der einzige Grund, aus dem ihre Weiten gezähmt, ihre Größe offengelegt ist, ist, dass wir sie beherrschen, so wie die Schmiede es taten. Wenn Ihr unsere Macht mit Sklaven teilen wollt, wenn Ihr zulassen wollt, dass sie die Erde formen, seid Ihr kein Oger.“
Als Antwort spuckte das oberste Ratsmitglied einen weiteren Batzen Speichel auf den ersten. Welch ein Talent er für die wichtigsten Dinge hatte.
Vareg hatte seine Schreiterei aufgegeben. Er schnaubte. „Hochfels ist kein Imperium mehr. Es ist nur eine große Stadt. Ich frage mich, ob alle in unserem Klan glauben, dass sie es wert ist, für sie zu sterben.“ (Varegs Stimme war von Schleim beschwert, doch das konnte seinen Eifer kaum verbergen.) Seine Augen huschten zwischen den anderen Ogern hin und her und blickten nie in Mar’goks, als wäre er kurz davor, sich vom Kaiser loszusagen, die Herausforderung herauszubrüllen, die er mit Sicherheit mehrfach einstudiert hatte, bevor er den Karren hatte ziehen müssen.
Ko’ragh sprach und lenkte so die Aufmerksamkeit von Mar’gok und Vareg ab, die einander wütend anfunkelten. „Kaiser, die Orcs sagen, dass sie gewinnen. Wenn Ihr Grommash jetzt nicht angreift, müssen wir uns ihm unterwerfen.“ Seine Augen loderten.
Mar’gok verschränkte die Arme und imitierte so unbewusst die Pose einer seiner Lieblingsstatuen. „Dann wird das Erbe der Ogerherrschaft, das Erbe meiner Blutsfamilie, ein billiges Tauschobjekt. Was werdet Ihr opfern? Eure Vermögen? Eure Ehrentitel aus dem Kolosseum? Eure Leben?“
Vareg zögerte nicht, obwohl er die Zenturionen anblickte, nicht den Kaiser, als er antwortete. „Ich werde alles dafür geben, unser Volk zu retten. Während wir zaudern, stirbt der Klan.“
Natürlich. Vareg eilte sich, seine Zustimmung auszudrücken, sich auf die Seite unseres Volkes zu schlagen, bevor Mar’gok es konnte. Er versuchte, sich die Unterstützung des restlichen Gefolges zu sichern. Würde er sie zum Mord anstiften können? In der Geschichte von Hochfels waren mehr Streitgespräche in spontane Revolten ausgeufert, als der Kaiser zählen wollte.
Mar’gok sah sich schnell um, bedacht, keine Gefühlsregung zu zeigen. Varegs Augen waren wölfisch, unstet. Er könnte jeden Moment entweder lächeln oder aufheulen. Die anderen hatten ihre nackten Fäuste im Salut gegen die Brust gepresst – aber wem salutierten sie? Sie waren zu fünft, und er war allein.
Er schenkte ihnen allen ein doppeltes zustimmendes Nicken. „Nun gut. Ich werde unsere Zauber verkaufen. Sklaven können keine Sklaven machen. Was können Orcs schon mit der Macht der Schmiede anfangen, das wir nicht bereits erreicht haben?“
Grimmig aber selbstbewusst marschierten die Oger zu Grommash zurück.
Mar’gok blieb hinter ihnen und kämpfte gegen seine Lächeln an. Vareg hatte sich eine Blöße gegeben. Mar’gok hatte sich „überzeugen“ lassen. Das kam einem demütigen Einlenken näher als alles, was er einem seiner Berater je gewährt hatte. Wenn man die Position eines Narren vertrat, konnten die Massen gar nicht anders, als sich zusammenzutun, um sie zu bekämpfen.
Es sagte ihnen zu – wie es überhaupt allen Emporkömmlingen, allen Bauerntölpeln zusagte – zu glauben, dass derjenige, der über ihren Leben emporragte, eitel und selbstgefällig war, dass er den Tod einem Opfer vorziehen würde, sein Volk lieber in das Flüstern der Geschichte als mit voller Stimme einen niederen Pfad entlangführen würde.
Auch aus diesem Grund war Mar’gok der König.
***
Die Sonne war schon längst verloschen, und der dichte Rauch der gelben Fackeln, die Grommashar erleuchteten, vermischte sich mit dem Dunst, der über seinen Mauern hing. Mar’gok atmete tief ein. Der beißende Geruch entspannte ihn.
Er ließ seine Stimme weich bleiben und neigte einen Kopf stärker als den anderen. „Wir werden Euch die Wege des Magiebrechens lehren, Grommash Höllschrei.“
Ein Lächeln, enthusiastisch und unverfälscht, stahl sich in Grommashs Gesicht. Ein Feind, der nur wenige Fußbreit entfernt geschlagen und fügsam dastand, mit offenen, wissenden Augen, hatte eine einzigartige Süße an sich.
„Ruft Eure Armee zurück und schickt zehn Eurer wachsten Geister mit uns nach Hochfels zurück. Ich werde sie persönlich unterrichten. Sie werden in einem Jahr einsatzbereit sein, vielleicht sogar früher.“
Bei diesen Worten hob Grommash die Augenbrauen. Er verzog das Gesicht, und vier fleischige Finger trommelten auf den Schaft der Axt, doch seine Stimme war beherrscht. „Reizt mich nicht, Kaiser. Ihr werdet alle Orcs unterrichten, die fähig sind zu lernen, und Ihr werdet es hier tun.“
Mar’gok breitete die Arme weit aus und grinste, wobei er beide Münder öffnete. Es waren Lächeln voller reicher Verheißung, die er gewöhnlich nur Familienangehörigen schenkte, die er zu töten vorhatte. „Wenn ich meine Magie mit Eurer gesamten Armee teile, werdet Ihr mein Volk nicht brauchen. Was werdet Ihr mit Ogern anstellen, die Euch nicht nützlich sind?“
Hätte der Ogerschädel, der schlaff von Grommashs Thron herabhing, noch Augenlider gehabt, hätte er gezwinkert.
Grommash feixte ihn an. „Die Wertvollen unter Euch werden leben. Vertraut auf den Wert Eurer Zauber, Oger. Euch bleibt nichts anderes übrig.“
Hinter ihnen erklangen Schritte. Sekunden später traten einige weitere Orcs ein, ohne angekündigt zu werden; die Waffen, die in ihren Scheiden von ihren Gürteln baumelten, schlugen ihnen gegen die Beine. Die Botin war die erste von ihnen, und alle Blicke – die der Oger und Orcs gleichermaßen – richteten sich auf sie. Grommash hob eine Hand, um Stille zu befehlen.
„Ja?“
„Sie haben versucht, Verstärkung über das Meer heranzuholen, Kriegshäuptling Höllschrei.“ Vier Schiffe sind auf Hochfels zugesegelt, aber wir haben sie mit unseren Kanonen beschossen. Keines von ihnen hat das Ufer erreicht.“ Ihre Bewegungen waren überschwänglich. „Die Reste ihrer Armeen haben sich in ihren Türmen verschanzt. Wir werden ihre Festung in Kürze überrannt haben.“ Sie sah aus, als würde sie anfangen zu singen.
Mar’gok sah auf seine rechte Hand hinab. Sie hatte dicke Knöchel und war groß genug, einen Elekk zu Fall zu bringen, einem Orc die Rippen durch die Brust zu quetschen. Und sie zitterte.
Er wollte sie zwingen, aufzuhören, erst beiläufig, dann aus ganzem Herzen, aber das tat sie nicht.
Der Boden bebte. Schreckensschreie trafen auf das Schaben von Klingen. Aus dem Augenwinkel sah Mar’gok, wie Ko’ragh auf Grommashs Thron zustürmte, zwei Orcs zu Boden warf und über sie hinwegtrampelte. Seine säulenartigen Arme waren erzürnt ausgestreckt. Ein dünner Speer sauste durch die Luft und bohrte sich federnd in seine Schulter. Das Blut des Brechers quoll hervor und floss über das Holz, aber wie ein Fels, der durch Schlamm rollte, stürzte er weiter vor.
Und Mar’gok umfasste ihn mit einem Arm, schlug mit der Handfläche gegen Ko’raghs Kehle und warf ihn rückwärts auf den Boden, mit solcher Kraft, dass nahe Bäume ihre Blätter in Wolken verloren und Orcs auf den Rücken fielen.
Als der Atem pfeifend aus den Lungen des Brechers entwich, stellte Mar’gok einen Fuß auf seinen Bauch und sah zu, wie sich dessen Gesicht vor Schmerz verzerrte. „Idiot!“, brüllte er hinab.
Grommash sprang blitzartig auf. Dutzende Orcs zielten mit Klingen und Speeren auf Mar’gok. Mar’gok hob seinen Fuß vom Bauch des Brechers, richtete sich zu voller Größe auf und blickte dem Kriegshäuptling in die Augen, misstrauisch, den Atem angehalten, den Körper vor Erwartung gespannt. Er war größer. Höllschrei war schneller. (Wenn Mar’gok den schlummernden Stein erwecken könnte, bevor der Orc in Axtreichweite käme, und sich dann mit der Schulter in den Schwung würfe ...)
„Ihr wagt es, zu versuchen, mich in meinem Heim zu töten?“, brüllte Höllschrei, und es war ein echtes Gebrüll; kein Geräusch in der Nähe maßte sich an, lauter zu sein. Er bog die Finger: anspannen, entspannen. Beide Hände ergriffen die Axt. Er sah zu den anderen Orcs hinüber, vor Wut schwer atmend, und sie schienen als Antwort wie ein Körper zu brodeln.
Der Deckmantel der Diplomatie erstarb. Er würde zum Karren sprinten müssen. (Ob sie ihn wohl entfernt hatten?)
Vier Orcs schritten mit katzengleichen, weichen Schritten auf Mar’gok zu, hoben ihre Waffen und flankierten ihn. Er umklammerte den glatten Stein, der seinen Weg in seine Hand gefunden hatte. Beide Kiefer kauten auf seinen Zungen, so fest, dass er Blut schmeckte.
„Wartet.“ Grommashs Stimme war tiefer, gleichmäßiger.
Mar’gok sah, wie ein wenig von der sich aufbäumenden Wut von den anderen Orcs abfiel, wie die gefletschten Lippen und gespannten Knöchel sich lösten, als Höllschrei sprach. „Das war nicht das Werk des Kaisers.“ Der Kriegshäuptling sah zu Ko’ragh auf dem Boden hinab. Einige Waffen senkten sich, aber nur einige.
Grommashs kalte Augen blieben jedoch zu Schlitzen verengt. Er atmete schwer, nicht aus Erschöpfung, sondern vor Zorn, in der einfachen Erwartung von Gewalt. „Das ändert nichts an meiner Forderung. Ihr werdet jetzt zustimmen, uns zu unterrichten, oder Ihr werdet alle sterben.“
Vier stiernackige Orcs hielten Vareg in Schach. Ihre Speere befanden sich nur Zentimeter vor seiner Brust. Auf dem Boden stöhnte der Brecher und bewegte seinen Kopf hin und her, während die Stiefel der Orcs auf seinen Armen standen.
„Dann lasst uns über die Bedingungen sprechen.“ Mar’gok steckte den Stein zurück in seine Roben und zeigte seine erhobenen Handflächen. Wer sich zum Töten auf Waffen verließ, ließ sich oft vom Anblick leerer Hände beschwichtigen.
Grommash Höllschrei sagte nichts.
„Richtet ihn auf.“ Mar’gok gestikulierte sorgsam, und die Zenturionen zogen Ko’ragh in die Hocke. Sie rissen den Speer unter einem Zittern und einem Blutschwall aus seiner Schulter.
Die Orcs und ihr Anführer nickten einander knapp zu. Die Ablenkung durch die zitternden Klingen und Speere, die auf Augenhöhe auf ihn gerichtet waren, ließ widerwillig nach, doch die schiere Anzahl bewaffneter Orcs, die Mar’gok anstarrten, war erdrückend. Schweiß begann, sein Horn zu beflecken, und der Kaiser wischte in weg, wobei er sich einen Moment stahl, um seine Gedanken zu sammeln.
Grommash hatte sich schnell beruhigt, viel schneller als sein legendärer Jähzorn suggerieren würde, und das, ohne seinen Blutdurst zu stillen. Wollte er den Angriff in ihre Verhandlung einfließen lassen? Oder war es etwas anderes ... diese neuen Tötungsmaschinen, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren, das Aufblitzen in Grommashs Augen, wenn man Magie erwähnte, der Brecher, der am Leben gelassen wurde, obwohl er einen Kriegshäuptling angegriffen hatte? (Beweist Euren Wert, hatte die Botin gesagt.)
„Unsere Magie ist nicht einfach nur Teil der Abmachung.“ Mar’goks Lippen zogen sich verschwörerisch zusammen. „Ihr braucht sie. Warum?“
Grommash blieb stumm.
„Welche Macht fürchtet Ihr?“
Der Kriegshäuptling reagierte nicht mit dem hündischen Geifer, den Mar’gok erwartet hatte. Stattdessen setzte er sich wieder auf seinen Thron.
„Das ist wahr“, sagte Grommash langsam. „Wir können nicht alles kennen, was sich uns je in den Weg stellen wird.“
Er fuhr fort und blickte dabei zu einigen Orcs, die konzentriert aus der Nähe seines Throns zusahen. „Aber ich habe viel gesehen und es ist ... klug, sich vorzubereiten. Ich glaube, dass wir uns bald Zaubern gegenübersehen werden, die man auf Draenor noch nie gesehen hat. Wir werden ihnen nicht unterliegen. Wenn Euer Klan uns mit Eurer Magie zur Seite steht, wenn Ihr der Eisernen Horde Treue schwört, werdet Ihr Eure Leben verdienen.“
Mar’gok nickte mit beiden Köpfen. „Abgemacht.“
„Aber“ – hier blitzte das Tierische in Grommashs Augen auf – „wenn Ihr je zögert, wenn Ihr Euch nicht vollständig der Sache widmet, werde ich Euch an Kargath Messerfaust übergeben.“
Messerfaust. Der Häuptling des Klans der Zerschmetterten Hand war durch das Kolosseum stolziert, als wäre es sein Eigentum. Dann hatten die Hochfelsoger Kargath unter seinen Mauern angekettet. Berühmte Sklaven konnten gefährlich werden.
Kargath hatte eine seiner Hände (links? rechts?) entfernt, um zu entkommen, und hatte seinen Häschern auf dem Weg in die Freiheit dennoch gezackte Wunden zugefügt. Mit nur einer Hand hatte er selbst andere Gladiatoren befreit und sie dazu bewogen, sich ihm in seinen wahnsinnigen Racheakten anzuschließen. Angeblich verstümmelten die Orcs der Zerschmetterten Hand nun ihre eigenen Körper in Erinnerung an die Meisterleistung ihres Klangründers.
Mar’gok überlegte, wie lange sie wohl versuchen würden, ihn mit nur einem Kopf am Leben zu halten.
Grommash kam zum Ende. „Ihr dient uns.“
In Mar’goks Kehlen stieg die Galle hoch. Er sah nicht zu seinem Gefolge. „Ich verstehe“, sagte er knapp. „Aber Ihr müsst von Anbeginn dieser ... Partnerschaft ... verstehen, dass manche Magie einfach nicht gelehrt werden kann, und nicht, weil der Wille dazu fehlt.“ Die Botin rollte mit den Augen. (Vielleicht würde sie auf dem Rückweg nach Hochfels auf einer Klippe abrutschen.)
„Die Magie, von der ich spreche, formt Körper und Geist, wie ein Meißel Stein formt. Während sie uns Macht verleiht, entfernt sie Teile unseres Wesens. Das kann selbst diejenigen töten, die sich ihr ganzes Leben lang darauf vorbereitet haben.“ Er blickte vielsagend zu Ko’ragh hinüber (der noch lebte).
Grommash stützte sein Kinn in eine Hand; er schien davon nicht erschüttert. Der Kaiser eilte sich, die Stille zu füllen. „Ihr zweifelt an meiner Ehrlichkeit, aber ich habe Beweise mitgebracht. Vareg, den Karren.“
Vareg warf ihm offen feindselige Blicke zu, zog den Karren jedoch herbei. Er hatte zweifellos angenommen, dass er in einem Überraschungsangriff auf das Lager des Kriegshymnenklans zum Einsatz kommen würde, nicht, dass er zum Tausch angeboten werden würde. Wenn je Hoffnung bestanden hatte, Grommash zu überrumpeln, blieb nun keine Chance mehr dazu.
Mar’gok zog den Stoff ab, und ein leichter Geruch umgegrabener Erde stieg ihm in die Nasen.
Ein stumpfes Stück Fels stand monolithisch im Karren. Es schwankte keinen Fingerbreit, als er vor Mar’goks Publikum gerollt wurde. Die meisten der Orcs schienen unbeeindruckt zu sein: Es war ein großer Stein, gezackt und unförmig. Einige der komplexen Spiralen und Wirbel, die seine Oberfläche zierten, fanden sich in groben Umrissen auch auf Ko’raghs Haut wieder, doch davon abgesehen erschien er (für ein Artefakt, das die edelsten Blutsfamilien in Hochfels nach einer ein Jahrzehnt andauernden Fehde dem Bauch der Welt entrissen hatten) nicht bemerkenswert.
Die glatten Steine, die in Mar’goks Taschen verborgen lagen, wurden etwas wärmer. Er fühlte, wie ihre Hitze in Nadelstichen ausstrahlte. Sie wanden sich, fast, als wollten sie sich befreien. Sicherlich würde es einer der Schamanen unter den Orcs bemerken.
„Wenn man ihn erweckt“, sagte der Kaiser mit einer ausladenden Geste, „kann dieser große schlummernde Stein jede Magie dämpfen, die er gespürt hat, selbst die Eurer Schamanen. Doch er ist von größerer Bedeutung. Er ist das Mittel, mit dem wir unsere fähigsten Brecher formen.“
In Ko’raghs Gesicht tanzte der Stolz. Mar’gok fuhr fort. „Man wählt sie für ihre Zähigkeit aus. Sie werden von Hitze versengt, von Felsen zermalmt, ihnen wird Wasser, Essen und Luft entzogen. Selbst die Zähesten können dabei sterben.“
Grommash nickte.
„Erst lernen sie die Zeichen und Muster einer Schule der Magie. Dann müssen sie von kontrollierten Infusionen dieser Magie getroffen werden, etwa von Stichen oder Schnitten, während dieser Stein in der Nähe ist. Mit der Zeit wird ihnen etwas von ihrer Lebensessenz genommen, und ein kleiner Teil davon wird von der Magie ersetzt, die in ihr Dasein selbst gebrannt ist. Sie werden immun.“
„Gegen nur eine Art der Magie?“, knurrte Grommash. Mar’gok hatte vor langer Zeit dieselbe Enttäuschung verspürt.
„Nur gegen eine Schule“, antwortete der Kaiser. „Wir haben versucht, unsere begabtesten Brecher gegen weitere Schulen immun zu machen. Alle sterben dabei.“ Auf schreckliche Weise. Einer von ihnen war von innen heraus verbrannt.
Mar’gok fuhr fort. „Die Zaubererkönige haben Artefakte wie dieses über Jahrhunderte zusammengetragen. Viele von ihnen beeinflussen die Wirkung von Magie auf Lebewesen, andere sind unbeschreiblich. Hier in Nagrand sind noch mehr, tief vergraben. Ich würde ihre Macht mit Euch teilen.“
Der Kriegshäuptling umschritt das Artefakt und blinzelte es mit neu erwachtem Interesse an. „Wird das Orcs gegen jede Magie immun machen? Nicht nur Oger?“
Mar’gok verkniff sich einen Anflug von Überheblichkeit, der sich zu gern auf beiden Gesichtern gezeigt hätte. „Ja, mit der Zeit. Eure Krieger sind nicht so zäh wie die größten der Hochfelsoger. Es wird dauern – Generationen – bis Ihr Euch angepasst habt, selbst mit unserer Hilfe. Aber es ist möglich.“
Grommashs einzige Antwort war ein schweres Grunzen. Jede Antwort ohne Zähnefletschen oder Geschrei konnte als Einverständnis interpretiert werden.
Zufrieden legte Mar’gok die Spitzen seiner granitartigen Finger aneinander. „Dann sind wir uns also einig. Der Hochfelsklan wird“ – in seiner Kehle sammelte sich Speichel – „der Eisernen Horde dienen.“ Er sagte nichts über ihre Armeen, Territorien, gemeinsame Verteidigung. Grommash soll um jeden Gefallen einzeln bitten.
Der Kaiser blickte auf die narbengesichtige Botin hinab. Jetzt gehörte sie ihm. „Befehlt Eurer Legion, Hochfels zu verlassen und hierher zurückzukehren.“ Er bemerkte nicht einmal, dass ihm das Atmen leichter fiel. Es war vorbei. Bitter, aber vorbei. Klan und Stadt blieben erhalten, und mit der Zeit ...
„Nein“, unterbrach Grommash. „Die Belagerung endet, wenn Ihr die Funktion dieses Artefakts vorgeführt habt. Nicht früher.“
Mar’goks Köpfe fuhren herum.
„Wenn ich mich auf Eure Stärke im Kampf verlassen soll, will ich sie auch im Kampf sehen“, fuhr Grommash fort. „Seid Ihr nicht Arenaveteranen? Es ist ein einfacher Kampf gegen einige meiner Champions. Wenn Ihr die Wahrheit sagt, sollte das schnell gehen.“
(Messerfaust. Daran bestand kein Zweifel.)
„Kriegshäuptling Höllschrei, jeder Oger, der in Hochfels stirbt, ist einer weniger, der Eure Krieger unterrichten kann ...“
Der Blick, den ihm Grommash als Antwort zuwarf, ließ Mar’gok das heiße Blut in den Ohren rauschen. Beide Hände des Kriegshäuptlings schlossen sich um seine Axt, als wäre sie ein Hals, und Mar’gok verstand augenblicklich, wie tief der Hass des Orcs saß. „Weigert Ihr Euch, Kaiser?“
Mar’goks Gedanken verdüsterten sich. In ihnen pirschte er auf und ab und fluchte. In seinen Handflächen sammelte sich der Schweiß. Das war also Frieden mit der Eisernen Horde ... keine Übereinkunft, sondern ein Käfig. (Oder hatte Grommash die Verhandlung nur zugelassen, weil sie ihm die Chance bot, ihn zu demütigen?) Er blickte sich zu seinem Gefolge um und versuchte, seine Bewegungen langsam und bedacht aussehen zu lassen. (Würde das gelingen?) Überall waren Orcs. Sie schienen sein gesamtes Blickfeld einzunehmen.
„Nein. Ich nehme an.“
Grommash Höllschrei führte sie in die Kampfgrube.
***
Zu keinem Zeitpunkt waren Oger mehr miteinander im Einklang als dann, wenn sie sich zusammentaten, um einen Mord zu planen. Während sie die Haufen von zu kleinen Waffen durchwühlten, die die Orcs ihnen gegeben hatten, und sorgfältig Kettenpanzer und Speere auswählten, war der Enthusiasmus der Gruppe so spürbar wie der in einer großen Vorstellung im Kolosseum. Endlich waren die Diskussionen beendet, und es gab nur noch die gedankenlose Einfachheit des Blutvergießens. Töten. Siegen.
Die Zenturionen hatten Mar’goks zerfetztes Banner benutzt, um eine behelfsmäßige Flagge an der Spitze einer Hellebarde herzustellen. Jetzt umklammerten ihre Hände Schwerter der Orcs, als hielten sie eine Faust voller Messer. Selbst Ko’ragh, dessen Wunde an der Schulter unter Moosbandagen schwärte, war auf den Beinen und hielt ein Paar zu kleiner Keulen.
Sie wussten nicht einmal, was sie erwartete. (Idioten.)
Nur Vareg schien zögerlich. (Zieht er arkane Waffen stählernen vor? Mit Sicherheit.) Er spielte mit einem Schild, hob ihn an und senkte ihn wieder, als warte er auf ein Omen. Mar’gok winkte sie heran. Seine Worte waren Generationen alt.
„Seid Ihr bereit, Eure Leben für den Ruhm von Hochfels, den Eures Rates und den Eures Kaisers zu lassen?“
Alle Füße stampften auf, alle Fäuste wurden in die Höhe gereckt.
„Seid heute siegreich, und Ihr erstreitet uns weitere tausend Jahre auf dem Berg.“ Er sah Ko’ragh an. Der Brecher strahlte zurück.
Und wieder bäumte sich Vareg, wenn auch nur leicht, gegen sein Schicksal auf. „Kämpft Ihr nicht an unserer Seite, Kaiser?“ Es hätte wie eine ehrliche Frage erscheinen können, hätte er dabei nicht versucht, den Blick aller Zenturionen gleichzeitig zu erhaschen.
„Ich werde mit Euch kämpfen, doch meine Waffe wird der schlummernde Stein sein. Höllschrei muss seine Vorführung bekommen.“ (Ich werde alles opfern, Vareg.)
Mar’gok richtete sich auf. „Wir kennen die Natur unserer Gegner nicht. Ihr zwei“, sagte er, wobei er auf Vareg und Ko’ragh zeigte, „seid unsere Verteidigung gegen Zauber, die anderen konzentrieren sich auf das Töten. Zieht den Kampf nicht unnötig in die Länge. Höllschrei interessiert sich nur für den Stein, nicht für Eure Tode.“
Die Oger hingen die Standarte von Hochfels an den Rand der Kampfgrube, einer flachen, von Stein gesäumten Kluft, die mit Sand und purpur-schwarzen Blutflecken gefüllt war. Es war offensichtlich, dass die Eiserne Horde über niemanden verfügte, der sie zu säubern hatte (oder sie fand einfach nicht, dass der Kampf solche Zeremonien wert war), obwohl Dutzende von Orcs in der Nähe kauerten oder standen und einander ankläfften. Es gab keine Sitzplätze für das Publikum.
Unter den Augen der Orcs schob Mar’gok das Artefakt langsam zum äußersten Rand der Grube, gegenüber von dem Ort, an dem Grommash stand. Vareg folgte ihm und ergriff die Hinterseite des Karrens, um beim Schieben zu helfen.
„Kaiser“, flüsterte Vareg, „Ihr braucht Hilfe mit dem Artefakt. Lasst mich Euch helfen.“
„Nein“, wehrte Mar’gok mit einer Handgeste ab.
„Was, wenn Ihr Euch im Kampf verletzt? Oder getötet werdet? Niemand sonst hat den schlummernden Stein angerufen.“ Seine Augen waren groß und manisch. Er griff nach seinem König; er könnte flehen wollen oder versuchen, ihn zu würgen ...
Mar’gok schlug die Hände beiseite. „Nein. Euer Platz ist in der Grube. Geht runter.“
Wundersamerweise tat er es. Wenn sie beide sterben sollten, würde Vareg wenigstens zuerst sterben.
An beiden Seiten der Kampfgrube gab es keine Eingänge. Einer nach dem anderen sprangen die Oger hinab und wirbelten Sandwolken auf. Sie begannen, die Wände zu überprüfen, Positionen einzunehmen, mit ihren Waffen auf den Boden zu klopfen, wobei sie ihn als gemeinsame Trommel nutzen. Sie schlugen schnell drauflos, ohne den Rhythmus zu verändern. Mehr Sand wurde aufgeworfen. Ein kehliges Schlachtsummen schallte aus ihren Kehlen. Die Töne harmonierten nur gelegentlich.
„Ihr seid bereit“, sagte Grommash, und das Reden brach plötzlich ab wie Regen, der in einer Wolke eingeschlossen wurde. Es war keine Frage.
Mar’gok hockte vor dem Artefakt. Seine Wärme war tröstlich, doch es fing bereits an, an ihm zu zehren.
„Bringt die Gefangenen heraus!“, brüllte Höllschrei.
Ein Dutzend verwahrloster Gestalten wurde in Ketten an den südlichen Rand der Grube geführt. Es waren Orcs, von denen keiner größer war als die Krieger an Grommashs Seite, doch ihre mottenzerfressenen violetten Roben, ihre wilden Haarschöpfe und Bärte ließen sie noch kleiner erscheinen. Jeder einzelne von ihnen war unbewaffnet und ungerüstet.
Das einzig Ungewöhnliche an ihnen war ihre grüne Haut.
Grommash sprach leise mit einem der Gefangenen, dessen Antworten nicht hörbar waren. „Ich werde Euch nicht die Freiheit schenken, Hexenmeister.“ Der Kriegshäuptling erhob die Stimme, damit Mar’goks Krieger ihn hörten. „Aber wer immer von Euch einen Oger tötet, darf sich eine Belohnung aussuchen: eine saubere Pritsche oder einen schnellen Tod.“
Was war ein Hexenmeister? Mar’gok hatte dieses Wort nie zuvor gehört. Was hatten sie verbrochen? Der Kaiser fühlte, wie ihm ein Hauch von Ungewissheit in den Rücken fuhr. Ihrem erbärmlichen Aussehen nach zu urteilen waren die Orcs vermutlich Diebe, aber warum würde Grommash Dieben ihre Hände lassen? Die Oger in der Grube wunderten sich über den Anblick ihrer winzigen Gegner, und Ko’ragh kratze sich am Kopf und kicherte, während den Orcgefangenen die Ketten von ihren Hand- und Fußgelenken entfernt wurden.
Als sie näher kamen, bemerkte Mar’gok geschwollene Peitschenstriemen auf den Armen und Schultern der Gefangenen. (Einige der Wunden waren noch frisch.)
Sie kletterten kraftlos in die Grube herab. Als ihre Füße den Sand berührten, ein Dutzend gegen fünf, reckten die Zuschauer ihre Hälse, um zuzusehen. Mar’gok zog einen Atemzug durch jede Kehle. Mit Sicherheit würden Sie Magie benutzen, aber welche? Sie hielten keine Gegenstände und zeigten keine sonstigen Hinweise.
„Fangt an!“, rief Höllschrei.
Noch bevor der Kriegshäuptling seinen Mund geöffnet hatte, hatte Vareg bereits beide Füße in den Boden gerammt. Dann zog er eines seiner riesigen Beine in einem Feger zurück und zeichnete mit ausgestreckten Handflächen einen Halbkreis in den Sand. Die Gefangenen wurden überrascht, als Eis wie eine Welle aus dem Sand emporschwoll und zwei von ihnen völlig umgab, sie zermalmte und die sich rot färbenden Trümmer ihrer Körper hinabzog.
Mar’goks Fingernägel kratzten gegen seine untere Handfläche, dann drückte er sie gegen das Artefakt. Die Zauber, mit denen er sich jeden Morgen umwob, zogen sich zurück. Sein unsichtbarer arkaner Schild löste sich langsam auf; seine Kleidung wurde heller und lockerer, als sie ihre Undurchdringlichkeit für Feuer ablegte. Er war verletzlich, doch er konnte fühlen, wie die Macht des Steins sich regte. Er blickte den Orcs in die Augen und sah, dass sie trübe und unkonzentriert waren. (Ihre Magie bestand also nicht aus Vereinigung.)
Die anderen Oger stürmten dichtgedrängt durch die Grube. Jede Faust umklammerte mehrere kleinere Waffen. Gigantische Füße versprühten Sand und Eis. Sie überbrückten die Distanz schnell, während die Orcs, die sich wie Marionetten an einem Faden im Einklang bewegten, begannen, ihre Magie zu wirken. Es gab Hinweise auf die Schulen ihrer Magie, aber keine Gewissheiten. (Keine arkanen oder schamanistischen Traditionen. Solche Magie hätte er inzwischen erkannt.)
Längst erstorbene Worte schlängelten sich von ihren Lippen.
„Auseinander!“, donnerte Mar’gok. Sein Gefolge gehorchte in wortlosem Einklang. Sie fächerten ihre Formation aus, um das Risiko, dass mehr als einer von ihnen von einem einzigen Angriff erfasst wurde, einzuschränken.
(Wenn die Orcs ihre Magie variierten und jeden Oger mit mehreren Zaubern träfen, würden einige von Mar’goks Gefährten überleben, und das würde reichen.) Er begann, über die Wirbel auf der unteren Hälfte des Artefakts zu streichen.
Die Orcs zuckten schneller in obskuren Bewegungen mit den Fingern. Der Kaiser blinzelte in dem Versuch, ihre Magie zu lesen, während sie sie herbeiriefen, doch sie war fremdartig. Er grinste, als Ko’ragh eifrig eine Keule durch die Kehle eines der Orcs schlug ... und hörte auf zu grinsen, als die Haut des Brechers wie Laub unter kochendem Wasser abfiel.
Zehn Orcs entfesselten dieselbe Beschwörung. Mar’gok hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen. Unheilvolle, grünlich-gelbe Flammen verbrannten selbst die Luft, die sie trug, entzogen den Lungen aller Zuschauer sengende Atemzüge, wirbelten durch die Kampfgrube. (Nein.)
Sie trafen die Oger mit der Kraft eines Orkans und brühten in einem einzigen, entsetzlichen Moment ihre Haut von ihren Körpern. Die Champions von Hochfels waren verdorrte Klumpen, ihre gesichtslosen Körper im Sand zusammengebrochen. Wenige Haarsträhnen flammten als einziger Beweis, dass sie je Lebewesen gewesen waren, auf. (Nein. Nein.)
Mar’gok schlug mit beiden Händen gegen das Artefakt. Es reagierte nicht.
Der Zaubererkönig hatte verloren. Mar’goks Gesichter nahmen den schlaffen Ausdruck des Grabes an. Er sah zu, wie (vermutlich) Vareg schwelte und schmolz, und selbst die gewohnte Freude über einen vernichteten Rivalen entzog sich ihm.
Verrußtes, gelbes Fackellicht und leuchtende grüne Flammen, die mitten in der Luft knisterten, spiegelten sich in den glasigen Augen der Orchexenmeister. Sie wandten sich Höllschrei zu, und einer nach dem anderen versuchten sie (höhnisch?) zu salutieren.
Hinter ihnen sah Mar’gok, wie sich etwas bewegte. In dem nach Thiol stinkenden Matsch, zu dem die Kampfgrube des Kriegshymnenklans geworden war, wankte Ko’ragh langsam, benommen, auf die Beine. Sein Körper war versengt, seine Haut hing in Fetzen hinunter.
Eine Sekunde lang klopfte der Fuß des Kaisers in der Erwartung auf den Boden, das Unmögliche versuchen zu können. Er streckte einen Arm nach dem Artefakt aus. Er hatte bereits versagt. Mit den Leichen der Hochfelsoger als Einsatz zu spielen, barg kein Risiko.
Dort, wo er ihn berührte, brannte der graue Stein des Artefakts heiß. Er hatte etwas wie diese Magie nur einige Sekunden lang gekannt, doch vielleicht würde das ausreichen, um zu wiederholen, zu imitieren. Der Zaubererkönig biss die Zähne zusammen und atmete so vorsichtig ein, als würde er ein Wandgemälde in splitterndes Holz ritzen wollen.
Dünne Linien aus grünem Feuer begannen, sich in Ko’raghs Haut zu graben, kratzten über seinen Körper und drohten, ihm sein Leben zu entziehen. Mar’goks Inschrift fuhr über ein blaues, runenvernarbtes Stück Haut, und der Brecher schrie vor Schmerz, bevor er wieder in den Sand zurücksank.
Mit wölfischer Schnelligkeit fuhren die gefangenen Orcs herum. Einer von ihnen zeigte mit einer grausamen, langfingrigen Hand auf den Brecher. Mar’goks Herz sank, diesmal tiefer um des winzigen Hoffnungsschimmers willen, als die schäumenden, hellen Flammen wieder hervorschossen und sich wie eine Robe um Ko’ragh wickelten.
Mar’gok zog den Schwung seiner Inschrift nach oben, blindlings auf seinen Ausgangspunkt zu. Er konnte Ko’ragh nicht sehen. Sein Finger hing ausgestreckt in der Luft.
Dann schwebten die Flammen davon und lösten sich in Luft auf.
Zwei Schulen der Magie. Der Brecher war nun gegen beide immun. Es war unmöglich gewesen, bis es das nicht mehr war.
Langsam, während Mar’gok sengende Luft in seinen Lungen hielt, erstreckte sich Ko’raghs Schatten über die Grubenwand und ragte über den Orcs empor. Er stand aufrecht. Unter seinen dunklen Verbrennungen war er nun blau und grün gezeichnet. Die hastig angefertigten Inschriften des Zaubererkönigs waren auf seinem Körper sichtbar und vermischten sich mit den Runen, als wären sie in Asche geschrieben.
Mit zusammengebissenen Zähnen und wilden Augen schritt der Brecher auf die Orcs zu. Stoß um Stoß flammender grüner Energie verflog auf seiner Haut.
Ko’raghs Waffen waren zerstört worden, also ging er mit bloßen Händen auf seine Feinde los, zermalmte sie unter seinem Gewicht, zerbrach ihre papierdünnen Körper, zermahlte sie mit seinen stalaktitengleichen Händen und Ellenbogen zu einer rötlich-schwarzen Masse.
Einer der Orcgefangenen zog sich aus der Lawine zurück, die seine Gefährten verschlang. Er gab seine Zauber auf und ergriff eine Waffe vom Boden, die er in dem Versuch schwang, den riesigen Oger abzuwehren. Ko’ragh trat von dem Blutbad, das er angerichtet hatte, zurück und ließ zu, dass der Biss des rostigen Stahls seine Schulter fand, wo er kaum die Haut aufritzte.
Mit einer Hand ergriff er den Schädel des Orcs, drückte zu und drehte. Die Hände des Gefangenen scharrten und kratzten. Er versuchte, irgendeinen empfindlichen Halt zu finden, der den Klammergriff lösen würde, doch er war zu klein. Langsam und qualvoll begannen die Augen des Orcs hervorzutreten, bis sie über seine Brauen hinausragten. Der Brecher ließ sein Publikum das Geräusch brechenden Holzes hören und schleuderte dann, mit einem letzten Schütteln, seine Last zu Boden.
Während die Orcs der Eisernen Horde anerkennend brüllten, hielt der Brecher eine einzige Faust, blutig vom Überfluss des Sieges, seinem Kaiser entgegen. Mar’gok verschränkte die Arme vor der Brust.
Grommash Höllschrei sah erfreut und lebhaft aus, während er mit den anderen Orcs gemeinsam brüllte. Er schrie über die Grube hinweg: „Schon bald werden unsere Krieger Hexenmeisterzauber ignorieren!“, und der Jubel schwoll an. „Meinen Glückwunsch, Kaiser. Vielleicht können wir Euren Klan doch noch gebrauchen.“ Er wandte sich der narbengesichtigen Botin zu und sprach laut genug, dass Mar’gok es hören konnte. „Benachrichtigt die Armee. Beendet das Gemetzel. Die Hochfelsoger sind Diener der Eisernen Horde.“
Es dauerte einige Minuten, bis die vereinzelten Jubelrufe verstummten. Die Hochfelsoger. Diener. Unter Androhung des Todes würden sie sich verändern. Doch Grommash hatte Mar’gok bei seinem Titel genannt. Noch war er König.
Höllschreis nahe Stimme riss den Kaiser aus seinen Gedanken. „Ich weiß, dass Ihr viele Sklaven in Eurer Stadt habt.“
Weil er das musste, beugte sich Mar’gok vor, um zu antworten. „Ja.“
„Ihr werdet alle Orcs darunter an Kargath Messerfaust übergeben. Sie gehören jetzt zum Klan der Zerschmetterten Hand. Wenn Ihr Eure Stimme gegen mich erhebt, wenn Ihr es wagt, Euch aufzulehnen“, feixte Grommash, während er an ihm vorbeiging, „dann werde ich die Sklaven von Hochfels schicken, um Euer Blut zu vergießen.“
Der Kaiser antwortete nicht.
Während sich die Orcs von der Grube entfernten, sah Mar’gok zu, wie sich Ko’ragh ihm mit einem erschöpften, selbstzufriedenen Lächeln auf seinem haarlosen Gesicht näherte, dem Lächeln einer Person, die wusste, dass sie nicht nur etwas erreicht hatte, sondern dasselbe wieder erreichen würde.
„Kaiser.“ Er salutierte.
„Ko’ragh.“ Mar’gok hob nicht die Hand, um ihn zu beglückwünschen. Der Brecher bemerkte es kaum. Er war begeistert.
„Kaiser, ich glaube, das kann ich noch einmal.“
Mar’gok schnaufte. „Was noch einmal?“
„Gegen noch mehr Magie immun werden.“
„Ich verstehe. Und wann hattet Ihr vor, mir von diesem ... verborgenen Talent zu erzählen, Ko’ragh?“
Ko’ragh schien verwirrt zu sein. „Ich habe es nicht ...“
Mar’gok schlug ihn. Hart, ins Gesicht, wo Knochen splitterten. Er wurde zurückgeschleudert. Plötzliche Wut brodelte aus dem tiefsten Inneren des Kaisers hervor; Speichelfetzen flogen aus seinem Mund, während er auf Ko’ragh einschlug, auf den Kopf, die Brust, die Schultern. Die Schläge gingen wie Hagel auf ihn nieder.
Seine Faust schmerzte. Der Brecher, auf den Knien, hob beide Hände, um sein Gesicht zu schützen, schlug jedoch nicht zurück. Seine Augen zeigten erst Angst, dann Bestürzung. Dann, als klar wurde, dass Mar’gok ihn nicht mehr schlagen würde, Hass. Er ließ einen blutigen weißen Zahn aus seinem Mund in den Staub tropfen.
Mar’gok ignorierte ihn. Außer Atem zog er seine Kapuzen ab und kratzte sich an den verschwitzten Hinterköpfen.
Als er sah, wie die narbengesichtige Botin in aller Seelenruhe ihren Beutel mit Vorräten füllte, blaffte Mar’gok sie an. „Bring ihn zu Euren Heilern.“ Mit einer schnellen Drehung seines Handgelenks zeigte er auf Ko’ragh.
Die Botin grinste. Sie sagte nichts, nahm ihn nicht weiter zur Kenntnis und fuhr damit fort, gelangweilt ihre Wanderstiefel zu schnüren.
„Sofort!“, brüllte Mar’gok.
Sie sah Mar’gok leicht irritiert an, als wären seine Stimmen einfach nur zu laut. Eine Sekunde später wandte sie sich wieder ab.
Er sah kochend vor Zorn zu, wie sie allein davonging.
***
Mar’goks Balkon war ruhig. Die Steine schlummerten.
Seit seiner Rückkehr aus Grommashar hatte er seinem Thronsaal zwei weitere hinzugefügt. Der Dienst unter der Eisernen Horde machte es möglich, ohne größere Störungen Nagrand zu durchstreifen, wenigstens ohne Störungen durch die Orcs. Sicher ließ Grommash ihn beobachten, aber würde er ihm ein paar Steine neiden, solange seine Armeen ausgebildet wurden?
Die Orcs erlernten die Grundlagen der Magieimmunität langsam. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde es Jahre dauern, und Jahre könnten sich über Generationen erstrecken. Mar’gok würde Ko’ragh befehlen, für jeden Orc zwei Oger auszubilden.
Varegs Platz im Rat war frei. Mar’gok würde ihn besetzen, wenn ihm der Sinn danach stand. Er würde einen Ersatz wählen, der vollkommen risikofrei war. Die beiden stämmigen, halslosen Ogron – eine Evolutionsstufe zwischen Ogern und Schlamm –, die vor seinem Saal Wache standen, waren zu dumm für Ungehorsam. Es war erfrischend.
Mar’gok würde warten. Er würde die Eiserne Horde ertragen. Grommash Höllschrei wusste nur, wie man in die Schlacht stürmte, wie man tötete. Der Kriegshäuptling würde die Traditionen des Hochfelsklans niemals auslöschen, solange sie ihm nutzten. Er war lediglich der Krieger mit den größten Waffen. Was wusste er schon von Imperien? Nichts.
Die Eiserne Horde nannte sie Diener. Und Mar’goks Volk würde dienen. Sie würden Höllschrei beschwichtigen, ihre Größe verleugnen. Für den Moment.
Selbst ein König konnte den Bauern mimen, solang er seine Krone verbarg.
Höllschrei von Robert Brooks
Teil Eins
Garrosh nahm die Landschaft Nagrands genau in Augenschein. Seit Tagen waren keine Späher des Kriegshymnenklans in Sichtweite gekommen. Warum sollten sie auch? Dieser Hügel befand sich am Rand des Klangebietes, und in Friedenszeiten gab es kaum einen Grund, hier zu patrouillieren. Oger auf Beutezügen würden aus dem Westen kommen. Andere Orcklans würden sich aus dem Osten nähern. Selbst zur Jagd war die Gegend zu dieser Jahreszeit nicht geeignet, wie sich Garrosh erinnerte.
Er war noch sehr jung gewesen, als er zuletzt auf dieser Hügelkuppe gesessen hatte, und—
Nein. Garrosh hatte als Kind nie auf dieser Hügelkuppe gesessen oder war auf diese Bäume geklettert oder war mit den Fingern über diese Grasbüschel gestrichen. Dies war eine andere Welt.
Kairozdormu hatte ihm geraten, sich auf einige seltsame Entdeckungen einzustellen. Ich habe mein Leben damit verbracht, die Zeitwege zu erforschen. Wenn Ihr versucht, Grashalme zu zählen und zu vergleichen, werdet Ihr Euch selbst in den Wahnsinn treiben, hatte er gesagt. Meine Pläne setzen einige ... günstige Bedingungen voraus, und hier werden wir sie vorfinden. Dieser Zeitweg ist für uns ideal. Kein perfektes Spiegelbild, aber nichtsdestotrotz perfekt.
Das würde sich zeigen müssen. Garrosh schützte seine Augen mit der Hand vor der untergehenden Sonne und starrte auf die Landschaft, die knapp unter ihr lag. Wenigstens wusste er, dass diese Hügelkuppe ein sicherer Ort zum Rasten war. Die offenen Wiesen, saftig und grün, würden mögliche Eindringlinge lange sichtbar machen, bevor sie Garrosh entdeckten.
Hinter ihm entspannte sich Kairoz. Er lag beim verglühenden Lagerfeuer auf dem Rücken und hielt eine große, gezackte Glasscherbe über seine Augen. Das Licht des Feuers und die untergehende Sonne ließen bronzefarbene Schimmer auf ihrer Oberfläche spielen. „Habt Ihr darüber nachgedacht, was wir besprochen haben, Höllschrei? Ihr habt schon genug Zeit verschwendet—“
Garrosh schnellte herum und starrte ihn wütend an. „Nennt mich nicht noch einmal bei diesem Namen. Nicht hier. Niemals.“
Kairoz richtete sich unbeholfen auf. Der Bronzedrache konnte sich in seiner neuen Orcgestalt noch nicht anmutig bewegen. „Nicht? Euer Nachname würde beim Kriegshymnenklan sicherlich Aufmerksamkeit erregen. Uns weiterbringen.“
„Er könnte mit Blutschrei meinen Hals durchtrennen. Und auch den Euren“, sagte Garrosh.
Kairoz grinste. Die Form seines Mienenspiels gehörte unverkennbar einem Quel’dorei und passte nicht zu einem Orcgesicht. „Euer Vater und seine Waffe können mir nichts anhaben. Nicht, solange er nicht fliegen kann.“
Garrosh antwortete nicht. Ich hoffe, dass Ihr Eure Drachengestalt vor Grommash Höllschrei zeigt. Das hoffe ich wirklich.
Kairoz legte die Glasscherbe in seinem Schoß ab. Selbst diese einfache Bewegung sah falsch aus. „Also. Habt Ihr eine Entscheidung getroffen?“
„Das habe ich.“
„Und?“
Garrosh achtete darauf, seine Stimme ruhig zu halten. „Es ist Zeit, dass sich unsere Wege trennen.“
„Ach was?“, gluckste Kairoz. „Ich kann mich nicht entsinnen, Euch in dieser Hinsicht die Wahl gelassen zu haben.“
„Ihr mögt aussehen wie ein Orc, aber Ihr verhaltet Euch nicht wie einer. Sie werden Euch wittern. Ich muss allein an sie herantreten“, sagte Garrosh.
„Aha. Und wann kann ich zu Euch stoßen?“ Kairoz' Grinsen wurde breiter.
„Wer weiß? Wenn die Zeit reif ist—“
„Also nie, wollt Ihr sagen.“ Kairoz schüttelte den Kopf. „Oh, Garrosh, Garrosh, Garrosh. Raffinesse war noch nie eine Eurer Stärken. Macht Euch nicht lächerlich.“
Garrosh unterdrückte eine giftige Antwort. „Schön.“ Seine Stimme war beherrscht. „Ich werde mich klar ausdrücken: Meine Horde braucht keine Hilfe von Drachen.“
„Mmm. Eure Horde?“ Kairoz stand langsam auf, wobei er die Glasscherbe vorsichtig in einer Hand balancierte. „Eure Horde hat Euch abgesetzt. Ohne mich würdet Ihr noch immer in einer Gefängniszelle verrotten. Der Luxus, mich fortzuschicken, steht Euch nicht zu.“ Der falsche Orc legte seinen Kopf schräg. „Und wenn Ihr Euch weigert, Euch zu benehmen, kann ich dafür sorgen, dass Ihr Euch nach der Möglichkeit der Erlösung durch eine Henkersaxt sehnt.“
Kairoz' andere Hand steckte in seiner Schärpe, dem einzigen Kleidungsstück, das er von seiner Hochelfengewandung beibehalten hatte. Garrosh konnte darunter das Klappern von Metall hören. Vielleicht eine versteckte Waffe?
Eine Vorahnung von Gewalttätigkeiten überkam Garroshs Geist. Die Welt wurde klarer, deutlicher. Er ließ kein äußerliches Anzeichen davon zu. „Mein Volk hat Besseres verdient als das, was das Schicksal ihm zugewiesen hat. Ich werde das berichtigen. Ohne Euch“, sagte Garrosh.
„Ihr habt mir nicht zu befehlen“, sagte Kairoz. „Ich—“
Genug. Ohne Vorwarnung schnellte Garrosh vor; sein wortloser Schlachtruf erfüllte die Luft. In drei Schritten war er über das Lagerfeuer gesprungen und hatte Kairoz bei der Kehle ergriffen. Er drückte zu und hob ihn hoch.
Ein bronzefarbenes Licht blitzte auf. Die Glasscherbe in Kairoz’ Händen schimmerte.
Garrosh blinzelte. Seine Hand drückte nichts als Luft. Das Lagerfeuer war wieder vor ihm, drei Schritte entfernt, als hätte er sich nie vom Fleck gerührt. Kairoz war verschwunden. Ein Moment verstrich in Verwirrung, dann wand sich ein Arm um Garrosh Kehle und hob ihn von den Beinen.
Die Welt wurde kopfüber gedreht. Kaltes Metall – vertrautes Metall – schloss sich mit einem Klicken um seine Handgelenke.
Er prallte hart in den Staub. Kairoz’ Knie hielt ihn am Boden, sein Unterarm war fest gegen Garroshs Hals gedrückt.
„Nur, weil ich jetzt sterblich bin, haltet Ihr mich für schwach?“, zischte Kairoz. „Ihr seid kein Kriegshäuptling mehr, Höllschrei. Ihr seid frei, weil ich es so will. Ihr seid am Leben, weil ich es so will. Ihr werdet Euch Eurem Vater anschließen und die alten Orcklans zusammenführen, weil ich es so will.“ Kairoz’ Tarnung verschwand vom Hals an aufwärts, und sein Orckopf wandelte sich plötzlich zu etwas viel größerem, echsenhafteren. Die riesigen Augen des Bronzedrachens senkten sich herab, bis sie nur wenige Zoll von Garroshs Gesicht entfernt waren. „Ihr seid eine Spielfigur. Nichts weiter. Bleibt mir nützlich, oder Ihr werdet entsorgt.“
Garrosh bleckte die Zähne. Seine Handgelenke waren mit denselben Fesseln aneinander gekettet, die er getragen hatte, als er diesem absurden Theater einer Gerichtsverhandlung entkommen war. Jetzt verstand er, warum Kairoz sie so sorgsam entfernt hatte, statt sie einfach zu brechen.
Kairoz hatte sie verborgen und bereithalten wollen. Er hatte eine Konfrontation erwartet. Nein, er hatte eine Konfrontation provoziert.
Langsam, Stück für Stück, gewann Garrosh Beherrschung über seinen Zorn. Er zügelte seinen Atem. Regelmäßige Atemzüge. Narr. Er hat dich geködert. Mach diesen Fehler nicht noch einmal. Der rote Schleier verschwand aus seiner Wahrnehmung. Seine Stimme war gepresst, doch beherrscht, als er schließlich sprach.
„Und wenn Ihr mich nicht brauchen würdet, Drache, hättet Ihr mich in Pandaria gelassen“, sagte der Orc. „Also spart Euch die Drohungen.“
Kairoz' reptilischer Mund verzerrte sich zu einem Lächeln. „Solange wir einander verstehen.“ Er wandelte sich wieder vollständig zu seiner Orcform und erhob sich, wobei er von Garrosh zurücktrat.
„Oh, das tue ich“. Garrosh rollte sich über den Boden und benutzte seine gefesselten Hände, um sich auf die Beine zu hieven. „Das könnt Ihr mir glauben.“
Ein Lichtschimmer fiel ihm auf, während er sich erhob. Die Glasscherbe lag in der Nähe. Während der Rangelei war sie in den Staub gefallen. Kairoz zeigte darauf. „Hebt das auf.“
Garrosh warf einen Blick darauf. „Sammelt Euer Spielzeug doch selbst wieder ein.“
„Es ist jetzt Eures.“ Kairoz sprach mit ihm wie mit einem ungezogenen Kind. „Ihr werdet es brauchen.“
Garrosh betrachtete die Scherbe, rührte sich jedoch nicht. Das gebogene Glas pulsierte und schimmerte mit einem schwachen bronzefarbenen Licht, demselben Licht, das er gesehen hatte, als der Drache seinem Griff entkommen war. Die Kanten sahen scharf aus. Mit gefesselten Händen wäre es ein Kunststück, sie zu halten, ohne sich die Handflächen aufzuschlitzen. „Ich dachte, Ihr hättet gesagt, dass es keine Macht mehr hätte.“
„Ich habe gesagt, dass es nicht mehr die Macht hat, die es einst hatte. Das bedeutet nicht, dass es keine Macht hat, wie Ihr soeben feststellen konntet“, sagte Kairoz. Sein Grinsen war wieder da.
Garrosh hob seine gefesselten Handgelenke. „Und die?“
„Die scheinen noch mehr als genug Macht zu haben, oder nicht? Sie werden bleiben, bis Ihr mich davon überzeugt habt, dass Ihr Eure Rolle versteht“. Kairoz kehrte zum Lagerfeuer zurück und begann, mit den Füßen Erde über das glimmende Holz zu schieben. „Hebt. Es. Auf.“
Ruhig atmen. Lass dich nicht noch einmal von ihm provozieren. Garrosh hob die Scherbe sorgsam auf und balancierte sie auf seinen Handflächen. Als es während seiner Verhandlung noch ganz gewesen war, hatten zwei Skulpturen von Bronzedrachen sich um das Glas gewunden. Der Kopf und Hals einer dieser Figuren waren noch immer mit dieser Scherbe verschmolzen. Sie bildeten einen praktischen Griff.
„Ich vermute, dass es in meinen Händen über keine Macht verfügt“, sagte Garrosh mit gepresster Stimme. Sonst hättest du es mich nicht einmal berühren lassen. Der Gedanke brachte Garroshs unterdrückten Zorn zur Weißglut.
„Selbstverständlich. Aber verliert es nicht. Das würde mich betroffen machen“, sagte Kairoz. Er schlenderte vom Lagerfeuer weg, zupfte gelangweilt ein Blatt von einem niedrigen Ast und zerquetschte es zwischen den Fingern, bis es nur noch grüner Matsch war. „Ihr habt ganz Recht, Garrosh. Ihr. Ich. Wir sind hier zwei Fremde. Es könnte zum Besten sein, wenn wir uns dem Kriegshymnenklan getrennt nähern. Vielleicht sogar mit einigen Monaten Abstand. Das wird es unwahrscheinlicher machen, dass Euer Volk glaubt, dass wir ... zusammenarbeiten.“ Er ließ das zerquetschte Blatt zu Boden fallen und wischte sich die Hand an seinem Oberschenkel ab. Ein hellgrüner Fleck blieb an seiner Handfläche zurück. „Zeigt ihnen das Glas. So primitiv Euer Volk auf dieser Welt auch war, hattet ihr doch wenigstens etwas Ahnung vom Übernatürlichen, nicht wahr? Euer Schamane wird reichen. Jeder Narr mit etwas Talent kann das, was Ihr in den Händen haltet, anzapfen. Es wird reichen, um einen Blick auf unser Azeroth und die Schätze anderer Welten zu erhaschen. Sobald Ihr sie davon überzeugt habt, Eurer idealen Horde beizutreten und alles zu erobern, was ihnen vor die Nase kommt, werde ich eintreffen. Nur ein weiterer Orc, der der neuen Richtung seines Volkes folgt.“ Kairoz breitete seine Arme aus. „Ich werde wundersame neue Verwendungsmöglichkeiten für die Scherbe finden. Wir werden sie benutzen, um in jede Welt zu reisen, die uns beliebt.“
„Mich interessiert nur eine“, sagte Garrosh.
„Weil Ihr nie das große Ganze im Auge habt. Ihr wollt eine Horde, frei von dämonischer Verderbnis. Ich will mehr. Wir können unendlich viele Horden kultivieren –“
Garrosh lachte.
Kairoz ließ die Arme sinken. Seine Miene wurde bedrohlich. „Ihr zweifelt an mir?“
Garrosh begegnete seinem Blick geradeheraus. „Das Stundenglas wurde zerstört, als es uns hierher brachte. Ich habe es zerschmettert auf dem Boden des pandarischen Tempels liegen sehen.“ Er erhob die Scherbe. „Hiermit könntet Ihr vielleicht ein paar Kunststückchen vollführen, aber tut nicht so, als wäre dies noch immer die Vision der Zeit.“
„Denkt es zu Ende, Höllschrei.“ Kairoz’ Stimme war unbekümmert. „Weil der Großteil des Stundenglases sich noch immer in unserem Azeroth befindet, schwingt dieses Stück mit unserem Zeitpfad mit. Man könnte es einen Augenblick nennen ... Ein Aufblitzen der Zeit. Mit ein wenig Arbeit meinerseits –“
„Wir können zurückreisen.“ Garrosh fühlte sein Herz rasen und seine Haut prickeln. Pläne begannen, sich in seinem Geist zu entfalten. „Nicht nur zurück in unser Azeroth. Es könnte uns zurück in unsere Zeit bringen.“
„Und das ist nur der Anfang“, sagte Kairoz. Er wandte sich um und deutete in Richtung der Sonne, die tief am Horizont von Nagrand unterging. „Erst Azeroth. Dann andere Welten. Alle von ihnen. So viele wir brauchen.“ Der Bronzedrache begann, zu lachen. „Nichts wird uns einschränken. Nicht einmal die Zeit. Die Möglichkeiten sind unendlich. Ich werde unendlich werden ...“
Drei Schritte, und Garrosh rammte die Scherbe in Kairoz’ Rücken.
Gelächter wurde zu Kreischen. Das gezackte Glas zerfetzte Fleisch mühelos und brach selbst dann nicht, als es Muskeln durchtrennte und von Knochen abglitt. Garrosh hielt die Bronzeskulptur der Scherbe fest in seinen gefesselten Händen.
Energie strömte in das Glas. Bronzene Schuppen erschienen und verschwanden auf Kairoz’ Haut. Er versuchte, die Scherbe zu benutzen, versuchte, seine Drachengestalt wiederzugewinnen. Es funktionierte nicht.
Garrosh warf ihn nieder und folgte ihm zu Boden. Er zog die scharfe Kante über Kairoz’ Schulter, bis sie auf das Schlüsselbein traf und er sie herausziehen musste. Das Kreischen wurde lauter. Schwache orcische Hände schlugen um sich und versuchten, Garrosh wegzudrücken. Er senkte den Kopf, bis sein Gesicht nur wenige Zentimeter von den Augen des Bronzedrachen entfernt war und versenkte die Scherbe in seiner Kehle. Schreie wurden zu Gurgeln.
Garrosh hielt die Scherbe fest und ignorierte die Energieströme, die aus dem Glas und in es hineindrangen. Stattdessen konzentrierte er sich auf die völlige Überraschung in Kairoz’ Augen.
„Es reicht“, sagte Garrosh. „Keine Marionettenspieler mehr, die sich in den Schatten verbergen. Keine Sklaventreiber, die verderbte Macht anbieten. Keiner mehr von deiner Sorte. Die Orcs werden frei von aller Herrschaft sein.“
Garrosh drehte die Scherbe und zog sie zu Kairoz’ Brust herab, dann stieß er wieder und wieder zu. Blut ergoss sich auf die Hügelkuppe. Nicht orcisches Blut oder das Blut irgendeiner Kreatur, die je in dieser Welt gewandelt war, und doch würde das Land es trinken.
Schließlich zog er die Scherbe heraus und stand auf.
Kairoz wand sich auf dem Boden. Garrosh sah interessiert zu. Er hatte noch nie einen Bronzedrachen getötet. Die Scherbe zitterte in seiner Hand und pulsierte im Rhythmus der letzten Herzschläge des Drachens. Ein bronzefarbener Dunst, jeder Partikel so dick wie ein Sandkorn, schwebte von Kairoz fort. Er verwehte nicht wie Rauch, sondern zog sich zu einem dünnen, seilartigen Wirbel zusammen, der sich ins Nichts davondrehte, als würde er aus dieser Welt fortgezogen.
Nachdem der bronzene Dunst verschwunden war, verstummte die Scherbe. Kairoz’ Augen waren weit aufgerissen. Er atmete nicht mehr. Garrosh wartete. Er wollte sicher sein. Minuten verstrichen, bevor er knurrte und nickte.
„Ein angenehmeres Ende, als du verdient hast.“
Er ließ die Leiche an Ort und Stelle liegen. Wenn jemand sie finden würde, würde er nur einen Orc sehen, der den falschen Gegner erzürnt hatte.
Nun, kam das der Wahrheit nicht nahe? Garrosh lächelte.
Er fand einen kleinen Bach in der Nähe und wusch das Blut von sich und der Scherbe ab. Seine Handgelenke waren noch immer gefesselt und hatten sich wundgescheuert. Daran würde er jetzt nichts ändern können. Der Schlüssel war Welten entfernt.
Wie sollte er nun verfahren? Komplizierte Ideen entstanden und verflogen schnell wieder. Kairoz hatte recht gehabt: Raffinesse gehörte nicht zu Garroshs Stärken. Würde er sich mit zu viel Gerissenheit annähern, zu viel Manipulation erkennen lassen, würde ihm sein Vater den Kopf abschlagen. Grommash Höllschrei war kein Narr.
Oder etwa doch?
Angst sickerte in Garroshs Magengrube. Er war so jung gewesen. Er konnte sich kaum an seinen Vater erinnern. Was, wenn er nicht der Orc ist, den ich erwarte? Grommash Höllschrei war getäuscht worden, mit einer List dazu gebracht, ein Sklave von Dämonen zu werden. Am Ende hatte er sich rehabilitiert und sein starkes Herz unter Beweis gestellt, doch er war nicht unfehlbar gewesen.
Garrosh hatte dieses Problem tagelang gewälzt und wusste noch immer keine Antwort. Wie überzeugt man einen der stärksten Orcs überhaupt davon, dass er schwach ist?
Die letzten Sonnenstrahlen verschwanden. Garrosh saß still am Bachufer. Vielleicht sollte er abwarten. Es würde Stunden dauern, das Lager des Kriegshymnenklans zu Fuß zu erreichen, und die Fesseln an seinen Handgelenken sowie die Scherbe würden ihn als jemanden ausweisen, der dort nicht hingehörte. Es könnte sich als sicherer herausstellen, morgen oder übermorgen anzukommen statt mitten in der Nacht.
Nein, beschloss er. Keine Warterei mehr. Er wickelte die Scherbe in Kairoz’ Schärpe und steckte sie hinter seinen Hüftgurt. Grommash würde die Stärke in Garroshs Herz erkennen ... oder eben nicht.
Garrosh begann, zu gehen. Bei Sonnenaufgang würde er erfahren, ob er an der Seite seines Vaters leben oder durch seine Hand sterben würde.
„Lok-tar ogar“, flüsterte er.
Teil Zwei
„Höllschrei.“
… Ich habe genug …
„Häuptling Höllschrei?“
… bring es zu Ende …
Grommash Höllschrei öffnete die Augen. Sein Zelt war leer, wie immer, und doch hatte er den Arm über sein Bett aus Tierhäuten in dem Versuch ausgestreckt, jemanden zu umarmen, der dort nie wieder liegen würde. So wie immer.
Noch einmal, von draußen: „Häuptling Höllschrei?“
Er grunzte und entspannte sich. Die Stimme hatte doch außerhalb seiner Träume gesprochen. „Tretet ein“, sagte er.
Ein Rüstungsschmied des Kriegshymnenklans trat ein. „Häuptling, der Räuber Riglo hat mich beleidigt. Wir wollen uns im Mak’Rogahn beweisen.“
Grommash blinzelte den Schlaf aus seinen Augen. „Ihr habt doch beide gestern Abend gekämpft“, sagte er.
„Gegen andere. Aber er hat meine Ehre in Frage gestellt, und ich werde ihm das Gegenteil beweisen. Er soll nie wieder behaupten, dass …“
Und so weiter und so fort. Minuten verstrichen.
Grommash rieb sich die Stirn und unterbrach schließlich. „Na schön. Ihr dürft kämpfen. Bei Sonnenuntergang—“ Er sah durch die offene Zelttür. Die Nacht war bereits hereingebrochen. Er hatte den ganzen Tag lang geschlafen. „Nein, bereitet Euch jetzt vor. Fangt nicht an, bevor ich eintreffe.“
„Jawohl, Häuptling Höllschrei.“ Der Rüstungsschmied ging.
Das ist das Dumme am Frieden, sinnierte Grommash. Viele seiner Kriegshymnenorcs waren nicht in den Klan geboren worden. Sie hatten sich auf der Suche nach Krieg und Ruhm um Höllschreis Banner geschart, und eine Zeit lang hatten sie beides gefunden. Nun waren ihre Feinde besiegt. Selbst rivalisierende Orcklans scheuten sich, einander zu bekriegen, dank Gul’dan und seiner Warnungen vor einer Bedrohung von außen. Bis die Klans sich entscheiden würden, wie sie diese Bedrohung bekämpfen sollten, gab es nichts anderes zu bekämpfen. Manchen von ihnen fiel es schwer, sich die Zeit zu vertreiben.
Mak’Rogahn. Es hatte nie dazu dienen sollen, kleinliche Beleidigungen zu ahnden. Grommash atmete schwer aus, erhob sich und schnallte seine Handschuhe um.
„Narren“, flüsterte er und bereute es sofort. Sie waren keine Narren. Nicht mehr als er selbst. Er verstand das ruhige Chaos des Friedens, die Art und Weise, auf die es einen müßigen Geist bedrücken konnte. Reue konnte den Willen eines Kriegers mürbe machen, wenn sie lange genug an ihm nagen konnte. Reue ist eine Schwäche, erinnerte sich Grommash. Im Kriegshymnenklan gab es keinen Platz für Schwäche, nicht einmal beim Klanshäuptling. Der Genuss eines Kampfes, wenn auch ohne Bedeutung, würde ihm einen klaren Kopf verschaffen.
… lass mich den Kriegertod sterben, den ich verdiene …
Blutschrei, die Axt der Blutlinie der Höllschreis, lag neben seinem Schlafplatz. Sie hatte schon viel zu lang kein Blut mehr getrunken, und es war unwahrscheinlich, dass sie es heute Abend tun würde. Trotzdem ergriff Höllschrei sie und schritt durch das Lager zur Kampfgrube. Es hatte sich bereits eine Menge zusammengefunden – natürlich nicht der ganze Klan. Nur ein Zehntel eines Zehntels ihrer Zahl war schon aus der Jagdsaison zurückgekehrt, und nur einige von ihnen hatten Interesse an den Geschehnissen in der Grube. Dennoch waren genug von ihnen da, um den Rand zu umgeben und ihm den Blick zu versperren, bis er den Häuptlingssitz erreichte. Der Rüstungsschmied und der Wolfsmeister standen unten in der Grube, bereit zum Kampf. Sie grüßten ihn.
Die Menge wurde still. „Normalerweise gäbe es Worte auszusprechen, aber Ihr habt sie alle bereits gehört“, sagte Höllschrei und ließ zu, dass sich etwas Schärfe in seine Stimme stahl. „Nur diejenigen mit einem wahrlich eisernen Willen dürfen sich Mitglieder des Kriegshymnenklans nennen —“
… siehst du denn nicht, dass es zu spät ist? …
Höllschreis Stimme wurde zu einem Knurren. „Aber Ihr habt Euren Wert schon unter Beweis gestellt. Tut es noch einmal. Fangt an!“
Die beiden Orcs gingen aufeinander los, schlugen und packten, wanden sich und rissen.
Die Menge brüllte und trommelte mit den Waffen, laut genug, um diese andere Stimme zu übertönen, diejenige, die nur der Häuptling hören konnte und die aus seinen Erinnerungen herausschrie.
Grommash setzte sich und verschränkte die Arme, die Axt über seinen Schoß gelegt. Wenige Minuten später schlug der Wolfsmeister dem Rüstungsschmied die Faust gegen die Schläfe, hart, und der Kampf war beendet. Der Sieger stolzierte durch die Grube und badete in der Bewunderung seines Klans. Der andere lag bewusstlos am Boden.
Im Großen und Ganzen recht gewöhnlich. Aber sie waren den Standards des Kriegshymnenklans gerecht geworden. „Ein guter Kampf. Keine Kapitulation. Ehrt den Wolfsmeister für seinen Sieg, und ehrt den Rüstungsschmied für den Willen, bis zum bitteren Ende zu kämpfen“, sagte Grommash. „Trinkt heute Abend so viel Ihr wollt. Ihr habt beide bewiesen, das Herz eines Kriegshymnenorcs zu haben.“ Vermutlich zum achten Mal in zwei Wochen.
Zwei Orcs hoben den Rüstungsschmied aus der Grube und gaben ihm leichte Ohrfeigen, bis er aufwachte, benommen aber guter Dinge. Es gab keine gebrochene Gliedmaßen zu richten, diesmal nicht.
Die Menge lungerte herum, begierig auf eine weitere Runde. Grommash stimmte zu. Ein Kampf war nie genug, um die Vergangenheit zum Schweigen zu bringen.
Grommash hob eine Faust, und die Menge wandte sich zu ihm um. „Wer noch?“, fragte er. „Wer will mir heute Abend noch das Herz eines Kriegshymnenorcs zeigen?“
In der Masse hoben einige beide Fäuste und brüllten nach Grommashs Aufmerksamkeit. Ein Orc schob sich durch die Menge und sprang in die Grube hinab. „Ich!“, rief er.
Grommash lächelte. Die anderen bitten. Er handelt. Der Häuptling konnte sich nicht sofort an den Namen des Orcs erinnern, und die wenigen Fackeln um die Kampfgrube herum beleuchteten ihn nicht ausreichend. Grommash kniff die Augen zusammen und betrachtete sein Gesicht. Seltsam. Seine Gestalt schien ihm vertraut, aber der Name fiel ihm einfach nicht ein.
Ein unruhiges Flüstern wogte durch die Menge.
„Wer ist das?“
Niemand wusste es. Das Gemurmel weitete sich aus.
Etwas stimmte nicht. Grommash lehnte sich vor und starrte. Vieles stimmte nicht. Handfesseln verbanden die Handgelenke des seltsamen Orcs. Seine Kleidung ähnelte nichts, das Grommash je gesehen hatte, weder ihr Stoff noch ihr Schnitt. Der dunkle Schatten, der seinen Kiefer bedeckte, war kein kurzgeschorener Bart, sondern eine Tätowierung – die Tätowierung eines Häuptlings, unglaublich detailliert.
Die Menge wogte vor Unbehagen. Bald senkte sich Stille über den Kriegshymnenklan, und wer eine Waffe zur Hand hatte umklammerte sie fest. Der Orc stand aufrecht und stolz in der Grube, den Hauch eines Lächelns auf den Lippen, und genoss die Verwirrung.
Grommash legte die Hand auf Blutschreis Schaft. Er hatte gelernt, seiner inneren Stimme zu vertrauen, und in diesem Moment schrie sie, dass dieser Orc gefährlich war, ein Fremder, einer, der nicht hierher gehört. Ein Meuchelmörder? Wenn ja, wäre er ein mutiger oder dummer Mörder, mit zusammengeketteten Händen in eine von Kriegshymnenorcs umgebene Grube zu treten.
Die Vorahnung von Gewalttätigkeiten überkam Grommashs Geist. Es war lange her, seit seine Axt getrunken hatte.
Und doch: Dieselbe innere Stimme … weckte seine Neugier. Warum sieht er so vertraut aus? „Ihr behauptet, das Herz eines Kriegshymnenorcs zu haben?“, fragte Grommash.
„Das tue ich“, sagte der Orc mit kräftiger Stimme. Er sprach ebenso zu der Menge wie zu Grommash.
„Sagt uns Euren Namen.“
Der Orc hob sein Kinn. „Ich komme als Fremder zu Euch, nicht mehr.“
Grommash begutachtete ihn einen Moment lang still. „Ihr habt keinen Klan, Fremder? Kein Erbe? Keinen Namen, der aus den Geschichten über Eure unglaublichen Siege auf dem Schlachtfeld erwachsen ist?“ Er ließ ein wenig Verachtung sichtbar werden, und angespanntes Gelächter schwebte durch die Menge.
„Geschichten sind Worte, und Worte sind Wind“, sagte der Fremde. „Nur Taten zeigen, was im Herzen liegt.“
„Und doch kann selbst eine kurze Geschichte oder zwei so manche Frage beantworten.“ Grommash zeigt auf die Handfesseln des Fremden. „Welchen Klan habt Ihr verstimmt, um Euch die da einzuhandeln? Und wann seid Ihr geflohen? Liegt Euch eine Armee von Verfolgern im Rücken, Fremder, die sich anschickt, mein Lager zu überfallen?“ Er wandte seinen Blick in Richtung der Menge und machte keinen Hehl aus seinem Zorn. „Und wie seid Ihr überhaupt in mein Lager gekommen? Wer unter Euch war dafür verantwortlich, in die Nacht zu spähen, und hat stattdessen in die Grube geblickt? Zeigt Euch!“ Sein kehliges Gebrüll hallte von den Zeltreihen des Kriegshymnenklans wider. Das Gelächter der Menge verstarb.
Vier Orcs schlurften langsam zum Rand der Grube. Die leisen Geräusche ihrer Bewegungen schienen in der Stille ohrenbetäubend. Ihre Gesichter waren vor Sorge verzerrt, doch sie gingen erhobenen Hauptes und nannten sich selbst beim Namen. Grommash ließ sie dort stehen und warten, bis sich Schweißperlen auf ihren Stirnen bildeten.
„Das Herz eines Kriegshymnenorcs ist ohne Bedeutung, wenn man das Hirn eines Ogers hat“, sagte er mit leiser Stimme. „Ihr habt zugelassen, dass dieser in unsere Mitte tritt. Es ist nur gerecht, dass Ihr das Schicksal dieses Fremden teilt, was auch immer es sein mag. Stimmt Ihr zu?“
Sie murmelten: „Ja, Häuptling Höllschrei.“
Grommash sprach leise weiter. „Dann gesellt Euch zu ihm.“ Sie zögerten, sprangen jedoch ohne Widerrede in die Grube. Der Fremde trat zurück und bot ihnen Platz. Sie warfen ihm hasserfüllte Blicke zu. Er erwiderte sie ohne mit der Wimper zu zucken.
„Fremder. Ihr beansprucht keinen Klan?“, fragte Grommash.
„Wie ich sagte, mein Herz ist das eines Kriegshymnenorcs. Aber ich habe keinen Klan“, sagte er.
Grommash rieb sich das Kinn. „Erklärt das Eure Zeichnung? Ihr habt keinen Klan; Ihr seid also Euer eigener Häuptling?“
Wieder bahnte sich Gelächter durch die Menge. Der Fremde lächelte nicht. „Es sind Spuren einer anderen Zeit. Eine Narbe. Nichts weiter.“
„Meine Kriegshymnenorcs antworten auf meine Fragen nicht mit Rätseln und Ausflüchten, Fremder, und Ihr beherrscht beide nicht gut genug, um mich zu beeindrucken“, blaffte Grommash. „Antwortet mir geradeheraus. Warum seid Ihr hier?“
Der Fremde lächelte. „Ihr seid schon der Zweite, der mir das heute sagt.“ Er ließ kurz den Kopf sinken, um seine Gedanken zu sammeln. Als er hochblickte, war das Lächeln verschwunden. An seiner Stelle stand absolute Überzeugung. „Grommash Höllschrei, ich bin weit gereist und habe viel geopfert, um vor Euch zu stehen. Ich bin hier, um dem zu trotzen, was das Schicksal Euch und allen Orcs bestimmt hat.“
„Und das wäre?“
„Sklaverei. Der Verlust unserer Seelen und von allem, das uns Größe verleiht“, sagte der Fremde mit Bestimmtheit.
Die Menge der Kriegshymnenorcs blickte auf der Suche nach einer Reaktion zu Grommash. Er ließ sie nicht lange warten.
Er lachte. Laut. Explosionsartig. Die Spannung löste sich, und alle Kriegshymnenorcs brüllten mit ihm. Selbst die Orcs in der Grube stimmten ein. Nur der Fremde blieb teilnahmslos. Und ich habe ihn tatsächlich für gefährlich gehalten, dachte Grommash reumütig. Als die Welle der Heiterkeit sich gelegt hatte, stand Grommash auf, Blutschrei mit lockerem Griff in der Hand.
„Manche könnten Euch für diese Worte tot sehen wollen, Fremder. Ich selbst sehe keine Ehre darin, Schwachsinnige zu töten“, sagte Grommash. Zu den zurechtgewiesenen Orcs in der Grube sagte er: „Bringt ihn zum Zelt des Schmieds. Nehmt ihm die Ketten ab, gebt ihm zu Essen und einen Schlauch Wasser, dann geleitet ihn fort. Ihr werdet keine weitere Strafen erhalten.“ Die vier Orcs entspannten sich. „Vielleicht ist es nicht gänzlich Eure Schuld. Hättet Ihr ihn gesehen hättet Ihr ihn vielleicht getötet, und die Geister schützen Narren. Schickt ihn fort und lernt Eure Lektion. Keine Versehen mehr.“
Die vier Orcs in der Grube umringten den Fremden. „Ihr glaubt, dass ich lüge?“, sagte er, wobei er zurücktrat.
„Nein“, sagte Grommash sanft, „Ich glaube, dass Euer Geist versehrt ist. Die Kriegshymnenorcs ergeben sich nicht. Für uns ist die Sklaverei das eine Schicksal, von dem wir wissen, dass wir es nie erleiden werden. Selbst in der Niederlage, selbst in der Gefangenschaft wehren wir uns bis zum Tod.“
Eine der Wachen in der Grube ergriff den Arm des Fremden. Der gefesselte Orc stemmte seine Füße auf den Boden, faltete die Hände und holte zum Schwung aus. Seine Fäuste trafen auf den Kiefer der Wache und schleuderten den Orc zurück. Die anderen gingen auf ihn los.
„ Halt!“, brüllte Garrosh. Sie hielten ein. „Fremder, Ihr strapaziert meine Geduld. Die Gnade des Kriegshymnenklans ist nicht weitreichend, selbst für Narren nicht.“
Der Fremde weigerte sich, nachzugeben. „Der Weg zur Versklavung des Kriegshymnenklans wird nicht aus Krieg oder Niederlage entspringen. Ihr werdet Euer Schicksal aus freien Stücken und freudig annehmen“, sagte er mit lauter werdender Stimme, „und Ihr werdet es sein, Grommash Höllschrei, der darauf bestehen wird, sich als erster in die Ketten der neuen Herren der Orcs zu legen. Die anderen werden folgen. Wir werden uns nie davon erholen.“
Totenstille folgte auf seine Worte. Nur das leise Rascheln der Brise an den Zelten des Kriegshymnenklans und das Prasseln der brennenden Fackeln um den Ring machten irgendein Geräusch.
Grommashs letzte Reste von Mitleid waren längst verflogen. „Eure Prophezeiungen sind absurd. Und jetzt habt Ihr meine Ehre beleidigt.“ Sein Blick wurde hart. „Aber wie Ihr schon sagtet – Worte sind Wind. Nur Taten sind von Bedeutung. Kennt Ihr das Mak’Rogahn, Fremder?“
Der gefesselte Orc legte den Kopf schräg und bewegte die Lippen, als er die Wörter aussprach. Duell des Willens. „Ich kenne das Mak’Gora. Ich kenne es nur zu gut. Ist es sehr anders?“, sagte er.
„Mak'Gora ist ein Kampf bis auf den Tod“, sagte Grommash. „Im Mak’Rogahn beweisen die Kriegshymnenorcs ihren Wert. Sie betreten die Grube und kämpfen. Sie hören nicht auf, bis ihre Körper versagen. Es gibt keine Kapitulation. Keine Gnade. Nur eine reine Zurschaustellung des Willens, jede Härte, jeden Schmerz zu überleben. Wer aufgibt, wird verbannt. So könnt Ihr beweisen, das Herz eines Kriegshymnenorcs zu haben. Unser Klan wird nie wieder Schwäche dulden.“
„Wieder?“, fragte der Fremde.
… lass mich den Kriegertod sterben, den ich verdiene …
Grommash unterdrückte die Erinnerung gnadenlos. „Wenn Eure Worte wahr sind, kämpft. Zeigt uns Eure Ehre.“
Der Fremde betrachtete kurz seine gefesselten Hände. „Ich nehme an.“
„Ausgezeichnet. Mak'Rogahn soll kein Kampf bis auf den Tod sein, aber Unfälle kommen vor“, sagte Grommash. „Ihr habt nicht nur mich, sondern alle Kriegshymnenorcs beleidigt. Vielleicht wollt Ihr vier in der Grube die Gelegenheit ergreifen, unsere Ehre zu verteidigen.“
„ Wir nehmen an!“ brüllten sie ohne zu zögern zurück. Die Augen des Fremden weiteten sich leicht.
„Fangt an“, sagte Grommash milde und lehnte sich in seinem Sitz zurück.
Das taten sie.
Teil Drei
Die vier Kriegshymnenorcs warfen sich Garrosh entgegen und rissen ihn zu Boden. Er prallte hart auf seinem Rücken auf, knurrte und bedeckte sein Gesicht mit seinen zusammengeketteten Händen. Fäuste und Füße hagelten auf ihn ein. Die Menge brüllte ihr Wohlgefallen heraus.
Unfälle kommen vor, hatte sein Vater gesagt. Ganz offensichtlich sollte jetzt ein Unfall vorkommen. Die Glasscherbe war hinter Garroshs Schärpe gesteckt, in ein Tuch gewickelt, doch sie drückte sich schmerzhaft in seine Haut. Es war ein verlockender Gedanke, sie hervorzuholen … nein. Nein. Das würde ihm keinen Vorteil verschaffen. Eine verborgene Waffe hervorzuholen war ehrlos und würde seinen Tod besiegeln.
Der alte, vertraute Blutdurst senkte sich in seinen Geist, doch er widerstand dem Drang, in Rage zu verfallen. Vier gegen einen – das war keine Frage roher Gewalt. Er wiegte sich hin und her, damit jeder Schlag Muskeln traf und nicht Knochen. Trotzdem strahlte der Schmerz schon bald über seinen ganzen Körper aus.
Immerhin waren noch keine Rippen gebrochen. Noch hatte kein Schlag sein Kinn oder seine Schläfe getroffen.
Seine Angreifer hatten sich der Rage hingegeben. Jeder Schlag und jeder Tritt wurde wie ein tödlicher Stoß geführt. Sie vergeudeten ihre Stärke.
Garrosh blieb in Bewegung, trat immer wieder um sich, kämpfte weiter, vermied weiter die Schläge, die ihn verletzen oder hilflos machen könnten.
Er war zu weit gekommen, um jetzt zu sterben.
Einer der Kriegshymnenklans zielte mit Tritten auf seinen Kopf und verfiel in einen Rhythmus. Bumm. Bumm. Bumm. Vorhersehbar. Garrosh holte aus. Die Kette zwischen seinen Handgelenken wickelte sich um den Knöchel des Orcs.
Garrosh lächelte.
***
Grommash schüttelte den Kopf und wandte sich an einen der Kriegshymnenkrieger, die zu seiner Linken standen. „Wenn es vorbei ist, werdet ihn schnell los. Er mag ja schwachsinnig sein, aber vielleicht war er jemandem wichtig. Wir sollten eine Blutfehde über diesen Narren vermeiden, wenn möglich“, sagte Grommash.
Der Krieger lachte. „Wenigstens sterben kann er“, stellte er fest.
„Ja, das kann er.“ Grommash konnte nicht weiter sehen als bis zu dem Sturm aus Angriffen in der Grube, aber er konnte kurze Blicke auf den Fremden erhaschen, der sich noch immer bewegte und auf dem Rücken liegend kämpfte. Er weigerte sich, aufzugeben. „Er hat sich meine Anweisungen zu Herzen genommen.“ Sein Pech.
Plötzlich sprang einer der vier Kriegshymnenorcs zurück und brüllte vor Schmerz. Sein linker Fuß baumelte in einem unnatürlichen Winkel herab. Grommash und die anderen lachten. Hat so hart zugetreten, dass er sich verletzt hat. Der verletzte Orc biss die Zähne zusammen und stürzte sich knurrend zurück in den Kampf; Er ließ seine Fäuste auf den Kopf des Fremden prasseln. Einen Moment später erschallte ein weiterer Schmerzensschrei, und derselbe Orc schwankte zurück, das linke Handgelenk zermalmt und gebrochen.
Einige der Zuschauer wurden still. Auch Grommash. Er hatte gesehen, was sie gesehen hatten: Der Fremde hatte seine Ketten als Waffe eingesetzt.
Und das war nur der Anfang. Ein Tritt traf das Knie eines anderen Kriegshymnenorcs und zerschmetterte es. Ein weiterer Tritt traf einen dritten Orc zwischen den Beinen, sodass dieser in die Knie ging. In wenigen Momenten hatte der Fremde drei Gegner verkrüppelt oder betäubt.
Der Jubel um die Grube erstarb schnell.
Der letzte Kriegshymnenorc knurrte und machte einen Schritt zurück, außer Trittweite, und ließ den Fremden auf die Beine kommen. Er atmete tief und regelmäßig. Er bat seinen letzten Kriegshymnengegner zu sich. Sie stürmten aufeinander zu.
Grommash wagte es kaum, zu blinzeln. Er konnte nicht glauben, was er sah. Keine Furcht. Kein Zögern. Die personifizierte Gewalt. Ein Blutrausch, der zu reiner Macht kanalisiert wurde. Ein Geist, der sich nur auf den Sieg konzentrierte und sich von nichts ablenken ließ.
So kämpfe ich selbst, dachte Höllschrei.
Der Kriegshymnenorc schlug dem Fremden einmal, zweimal, dreimal in den Magen, dann ergriff er ihn bei der Kehle. Der Fremde faltete die Hände zusammen und schwang sie wie einen Hammer; er traf ihn unter dem Kinn. Der Kiefer des letzten Orcs schloss sich mit einem Übelkeit erregenden Knirschen. Zwei Zähne lösten sich und flogen durch die Luft. Er fiel um und seine Augen rollten zurück.
Es war vorbei.
Die drei verletzten Kriegshymnenorcs begannen, sich zu erheben, krochen auf den Fremden zu, weigerten sich, aufzugeben, obwohl sie offensichtlich geschlagen waren. Das Mak’Rogahn verlangte es. Solange sie kämpfen konnten, mussten sie kämpfen.
Der Fremde trat aus ihrer Reichweite zurück. „Habe ich mein Kriegshymnenherz unter Beweis gestellt, Höllschrei? Haben sie das getan?“, fragte er. „Oder muss ich sie töten?“
Grommash antwortete nicht. Er beobachtete. Lauschte. Die Umstehenden murmelten: „Er kämpft … er kämpft wie Höllschrei …“
Der Orc mit dem zerschmetterten Knie zwang sich auf alle Viere und schlurfte auf den Fremden zu; mit jeder Bewegung keuchte er vor Schmerzen. Der Fremde trat wieder zurück, bis zum Rand der Grube. „Häuptling Höllschrei, ich bin nicht gekommen, um Eure Kriegshymnenorcs zu töten. Ich bin gekommen, um sie zu retten“, sagte er.
„Genug“, sagte Grommash. „Der Kampf ist beendet.“ Die verletzten Kriegshymnenorcs brachen zusammen.
Höllschrei trat in die Grube herab, Blutschrei in der Hand. Der Fremde blieb regungslos. Der Klan hielt den Atem an.
Grommash trat bis auf eine einzige Schrittbreite auf den Fremden zu und betrachtete ihn eingehend. Die Tätowierung im Gesicht, die Narben, die wilden Augen, die seltsam vertrauten Gesichtszüge. Der Kampfstil. Die Handfesseln, mit dem Emblem eines Tieres versehen, das Grommash noch nie gesehen hatte. „Was ist das?“, fragte er ruhig.
„Das ist Xuen, der Weiße Tiger, das Siegel der Shado-Pan“, antwortete der Fremde.
„Wer?“
„Ich bin weit gereist, Höllschrei.“ Der Fremde sprach leise. In seinen Augen lag Verzweiflung, doch kein Wahnsinn. „Mein Weg ist jetzt nicht wichtig. Nur Eurer ist von Bedeutung, und seinetwegen bin ich hier.“
Das Flüstern der Menge waberte noch immer in die Grube. „Er kämpft wie Höllschrei.“
Grommash hob Blutschrei über seinen Kopf und ließ die Axt niedersausen. Sie kreischte durch die Luft.
Klirr.
Die Hände des Fremden fielen an seine Seiten, die Kette, die seine Handfesseln verbunden hatte, war gebrochen.
„Ich glaube nicht, dass ich je einen Orc wie Euch getroffen habe“, sagte Grommash. „Kommt. Wir werden reden. Aber eins versichere ich Euch“, fügte er hinzu und legte Blutschreis Klinge an den Hals des Fremden. „Wenn Ihr meine Zeit verschwendet, wenn Ihr meinem Klan Böses wollt, werde ich Euch den Kopf nehmen.“
Der Fremde zuckte nicht zusammen, zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Wenn meine Worte Eure Zeit verschwenden, werde ich keinen Einwand dagegen haben. Wenn ich hier versage, ist mein Leben ohne Bedeutung.“
„Nun gut.“ Grommash verließ die Grube und ging zu seinem Zelt zurück. Der Fremde folgte ihm.
Teil Vier
Grommash entzündete eine kleine Fackel in seinem Zelt und setzte sich auf den Boden. Er bedeutete Garrosh, es ihm gleichzutun. Das schwache, flackernde Licht tanzte über die Zeltwände aus dicken Tierhäuten, während sie in der Nachtbrise flatterten. Ein kühler Hauch wirbelte durch das Zelt.
Garrosh ließ sich langsam zu Boden sinken. Die Schmerzen, die der Kampf verursacht hatte, würden vermutlich einige Tagen lang anhalten, aber er spürte keine Anzeichen für eine schwere Verletzung. „Ich hatte in der Grube einen Vorteil“, sagte er. Seine Stimme war ruhig und ließ nichts erahnen.
„Erzählt“, sagte Grommash.
„Überraschung.“ Garrosh legte seine Hände auf seine Knie. „Sie dachten, dass ich in dem Moment, als ich zu Boden ging, erledigt wäre.“
Der Klanhäuptling grunzte. „Ihr habt ihnen etwas beigebracht, das sie schon hätten wissen sollen: Der Feind ist nicht tot, bis er tot ist.“
„Eine Lektion, die Ihr Euren Feinden nahegebracht habt, wie ich höre“, sagte Garrosh. Grommash Höllschrei … der Orc mit dem eisernen Willen … mein Vater. Es kostete ihn etwas Mühe, sich ein Lächeln zu verkneifen. „Ich bin neugierig. Mak’Rogahn. Mir ist kein anderer Klan bekannt, der es praktiziert.“
„Wieviel wisst Ihr über mich, Fremder?“
„Ein wenig“, antwortete Garrosh vorsichtig.
Zu Grommashs Linken lag ein Weinschlauch. Er bot ihn Garrosh an, der ihn ablehnte. Der Häuptling nahm einen langen Zug, bevor er sprach. „Einst hat der Kriegshymnenklan schwere Zeiten durchlitten. Ein Überfall der Oger hat uns fast ausgelöscht.“
Garrosh kannte diese Geschichte. Der Tod seiner Mutter, die Wiedergeburt des Kriegshymnenklans, der Anfang von Höllschreis Legende. „Das war die Zeit, als Ihr Eure Gefährtin verloren habt, oder? Es ist schwer, Familie in der Schlacht fallen zu sehen.“
„Wir werden nicht über sie sprechen.“ Grommashs Stimme war eisern.
Seine Wut war überraschend. Garrosh zögerte. „Ich hatte gehört, dass Golka kämpfend starb und selbst mehrere Oger tötete, bevor sie selbst fiel“, sagte er.
„Mein Klan hat an diesen Tag Schwäche gezeigt. Sie blieben zurück“, knurrte Grommash. „Ich musste dem Kriegshymnenklan zeigen, wie man sich dem Tod stellt. Mit Blut an den Händen und der Kehle des Feindes zwischen den Zähnen!“ Er schleuderte den leeren Schlauch durch das Zelt. „Mak’Rogahn merzt die Schande dieses Tages aus meinem Klan aus. Wer auch immer sich als Kriegshymnenorc bezeichnen will, muss diese Prüfung bestehen.“
Garrosh wusste nicht, was er sagen sollte. Ganz offensichtlich war mehr an dieser Geschichte, als er als Kind gehört hatte. „Aber Eure Gefährtin, Sie –“
„Ich sagte, dass wir nicht über sie sprechen werden.“
Was entgeht mir? dachte Garrosh. Ein ehrenvoller Tod sollte gefeiert werden, selbst wenn der Krieger in einer aussichtslosen Schlacht gefallen war. Es sei denn …
Erinnerungen an Garroshs Jugend strömten wieder auf ihn ein. Ein Tag nach dem anderen, von Schuld und Scham erfüllt, das Tragen eines Namens, den er für verflucht gehalten hatte. Wir sind nicht so verschieden. Gar nicht so verschieden.
„Ich verstehe, wie Ihr Euch fühlt.“ Garrosh wählte seine Worte mit Bedacht. „Als mein Vater starb, war seine Axt in der Brust seines Feindes versenkt. Ein guter Tod. Doch der Weg, der ihn dorthin geführt hatte, war mit Unehrenhaftigkeit gepflastert und einer einzigen Fehlentscheidung entsprungen. Ich habe zu lange mit Zorn auf ihn gelebt. Es war verschwendete Wut. Der Tod Eurer Gefährtin und der Moment der Schwäche Eures Klans mag Euch noch Schmerzen bereiten, aber der Sohn, den sie Euch geschenkt hat –“
„Mein Sohn? Sie hat mir nie einen Sohn geschenkt.“
Grommash starrte in Garroshs Augen, erwägend, beurteilend. Garrosh gestattete sich nicht einmal ein Blinzeln. „Das wusste ich nicht“, war alles, was er sagte.
Kairoz. Garrosh fühlte einen Muskel in seiner Wange zucken. Grashalme zählen. Er nahm sich einen Moment, um die Erinnerung daran zu genießen, wie er den Torso des Drachen aufgeschlitzt hatte und fühlen konnte, wie Kairoz’ heißes Blut über seine Hände floss. Sie beruhigte ihn. Tiefe Atemzüge. Ich wurde in dieser Welt nie geboren. Grommash ist nie ein Vater gewesen. War es das, was der Bronzedrache mit „der perfekte Zeitweg“ gemeint hatte?
Garrosh legte sich seinen Scharfsinn zurecht. Es ist Zeit, ihm zu sagen, warum ich hier bin. „Doch ich muss Euch fragen, Häuptling Höllschrei …“
***
„… wenn Ihr zurückreisen und sie retten könntet, würdet Ihr das nicht tun?“, fragte der Fremde. „Ich würde es. Mein Vater hatte ein ehrbares Herz. Er wurde fehlgeleitet. Er hat ein besseres Vermächtnis verdient. Vielleicht verdient auch Golka eines.“
… siehst du denn nicht, dass es zu spät ist? Bring es zu Ende!
Vermächtnis. Grommashs Gesicht verzerrte sich zusehends. „Worte sind Wind. Solange Ihr mich nicht tatsächlich zurückbringen könnt, werde ich nie wieder von ihr sprechen“, sagte er. Golka. Er hatte sich lange Zeit nicht erlaubt, ihren Namen auszusprechen. Woher kannte der Fremde ihn?
Der andere Orc griff hinter seinen Rücken. „Ich kann Euch nicht helfen, zurück zu reisen, aber ich kann Euch helfen, nach vorn zu blicken.“ Er zog ein Stoffbündel hervor und wickelte es aus. Darin befand sich eine Glasscherbe mit gezackten Kanten. Er legte sie zwischen den beiden auf den Boden. „Hiermit werdet Ihr vermeiden, Euren eigenen unverzeihlichen Fehler zu begehen.“
Grommash fasste es nicht an. „Das habt Ihr die ganze Zeit über bei Euch getragen?“
„Ja, Häuptling Höllschrei.“
Es hatte eine Kante, mit der ein motivierter Orc hätte töten können. Und Ihr habt sie nicht benutzt, selbst als vier Orcs versucht haben, Euch das Leben aus dem Leib zu treten? Solche Zurückhaltung hatten nur die wenigsten. „Was ist es?“
Der Fremde lächelte. „Ein Freund nannte es ein … Aufblitzen der Zeit. Er fand die Kanten zu scharf, also habe ich es jetzt.“ Er klopfte mit einem Knöchel auf die Scherbe. Das Geräusch war fast melodiös. „Das hier wird meine Worte beweisen.“
„Dann sprecht.“
„Lasst mich etwas beschreiben. Waffen.“ Die Augen des Fremden funkelten.
Grommash hörte zu. Der Fremde sprach von magischer Energie, die in einen einzigen explosiven Moment konzentriert wurde, eine „Manabombe“. Geschickte, mächtige Kreaturen namens „Zauberer“, die sie verbessern und verfeinern konnten, bis sie das Potenzial hatte, einen ganzen Klan in einem Augenblick auszulöschen.
„Eine solche Waffe existiert“, sagte der Fremde.
Er fuhr fort und beschrieb Waffen, die jeder Vorstellungskraft trotzten. Gerätschaften aus Metall und Feuer, die massiven Felsen sprengen konnten, wirbelnde Klingen, die groß genug waren, Feinde bei der leichtesten Berührung zu zerfetzen, Belagerungswaffen, die an Land ebenso wie zu Wasser eingesetzt werden konnten. „Solche Waffen existieren.“
„Ich habe sie noch nie gesehen“, sagte Grommash.
„Noch nicht“, sagte der Fremde, „aber ich kann Euch lehren, sie zu bauen, sie einzusetzen, wie Feinde sie bekämpfen könnten. Aber die Kriegshymnenorcs können sie nicht allein bauen. Ihr werdet die anderen Klans brauchen, ihre Ressourcen und Fähigkeiten.“
Grommashs Augen verengten sich zu Schlitzen. „Dann hätte ich sie lieber nicht. Warum sollte ich den anderen Klans die Möglichkeit geben, mein Volk in einem einzigen, heimtückischen Angriff auszulöschen?“ Den Kriegshymnenklan mit anderen Klans zu vereinen kann für uns alle nur ein schlimmes Ende nehmen. Er gestikulierte in eine Richtung hinter den Zeltwänden. „Uns gehören die fruchtbarsten Ebenen Nagrands, und mit ihnen genug zu essen, Zuflucht, und Jagdgründe, die noch jahrelang Ausbeute liefern werden. Kein Klan hat das Rückgrat, uns herauszufordern. Sie wissen, dass sie es teuer bezahlen würden.“
„So leben die Kriegshymnenorcs jetzt also? Selbstgefällig und zufrieden mit dem, was sie haben? Ohne mehr zu wollen?“ Der Mund des Fremden zuckte und zeigte den Anflug eines Lächelns.
Die Worte trafen ihn schwer, doch Grommash fühlte keinen Zorn. Der Überfluss an Mak’Rogahn-Kämpfen war Beweis genug, dass sein Volk alles andere als zufrieden war. Seltsam, dass der Fremde über solche Erkenntnis verfügte. „ Mehr zu wollen ist noch ein großes, großes Stück davon entfernt, Eure unmöglichen Waffen zu brauchen.“
… gib mir den Kriegertod, den ich verdiene …
Grommash verdrängte ihre Stimme gnadenlos. Warum erinnerte der Fremde ihn immer wieder an sie?Der Gedanke an sie erinnerte ihn nur an die Schande seines Klans, und doch wollte sie nicht begraben bleiben.
„Das stimmt. Aber Ihr müsst die anderen Klans nicht fürchten. Sie werden sich nicht gegen Euch wenden, Höllschrei.“ Das Licht der Fackel schimmerte in den Augen des Fremden. „Ihr würdet diese Waffen gegen einen gemeinsamen Feind einsetzen.“
„Gegen wen?“ Die Antwort lag sofort auf der Hand, und er lachte. „ Die Draenei? Seid Ihr einer von Gul’dans Anhängern? Er spricht von solchen Dingen.“ Gul’dan hatte heimlich Nachforschungen über Höllschrei angestrengt, und mit ziemlicher Sicherheit auch über die anderen Klanhäuptlinge, was andeutete, dass er eine neue Machtquelle gefunden hatte, die die schamanischen Künste übertraf. Diese Macht könnte sich, wie Gul’dan behauptete, als entscheidend für den Sieg über die Draenei erweisen. Grommash war noch nicht überzeugt, dass diese blauhäutigen Kreaturen gefährlich waren, aber Gul’dans Visionen waren zweifellos verstörend. „Ist das seine geheime Macht, Fremder? Baut Ihr diese Waffen auf seinen Befehl?“
„Nein, Häuptling Höllschrei. Ich bin Gul’dan noch nie begegnet …“
***
„… aber meine Waffen werden ihn aufhalten“, sagte Garrosh barsch.
Die Flammen der Fackel knackten und knisterten. Kein anderes Geräusch erfüllte das Zelt, bis auf das leise Flattern der Zeltwände in der Brise. Garrosh sah Misstrauen im Blick seines Vaters. Nicht Misstrauen vor Gul’dan. Misstrauen vor Garrosh.
„Gul’dan aufhalten. Wovor?“
„Davor, Euch und jeden anderen Orc davon zu überzeugen, Sklaven zu werden“, sagte Garrosh. „Gul’dan wird einen Krieg anzetteln, den die Orcs nicht allein gewinnen können. Er wird die Klans zusammenführen und ihnen ein Geschenk anbieten, eines, das den Sieg garantieren könnte. An diesem Tag –“
Grommash unterbrach. „Was für ein Geschenk?“
Es war gefährlich, einem Klanhäuptling ins Wort zu fallen, doch Garrosh hielt nicht inne. Seine Wut auf Gul’dan färbte seine Worte. „An diesem Tag, Häuptling Höllschrei, werdet Ihr der erste sein, der diese Gabe annimmt, nicht, weil Ihr schwach seid, sondern weil Ihr keinen anderen Orc ein solches Risiko zuerst eingehen lassen wollt.“ Garrosh blinzelte und seine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. „Diese Gabe wird Euch alles kosten. Eure Gedanken, Euren Geist, Euren Willen … alles Spielzeug für Eure neuen, unsichtbaren Gebieter. Mein Vater wurde auf diese Art hinters Licht geführt. Ich bin hier, um dafür zu sorgen, dass es nicht auch Euch geschieht.“
Sein Vater hob eine Augenbraue. „Wenn das, was Ihr sagt, wahr ist“, sagte er, obwohl Grommash es offensichtlich noch nicht glaubte, „dann besteht kein Bedarf an Euren neuen Waffen. Die alten sind durchaus in der Lage, Gul’dan das Herz herauszuschneiden. Ein leichtes Ende.“
Leichter, als es der Verräter verdient hat. „Gul’dan ist nur eine Marionette. Wenn Ihr ihn tötet, werden seine Meister einen neuen Diener finden, vielleicht erst in Generationen, wenn Ihr und ich und alle, die sich an ihn erinnern, nicht mehr sind“, sagte Garrosh. „Ihre Erinnerung reicht weit zurück, und sie sind geduldig, wenn es nötig ist. Nein. Wir werden ihnen keine Chance geben, sich wieder zu sammeln. Wir locken sie an, entlarven sie und vernichten sie.“
Grommash atmete langsam aus. „Ihr sprecht von unmöglichen Gefahren, Fremder. Es ist mein Schicksal, von einem Feind hintergangen zu werden, den ich nie gekannt habe, der mir Macht anbietet, die ich mir nicht vorstellen kann, und ich kann das vermeiden, indem ich Waffen benutze, die ich noch nie gesehen habe?“ Er schüttelte den Kopf. „Worte sind Wind. Wie wollt Ihr mir das beweisen? Die Scherbe?“ Er nickte zu dem seltsamen, geschwungen Glasstück hinab, das zwischen ihnen lag.
Garrosh nickte. „Ja, Häuptling Höllschrei.“
„Wie?“
Das hatte Garrosh sich selbst gefragt. In Wahrheit konnte er nur raten. Aber er konnte gut raten. Während er im zerstörten, zerschmetterten Draenor aufgewachsen war, hatte er oft einen heiligen Ort besucht und die Geister um Antworten und Führung angefleht. Sie hatten ihm jahrelang keine Beachtung geschenkt.
Dann war Thrall angekommen, und die Geister hatten Garrosh gezeigt, wie sein Vater seine Schuld getilgt hatte. Dieser Moment hatte ihn auf einen neuen Weg geführt.
„Ich würde die Scherbe gern zu den Prophetensteinen bringen“, sagte Garrosh. „Mein eigenes Schicksal wurde von den Geistern Nagrands verändert. Ich glaube, dass das auch mit Eurem geschehen kann.“
***
Grommash kratzte sich am Kinn. Die Prophetensteine.
Viele Schamanen aus verschiedenen Klans waren zu diesen Menhiren gepilgert, doch nur wenige erhielten Antworten von den Geistern, die sich dort aufhielten. Nur wer den Donner im Herzen trägt, erhält Weisung von den Stürmen des Schicksals, wie ein altes Sprichwort lautete. Grommash hatte den weisen Schamanenältesten getroffen, der den Ort bewachte, hatte sich jedoch nie die Mühe gemacht, den Ort selbst aufzusuchen. Er war kein Häuptling des Blutenden Auges, der sich selbst verstümmeln musste, um einen Blick auf sein Schicksal zu erhaschen. Er glaubte lieber, dass sein Schicksal in seiner eigenen Hand lag.
Und doch behauptete dieser Fremde, dass die Geister ihn geführt hatten. Interessant. „Seid Ihr ein Schamane?“, fragte Grommash.
„Nein.“
„Ihr könnt Zwiesprache mit den Elementen halten?“, bohrte er weiter nach.
„Nein, Häuptling Höllschrei, aber ich glaube, dass sie Euch helfen werden”, sagte der Fremde.
„Wieso?“
„Das Schicksal aller, die auf dieser Welt leben, ruht auf Euren Schultern. Nicht nur das der Orcs. Die Elemente werden auf unsere Notlage reagieren.“
„Und wenn nicht?“, fragte Grommash.
Der Fremde zögerte nicht. „Nehmt meinen Kopf. Ich werde ihn nicht mehr brauchen.“
Langsam erhob Grommash Blutschrei sich und legte die Klinge an den Hals des Fremden. Die Augen des anderen Orcs blickten in seine, ohne zu blinzeln. „Ihr bietet einen sehr gefährlichen Preis an, Fremder“, sagte Grommash.
„Lok-tar ogar. Wenn ich Euch nicht überzeugen kann, habe ich versagt.“
Grommash ließ seine Axt sinken und versank tief in Gedanken. Der Fremde war ein wandelndes Rätsel. Ein Sturm aus Fragen wirbelte durch Grommashs Geist, und doch sprach er keine davon aus. Fragen würden warten können.
Was war wirklich wichtig?
Schicksal? Sklaverei? Ehre? Wille?
Schwäche.
… siehst du denn nicht, dass es zu spät ist? Bring es zu Ende!
Grommash schloss die Augen. Schwäche. Das war der Schlüssel. Dieser Fremde, der stark genug war, vier Krieger des Kriegshymnenklans selbst gefesselt zu überwinden, der gekämpft hatte, als hätte er das Herz eines Höllschreis, warnte Grommash vor Schwäche, und behauptete, es beweisen zu können. Er setzte sein Leben darauf.
Er würde den Fremden eine Weile länger aushalten können, wenn er so die Wahrheit erfahren würde. Der Kriegshymnenklan durfte nie wieder schwach sein.
Das Herz eines Kriegshymnenorcs ist ohne Bedeutung, wenn man das Hirn eines Ogers hat, hatte Grommash vorhin gesagt. Grommash hatte diese Lektion auf schmerzliche Art gelernt. Er war so darauf versessen gewesen, seine Willensstärke unter Beweis zu stellen, dass er blind in einen Kampf gerannt war, den er nicht gewinnen konnte. Ein unsichtbarer Feind hatte darauf gewartet – nein, darauf gezählt –, dass er leichtsinnig sein würde.
… Ich bin am Ende …
Grommash öffnete die Augen und lächelte. „Wir werden zusammen zu den Prophetensteinen gehen, Fremder, und ich werde Euch beim Wort nehmen“, sagte er.
Der andere Orc sah zufrieden aus. „Das freut mich.“
Der Klanhäuptling betrachtete die Beulen und Schürfwunden des Fremden. „Habt Ihr die Kraft, mitzuhalten?“
„Ja.“
Grommash erhob sich. Er warf einen Blick aus der Zelttür und sah, wie das erste Morgenlicht sich über den Horizont stahl. „Die Steine sind nicht sehr weit entfernt, und wir haben viel zu bereden. Wenn diese Gefahr echt ist, wie soll ich es überhaupt schaffen, die anderen Klans zu überzeugen? Ich werde außerhalb des Kriegshymnenklans nicht von vielen geschätzt, Fremder.“
Auch der andere Orc stand auf. „Aber sie respektieren Euch, und Ihr werdet ihnen Dinge bieten können. Kriegsbeute, die jede Vorstellungskraft übersteigt …“
Gemeinsam traten sie in die wechselnden Farben der Morgenröte, und ein Lächeln zuckte um die Mundwinkel des Fremden.
Teil Fünf
Die Geister bei den Prophetensteinen waren seit Tagen beunruhigt.
Einen Abend und einen Morgen lang waren sie panisch gewesen. Das Schicksal ist verzerrt. Jemand ist gekommen. Die Ereignisse verändern sich bereits. Das Raunen hatte sich seitdem in verwirrtes, sporadisches Murmeln verwandelt.
Der Älteste Zhanak hatte schon Schlimmeres gesehen. In den Jahrzehnten, in denen er über die Steine gewacht hatte, hatte er gelernt, dass die Elemente nicht friedvoll sondern energiegeladen waren, nicht passiv sondern adaptiv. Manchmal wurden sie wütend. Manchmal bekamen sie Angst. Manchmal wollten sie reden. Heute nicht. Nicht mit Zhanak, ganz bestimmt nicht mit Pilgern. Er akzeptierte das – was hätte er auch sonst tun können? – und setzte sich in den Schatten, meditierte und sah ab und zu ein Fragment der Unruhe der Elemente.
Verzerrt und verwandelt. Gehört nicht hierher. Wer ist er? Wer ist er?
Solche Worte ängstigten ihn nicht. Das Schicksal war eine zerbrechliche Angelegenheit. Manchmal ließen die Geister sich dazu herab, einen Blick darauf zu gewähren, was geschehen könnte – könnte – oder was bereits geschehen war, doch den Schritten eines Orcs konnten sie nicht folgen, selbst dann nicht, wenn sie es gewollt hätten. Die Elemente konnten nur von dem sprechen, was sie wussten, und sie wussten nicht alles.
Ein Flüstern führte ihn zurück in die Welt. „Ältester Zhanak.“ Es war einer der Schamanenlehrlinge. „Pilger nähern sich.“
Zhanak machte sich nicht die Mühe, die Augen zu öffnen. Sein Augenlicht wurde seit drei Jahrzehnten immer schlechter, und alles, was weiter als zwei Armlängen entfernt war, war nur ein Fleck aus Licht und Schatten. Aber wenn man mit den Elementen verbündet war, erwiesen sich versagende Sinne als nicht allzu große Behinderung. „Drei davon, richtig?“
„Vier.“
Zhanak verzog das Gesicht. Die Geister waren nur dreier Orcs gewahr, die sich näherten. „Seid Ihr sicher?“
„Einer ist Häuptling Grommash Höllschrei. Er hat zwei Wachen des Kriegshymnenklans bei sich. Den vierten erkenne ich nicht“, sagte der Lehrling.
„Verstehe.“ Zhanak hob eine knöchrige Hand. „Bitte, helft mir hoch.“ Vorsichtig zog der Lehrling ihn auf die Beine. Weiche Knie zitterten einen Moment lang, gaben aber nicht nach. Der Schamane nickte zufrieden. Sein Gehstock würde ihn lange genug aufrecht halten. „Ihr solltet Euch entfernen, junger Mann.“
„Nein.“
„Das war keine Bitte“, sagte Zhanak sanft. Höllschrei und ich verstehen uns, aber ich glaube, heute wird es ein wenig anders sein. Er wird möglicherweise nicht erfreut sein, wenn ich ihm sage, dass er gehen soll. Ich habe nichts von ihm zu befürchten. Er könnte meinen Kopf abschlagen, aber was würde er mir damit nehmen, abgesehen von dem bisschen Zeit, das mir noch bleibt? Euch würde er viel mehr nehmen. Geht.“ Der Lehrling zögerte, schritt jedoch schließlich davon.
Zhanak stand allein da und wartete darauf, dass die Kriegshymnenorcs – und ihr seltsamer Gast – eintrafen. Er fing an, genau zuzuhören – ganz außerordentlich genau – als das Murmeln der Geister lauter und lauter wurde.
Er ist es. Er ist hier. Er ist hier. ER IST HIER.
Die Geister brachen wieder in Panik aus. Zhanaks Hände umklammerten seinen Gehstock. Das Schicksal ist eine zerbrechliche Angelegenheit, dachte er verbissen. Dann wollen wir mal sehen, ob wir es heute schützen können.
***
„Der Schwarzfelsklan ist nicht so einladend, Fremder“, sagte Grommash Höllschrei. Er schritt über einen kleinen Stein, der mitten im Weg lag. Zwei Wachen des Kriegshymnenklans folgten ihm und hielten einen respektvollen Abstand von einigen Schrittlängen. „Der Klan der Zerschmetterten Hand ebenfalls nicht. Sie werden mehr wollen als leere Versprechungen.“
„Wenn sie erst überzeugt sind, dass eine neue Welt zur Eroberung reif ist, werden sie nur einen größeren Anteil an der Beute haben wollen. Ihr werdet Nagrand nicht aufgeben müssen“, sagte Garrosh. „Es gibt einen Ort namens Eisenschmiede – der Schwarzfelsklan wird viel opfern, um von ihm Besitz zu ergreifen. Die Zerschmetterte Hand? Gebt ihnen das Land bei einem Ort namens Sen’jin. Ich werde ihnen sogar dabei helfen, es zu erobern.“ Und ich werde es genießen.
Garrosh verbarg seine diebische Freude. Sein Vater dachte ernsthaft über seine Worte nach. Grommash überlegte bereits, wie man ein vereintes Orcvolk, eine Horde, führen könnte. Ich schätze, ich sollte dir dankbar sein, Kairoz, dachte Garrosh. „Und wenn das für den Moment nicht reicht, erzählt ihnen von den Wunderdingen, die wir von den Draenei plündern werden.“
„Ihr sagtet doch, sie wären nicht die Bedrohung, als die Gul’dan sie verkauft“, sagte Grommash.
„Das sind sie auch nicht, aber früher oder später werden sie im Weg sein. Man sollte sich besser früher als später um sie kümmern. Ihr werdet schon sehen“, sagte Garrosh.
Grommash sah nicht überzeugt aus. „Vielleicht.“ Er wurde still, als sie endlich die letzte Hügelkuppe erklommen hatten. Die Prophetensteine waren nicht mehr weit entfernt.
Ein Orc erwartete sie. Er stand neben einem nahen Baum. „Ältester Zhanak“, rief der Klanhäuptling aus, „Es ist gut, Euch wiederzusehen.“
Der alte Orc, dessen Hände sich im Alter verkrümmt und verknöchert hatten, stützte sich schwer auf einen Stock. „Es ist schon zu viele Monde her, dass ich Euch zuletzt gesehen habe, Häuptling Höllschrei, aber die Geschichten über Eure Eroberungen sind mir zu Ohren gekommen. Ihr habt dem Kriegshymnenklan viel Ehre bereitet“, sagte er mit Wärme und Respekt.
Garrosh trat vor. Wenn mein Vater mit ihm befreundet ist, sollte ich das auch sein. „Grüße, Ältester. Ich bin weit gereist und –“
Der Älteste fiel ihm ins Wort. „Ich weiß.“ Die Wärme war verschwunden. „Wie heißt Ihr?“
„Ich komme als Fremder und nicht mehr.“
„Wie heißt Ihr, Fremdling?“ Die Galle in Zhanaks Stimme machte Garrosh sprachlos. Der Älteste hob einen krummen Finger und sagte: „Ihr gehört nicht hierher. Die Geister verabscheuen Eure Anwesenheit. Eure bloße Existenz bringt Chaos in diese Welt.“
Garrosh blickte zu seinem Vater und sah, wie sich ein Schleier des Zweifels über seine Augen legte. Dieser alte Schamane könnte alles ruinieren. „Ich komme in der Tat aus einem fernen Land, aber –“
„Ich kann Eure Lügen riechen, noch bevor Ihr sprecht, Fremdling.“ Der Schamane zischte wortwörtlich vor Zorn. Er machte langsame, bedächtige Schritte vorwärts und starrte Garrosh direkt ins Gesicht. Seine Venen traten aus seiner faltigen Haut hervor. „Das Schicksal selbst erbricht sich. Ihr wollt alles in dieser Welt niederreißen.“
Eine erdrückende Präsenz schien sich auf Garroshs Geist zu legen. Die Geister verabscheuten ihn tatsächlich. Wenn du wüsstest, was ich mit Freuden deinen Brüdern in Durotar angetan habe, würdest du mich auf der Stelle töten. Er griff nach der Scherbe hinter seinem Rücken und wickelte sie flink aus. „Das wird beweisen –“
Der Schamane schlug sie Garrosh aus der Hand. „Ich interessiere mich nicht für Eure widerlichen Tricks“, sagte Zhanak mit lauter werdender Stimme. Er hatte seine Hand an den gezackten Kanten der Scherbe schwer verletzt, schien sein Blut, das auf den Boden tropfte, jedoch nicht zu bemerken. „Häuptling Höllschrei, es wird Euch unaussprechliches Leid und Schmerzen ersparen, diese Obszönität ohne Zögern zu töten. Jeder seiner Schritte wird den Tod tausender Unschuldiger zur Folge haben. Passt auf: Er wird es bestreiten.“
„Ich bestreite nichts“, knurrte Garrosh. Er zeigte auf die Scherbe, die im Gras lag. „Ich werde alles niederreißen. Das muss ich. Das da wird Euch zeigen, warum.“
„Ein Schuldbekenntnis von seinen eigenen Lippen“, sagte Zhanak leise. „Tötet ihn. Tötet ihn jetzt.“
„Glaubt Ihr, dass es ein Schicksal geben könnte, das schlimmer ist, als der Tod, Ältester?“ Es fiel Garrosh schwer, einen respektvollen Ton beizubehalten. Das leiseste Anzeichen der Verachtung könnte seinen Vater gegen ihn wenden. „Ich bringe keinen Frieden. Ich bringe Krieg. Chaos. Tod. Jeder von uns könnte tausendfach in Qualen sterben, und es wäre ein gerechter Preis dafür, zu vermeiden, was das Schicksal allen Orcs bestimmt hat.“
„Ältester Zhanak“, sagte Grommash, „dieser Fremde behauptet, dass alle Orcs bald in Sklaverei geraten werden.“
„Was sein muss, muss sein“, sagte Zhanak.
Mit diesem einen Satz hatte Garrosh einen Ansatzpunkt gefunden, und er wusste es. „Nein. Ich werde nicht tatenlos dasitzen und auf die Vernichtung warten.“ Garrosh wandte sich flehend an Grommash. „Und das werdet Ihr auch nicht. Das weiß ich.“
„Zhanak“, sagte Grommash, „Ich muss es selbst sehen. Wenn er … Schwäche … in unserem Volk gefunden hat, muss sie entfernt werden.“
Zhanak schüttelte den Kopf. „Die Geister werden heute nicht mit Euch sprechen.“
„Ich habe das Recht, darum zu bitten.“
„Aber er nicht.“ Zhanak zeigte erneut auf Garrosh. „Besteht darauf, ihn mitzunehmen, und ich werde mich Euch in den Weg stellen. Ihr werdet mich töten müssen.“
Garrosh unterdrückte den Drang, den Finger des Ältesten abzubrechen. Ich werde deinen Tod genießen, du seniler Schwachkopf, dachte er. „Ich werde hier beim Ältesten bleiben, Häuptling Höllschrei. Nehmt die Scherbe. Sprecht mit den Geistern. Es ist zu wichtig, um zu warten.“
Grommash stand einen langen Moment stumm da und erwog Garrosh mit seinen Blicken. „Ältester Zhanak, ich muss es tun. Ich muss es mit Sicherheit wissen.“
Zhanaks Gesichtsausdruck verzerrte sich zu einer Grimasse, als hätte er etwas Abscheuliches geschmeckt. „Nun gut. Bringt es hinter Euch.“
Sorgsam hob Grommash die Glasscherbe auf. „Ihr, bleibt hier“, sagte er der männlichen Wachen des Kriegshymnenklans. Der weiblichen Wache sagte er: „Begleite mich.“ Sie gingen den Pfad zu den Menhiren hinunter.
Garrosh sagte kein Wort. Er hielt den Blick auf seinen Vater gerichtet und ignorierte das giftige Starren des Ältesten. Der zurückgebliebene Wächter des Kriegshymnenklans beobachtete Garrosh genau.
„Wenn das für Euch nicht gut ausgeht“, sagte die Wache, „lauft nicht weg. Es wird viel, viel leichter für Euch, wenn Ihr Euer Schicksal akzeptiert.“
„Es mag für mich nicht gut ausgehen, aber wenn ich sein Schicksal nicht ändern kann, wird es für Euch noch schlimmer ausgehen“, sagte Garrosh, „und ich habe nicht vor, es mit anzusehen.“
Die Wache grunzte. Garrosh starrte auf die Steine. Eine bleierne Schwere machte sich in seiner Magengrube breit.
Jetzt liegt es nicht mehr in meiner Hand.
***
Grommash trat in die Mitte des Steinkreises, nachdem er Blutschrei an seine Wache übergeben hatte. „Störe mich nicht, und verliere das nicht“, sagte er ihr.
„Ja, Häuptling Höllschrei.“
Die Luft bebte vor Macht. Jede von Grommashs Bewegungen schien die Geister zu verstören. Zhanak hatte nicht gelogen – sie hassten den Fremden. Vielleicht bedeute das, dass es überhaupt keine Hoffnung auf Antworten gab. Aber dafür wird der Fremde bezahlen, nicht ich, dachte Grommash verbittert. Es wäre eine Schande, einem so bemerkenswerten Orc den Kopf abzuschlagen, aber versprochen war versprochen.
Grommash hielt die Glasscherbe flach auf den Handflächen und betrachtete sie eingehend. Winzige, stecknadelkopfgroße bronzene Lichtpunkte schimmerten durch das gesamte Glas, wie kleine Sandkörner, die in seiner Masse gefangen waren. Ein faszinierendes Objekt.
Vielleicht gab es irgendeine traditionelle Art, die Geister zu begrüßen. Wenn dem so war, kannte Grommash sie nicht. Er würde direkt sein. Wenn sie nicht antworteten, sollte es so sein. „Der Fremde glaubt, dass das Schicksal dieser Welt von meinen Entscheidungen abhängt“, sagte Grommash und erhob die Scherbe. „Außerdem behauptet er, dass dies den Beweis enthält. Straft ihn Lügen, und er wird auf der Stelle sterben. Zeigt mir die Wahrheit, was immer sie ist.“
Die Luft wirbelte. Kleine Feuerfunken, Wassertröpfchen und Steinpartikel wurden in einen Strudel aus Wind gesogen, der sich auf die Scherbe senkte.
Grommash blieb regungslos, während Macht die Scherbe erfüllte, als gleißendes Licht ihm in den Augen stach und sich ein Nebel zwischen den Prophetensteinen erhob, und plötzlich wurde Grommash davongetragen –
***
In einem Augenblick war Grommash verschwunden. Eine massive Nebelwand, die keinem Nebel glich, den Garrosh je gesehen hatte – ganz bestimmt nicht, als Thrall ihm eine Vision gezeigt hatte – erfüllte den Kreis der Menhire. Die Wache, die am Rand der Steine stand, lehnte sich nach links und rechts und versuchte, den Klanhäuptling im Dunst ausfindig zu machen.
Die Wache neben Garrosh versteifte sich. „Wenn Ihr unseren Häuptling getötet habt, Fremder, seid Ihr als nächstes dran“, blaffte er.
Garrosh schüttelte den Kopf. „Es geht ihm gut.“ Seine Worte täuschten über die plötzliche Angst hinweg, die sein Herz ergriff. Wie würden die Geister darauf reagieren, eine andere Welt zu sehen, eine andere Zeit? Würden sie in Panik verfallen? Könnten sie Grommash töten? „Das ist alles wie erwartet.“ Es muss einfach funktionieren. Selbstvertrauen. Er musste Selbstvertrauen zeigen.
Plötzlich schien Licht aus dem Nebel.
Der Älteste Zhanak schrie: „Nein!“
Die anderen beiden Orcs wandten sich um. Der Schamane war zu Boden gefallen. „Nein!“, schrie er erneut. „Das darf nicht sein!“ Die Wache kniete sich neben ihn und hielt seine Schultern fest, während der alte Orc zitterte und zuckte.
Er sieht, was mein Vater sieht. Das erdrückende Gefühl von Abscheu und Hass schwand. Und die Geister sehen es auch.Sie waren so entsetzt wie der Älteste Zhanak.
Garrosh wandte sich wieder den Prophetensteinen zu und wartete.
***
—Tage und Wochen und Monate rasten mit jedem Blinzeln vorbei. Grommash starrte überwältigt.
Es war alles wahr. Alles, was der Fremde gesagt hatte, war wahr.
Ein Krieg, den die Orcs nicht gewinnen konnten. Das blaue Blut der Draenei und das dunkle, purpurrote Blut der Orcs vermischten sich auf dem Schlachtfeld. Die erschreckende Größe eines vereinten Orcvolkes, weit größer als alles, was der Kriegshymnenklan je allein hätte auf die Beine stellen können. Das ist die Horde. Grommash konnte ihre Macht kaum fassen. Der Fremde war ihrem Potenzial in seinen Beschreibungen nicht annähernd gerecht geworden.
Die Zeit rauschte weiter vorüber. Er sah dem langsamen Verfall des Landes zu, während eine neue Macht – die Hexenmeister – Akzeptanz fand. Er sah, wie sich die Hautfarbe der Orcs veränderte, wie grüne Flecken selbst bei denen auftauchten, die die verderbte Energie nie berührt hatten.
Er sah Gul’dans „Wunder“, ein Geschenk unsagbarer Macht von einem unsichtbaren Gönner. Und, ja … es war Grommash, der vortrat und als erster von der Gabe trank.
Aber der Fremde hatte sich geirrt. Grommash scherte sich nicht um die Gefahr, die davon für andere Orcs ausging. Er würde der erste sein, weil er einen einzigen Gedanken nicht ignorieren konnte: Niemand wird stärker sein als ich. Keine Sekunde lang. Ich werde niemals schwach sein.
Höllschrei starrte in den Nebel der Prophezeiung und sah sich selbst dabei zu, wie er die leuchtende Flüssigkeit trank, und er spürte ihre Wirkung so deutlich, als wäre er dort. Er fühlte, wie sich sein Körper veränderte. Er fühlte den Kitzel der Rage, während sich seine Haut vollständig grün färbte. Er fühlte, wie die Macht alles vereinnahmte, was ihn ausmachte.
„Ich fühle mich … prachtvoll!“ brüllte er in der Vision. „ Gebt mir Draeneifleisch zu schlitzen und reißen! Draeneiblut auf meinem Gesicht … ich werde es trinken, bis ich nicht mehr kann! Gebt mir ihr Blut!“
Es war prachtvoll.
Und es war falsch. Seine Gedanken waren nicht mehr seine eigenen. Auch das konnte er fühlen.
Der Nebel trug ihn voran.
***
Der Schamanenälteste schrie wieder auf. „ Darf nicht sein!“ Er bebte, zuckte, seine Augen waren zugekniffen. Speichel tropfte aus seinen Mundwinkeln.
Die Kriegshymnenwache sah immer wieder zu den Prophetensteinen. „Stirbt er? Stirbt Höllschrei?“, fragte er.
Garrosh deutete auf die Straße. „Geht. Ich bleibe hier. Wenn nötig, zieht Höllschrei aus dem Nebel.“
Die Wache ließ sich das nicht zweimal sagen. Er sprintete auf die Steine zu. Garrosh kniete sich neben Zhanak und spürte eine seltsame Erleichterung. „Versteht Ihr?“, fragte er den Ältesten. „Deshalb bin ich hierher gereist. Um das zu verhindern.“
Der Schamane griff nach seiner Brust. Seine Finger gruben sich knapp über seinem Herzen in seine Haut, während er sich wand und murmelte. Der Schnitt in seiner Hand, dort, wo er sich an der Scherbe geschnitten hatte, hinterließ rote Striemen auf seiner Robe. „Soll nicht sein. Darf nicht geschehen. Soll nicht sein. Darf nicht geschehen.“ Seine Atemzüge waren flach und schnell. Er öffnete die Augen. „Noch Hoffnung. Erlösung. Erlösung.“
„Ja“, sagte Garrosh leise. „Erlösung. Darum bin ich hier.“ Er ergriff einen der Arme des alten Orcs und fühlte den rasenden, flatternden Puls. Lag er im Sterben? Möglicherweise. „Ich werde unserem Volk Erlösung bringen.“
Zhanak schien ihn nicht zu hören. „Höllschrei hat das Herz. Das Herz, alles zu ändern.“
„Ja“, stimmte Garrosh zu.
„Das Herz, zu widerstehen. Zu kämpfen. Alle Orcs zu vereinen. Zu führen.“
Garrosh saß im Schneidersitz und legte den Kopf des Schamanen in seinen Schoß. „Ja. All das und mehr.“ Er klopfte dem Ältesten sanft auf die Schulter. Wenigstens versteht der alte Narr es jetzt.
„Frieden … wir könnten Frieden erleben …“
Garroshs Hand hielt inne.
***
Lok-tar ogar. Sieg oder Tod. Die Vision zeigte beides. Ein Sieg gegen die Draenei, dann der Tod dieser Welt, als die Teufelsmagie sie gänzlich verderbte.
Die Elemente selbst würden in den Verfall getrieben werden. Grommash konnte fühlen, wie ihr Entsetzen die Prophetensteine erschütterte. Diese Vision war für sie so überraschend wie für ihn selbst.
Dann kam eine weitere großartige Idee von Gul’dan – eine neue Welt zu überfallen. Azeroth. Die Horde stürmte durch ein Portal, errang Siege, zerstörte Städte und schlachtete jeden ab, der sich ihr in den Weg stellte.
Die Siege hielten nicht an. Als die Niederlage kam, war sie absolut. Die Orcs, die überlebten, wurden zusammengetrieben und in Lagern gefangen gehalten.
Und sie wehrten sich nicht.
Selbst die nicht, die zum Kriegshymnenklan gehört hatten. Sie wehrten sich nicht. Ihre verderbte Macht war verflogen und hatte sie antriebslos zurückgelassen.
Unsere Seelen. Unsere Seelen werden verloren sein. Grommash wollte weinen.
***
Noch einmal richteten sich Zhanaks Augen auf Garroshs Gesicht. „Ihr habt gesehen. Ihr wisst. Ein vereintes Volk. Schützt einander. Herrlich. Höllschrei könnte sein Volk dort führen. Er hat das Herz. Herrlich …“
„Das ist die Horde, Ältester“, sagte Garrosh.
„Höllschrei kann es ertragen. Er kann es überwinden. Die Verderbnis wird nicht das Ende sein.“ Tränen strömten über Zhanaks Gesicht. Seine Stimme war von Freude und Hoffnung erfüllt. „Eine Welt in Schutt und Asche, doch die andere stärker als je zuvor. Höllschreis Opfer rettet uns alle. Ihr habt es gesehen …“
Die Vision überkam ihn wieder, und er begann erneut, zu zittern.
Garrosh sah sich verstohlen um. Die beiden Wachen schritten am Rand des Nebels umher und fragten sich offensichtlich, ob sie die Vision unterbrechen sollten. Niemand sonst war zu sehen. Wenn der Schamane Arbeiter oder Lehrlinge beschäftigte, waren sie nicht in der Nähe.
„Ich habe es gesehen, Ältester“, sagte Garrosh. Er griff nach unten, hielt dem alten Schamanen mit einer Hand die Nase zu und drückte ihm die andere fest über die Lippen. „Und ich werde es nicht noch einmal sehen.“
Unterdrücktes Grunzen drang unter Garroshs Fingern hervor, doch der Schamane konnte keine Luft in seine Lungen bringen. Zhanaks Hände kratzten Garrosh.
„Die Ahnen werden Euch zu Hause willkommen heißen“, murmelte Garrosh und starrte geradeaus.
Er wartete darauf, dass das gedämpfte Grunzen, das Zappeln und der Herzschlag erstarben. Sie taten es. Trotzdem behielt er seine Hände dort, wo sie waren, und zählte bis dreißig.
Dann legte er den Schamanen sanft nieder. „Die Ahnen werden Euch zu Hause willkommen heißen“, sagte Garrosh erneut und meinte es ernst. Der Älteste hatte selbst den Respekt Grommash Höllschreis gehabt. Es war zu schade, dass er hatte sterben müssen.
Garrosh schritt zu den Prophetensteinen hinunter. Vielleicht wären die Elemente erbost darüber, was er gerade getan hatte. Oder vielleicht hatten sie überhaupt nichts gesehen. Die Vision schien sie ganz vereinnahmt zu haben.
Und dabei fällt mir ein…
Blutschrei lag in den Armen von einer der Wachen Grommashs. Garrosh lächelte und ergriff die Axt.
***
Gefangenschaft. Entsetzen. Tod. Selbst die Orcs, die sich nicht in den Lagern befanden, konnten in dieser fremden Welt kaum eine Existenz zusammenklauben. Selbst Grommash Höllschrei, der Orc mit dem eisernen Willen, der Orc mit dem Herz eines Riesen, der furchteinflößende Anführer des Kriegshymnenklans … er kämpfte eine aussichtslose Schlacht gegen Lethargie und Verzweiflung, verbrachte seine Tage damit, sich vor den Bezwingern der Orcs zu verstecken und sehnte sich insgeheim nach dem Tod.
Seine Gedanken spiegelten ihre Stimme wider. Golkas Stimme. Endlich verstand er. Sie war nicht schwach gewesen. Keine Sekunde lang. Wie hatte er das nicht sehen können?
… lasst mich den Kriegertod sterben, den ich verdiene …
„Das kann nicht sein!“, heulte Grommash. „Das darf nicht sein!“
Seine Gefühle wurden von den Elementen widergespiegelt. Darf. Nicht. Sein. Die dämonische Verderbnis würde auch sie fast auslöschen. Sie würden alle gemeinsam leiden.
Das darf nicht sein. Niemals. Grommash fühlte, wie ihm Überzeugung in Mark und Bein überging. Überzeugung und Wut. Mein Klan wird nie so tief fallen. Jeder Preis ist recht, um dieses Schicksal abzuwenden.
Jeder.
Die Vision ging weiter. Ein neuer Orc, von Menschen großgezogen, wurde gezwungen, zu ihrer Unterhaltung zu kämpfen. So stark er auch war, wurde er immer und immer wieder gedemütigt und geschlagen, man gab ihm sogar den Namen Thrall, Sklave. Doch schon bald träumte er davon, zu fliehen, und –
„Ihr Narren, zieht ihn heraus!“
Die Stimme kam von außerhalb der Vision. Grommash ignorierte sie. Was könnte wichtiger sein als dies?Er sah zu, während der Nebel zeigte, wie der junge Orc das Lesen erlernte und–
„Es hat den Schamanen getötet! Wir müssen die Vision sofort unterbrechen!“
Sein Blick erfasste Blutschreis Griff – sein wahrer Blick –, und er wurde nach unten gestoßen. Schmerzen schossen durch Grommashs Handgelenk. Seine Hand öffnete sich reflexartig, und die Glasscherbe, die so entsetzliche Visionen kanalisiert hatte, fiel zu Boden. Die Nebel verflogen. Die Bilder und Töne verschwanden.
Es war vorüber.
Grommash fiel auf die Knie und keuchte.
„Häuptling Höllschrei!“ Der Fremde kniete an seiner Seite. Er hielt Blutschrei. „Geht es Euch gut?“
Grommash gewann langsam die Fassung wieder. Sehr langsam. Er blickte nicht auf, bis sich seine Atmung normalisiert hatte. Die Luft umwirbelte sie weiterhin. Die Elemente waren verstört.
Endlich stand Grommash auf. „Gebt mir das“, sagte er und streckte die Hand aus. Der Fremde reichte ihm Blutschrei. „Warum habt Ihr eingegriffen?“
Der Fremde zeigte an den Steinen vorbei auf den Baum, wo der Schamane gewartet hatte. „Die Vision hat den Ältesten getötet, Höllschrei“, sagte er. „Ich hätte nie gedacht, dass sie so gefährlich sein könnte. Ich befürchtete, dass sie auch Euch töten würde.“
„Sein Herz hätte nicht ertragen können, was ich gesehen habe.“ Grommash ergriff den Fremden bei der Kehle und schleuderte ihn rücklings gegen einen der Steine. Den Bruchteil einer Sekunde später legte Grommash Blutschrei an seinen Hals. „Was ist als nächstes passiert?“
„Was?“, fragte der Fremde.
„Ich habe Sklaverei und Tod gesehen. So kann es nicht geendet haben. “Blutschreis Klinge drückte sich tief ein, kurz davor, die Haut aufzuritzen. „Was ist mit mir geschehen? Was ist mit meinem Klan geschehen?“
„Ihr habt bis zum Ende gekämpft, Höllschrei. Ihr und andere.“ Das klang wie ein Zugeständnis, das der Fremde nicht machen wollte. „Aber es war zu spät. Uns waren die Herzen entrissen worden. Der Preis für Gul’dans Macht ist –“
„Alles“, unterbrach ihn Grommash. Seine Stimme war heiser. Langsam entfernte er Blutschrei. „Sie wird uns alles kosten.“
„Ja. Aber Ihr habt noch etwas anderes gesehen, Höllschrei.“
Grommashs Blick sah getrieben aus. „Was?“
„Ihr habt die Macht der Einheit gesehen“, sagte der Fremde ruhig. „Alle Orcs marschieren unter einem Banner. Stellt Euch das ohne Herren vor. Ohne Verderbnis. Stellt es Euch vor. Eine Horde unter Führung des Kriegshymnenklans. Was könnte es noch für Grenzen geben? Welche Welt könnte sich uns erwehren?“
Grommash wandte sich ab. Sein Geist war noch immer benebelt. „Schwäche. Ich habe mich für stark gehalten, und das hätte mich ins Verderben geführt.“ Oh, Golka. Ich schwöre, dass ich deine Stärke haben werde. Wenn ich falle, werde ich in der Schlacht fallen … ich werde Meere aus Blut vergießen, um das Schicksal abzuwenden, das der Fremde mir gezeigt hat. Selbst mein eigenes. Das schwöre ich.
„Ja, Häuptling Höllschrei“, sagte der Fremde. „Aber jetzt wisst Ihr, was auf Euch zukommt. Feinde warten darauf, uns zu versklaven. Gul’dans Meister. Die auf dieser anderen Welt. Wer könnte sich einer solchen Herausforderung stellen, wenn nicht Ihr? Wer könnte der Vater aller Klans sein, wenn nicht Ihr?“
Niemand. Niemand sonst. Niemand außer ihm würde das nackte Grauen ihres Schicksals kennen. Niemand außer ihm würde irgendetwas tun, um es abzuwenden.
„Diese andere Welt hat uns erobert. Sie sind stark. Wir müssen stärker sein.“ Grommash fühlte, wie sich seine Seele aufschwang. Ich werde stärker sein. „Wir mögen versagen, Fremder, aber wenn das geschieht, werden wir im Versuch sterben, nicht wahr?“
„Lok-tar ogar“, sagte der Fremde.
Die beiden Kriegshymnenwachen wiederholten es leise. „Lok-tar ogar.“
Grommash hob Blutschrei auf Augenhöhe und betrachtete sein Spiegelbild in dem polierten Metall. „Wir werden niemals Sklaven sein. Nicht auf dieser Welt und nicht auf irgendeiner anderen.“ Jeder Preis ist recht, um dieses Schicksal abzuwenden, dachte er erneut. Grommash sah sein Spiegelbild an, dann zum Fremden hinüber. „Ihr erinnert mich an jemanden.“
„An wen?“
An sie, sagte Grommash nicht laut. Es war unmöglich. Aber hatte er nicht soeben das Unmögliche mit eigenen Augen gesehen? „Das ist unwichtig. Wieviel Zeit bleibt uns, Fremder?“
„Monate. Darüber hinaus – weiß ich es nicht.“
„Das muss vor Gul’dan geheim gehalten werden. Wir wollen, dass er blind bleibt, bis der Tag gekommen ist.“ Er wandte sich an die zwei Wachen. „Lauft zurück zum Lager. Sagt unseren Spähern, dass sie sich schnell vorbereiten sollen. Wir werden im Geheimen Nachrichten an alle anderen Klans senden müssen. Geht!“
Sie zögerten nicht. Grommash und der Fremde sahen ihnen nach, als sie davonliefen.
„Wir müssen sie davor warnen, noch nicht einmal darüber nachzudenken, mit Gul’dans neuer Macht in Berührung zu kommen“, knurrte Grommash. „Das wird nicht leicht.“
„In der Tat.“
Grommash betrachtete den Fremden eingehend. „Werdet Ihr mit dem Kriegshymnenklan kämpfen?“
„Bis zum Tod.“
„Das dachte ich mir“, sagte der Klanhäuptling. „Ihr habt tatsächlich das Herz eines Kriegshymnenorcs. Bleibt an meiner Seite. Wir haben einen langen Weg vor uns.“
Die Augen des Fremden leuchteten.
„Ich werde jeden Schritt genießen“, sagte er.
Die blutende Sonne von Matt Burns
Dezco umklammerte eine Locke seiner toten Frau und wartete auf den Beginn des Rituals.
Der Schrein der Zwei Monde zeichnete sich hinter ihm dunkel und still in der Nacht ab. Selbst auf der normalerweise belebten Goldenen Terrasse der Bergstadt herrschte Stille. Dafür war Dezco dankbar. Er und sein Stamm der Morgenjäger hatten die große Steinplattform ganz für sich. Ablenkungen waren nun nicht erwünscht.
Eine warme Böe wehte über die Terrasse und ließ die Federn des weißen Ebenenfalken und die kleinen erdfarbenen Holzamulette an Dezcos Hörnern, Handgelenken und Lederweste rascheln. Enttäuscht betrachtete er die zeremonielle Ausstattung. Zuhause in Mulgore hätte er angemessene rituelle Kleidung getragen. Aber hier, in diesem seltsamen und weit entfernten Land Pandaria, war er gezwungen, sich mit den verfügbaren Mitteln zu behelfen.
Leza würde es verstehen, sagte er sich. Es würde ihr nichts ausmachen.
Dezco legte seine Bedenken ab und starrte von der Terrasse auf die mondbeschienenen Hügel und Waldgebiete des Tals der Ewigen Blüten hinab. Selbst bei Nacht bot dieser Ort einen faszinierenden Anblick.
„Eine Quelle der Veränderung“ – so hatte Leza ihn genannt. „Ein Tal voller goldener Blüten, die erfüllt sind mit der Hoffnung auf Frieden.“
Monatelang hatte sie von dem Tal geträumt. Dezco und andere Tauren hatten es ebenfalls in Visionen gesehen, Leza jedoch am intensivsten. Ohne sie hätte der Stamm die anstrengende Reise nach Pandaria und in das tief im Herzen des Kontinents versteckte Tal niemals überstanden.
Die Suche war grausam gewesen. Heftige Stürme hatten drei Schiffe mit Dezcos Stammesmitgliedern zerstört. Freunde. Familie. Nachdem das letzte verbliebene Schiff den schwülen Dschungel an der Küste Pandarias erreicht hatte, gab es weitere Tote. Lezas Schwangerschaft hatte Dezco in dieser verzweifelten Situation noch weiter beunruhigt. Dann bekam seine Frau ein Fieber, das trotz aller Anstrengungen des Stamms unheilbar schien. Doch Leza blieb stets unerschütterlich – eine Hoffnungsträgerin, so wie es jeder Sonnenläufer zu sein strebte.
„Noch ist es Nacht“, hatte sie gesagt, „aber schon bald geht die Sonne auf. Ich kann es spüren.“
Als die Wehen schließlich einsetzten, war die Anstrengung zu groß für ihren kranken Körper. Sie starb Wochen, bevor der Stamm das Tal finden sollte, immer noch der festen Überzeugung, dass die Strapazen fast überstanden waren. Dezco erinnerte sich mit schmerzhafter Klarheit an diesen düsteren Tag: der letzte gequälte Schrei seiner Frau, als das Fieber das Leben aus ihren Adern saugte, seine vergeblichen Versuche, sie dem Tode zu entreißen, und später der Rauch und das Feuer, die bei ihrer Einäscherung aufstiegen ...
„Die blutende Sonne!“ Der Ruf eines der Tauren, die hinter ihm standen holte ihn wieder zurück in die Gegenwart.
Gedämpftes Licht vertrieb die Dunkelheit und legte sich in violetten und goldfarbenen Schattierungen über das Tal. Es war der Zeitpunkt vor der Morgendämmerung, dieser kurze Moment, in dem An’she, die Sonne, sich noch nicht zeigte, aber schon ein Schimmern seines Lichts in die Welt gelangte. „Holt die Kinder.“ Dezco machte eine Handbewegung, hielt seinen Blick aber nach Osten gerichtet.
Lezas Cousine Nala kam still mit zwei Taurenkleinkindern auf dem Arm herbei. Zeremonielle Federn und Perlen baumelten an ihren winzigen Hörnern. Das erste Kind hieß Rothorn, das zweite Wolkenhuf. Dezco gab Nala die Locke aus der Mähne seiner Frau und nahm Lezas letzte Geschenke an ihn in die Arme.
„Fangt an!“, befahl Dezco. Sofort hämmerten zwölf hinter ihm sitzende Tauren mit ihren Fäusten auf kleine Ledertrommeln. Der Rhythmus war schnell, wie der Herzschlag eines Kriegers vor der Schlacht.
Während Nala Lezas Haar in Dezcos Mähne flocht, lehnte er sich zu seinen Söhnen hinunter. „Seht genau hin, meine Kleinen“, flüsterte er. Sie waren zu jung, um zu verstehen, was da vor sich ging, trotzdem wollte er es ihnen sagen. Seine Kinder gähnten und starrten mit halb offenen Augen nach vorn.
„Jeden Morgen blutet An’she“, fuhr Dezco fort. „Er opfert einen Teil seines Lichts, um uns zu zeigen, dass der Tag anbricht. Aber er ist nicht allein. Die Yeena’e helfen ihm. Eure Mutter hilft ihm.“
Am Tag zuvor waren die Zwillingsmonde zum ersten Mal seit Lezas Tod während des Tages erschienen – ein Zeichen dafür, dass ihr Geist sich endlich den Yeena’e angeschlossen hatte, den „Verkündern der Morgendämmerung“. Nun war sie in guter Gesellschaft, an der Seite aller anderen großen Ahnen, die gestorben waren, während sie Leben retteten oder, wie in Lezas Fall, Leben erschufen.
Der Trommelrhythmus wurde langsamer, als An’she über den unüberwindlichen Bergen des Tals zum Vorschein kam. Das Sonnenlicht glänzte auf den Feldern mit honigfarbenem Gras. Goldene Blätter raschelten an großen hellen Bäumen. Dezco hatte den Sonnenaufgang hier schon viele Male erlebt, war jedoch immer noch erstaunt über den Glanz von An’shes Licht. Es wirkte, als ob sein Blick nur auf das Tal gerichtet wäre und alle anderen Landstriche in der Reflexion seiner Helligkeit badeten.
Die Schönheit dieses Ortes war auf eine gewisse Weise auch grausam. Nachdem Dezco und sein Stamm im Tal eingetroffen waren, hätte es eigentlich einfacher werden sollen, doch das wurde es nicht. Es tobte ein Kampf und die Strategien der Horde wurden zu einem täglichen Ärgernis. Dutzende Flüchtlinge aus den vom Krieg gezeichneten Landstrichen nördlich der Region strömten auf der Suche nach Nahrung, Unterkunft und einer Pause von den Auseinandersetzungen zu allen Tages- und Nachtzeiten zum Schrein.
Vor einigen Tagen waren seine Jungen dann schließlich erkrankt, weinten nur noch und weigerten sich zu essen. Dezco und Nala hatten vergeblich versucht, herauszufinden, woran sie litten. An’she sei Dank schien es Rothorn und Wolkenhuf an diesem Morgen jedoch normal zu gehen. Vielleicht hatte das Ritual sie irgendwie geheilt, überlegte sich Dezco.
„Da.“ Nala trat einen Schritt vor und zeigte hinunter ins Tal.
Dezco warf einen Blick über das Geländer der Terrasse. Eine Gruppe von Personen war auf einem der ausgetretenen Trampelpfade unterwegs zum Schrein. Im Licht der Dämmerung wirkten ihre Schatten wie ausgestreckte Arme.
„Der Goldene Lotus“, sagte Dezco – er erkannte, dass ein Mitglied sich vom Rest der Gruppe unterschied. Mokimo der Starke besaß einen selbst aus der Ferne charakteristischen Gang. Wie alle Ho-zen hatte er lange, muskulöse Arme, die beim Gehen fast über den Boden schleiften. Dezco konnte die anderen Lotus-Mitglieder nicht erkennen, war jedoch überrascht, dass so viele der uralten Wächter des Tals zum Schrein kamen. Normalerweise hielten sie sich in der Goldenen Pagode auf, ihrem Sammelpunkt in der Mitte des Landes.
„Glaubt Ihr, dass es mit den Gerüchten zu tun hat?“ In Nalas Stimme lag ein Hauch von Besorgnis.
„Auf Gerüchte sollte man nie vertrauen“, antwortete Dezco. Er hatte das Getuschel gehört über die Hüter des Tals, die sich heimlich treffen und aus unbekannten Gründen verschiedene Orte in der ganzen Region aufsuchen sollten. Als Vermittler zwischen dem Lotus und Dezcos Volk hätte Mokimo es eigentlich erklären können, hatte sich jedoch seit mehr als einer Woche nicht mehr beim Schrein blicken lassen. Trotzdem gab es Dezcos Meinung nach keinen Grund zur Sorge. Der Lotus war zwar ein geheimnisvoller Orden, aber auch ein treuer Verbündeter.
„Ich weiß.“ Nala nickte langsam. „Aber die Jungen machen mir mehr Sorgen. Wir wissen nicht, ob die Krankheit schon verschwunden ist. Ein Besuch könnte es noch verschlimmern.“ Sie streichelte Rothorns Wange. Seit Lezas Tod ging der Schutz der Kinder ihrer Cousine über alles. Dezco hatte Verständnis für sie. So weit von zu Hause entfernt waren die Kleinkinder fast die einzige Familie, die sie hatte.
„Bringt sie rein, solange der Lotus hier ist“, sagte Dezco und fügte hinzu: „Nach der Zeremonie.“ Danach drehte er sich wieder zur aufsteigenden Sonne. Laute Stimmen und schwere Schritte hallten über die Terrasse, als Frühaufsteher aus den katakombenartigen Hallen des Schreins strömten. Händler stellten ächzend ihre klapprigen Stände auf. Flüchtlinge hockten beieinander und teilten sich ihr Essen. Orcs, Blutelfen und andere Mitglieder der Horde, die Dezco in das Tal gefolgt waren, fanden sich auf der Terrasse ein.
Das Trommeln verstummte, als An’she in seiner ganzen strahlenden Pracht über den Bergen aufstieg.
Einen Moment lang spürte Dezco ein Gefühl des Friedens. Vielleicht würden heute die Probleme ein Ende haben, dachte er mit vorsichtigem Optimismus. Vielleicht war der Morgen, von dem Leza immer gesprochen hatte, schließlich doch noch gekommen.
***
Dezco wies zusätzliche Wachen an, in Vorbereitung auf die Besucher für Ruhe und Ordnung auf der Terrasse zu sorgen. Er wohnte nun schon seit Wochen beim Schrein und hatte als effektiver Anführer der Stadt nahezu täglich mit Kämpfen und Streitigkeiten unter den Mitgliedern der Horde zu tun gehabt. Nie hatte es ernste Probleme gegeben, aber ihm graute davor, dass der Lotus sah, wie chaotisch die Zustände sein konnten. Der Orden hatte Dezco und sein Volk in einem Land, das der Lotus seit vielen Jahrhunderten bewachte, mit offenen Armen empfangen. Es lag in der Verantwortung des Tauren, dieses Vertrauen zu ehren.
Nachdem er seine rituelle Kleidung abgestreift und die Rüstung angelegt hatte, wartete Dezco mit vier Morgenjägerwachen an einer der großen geschwungenen Treppen, die zur Terrasse führten, auf den Lotus. Zwei goldene Statuen erhoben sich zu beiden Seiten der Stufen. Die monströsen Figuren hatten wilde Fratzen und hielten Speere mit langen Klingen in Richtung der Treppe, als ob sie jeden vertreiben wollten, der den Aufstieg wagte. Allein ihr Anblick brachte Dezcos Blut zum Kochen.
Es waren Mogu, ein brutales Volk, das einst über das Tal geherrscht und mit dessen Macht ein Reich des Hasses und der Überlegenheit errichtet hatte. Dezco hatte schon gegen einige von ihnen gekämpft – mächtige und erbarmungslose Gegner ohne jede Ehre. Zum Glück war ihr Reich schon vor langer Zeit zerfallen.
Aber alles war im Umbruch. Ein Clan der Mogu, die Shao-Tien, hatte es geschafft, ins Tal einzudringen. Dezco waren zahlreiche Berichte über ihre wachsende Anzahl zu Ohren gekommen. Während er an der Treppe wartete, fragte er sich, ob der Krieg zwischen den Shao-Tien und dem Lotus eine neue Wendung genommen hatte. Warum sonst sollten so viele Hüter des Tals sich auf den Weg zum Schrein machen?
Die Frage ging ihm durch den Kopf, bis die Besucher eintrafen. Dezco war froh, dass er sich die Zeit genommen hatte, auf der Terrasse für Ordnung zu sorgen, als er Zhi den Harmonischen unter den Hütern erkannte. Nur wenige auf diesem Kontinent respektierte er mehr als den weisen Pandarenanführer des Goldenen Lotus.
„Ich hoffe, wir stören niemanden. Wir haben Trommeln gehört“, sagte Zhi, als Dezco ihn und die anderen Mitglieder des Lotus in den Schatten eines Buzaobaums in der Mitte der Terrasse führte.
„Nein, überhaupt nicht. Das war ein Ritual zu Ehren meiner Frau, aber es war bei Anbruch der Dämmerung zu Ende.“
„Eure Frau, ja.“ Zhi nickte mit ernstem Blick. „Ehren alle Tauren ihre Toten auf diese Art?“
„Einige. Das Ritual ist sehr alt. Bevor die Sonnenläufer es mit neuem Leben erfüllten, war es schon fast in Vergessenheit geraten. Die Zeremonie passte gut zu unserem Glauben.“
„Interessant.“ Zhi strich sich über seinen geflochtenen grauen Bart. „Ich habe viele Fragen über Euren Orden. Ich erkenne viele Gemeinsamkeiten mit dem Lotus. Wenn die Tumulte im Tal beigelegt sind, müssen wir uns unterhalten.“
„Sehr gerne“, sagte Dezco, während er zu den anderen in der Nähe stehenden Mitgliedern des Lotus hinüberschaute. Der Tauren hatte bei seinem Eintreffen im Tal einige von ihnen schon kennengelernt, doch nur kurz. Ein bekanntes Gesicht gehörte Weng dem Gnädigen, einem rundlichen, leise sprechenden Pandaren, der beim Schrein zum lebenden Inventar gehörte.
Und dann war da noch Mokimo. Der riesige Ho-zen trug Teile einer stabilen Rüstung aus Holz und Eisen. Sein Haar hatte er zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden. Büschel aus weißgrauem Fell umrahmten sein langes, unbehaartes und mit blaugrüner Farbe bemaltes Gesicht. Mokimo schaute sich verstohlen auf der Terrasse um und spuckte ein Kauderwelsch in seiner Muttersprache aus.
„Keine Jungen?“, fragte der Ho-zen schließlich, sodass es auch Dezco verstehen konnte.
„Sie benötigen leider Ruhe, da sie schon vor der Morgendämmerung aufgewacht sind.“
„Ich verstehe.“ Enttäuscht ließ Mokimo seinen weißen Schwanz fallen.
„Vielleicht später.“ Dezco klopfte dem Ho-zen herzlich auf den Rücken, obwohl er froh war, dass sich seine Söhne bei Nala im Schrein befanden. Zu Dezcos Bestürzung war die Krankheit nach der Yeena’e-Zeremonie zurückgekehrt. Außerdem hatte er das Gefühl, dass jeden Moment etwas Schlimmes passieren könnte, wann immer sich Mokimo in der Nähe seiner Kinder aufhielt. Die Ho-zen waren ein wildes Volk, das zu spontanen Aktionen und Schabernack neigte. Mokimo sprach und verhielt sich zwar eher wie ein Pandaren, aber die Kinder schafften es immer wieder, den Ho-zen in ihm hervorzulocken.
„So wie Mokimo von ihnen spricht, könnte man denken, es seien seine Jungen“, lachte Zhi. „Ich habe aber auch schon an die Kinder gedacht. Sind sie gesund?“
„Nun ja ...“, sagte der Tauren und hielt inne. Er wollte Zhi mit der Krankheit nicht beunruhigen, besonders da er nicht wusste, wie schwerwiegend sie war. „Sie wachsen schnell. Alles normal.“
„Ich verstehe.“ Zhi schien einen Moment lang tief in Gedanken versunken zu sein. Dann schüttelte er den Kopf, als ob er wieder klar werden wollte, und schaute Dezco an. „Wir sollten an die Arbeit gehen. Ich weiß, dass Ihr sehr beschäftigt seid. Ich möchte Euch nicht noch länger von Euren Pflichten abhalten, als ich es bereits getan habe.“
Zhi gab den wartenden Mitgliedern des Lotus ein Handzeichen und alle setzten sich sofort in Bewegung. Einige liefen zu einer Flüchtlingsgruppe in der Nähe des Eingangs zum Schrein. Die anderen öffneten die Schlösser einer großen Holztruhe, die sie mitgebracht hatten.
„Teilt es mir bitte mit, wenn ich Euch irgendwie helfen kann“, sagte Dezco mit wachsender Neugier.
„Ich wünschte, das könntet Ihr. In Wirklichkeit sind wir jedoch auf Geheiß der Erhabenen gekommen.“
Dezco versuchte, sein Erstaunen zu verbergen. Die Erhabenen hatten sie hierher geschickt? Zhi hatte ihm einst erzählt, dass die vier großen Geister schon über Pandaria wachten, als es noch keine Geschichtsaufzeichnungen gab. Nach Dezcos Verständnis glichen sie Göttern. Es waren die Erhabenen, die das Tal vor nicht allzu langer Zeit für Außenstehende geöffnet hatten, da sie glaubten, dass Leute wie Dezco und seine Tauren dem Lotus bei der Verteidigung der Region helfen konnten.
„Wie Ihr wisst“, fuhr Zhi fort, „ist das Tal groß und der Lotus zählt nur wenige Mitglieder. Da die Shao-Tien langsam vordringen, fürchte ich, dass wir bald noch weiter dezimiert werden. Wir sind gekommen, um nach neuen Mitgliedern Ausschau zu halten.“
„Manche Hordenkämpfer würden sich geehrt fühlen, dem Lotus beizutreten“, sagte Dezco.
„So einfach ist das leider nicht. Die Erhabenen leiten uns bei dieser Aufgabe. Sie teilen uns genau mit, nach wem wir suchen sollen ... Zumindest bis jetzt. Die großen Geister sind verstört. Ihre Botschaften sind unklar geworden. Vor Kurzem haben sie mir gesagt, dass es hier im Tal einen würdigen Hüter gibt. In der Vergangenheit hat unser Orden immer außerhalb der Region nach neuen Mitgliedern gesucht. Dann erkannte ich, warum die Geister uns hierher geführt haben: In diesem Land sind nun auch viele andere Völker zu Hause.“
„Meister Zhi!“, rief Weng über die Terrasse. „Wir sind bereit!“
Neben Weng hatte man einen silbernen Gong aufgestellt, verziert mit den Symbolen der vier Erhabenen: Niuzao der Schwarze Ochse, Yu’lon die Jadeschlange, Xuen der Weiße Tiger und Chi-Ji der Rote Kranich. Einige Pandarenflüchtlinge hatten sich vor dem Gong versammelt.
„Einen Moment noch!“, antwortete Zhi und drehte sich wieder zu Dezco um. „Vor uns steht nur noch eine einfache Prüfung. Sie wird nicht lange dauern. Danach können wir reden.“
„Ich ...“, setzte Dezco an, aber Zhi war bereits auf dem Weg zum Gong. Der Tauren starrte enttäuscht hinterher. Er hatte gehofft, dass der Lotus ihn um etwas bitten würde, um irgendeine Art von Hilfe. Die Horde bot zwar Unterstützung für den Krieg, aber Dezco fühlte sich immer nutzloser. Er verbrachte fast seine gesamte Zeit damit, über den Schrein zu wachen.
Mokimo lief zu Dezco, während Zhi seine Worte an die Flüchtlinge richtete.
„Oh, ich hoffe, dass es funktioniert“, sagte der Ho-zen händeringend. „Diese Woche sind wir in jedem Winkel des Tals gewesen. Ich weiß gar nicht mehr, wie viele Jungen wir dieser Prüfung unterzogen haben.“
„Junge?“, fragte Dezco. Plötzlich bemerkte er, dass alle beim Gong stehenden Flüchtlinge kleine Kinder auf den Armen hatten.
„Unsere Mitglieder werden immer im frühen Kindesalter auserwählt. Als ich noch ein Kind war, reiste Zhi zu meinem Dorf im Jadewald, um mir ein neues Leben zu ermöglichen. Aber nun müssen wir auf andere Mittel zurückgreifen, um Mitglieder zu finden. Vor drei Tagen haben wir den Singenden Gong angeschlagen. Er schickt einen Ruf an alle Kinder, die auf irgendeine Art und Weise mit den Erhabenen verbunden sind. Nun ja, so steht es zumindest in den alten Schriften. Erst vor Kurzem haben wir diese Prüfung zum ersten Mal abgehalten.“
„Vor drei Tagen ...“, sagte Dezco, eher zu sich selbst. Er versuchte sich zu erinnern, wann Rothorn und Wolkenhuf krank geworden waren. Es hätte vor drei Tagen sein können. Oder war es vielleicht doch schon länger her? Er konnte es nicht genau sagen.
„Was geschieht, wenn der Gong erklingt?“, fragte er Mokimo.
„Ich weiß es nicht. Niemand weiß das so genau. Ich schätze, dass die Kinder sich unwohl fühlen werden. Fast wie bei einer Krankheit. Hierdurch soll klar werden, welche Kinder Potenzial besitzen. Das zweite Anschlagen des Gongs soll bei den betroffenen Jungen für eine Linderung sorgen und bestätigen, dass sie auserwählt wurden. Danach gibt es dann eine Art Zeichen der Erhabenen.“
Dezcos Herz schlug schneller. Schweißperlen tropften von seiner Schnauze. Eine Krankheit ...
Ein Mitglied des Lotus überreichte Zhi einen eisernen Klöppel. Der Älteste nahm ihn in seine Pfoten und schlug den Gong kräftig an. Die silberne Scheibe vibrierte und schwang nach vorn, doch ohne einen Klang von sich zu geben – zumindest keinen, den Dezco oder sonst jemand hören konnte. Keines der Pandarenpaare oder ihrer Jungen reagierte. Und es gab kein Zeichen der Erhabenen.
„Es ist nichts geschehen.“ Erleichtert dachte Dezco an seine Kinder. Und warum sollte mit ihnen auch etwas geschehen sein? Der Goldene Lotus bestand aus Mitgliedern der pandarianischen Völker: Jinyu, Pandaren, Ho-zen und andere, die seit vielen Tausend Jahren mit diesem Ort verbunden waren. Seine Kinder waren Tauren. Fremde.
„Nichts ...“ Mokimo senkte den Kopf. Die anderen Mitglieder des Lotus schauten sich um, als ob sie nach einer Erklärung suchten für das, was passiert war. Traurig drehte Zhi den Klöppel in seiner Pfote um.
Er tat Dezco leid. Die Mitglieder des Ordens hatten so lang in Frieden gelebt. Nun stand der Krieg vor der Tür. Nun waren die Erhabenen, die sie geleitet hatten, –
Jemand in der Menge schrie.
Der Gong vibrierte stark. Wie Spinnennetze bildeten sich von der Mitte der Scheibe ausgehende Risse. Das silberne Artefakt zerbrach in tausend Stücke und fiel auf den Boden der Terrasse. Eine goldblaue Lichtkugel schwebte in der Luft. Langsam verformte sie sich und wurde zu einem riesigen Kranich. Die Kreatur streckte ihren Hals nach vorn und schüttelte ihr gelbes, rotes und weißes Federkleid.
„Chi-Ji“, sagte Zhi mit aller Ruhe. Er und die anderen Mitglieder des Lotus verbeugten sich gemeinsam.
„Der Ruf wurde beantwortet“, sagte der Avatar des Roten Kranichs mit donnernder, überirdischer Stimme. Der Erhabene war mehr als doppelt so groß wie Dezco. Er schaute sich nacheinander alle Pandarenjungen an.
„Hier nicht“, sagte er schließlich. Der Kopf des Erhabenen schnellte in Richtung der aus dem Berg herausragenden vergoldeten Vorderseite des Schreins. Plötzlich durchquerte er das riesige Tor der Stadt. Die Menge blieb einen Moment lang stehen und stürmte dann dem Roten Kranich hinterher.
In Gedanken bei Rothorn und Wolkenhuf drängte sich Dezco nach vorn. Durch die gewölbten Gänge des Schreins lief er zur Sommerrast. Er ging davon aus, dass Nala die Jungen in das Gasthaus an der östlichen Seite der Festung gebracht hatte.
Davon ging auch Chi-Ji aus.
Zu Dezcos Entsetzen war der Rote Kranich bereits dort und ragte über eine der aus Holz und Papier gefertigten Trennwände zur Unterteilung der „Zimmer“ des Gasthauses. Im Innern stand Nala in Verteidigungsstellung vor zwei kleinen Wiegen.
„Ihr seid nicht die Mutter“, sagte Chi-Ji verwundert.
Dezco eilte an dem Erhabenen vorbei und legte seine Hand auf Nala, um sie zu beruhigen. Rothorn und Wolkenhuf schauten aus ihren Wiegen nach oben. Zum ersten Mal seit Tagen kicherten sie und streckten ihre Arme nach Chi-Ji aus.
„Das kann nicht stimmen.“ Mit aller Kraft hielt Dezco seine Stimme im Zaum.
„Ihr seid der Vater.“ Die unerbittlichen und feurigen Augen des Erhabenen brannten wie zwei Sonnen, als er seinen Blick auf Dezco richtete. Der Tauren spürte, wie der Rote Kranich in ihn hineinblickte und seine Gedanken und Erinnerungen durchsuchte. „Die Mutter ist fort. Sie starb bei der Geburt. Aber im Tode gebar sie zwei neue Leben.“
Chi-Ji legte seinen Kopf auf die Seite. „Ihr nennt sie Rothorn und Wolkenhuf, doch das sind nicht ihre wahren Namen.“
„Nicht ihre wahren Namen?“ Mokimo drängte sich durch die Flüchtlinge, die Mitglieder des Goldenen Lotus und die Kämpfer der Horde, die sich neugierig um die Trennwand versammelt hatten.
„Nein.“ Dezco schaute den Roten Kranich entgeistert an. Rothorn und Wolkenhuf waren ihre Kindernamen – eine von seinem Stamm fortgeführte seltene Tradition. Eines Tages würden sie ihre wahren Namen annehmen: einen für einen alten und lieben Freund, der im Dschungel an der Küste Pandarias gestorben war, und den anderen für einen neuen Freund, der seinem Stamm geholfen hatte.
„Zwillinge habe ich nicht vorhergesehen.“ Chi-Jis Avatar drehte sich zu Zhi. „Nur einer muss dem Tal dienen.“
„Ich verstehe.“ Zhi nickte. Die ruhige Fassade des Ältesten war zerbröckelt. Auf seinem Gesicht lag eine tiefe Erschütterung. Dezcos und sein Blick trafen sich. „Kinder aus der Ferne ... Das habe ich nicht erwartet, mein Freund“, sagte der Anführer des Goldenen Lotus. „Natürlich ist es mir in den Sinn gekommen, aber ich hätte nie gedacht, dass es wirklich passieren könnte.“
„Das sind meine Söhne.“ Dezco bemühte sich, diesem Geschehen einen Sinn abzugewinnen. Alles hatte sich so schnell entwickelt. „Ihr bittet mich ...“
„Das zu beschützen, zu dessen Schutz Ihr solch eine weite Reise unternommen habt“, antwortete der Rote Kranich. „Den Traum Eurer Frau zu ehren. Dem Tal ein Opfer zu bringen, wie sie es getan hat. Es ist gut, dass Ihr zwei Kinder habt. Eines wird dem Tal helfen, das andere wird bei Euch bleiben. Nun müsst Ihr nur noch die Wahl treffen.“ ChiJis Avatar begann, sich wie Rauch in Luft aufzulösen.
„Wartet!“, rief Dezco.
Aber es gab keine Antwort. Der Rote Kranich war verschwunden. Die Mitglieder des Lotus klatschten zur Feier dieses Ereignisses. Hinter ihnen drängten sich einige Flüchtlinge zu den Kindern vor. Man sah nur ein Meer aus Gesichtern. Nala stieß einen Pandaren, der seine Hand nach Rothorn ausstreckte, krachend gegen die Trennwand.
Jemand gab Dezco einen harten Klaps auf den Rücken. Er drehte sich in Abwehrhaltung um und sah den breit grinsenden Mokimo. „Was für ein Tag!“, brüllte der Ho-zen über den Lärm der Menge hinweg. „Was für ein glorreicher Tag das doch geworden ist!“
***
Die Wahl treffen ...
Chi-Jis Befehl spukte wie ein unruhiger Geist stundenlang in Dezcos Kopf. Als ihn sein zielloses Umherlaufen auf die Goldene Terrasse führte, war An’she schon längst am westlichen Horizont verschwunden.
Rothorn und Wolkenhuf schliefen friedlich in zwei Körben, die Dezco nach ihrer Geburt gebaut hatte – einen trug er auf dem Rücken und einen an seiner Brust. Die Körbe waren durch ein Seil verbunden, das über seinen Schultern hing. Die gesamte Konstruktion hatte sich während seiner Reisen durch Pandaria als großer Segen erwiesen, da so nicht nur seine Jungen in der Nähe, sondern auch Schild und Streitkolben immer griffbereit waren. In diesen Landstrichen gab es so viele Gefahren, dass er seine Kinder niemals auch nur für kurze Zeit aus den Augen ließ.
Meine Waffen helfen mir jetzt aber herzlich wenig, dachte er, als er über die Terrasse schaute. So spät in der Nacht war sie fast völlig leer. Ein paar Orcs kauerten unter dem Buzaobaum und schärften im Licht einer einzelnen Laterne ihre Schwerter mit Wetzsteinen. In der Nähe des Eingangs zum Schrein führten Blutelfen in langen, wallenden Roben eine hitzige Diskussion über die magischen Eigenschaften des Tals. Normalerweise hätte Dezco sie gegrüßt, aber in dieser Nacht ging er wortlos an ihnen vorbei.
„Eine einmalige Gelegenheit, wenn Ihr mich fragt“, hört er einen der Orcs seinen Kameraden zuflüstern. „Das Tal birgt Macht in sich, oder? Deshalb sind wir hier. Nun ja, die Allianz ist auch hier. Momentan liegen wir gleichauf. Aber wenn wir ein Mitglied der Horde im Lotus hätten ...“
„Seid kein Dummkopf“, antwortete ein anderer. „Der Kleine würde nicht mehr zu uns gehören. Die Horde würde dem Kind nichts bedeuten. Seht euch Mokimo an. Der verhält sich auch nicht wie die anderen Ho-zen, die wir getroffen haben. Der Lotus hat ihm seine Kultur genommen. Seine Identität.“
Dezco ging schnell außer Hörweite der Unterhaltung. Er hatte diese Auseinandersetzungen schon Hunderte Male mitbekommen. Der Tag war wie im Traum vergangen. Nein – wie in einem Alptraum. Er konnte sich nur noch bruchstückhaft daran erinnern: an den Goldenen Lotus, dessen Mitglieder ihm gratuliert hatten und in Windeseile wieder verschwunden waren, an endlose Besprechungen mit den anderen Hordenkämpfern über das, was geschehen war, und an einen stetigen Strom von Flüchtlingen, die seine Kinder sehen wollten, als wären sie zu heiligen Relikten geworden.
Er war froh, nun allein zu sein. Schon vor Stunden hatte er die Geduld verloren und seine Berater – selbst Nala – weggeschickt. Dezco seufzte, frustriert darüber, wie der Tag so gut begonnen hatte und dann so sehr im Chaos versunken war.
Er stellte seinen Kristallstreitkolben und den gezackten Schild an das lackierte Holzgeländer am Rand der Terrasse. Vor ihm sah er vereinzelte Fackeln und Lagerfeuer in dem dunklen Gelände. Fünf hochheilige Teiche leuchteten gespenstisch blau in der Ferne. Mokimo hatte oft von ihnen erzählt. Sie waren die Macht des Tals – seine Lebenskraft. Vielleicht waren Dezco und sein Volk hierher geführt worden, um sie auf irgendeine Weise zu beschützen oder zu verwenden.
Es gab insgesamt sechs Teiche, von denen jedoch einer tief im Mogu’shanpalast verborgen lag. Gerade eben noch konnte er die Fassade der kolossalen Festung erkennen, des in das östliche Gebirge des Tals gebauten einstigen Sitzes des Mogureichs.
Er fand es seltsam, dass der Lotus die Statuen und Gebäude der ehemaligen Herrscher des Tals nie abgerissen hatte. Sie stehen zu lassen erschien ihm wie eine Einladung an die Mogu, zurückzukehren. Als er sich mit diesen Bedenken einmal an Mokimo gewandt hatte, bekam er folgende Antwort: „Die Mogu glaubten, das Tal diente ihnen. Der Lotus glaubt, wir dienen dem Tal. Wir lassen die Statuen als Mahnung vor Arroganz und Eitelkeit stehen.“
Damals hatte Dezco diese Weisheit fasziniert, aber nun erschienen ihm die Worte leer. Eine Ausrede für Untätigkeit. Wenn die Erhabenen so mächtig waren, warum hatten sie dann die Moguangreifer nicht vertrieben? Wenn das Tal eine Quelle der Hoffnung und des Friedens war, wie Leza gedacht hatte, warum halfen die aus diesem Land aufsteigenden Energien dem Goldenen Lotus nicht, den Krieg schnell zu beenden?
Dezco atmete lang und tief ein. Zu viele Fragen. Zu viele Ungewissheiten.
„Eine schöne Nacht, nicht?“, fragte jemand.
Der Tauren drehte sich um, als Mokimo langsam auf ihn zuging.
„Ihr seid zurückgekehrt“, sagte Dezco schroff. Der Ho-zen war mit den anderen Mitgliedern des Lotus nach der Prüfung verschwunden und hatte es dem Tauren überlassen, den Ereignissen des Tages einen Sinn zu geben. Mokimo schien nie da zu sein, wenn man ihn brauchte.
„Gerade eben.“ Der Ho-zen lehnte sich neben Dezco an das Geländer. „Zhi hat mich gebeten, ihn zu begleiten. Wir haben einige Mitglieder meines Ordens getroffen, die aus der Schlacht zurückgekehrt sind. Es kommen mehr Shao-Tien in das Tal, als wir erwartet haben. Ich bin froh, dass Ihr die Verteidiger nicht gesehen habt. Sie standen kurz vor der Verzweiflung ... Sie hatten solche Angst.“
„Das tut mir leid.“ Dezcos Frustration verschwand bei dem Gedanken an weitere Siege der Mogu.
„Aber als wir ihnen vom Roten Kranich und euren Jungen erzählt haben ... waren sie wie verändert! Gerade noch herrschte Sorge und kurz darauf schon Freude. Aus der Verzweiflung ist Hoffnung geworden!“ Mokimo hüpfte auf seinen stämmigen kurzen Beinen auf und ab.
„Es sind Kinder“, sagte Dezco. „Sie würden den Krieg nicht beeinflussen.“
„Wir vom Lotus leben und sterben für das Morgen. Der Rote Kranich hat uns eine Zukunft versprochen. Er wäre nicht hierher gekommen, wenn er nicht glauben würde, dass wir eine neue Generation von Beschützern brauchen.“ Mokimo zog eine kleine Holzschnitzerei aus seiner Tunika und stellte sie vor Dezco auf das Geländer. „Hier. Das hat jemandem aus meinem Orden gehört. Gestern wurde er getötet. Ich kann mir keinen besseren Weg vorstellen, ihn zu ehren, als es euch zu geben.“
Dezco sah sich das Objekt genauer an: eine kunstvoll gefertigte Schnitzfigur, die den Roten Kranich darstellte. Seltsame Zeichen einer Sprache, die er nicht verstand, liefen in Spiralen von den Füßen bis zum Schnabel um Chi-Jis Körper. Es war zwar nur ein Stück Holz, aber es bewirkte eine innere Unruhe in ihm.
„Die Worte bedeuten: Das Schicksal ist der sich stets verändernde Wind. Das Leben ist die sich im Nu auflösende Wolke. Das Tal ist der endlose Himmel. Ein altes Sprichwort unseres Ordens. Es erinnert uns daran, dass selbst die schlimmsten Zeiten Hoffnung bergen. Dass unser Kampf im Tod nicht endet. Ich dachte, dass es Euch vielleicht gefällt. Ihr sprecht oft von Eurer Frau und dem Morgen, den sie kommen sah.“
„Mokimo, Ihr wisst, dass ich Euch helfen möchte. Aber ich ...“, setzte er an, hielt jedoch inne, als er den freudigen Ausdruck im Gesicht des Ho-zen sah. Er konnte sich nicht dazu überwinden, Mokimos Traum zu zerstören. Er war sich nicht einmal sicher, ob der Hüter es verstehen würde. Der Lotus ging anscheinend davon aus, dass kein Zweifel daran bestand, dass Dezco sich entscheiden würde. Man erwartete es von ihm.
„Wir müssen jetzt nicht darüber reden“, sagte Mokimo. „Eigentlich sollte ich gar nicht hier sein. Zhi hat mir gesagt, dass ich erst mit Euch reden soll, wenn Ihr mehr Zeit zum Nachdenken und Entscheiden hattet. Ich wollte Euch einfach nur dieses Geschenk geben. Ich wollte Euch danken.“ Der Ho-zen entfernte sich vom Geländer. „Ich gehe besser. Wahrscheinlich suchen sie mich schon bei der Pagode.“
Mokimo eilte die Treppe der Plattform hinunter. Dezco nahm die Schnitzfigur von Chi-Ji vom Geländer. Nun müsst Ihr nur noch die Wahl treffen, dröhnte die Stimme des Erhabenen in seinem Kopf. Welche denn?, wollte er zurückrufen. Der Lotus sah seine Kinder nun als Erlöser an. Wenn Dezco sich widersetzte und im Tal blieb, wusste er, dass man ihn und seine Söhne als Schande betrachten würde, als ständige Erinnerung an einen geplatzten Traum.
Dezco stellte die Figur zurück auf das Geländer und nahm Rothorn und Wolkenhuf aus ihren Körben. Er hielt sie fest in den Armen und stellte sie sich in den kommenden Jahren vor, wie sie die Gepflogenheiten der Sonnenläufer erlernen, ihm beim Durchführen von Ritualen zu Ehren von An’she und der Erdenmutter helfen und von Lezas Tapferkeit im Angesicht des Todes erfahren würden.
„Leza ...“, flüsterte Dezco. Er wünschte, sie wäre an seiner Seite, und fragte sich, was sie wohl getan hätte. Plötzlich kam ihm etwas in den Sinn, das seine Frau kurz vor ihrem Tod gesagt hatte. Mein Liebster ... was auch immer geschieht ... Du musst unser ... unser Kind beschützen ... Sie hatte keine Ahnung, dass sie Zwillinge gebären würde. Auf Dezco wirkte ihr letzter Wunsch daher umso eindringlicher.
Und seine Entscheidung war klar.
„Das werde ich“, sagte er, während er hinunter zu seinen Jungen blickte.
„Nala!“, rief Dezco und drehte seinen Kopf. Er ging davon aus, dass sie sich irgendwo in den Schatten in der Nähe aufhielt. Obwohl er sie fortgeschickt hatte, kannte er sie zu gut, um nicht zu erwarten, dass sie ihm folgen würde.
Lezas Cousine kam hinter dem Buzaobaum hervor. „Die Mitglieder des Lotus verstehen es nicht, oder?“
„Es ist nicht ihre Schuld.“
„Was sollen wir tun?“, fragte Nala, als sie zum Geländer ging.
„Wir ...“, sagte Dezco. „Ich übertrage Euch die Verantwortung für den Schrein.“
„Was?“ Nala starrte ihn völlig perplex an. „Wie lang?“
Dezco warf einen letzten Blick auf die Statue von Chi-Ji. „Für immer.“
***
Bei Anbruch der Morgendämmerung verließ Dezco den Schrein mit Rothorn und Wolkenhuf, die in ihren Körben warm eingepackt waren. Beim Abschied von Nala waren zwar reichlich Tränen geflossen, letztendlich hatte sie jedoch verstanden. Sie war eine Sonnenläuferin und wusste, dass es immer nur einen wahren Weg und eine richtige Entscheidung gab.
Was könnte der wahre Weg sein, wenn nicht für die Sicherheit der Familie zu sorgen? Die Familie zusammenzuhalten?
Nalas Sorgen rührten eher von ihrem Wunsch her, Dezco zu begleiten und sich um die Kinder zu kümmern, aber er brauchte sie beim Schrein. Niemand sonst hätte seiner Meinung nach sicherstellen können, dass dort nicht alles im Chaos endete. Wie Leza wusste auch Nala, wann sie resolut auftreten und wann sie nachgiebig sein musste. Sie war eine geborene Anführerin.
Außerdem wollte Dezco so viel Abstand wie möglich von seinen Kameraden bekommen. Es war seineEntscheidung und nur seine. Er wusste nicht, wie der Goldene Lotus – oder, was noch viel wichtiger war, der Rote Kranich – reagieren würde. Auf keinen Fall wollte er die Position der Horde im Tal gefährden. Dieses Land hatte trotz der jüngsten Ereignisse eine Bedeutung für die Zukunft seines Volks.
Dezco schämte sich, Mokimo im Dunkeln gelassen zu haben, aber es blieb ihm nichts anderes übrig. Ein klarer Schnitt, auch wenn er den Tauren schmerzte, war die beste Entscheidung. Er würde es den Mitgliedern des Lotus erleichtern, weiterzumachen.
Der Tauren legte in den Morgenstunden eine weite Strecke zurück. Er blieb den Hauptstraßen fern und nahm den Weg durch das nördliche Vorgebirge. Er rechnete damit, vor Einbruch der Nacht das aus dem Tal führende Tor der Himmlischen Erhabenen zu erreichen.
Gegen Mittag hielt er am Fuß eines kleinen Hügels an und setzte seine Kinder auf den Boden. Er holte einen Schlauch mit einem Gemisch aus Kräutern und Yakmilch hervor, das Nala ihn gelehrt hatte zuzubereiten. Sie hatte ihm versichert, dass dieses Getränk für die Gesundheit seiner Söhne sorgen würde, bis er Mulgore erreichte und eine weibliche Tauren fand, die sich richtig um sie kümmern konnte. Sie hatte ihn allerdings nicht davor gewarnt, wie sehr seine Jungen das Gebräu verabscheuen würden. Nach einem Schluck begannen beide zu weinen und weigerten sich, zu trinken. „So schlimm ist das doch gar nicht“, grummelte Dezco und nahm einen Schluck der Mixtur. Das dickflüssige, unerträglich bittere Getränk löste bei ihm einen heftigen Hustenanfall aus, woraufhin Rothorns und Wolkenhufs Weinen sich schnell in Lachen verwandelte.
„Es ist nicht klug, sich Älteren gegenüber so respektlos zu verhalten“, knurrte Dezco scherzhaft.
Dezco wollte gerade noch einmal versuchen, ihnen die Mischung einzuflößen, als der Boden zu beben begann. Drei von Yaks gezogene, bis zum Rand mit Pandaren gefüllte Wagen donnerten über die Hügelkuppe. Die Yaks schnaubten und vor ihren Mäulern schäumte der Speichel.
„Mogu!“, schrie einer der Passagiere, als die Wagen an Dezco vorbeirasten. „Am Tor!“
Unmöglich. Schnell legte Dezco seine Kinder in ihre Körbe und stieg mit erhobenem Schild langsam den Hügel hinauf. Auf der Kuppe traf ihn ein Windstoß, der nach Rauch und Kampf roch.
In der Ferne sah er das Tor der Himmlischen Erhabenen. Feuer brannten überall. Am Eingang zum Tal drängte sich eine Armee von Shao-Tien mit dunkelblauer Haut. Gruppen von Kämpfern in leichter Rüstung – der Goldene Lotus – stürmten auf die vorrückenden Mogu zu. Kanonenfeuer donnerte durch das Tal. Ein kompletter Verteidigertrupp des Lotus wurde in einem Schwall von Feuer und Blut vernichtet. Die restlichen Krieger des Ordens zogen sich hastig zurück. Die Mogu waren ihnen dicht auf den Fersen und schlachteten die Nachzügler ab.
Dezco fluchte leise vor sich hin. Sein Weg war versperrt. Er drehte sich um und stieg den Hügel hinab, während er seine Möglichkeiten durchdachte. Der Tauren hatte von einem weiteren Tor im Westen gehört, wusste jedoch nicht, ob es offen war. Vielleicht könnte er aber auch einen anderen Weg finden ... einen geheimen Gebirgspass oder Tunnel, den nur die hiesige Bevölkerung kannte.
Sicher war nur, dass er nicht zum Schrein zurückkehren konnte. Er gehörte nicht mehr dorthin, nicht nach der Wahl, die er getroffen hatte. Halte dich an deine Entscheidung. Bleib stark, sagte er sich.
Am Fuße des Hügels erwartete ihn einer der Flüchtlinge – ein alter Pandaren mit langem, dünnem Kinnbart. „Wenn Ihr hier entlanggeht, erwartet Euch nur der Tod“, sagte er.
„Wohl wahr. Wohin wollt Ihr?“, fragte Dezco.
„Nach Nebelhauch. Viele von uns wurden von unseren Familien getrennt. Wir haben gehört, dass einige von ihnen sich vielleicht dort aufhalten. Ich suche nach meinen Enkelkindern. Wohin verschlägt es Euch?“
Dezco dachte an die wenigen Dinge, die er über Nebelhauch wusste. Das kleine Flüchtlingslager befand sich an der südwestlichen Seite des Tals. Dort könnte Dezco Informationen über das andere Tor erhalten. Und sollte dieser Weg auch blockiert sein, würde er wenigstens Zeit abseits des Schreins verbringen. Vielleicht sogar genügend Zeit, bis der Lotus die Shao-Tien besiegt und das Tor der Himmlischen Erhabenen zurückerobert hatte.
Falls sie stark genug dafür sind, dachte er düster.
„Auch nach Nebelhauch“, sagte Dezco.
***
Dezco und die Flüchtlinge nahmen eine Abkürzung durch die östliche Hälfte des Tals und brachten die beiden sich in der Mitte der Region erhebenden Berge zwischen sich und die Front der Mogu. Da auch verletzte und alte Pandaren dabei waren, verlief die Reise im Schneckentempo, was Dezco jedoch nicht störte. Er genoss die Zeit mit seinen Kindern und hielt sich meist von den anderen fern. Seine einzige wirkliche Sorge bestand darin, Mitgliedern des Lotus über den Weg zu laufen, doch er sah nichts vom Orden.
Am zweiten Tag näherte sich die Karawane kurz vor Einbruch der Nacht dem südlichen Rand des Tals und dem Gebirgspass, der sie nach Nebelhauch führen würde. Das verblassende Sonnenlicht brachte die hochheiligen Teiche im Süden, Osten und Westen zum Leuchten. So nah bei den Gewässern schien die Luft von einer seltsamen, fast greifbaren Kraft erfüllt zu sein. Dezco betrachtete bewundernd die entfernt liegenden Teiche, als die Karawane zum Stehen kam.
„Vor uns ist etwas!“, war ein Ruf von der Spitze des Flüchtlingszugs zu vernehmen.
Dezco kämpfte gegen seine Müdigkeit an und begab sich an den anderen Reisenden vorbei, um von seiner Position am Ende der Karawane nach vorn zu gelangen. Er hatte während der Reise kaum geschlafen. Die Flüchtlinge waren gutherzig, allerdings mangelte es ihnen an militärischer Ausbildung. Der Tauren vertraute ihnen nicht genug, als dass er seine Kinder nachts auch nur einige Stunden unbewacht gelassen hätte.
Eine Gruppe Flüchtlinge stand in eine Diskussion vertieft in der Nähe des Führungswagens. In der Ferne erspähte Dezco ein großes Lagerfeuer beim Eingang zum Pass, das den Weg versperrte.
„Habt Ihr eine Ahnung, wer das ist?“, fragte er die versammelten Pandaren.
„Wir haben jemanden geschickt, der nachsehen soll“, antwortete ein junger Flüchtling in abgewetzter Kleidung. Mit seiner Pfote zeigte er auf die anderen Pandaren, die in der Nähe standen. „Einige glauben, dass es die Mogu sind. Aber die würden kein offenes Feuer machen.“
„Seit wann seid Ihr denn ein Experte für Mogu?“, fragte ein anderer Pandaren herausfordernd. „Ich habe gehört, dass Angriffstrupps der Shao-Tien überall durch das Tal streifen, jeden töten, auf den sie treffen, und dann wie Geister wieder verschwinden. Dieses Feuer könnte eine Falle sein, um uns anzulocken.“
Eine unbehagliche Stille legte sich über die Gruppe. Dezcos Schwanz peitschte hin und her, während er versuchte, seine Sorge zu unterdrücken, indem er sich sagte, dass die Mogu nicht bis hierher ins Tal vorgedrungen sein konnten.
Kurze Zeit später kehrte der Späher zurück und winkte die Karawane weiter. „Alles sicher!“
Die Pandaren um Dezco herum seufzten erleichtert, doch er blieb misstrauisch.
„Noch mehr Flüchtlinge?“, rief er dem entfernt stehenden Späher zu. Neben den Mogu bereitete ihm ein weiterer Feind Sorgen: die Allianz. Die Gegenspieler der Horde hatten in diesem Abschnitt des Tals eine Botschaft in einer Festung errichtet, die dem Schrein der Zwei Monde ähnlich war. Dezco verstand sich mit einem der Anführer der Allianz recht gut, sein Name war Prinz Anduin Wrynn. Wie der Tauren wollte auch der junge Mensch keinen Konflikt. Getrieben vom Versprechen der Hoffnung des Friedens war er in das Tal gekommen. Trotzdem wusste Dezco nicht, wie viel Gewicht diese Kameradschaft besaß. Bei der Allianz gab es ebenso viele fanatische Kriegshetzer wie bei der Horde.
„Nein“, antwortete der Späher. Dezco konnte ein Lächeln auf seinem Gesicht erkennen. „Es ist der Goldene Lotus!“
***
„Hinsetzen! Essen! Ausruhen!“, rief Mokimo mit erhobenen Armen.
Hinter dem Ho-zen prasselte ein großes Feuer. Dampf stieg aus über den Flammen hängenden Eisentöpfen auf. In der Nähe füllte Weng der Gnädige Reis aus den Kesseln in glatte Holzschalen mit Verzierungen der vier Erhabenen. Ein Pandaren, dem Dezco zuvor noch nie begegnet war, holte Tassen aus ledernen Reisebeuteln. Er war riesig, überragte sogar den Tauren und trug eine schwere, dunkle Rüstung. Bis auf einen braunen Haarknoten und Bart war sein Fell vollkommen weiß.
Ausgehungert und erschöpft stürmten die Flüchtlinge an Dezco vorbei zum Feuer. Auch der Magen des Tauren knurrte, als der Wind den appetitlichen Duft des warmen Essens zu ihm herübertrug. Doch er blieb stehen. Die Anwesenheit des Goldenen Lotus ärgerte ihn. Mittlerweile hatten sie bestimmt von seiner Entscheidung erfahren. Ehrenhaft wäre es gewesen, ihn ziehen und mit den Konsequenzen seiner Entscheidung leben zu lassen.
Stattdessen waren sie ihm gefolgt.
„Dezco!“ Mokimo winkte ihm zu. „Kommt! Ihr müsst doch schon halb verhungert sein!“
Verärgert über den lockeren Ton zuckte Dezco mit den Ohren und schnaubte. So wie Mokimo ihn ansprach, wirkte es, als wäre es für ihn keine Überraschung, Dezco mitten im Tal anzutreffen.
Ohne zu antworten, entfernte sich der Tauren einige Schritte vom Lager und suchte nach einer unbewachsenen Stelle. Schon bald hatte er ein eigenes Lagerfeuer entzündet, das in der Nacht prasselte und knallte. Er nahm Wolkenhuf und Rothorn aus ihren Körben und begann sie mit der Yakmilch-Mischung zu füttern, was einfacher geworden war. Seine kleinen Jungs mochten das Getränk mittlerweile sogar.
Die Kinder hatten ihr Mahl gerade beendet, als Mokimo sich Dezcos Feuer näherte. „Ich wäre ja schon eher gekommen, aber die Flüchtlinge hatten großen Hunger“, sagte der Ho-zen. „Den Erhabenen sei Dank, dass es Euch und den Jungen gut geht. Wir haben uns Sorgen gemacht.“ Er hockte sich hin und schenkte Rothorn und Wolkenhuf ein breites Lächeln. Die Jungen kicherten und schlugen gegen die langen weißen Fellbüschel an den Wangen des Ho-zen.
„Ihr erinnert Euch doch noch an Weng.“ Mokimo zeigte zu seinen beiden Begleitern, die bei den Flüchtlingen waren. „Und der Große heißt Rook. Mit Förmlichkeit hat er es nicht so, aber er ist absolut loyal. Als Freund ist er sanft, als Feind kämpft er hart. Ich glaube, Ihr würdet ihn mögen. Warum kommt Ihr nicht zu uns? Wir haben noch viel Platz an unserem ...“
„Ihr seid mir gefolgt“, sagte Dezco.
„Nun ja ... nicht so ganz“, erwiderte Mokimo. „Wir haben Eure Reiseroute vorhergesehen. Da das Tor der Himmlischen Erhabenen versperrt ist, gibt es im Tal keine große Auswahl an Orten, zu denen man gehen könnte.“
„Ich habe meine Wahl getroffen, Mokimo“, sagte Dezco mit fester Stimme. „Es war falsch, es Euch nicht persönlich zu sagen. Das tut mir leid. Aber mir zu folgen, wird nichts ändern. Meine Kinder gehören nach Hause, nach Mulgore. Beide. Das ist meine Entscheidung.“ Er fügte hinzu: „Die anderen beim Schrein hatten damit nichts zu tun.“
„Nala hat es mir gesagt. Ich habe mich mit Zhi getroffen und auch er ist der Ansicht, dass ihr jederzeit gehen könnt, wenn es Euer Wunsch ist.“
Dezco war sich nicht sicher, wie er reagieren sollte. Er hatte Widerstand der einen oder anderen Art erwartet. „Erst neulich habt Ihr davon gesprochen, wie wichtig meine Söhne für die Zukunft Eures Ordens sind“, sagte der Tauren.
„Und ich war glücklich darüber. Genau wie alle Mitglieder des Lotus. Aber das ist nicht meine Entscheidung, oder? Sie liegt ganz bei Euch.“
„Und warum seid Ihr dann hier?“
„Eure Kinder wurden auserwählt. Sie sind an Chi-Ji und damit auch an das Tal gebunden. Der Lotus hat geschworen, dieses Land jederzeit zu verteidigen. Bis zum Tage, an dem Eure Jungen es verlassen, werden wir über sie wachen. Aber warum Ihr gehen wollt, verstehe ich nicht. Ich dachte, Ihr wärt so weit gereist, um hier zu sein.“
„So ist es ... so war es auch.“ Dezco senkte den Kopf. „Wenn Chi-Ji mich gebeten hätte, allein gegen die Reihen der Mogu zu kämpfen, wäre ich seinem Wunsch ohne nachzudenken gefolgt. Ich hätte alles getan. Alles außer das ...“ Er schaute zu Mokimo hoch. „Dafür bin ich nicht hierher gekommen.“
„Woher wisst Ihr das?“
„Es ist einfach so“, sagte Dezco mit zunehmender Wut. Ihm dämmerte, was gerade geschah: Mokimo versuchte, ihn zu überzeugen. Zhi hatte den Ho-zen und die anderen wahrscheinlich losgeschickt, um ihn davon abzubringen, das Tal zu verlassen.
„Ich habe schon zu viel verloren“, fuhr der Tauren fort. „Ich bin nicht hierher gekommen, um alles zu verlieren. Meinem Stamm wurde Frieden versprochen. Hoffnung. Wir ... ich habe nichts von dem gefunden, was ich erwartet hatte.“ Der Tauren holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Ohne es zu bemerken, war er auf seine Hufe gesprungen. Weng, Rook und die Flüchtlinge am anderen Lagerfeuer starrten ihn schweigend an.
Mokimo schien das nicht zu beeindrucken. „Erwartungen ... eine gefährliche Sache.“ Er stocherte mit einem Stock im Feuer herum. „Als ich mich dem Lotus anschloss, hatte ich auch hohe Erwartungen. Aber im Laufe der Jahre begann ich diesen Ort zu hassen. Alles war so seltsam und verwirrend. Ich wollte nach Hause. Tja, und eines Tages entschied ich mich, genau das zu tun, doch Zhi erwischte mich, als ich versuchte, mich aus dem Tal zu stehlen. Eine Predigt hat er mir aber nicht gehalten. Er verstand mich. Er versprach sogar, dass ich meine Familie sehen dürfte. Ein Mitglied des Lotus verlässt nur selten das Tal, wenn es nicht um offizielle Angelegenheiten geht. Er hat mir eine große Ehre erwiesen.
„Als dieser Tag kam, reisten wir in mein Dorf in den nebligen Hügeln des Jadewalds. Ich hatte Angst, freute mich aber auch. Ich hatte meine Familie seit Jahren nicht gesehen.“ Mokimo löste ein kleines blaugrünes Band aus seinem Pferdeschwanz und hielt es Dezco hin. Der Anblick war nichts Besonderes: ein einfaches, altes und abgenutztes Lederband. „Das gehörte meiner Mutter. Wir fanden es in den Überresten der alten Hütte meiner Familie. Das gesamte Dorf war zerstört worden. Alle waren tot. Die Ho-zen-Stämme führen oft Krieg, wisst Ihr.“
„Das tut mir leid“, sagte Dezco, beschämt über seinen Ausbruch.
„Warum? Wenn man mich nicht auserwählt hätte, wäre ich heute tot. Wir können nicht vorhersehen, wohin uns das Leben führen wird. Man sollte nicht gegen Dinge ankämpfen, die man nicht kontrollieren kann. Erst dann, wenn man seine Erwartungen loslässt, ist man wirklich frei. Wir können nur dem Tal dienen und wissen, dass wir unser Leben in den Dienst einer höheren Sache gestellt haben, unabhängig davon, wohin es uns verschlägt. Uns reicht das.“
Mokimo stand auf und staubte seine Kleidung ab. „Kommt zurück zum Schrein. Um mehr bitte ich Euch nicht. Warum wollt Ihr die Jungen hier draußen in Gefahr bringen? Im Tal gibt es keinen sicheren Ort mehr. Nirgendwo.“
Dezco holte tief Luft und starrte auf die flackernden und tanzenden Flammen. Stets waren sie in Bewegung und veränderten sich – unvorhersehbar, wie so vieles in Pandaria. Die einzige Konstante war er selbst, waren seine Entscheidungen. Mit seinen Söhnen hatte er den Dschungel an der Küste, das Gebirge im Norden und andere Regionen durchquert. Er hatte sich brutalen Feinden wie den Mogu gestellt, die in jedem dunklen Winkel des Kontinents lauerten. Und stets hatte er seine Kinder beschützt.
Der Schrein war keine uneinnehmbare Festung. Dezco vermutete sogar, dass die Mitglieder des Lotus ihn nur dort haben wollten, um ihn für sich zu gewinnen. Er wäre in die Enge getrieben. Gefangen.
Dezco schüttelte den Kopf. „Ihr habt recht damit, dass dieses Land gefährlich ist, aber für meine Söhne gibt es einen sicheren Ort: an meiner Seite. Und dort werden sie auch bleiben. Wenn Ihr uns folgen möchtet, nur zu, aber unser Ziel heißt Nebelhauch.“
***
Es war noch dunkel, als Dezco plötzlich erwachte.
Er stützte sich auf die Ellbogen und ärgerte sich darüber, eingeschlafen zu sein. Er hatte vorgehabt, die ganze Nacht über Wache zu halten, doch die lange Reise hatte schließlich doch ihren Tribut gefordert.
In der Nähe schnaubten die Yaks und stampften ängstlich mit ihren Hufen auf den Boden.
Sofort dachte Dezco an Rothorn und Wolkenhuf. Sie waren sicher und schliefen fest auf ihren Decken beim Feuer. Vorsichtig legte er seine Kinder in die Körbe und schnallte diese um seinen Körper.
Im anderen Lager wachten einige Flüchtlinge auf und rieben sich die Augen. Mokimo, Weng und Rook standen regungslos beim Feuer und spähten in die Dunkelheit.
„Was ist los?“, fragte Dezco, als er zu ihnen ging.
Mokimo legte seinen Finger über den Mund. „Rook sieht etwas“, flüsterte er.
Rook gab ein tiefes Knurren von sich. In seiner Pfote hielt er einen riesigen eisernen Streitkolben mit gefährlichen Stacheln fest umklammert. „Rook mag diese Felsen nicht“, brummelte der weiße Pandaren.
„Warum mögt Ihr sie nicht?“, fragte Weng.
„Sie stehen nicht still.“ Rook knirschte mit den Zähnen. „Böse Felsen. Dumme Felsen.“
Dezco dreht sich mit dem Rücken zum Feuer, damit sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen konnten. Langsam nahm er Details wahr: einen steilen Abhang, eine Seite des Gebirgspasses, den sie überqueren wollten. Felsbrocken verschiedener Größen waren über den Hang verstreut. Aber nichts schien ungewöhnlich. Es war nur ein ...
Plötzlich bewegte sich etwas vor dem Hang – zwar nur einen Augenblick lang, aber Dezco sah es.
„Weng“, sagte Mokimo. „Weckt die Flüchtlinge auf. Leise. Spannt die Yaks vor die Wagen.“
Weng nickte und huschte davon.
Dezco hielt seinen Blick auf den Berg gerichtet und war sich nicht sicher, ob das, was er gerade gesehen hatte, real oder nur Einbildung war. Dann sah er es wieder. Nur diesmal hörte die Bewegung nicht auf.
„Lauft.“ Mokimo dreht sich zu Dezco. „Lauft!“
Zehn riesige Felsbrocken stürzten in einem Erdrutsch den Hang hinab.
Nein, erkannte Dezco, sie stürzten nicht hinab. Sie liefen hinab.
Rook hob seine Arme und brüllte, als die Felsbrocken vom Hang hinuntersprangen und die Einzelheiten ihrer stämmigen, hundeartigen Körper und knurrenden Gesichter im Licht des Feuers sichtbar wurden.
„Qilen.“ Dezco atmete hastig ein.
Die Bestien stürmten auf das Lager zu, wobei sich ihre granitartige Haut in seltsamen, unnatürlichen Wellen kräuselte. Es waren die Hunde der Mogu, grausame Wesen aus lebendem Stein, so wie viele ihrer Herren.
Die Yaks bäumten sich auf und nur zwei waren an Wagen gespannt. Weng hielt sie an den Zügeln fest und hatte Mühe, sie davon abzuhalten, loszulaufen. Flüchtlinge rannten im Lager umher und zündeten herumliegendes Holz an, um es als Fackeln zu verwenden. Rothorn und Wolkenhuf brüllten vor Angst.
Die Qilen griffen jedoch nicht an. Stattdessen bildeten sie einen großen Halbkreis um das Lager und versperrten den Flüchtlingen den Weg zum Tal im Norden, wobei sie einen Durchgang zum Gebirgspass offen ließen.
„Der Weg nach Nebelhauch ist sicher!“, rief Weng. „Geht alle dort ...“
„Bleibt, wo Ihr seid!“, brüllte Dezco, dem bewusst war, was gerade geschah. „Sie versuchen, uns zum Pass zu treiben.“
„Er hat recht.“ Mokimo rannte schwer atmend zu Dezco. Die Qilen schnappten mit ihren Mäulern und näherten sich dem Lager, hielten sich mit ihrem Angriff aber noch zurück. „Wir müssen nach Norden, zurück in die Mitte des Tals.“
„Rook macht Weg frei.“ Mit zitternden Armen, dick wie Baumstämme, hob der weiße Pandaren den leeren Wagen über seinen Kopf und warf ihn mit einem ohrenbetäubenden Brüllen nach vorn. Der Wagen explodierte mitten in der Linie der Qilen in tausend Stücke und zwang die Bestien, sich nach links und rechts zu zerstreuen.
„Jetzt!“ Dezco gab mit seiner Hand ein Zeichen.
Die Flüchtlinge liefen los. Qilen kamen von allen Seiten. Einen von ihnen erwischte Rook im Sprung mit seinem Streitkolben. Vier weitere stürmten auf Dezco zu. Er sprach ein Gebet an An’she und die kalte Luft um ihn herum war plötzlich erfüllt mit Kraft. Sie erwärmte und erhellte sich, als ob die Nacht plötzlich zum Tag geworden wäre.
Er band seinen Schild von seinem Unterarm los und warf die Scheibe aus gezacktem Eisen auf die Qilen. Leuchtend drehte sie sich in der Luft und bohrte sich in den Kopf der ersten Bestie. Die Wucht stieß die Kreatur gegen einen Artgenossen und teilte den anderen Qilen in zwei Hälften.
Die anderen beiden Bestien blieben unbeschadet und griffen weiter an. Auf seinen langen Armen sprang Mokimo auf sie zu und erwischte einen der Qilen mit seinem Fuß. Dezco konnte sich gerade noch zur Seite drehen und seine freie Hand über die Brust legen, um Wolkenhuf zu schützen, als der andere Hund nach vorne sprang und mit ihm zusammenprallte.
Irgendetwas riss. Dezco spürte, wie ein Gewicht von seinen Schultern fiel. Der Qilen hatte das Seil durchtrennt.
Der Tauren fing Wolkenhufs Korb in der Luft auf. Mit hoch erhobenem Streitkolben wirbelte er herum, nur um zu sehen, wie der Qilen zum Gebirgspass davonlief. An den Überresten des Seils zog er den anderen Korb hinter sich her. Der darin eingepackte Rothorn schrie aus Leibeskräften.
Der Tauren lief seinem Sohn hinterher und seine Hufe rissen tiefe Furchen in den Boden. Mokimo rannte zu ihm und zog so fest an Dezcos Arm, dass er stehen blieb.
„Ich hole ihn“, sagte der Ho-zen. „Nehmt Wolkenhuf und geht mit den anderen Flüchtlingen.“
„Ich lasse Rothorn nicht zurück!“ Dezco riss seinen Arm aus Mokimos Umklammerung.
„Dann gebt mir Wolkenhuf, damit ich ihn in Sicherheit bringen kann“, flehte der Ho-zen.
Von Unentschlossenheit zerrissen blieb Dezco stehen. Die Flüchtlinge zogen sich unorganisiert zurück, zahlreiche Qilen dicht auf ihren Fersen. Zwei der Bestien hatten Rook auf den Boden geworfen. Wie verrückt schlug er mit seinen Pfoten auf ihre Köpfe.
„Wohin denn?“, rief der Tauren. „Ich habe Euch doch schon gesagt, dass ...“
Vom Gebirgspass ertönte ein markerschütternder Schrei.
Dezco schob Mokimo zur Seite und rannte mit Wolkenhufs Korb fest im Arm in Richtung des Geräuschs. Er flüsterte ein Gebet an An’she und erzeugte einen Schild aus Licht um Wolkenhuf, um ihn vor dem anstehenden Kampf zu schützen.
Dem Tauren war bewusst, dass Mokimo ihm folgte, als er sich dem dunklen Pass näherte, aber seine ganze Aufmerksamkeit galt Rothorns Schreien in der Ferne. Weiter vorne flackerte Feuer, dessen mattes orangefarbenes Licht die Berghänge beleuchtete. Dezco folgte dem Licht und das Blut toste in seinen Ohren.
Nach ein paar Schritten auf dem Pass fand Dezco seinen Jungen.
Rothorn baumelte von der massiven kantigen Faust eines Shao-Tien. Außer einem kunstvoll gefertigten Lederkilt trug der muskulöse Mogu keine Rüstung. Seine steinartige dunkelblaue Haut schimmerte im Licht der Fackel, die er in der anderen Hand hielt. Der Qilen sowie zwei weitere Shao-Tien, die schwere Rüstung trugen und Speere mit langen Klingen in der Hand hielten, standen vor dem Mogu.
Die Mogu sagten kein Wort. Dezco hätte es auch nicht erwartet. Sie waren kein Volk, mit dem man diskutieren konnte. Ihrem Verhalten mangelte es an der Logik, nach der ehrenwerte Leute lebten. Sie beobachteten Dezco lediglich mit mürrischem Gesichtsausdruck. Der Anführer riss Rothorn hoch, als ob er den Tauren herbeiwinken wollte.
Er nahm die Herausforderung an.
„Dezco!“, rief Mokimo vom Eingang des Passes, doch der Tauren beachtete ihn nicht. Er hörte nur das Weinen von Rothorn und Wolkenhuf sowie die in der Ferne bittende Stimme seiner Frau.
Mein Liebster ... was auch immer geschieht ... Du musst unser ... unser Kind beschützen ...
Die Rüstung tragenden Mogu und der Qilen machten einen Satz nach vorn. Dezco schmetterte seinen Streitkolben auf den Hund und brach ihm den Schädel. Der Schlag löste eine Lichtwelle aus, die auf einen der Shao-Tien zuraste. Der Mogu wich aus, jedoch nicht schnell genug. Umhüllt von An’shes Licht zerfiel sein halber Körper zu Staub.
Der vor Dezco stehende Mogu stolperte nach hinten und hielt sich die Hände schützend vor die Augen. Er schüttelte den Kopf, warf die Fackel auf den Boden und zog ein kurzes Schwert aus seinem Kilt. Wie Ranken krochen purpurrote und schwarze Energien aus der Waffe und wanden sich um den Stahl.
Voller Schrecken sah Dezco, wie der Shao-Tien seinen Schwertarm hob und sich bereit machte, Rothorn einen Schlag zu versetzen.
Das Licht der Fackel verlosch langsam ... Dunkelheit legte sich über den Pass. Über ihm bewegte sich ein Schatten: Mokimo, der einen Sprung durch die Luft machte. Der letzte gepanzerte Mogu landete mit einem Satz vor Dezco und versperrte ihm die Sicht. Der Shao-Tien drehte seinen Speer in den Händen und griff an. Der Tauren wich der schweren Klinge aus, doch der hölzerne Schaft traf sein Handgelenk und schlug den Streitkolben weg. Der Mogu stampfte herbei und stieß mit Dezco zusammen, um ihn von den Hufen zu holen. Der blieb jedoch stehen und rammte seinen Kopf gegen das Gesicht des Shao-Tien. Benommen stolperte der Shao-Tien zur Seite.
Dezco fiel auf die Knie. Er konnte nichts mehr sehen, da das Blut ihm von der Stirn in die Augen lief.
Hektisch tastete er nach einer Waffe. Nach irgendetwas. Mit seiner freien Hand fand er den toten Qilen.
Dezco griff die Bestie an ihren Hinterbeinen, stand auf, warf sein Gewicht nach vorn und drehte sich. Jeder Muskel in seinem Körper wurde hart wie Stahl. Stille legte sich über den Gebirgspass. Das Weinen hörte auf.
„Rothorn!“, brüllte er, als er den Qilen mit einer Hand und lautem Krachen gegen die Brust des Mogu in Rüstung schleuderte. Der Mogu flog nach hinten auf den Boden und blieb regungslos liegen.
Vor Dezco flackerten Schatten. Er stürmte auf sie zu. Er spürte, wie sich Wolkenhufs Korb unter seinem linken Arm bewegte. Er wischte sich das Blut aus den Augen, bis er wieder sehen konnte. Mokimo kniete auf dem Boden. Der Anführer der Mogu lag mit seiner eigenen Klinge, die ihm aus dem steinernen Kopf ragte, daneben.
„Wo ist er?“, fragte Dezco.
„Hier.“ Mokimos Stimme klang krächzend und feucht. Blut quoll aus einer tiefen Wunde an seinem Hals. Er streckte die Hände aus, in denen er Rothorn hielt. Die Augen des Kindes waren geschlossen. Er war bedeckt mit Blut, auch mit seinem eigenen.
Bevor Dezco nach seinem kleinen Jungen griff, flehte er An’she an, die Wunden des Kindes zu heilen. Hellgelbes Licht umhüllte den Jungen, doch als es verschwand, öffnete er die Augen immer noch nicht.
„Nein ...“ Voller Wut knirschte Dezco mit den Zähnen. Er war machtlos. Konnte nichts tun. Genau wie bei Lezas Tod. Er hatte so sehr versucht, sie zu retten, sie in seinem Leben zu behalten. Es hatte nicht funktioniert. Nichts hatte funktioniert.
„Die Klinge des Mogus hat ihn erwischt“, sagte Mokimo heiser. „Die Waffe war vergiftet. Ihr werdet es nicht schaffen, seine Wunden zu heilen ... oder meine. Aber es gibt noch Hoffnung.“ Kraftlos nahm Mokimo Dezcos Hand und legte sie auf Rothorns Brust. Sein Herz schlug noch – zwar schwach und kaum wahrnehmbar, aber es schlug. „Der Junge lebt.“
„Ich kann ihm nicht helfen ...“ Frustriert hämmerte Dezco mit seiner Faust auf den Boden.
„Es gibt noch eine andere Möglichkeit.“ Langsam stand Mokimo auf. Einen Moment lang schwankte er von einer Seite zur anderen und fiel fast hin. „Die hochheiligen Teiche. Solang noch Leben in dem Jungen ist, kann das Wasser des Tals ...“
Seine Stimme wurde schwächer und er riss die Augen auf. „Wolkenhuf“, sagte der Ho-zen.
Dezco schaute hinunter zu seinem Jungen, den er sicher unter seinen Armen eingepackt hatte.
„Ist er ...?“ In Mokimos Augenwinkeln sammelten sich Tränen. „Oh nein.“
Der zerstörte Korb hing an dem Kind. Der zerquetschte Körper von Wolkenhuf lag auf Dezcos Arm. Der Tauren fiel auf die Knie, lockerte seinen Griff und ließ das Kind in seinen Schoß fallen. Er erstarrte und hielt seinen kleinen Jungen in den Händen, als die Erkenntnis sich wie eine Klinge durch sein Herz bohrte.
Er hatte sich nur auf Rothorn konzentriert. Er hatte nicht einmal mitbekommen, dass Wolkenhuf gestorben war.
***
„Hier entlang!“, rief Mokimo. Irgendwie hatte der Ho-zen die Energie gefunden, sich trotz seiner Verwundungen zu bewegen. Hektisch schwang er die Mogufackel durch die Luft, um Dezco herbeizuwinken. Der Tauren folgte ihm und hielt vorsichtig Rothorn und den toten Wolkenhuf in den Armen.
Hinter dem Ho-zen erhellte das schwache Leuchten eines großen Teichs die Nacht. Er war umgeben von kunstvollen hölzernen Torbogen, die auf flachen, um das heilige Wasser herum angeordneten Steinen standen. Es war der südlichste Teich im Tal, nicht weit entfernt vom Pass, an dem der Angriff stattgefunden hatte.
Dezco hatte Schwierigkeiten, mit Mokimo mitzuhalten. Zum hundertsten Mal ging ihm der Kampf durch den Kopf. Er ließ die Ereignisse Revue passieren und versuchte herauszufinden, wann Wolkenhuf gestorben war. Wann? Als der Mogu mit ihm zusammengestoßen war und ihn fast zu Boden geworfen hatte? Oder hatte er selbst den Tod zu verantworten?
Hatte er ihn zerquetscht?
Dem Tauren wurde schlecht und er fiel zu Boden. „Bei An’she, ich war es“, sagte er. „Ich weiß es.“
„Steht auf!“ Mokimo verpasste Dezco mit dem unteren Teil der Fackel einen Schlag auf den Kopf, der den Tauren aus seiner Benommenheit holte. Er schaute sich um, bis er den blutüberströmten Ho-zen erblickte.
„Er ist von uns gegangen. Wie, das werdet Ihr niemals herausfinden“, sagte Mokimo. „Jetzt zählt nur noch Rothorn.“
Dezco kämpfte sich auf die Hufe und folgte Mokimo zum Rand des Teichs.
„Die Mogu benutzten dieses Wasser einst für bösartige Taten, aber auch zu Gutem ist es fähig“, sagte der Ho-zen. „Jeder dieser Teiche steht für eine andere Emotion. Mut ... Frieden ...“ Mokimo ging einen Schritt hinein, wobei er zusammenzuckte. Das Blut aus seiner Wunde trübte das Wasser. „Das ist der Teich der Hoffnung.“
„Was ... was soll ich tun?“, fragte der Tauren. Einige von den Energien des Teiches beleuchtete Fische schwammen fort, als er sich ihnen näherte.
„Gebt mir Rothorn.“
Ohne zu zögern, reichte Dezco ihm seinen Jungen. Er konnte nichts weiter tun. Nichts. Der Tauren konnte nur zusehen, wie Mokimo Rothorn vorsichtig – und liebevoll – bis zum Hals in das Wasser eintauchte.
Plötzlich war er ergriffen von diesem Bild: davon, wie Mokimo seinen Sohn hielt, als wäre er sein eigener, und davon, wie viel der Ho-zen riskiert hatte, um Rothorn eine Überlebenschance zu geben, wie klein sie auch sein sollte. Im Nachhinein wurden ihm die Ereignisse während des Kampfes klar. Mokimo hatte sich selbst zwischen die Klinge des Mogu und sein Kind geworfen. Obwohl die Waffe Rothorn verletzt hatte, wusste Dezco, dass der Ho-zen dem Jungen das Leben gerettet hatte.
„Kommt.“ Nur mit Mühe konnte Mokimo ihn herbeiwinken. Die Kräfte verließen ihn. „Legt ... Wolkenhuf an den Rand.“
Zögernd legte Dezco Wolkenhufs Leiche neben den Teich und lief ins Wasser.
„Nehmt ... eine Handvoll“, sagte Mokimo. „Schüttet es ... über Rothorn.“
Mit pochendem Herzen folgte Dezco der Aufforderung. Er ließ das Wasser über den Kopf seines Sohnes laufen. Mokimo tat das Gleiche. Das leuchtende Nass tropfte von Rothorns Nase herab. Es schien bei dem Kind keine Wirkung zu erzielen.
„Es geschieht nichts.“ Dezco schöpfte mehr Wasser ab, doch Mokimo nahm seine Hand.
„Lasst ... das Tal arbeiten“, sagte der Ho-zen mit flachem Atem. „Ihr könnt es nicht steuern. Ihr könnt nur ... hoffen. Glauben, so wie Leza es getan hat. War sie ... im Angesicht des Todes ... verzweifelt?“
„Nein.“ Dezco kniff die Augen zusammen. Sie hatte immer geglaubt. Sie war immer so stark gewesen. Leza hätte hier sein sollen. Nicht er. Dann wäre all dies nicht –
Eine Welle aus Hitze schwappte über Dezco hinweg und er öffnete die Augen. Ein durchsichtiges Bild von Chi-Ji ging über das Wasser, als wäre es fester Boden. An den Stellen, an denen seine Klauen den Teich berührten, strömte goldenes Licht wellenförmig nach außen. Mit jedem Schritt erklang ein leises Läuten wie von einer winzigen Glocke.
Der Erhabene öffnete ruckartig die Flügel und der plötzliche Windstoß blies das Wasser über den Tauren und den Ho-zen. Mokimo richtete sich auf und klopfte auf seinen Hals. Die Wunde hatte sich geschlossen.
Chi-Ji lehnte sich nach vorn, tauchte mit seinem Schnabel in das Wasser ein und berührte Rothorns Brust. Dezco sah zu und wartete. Die Zeit schien stillzustehen. Und gerade, als er begann, das Schlimmste zu befürchten, bewegte sich das Kind. Dezco starrte seinen Sohn ungläubig an. Rothorns Augen öffneten sich und sein Blick schoss umher, bis er seinen Vater sah. Dann streckte er sich schreiend nach Dezco aus.
„Danke!“ Dezco nahm sein Kind fest in die Arme. Dann erinnerte er sich an Wolkenhuf und drehte sich zum Rand des Teichs, wo er die Leiche seines Sohns abgelegt hatte. „Mein kleiner Junge. Roter Kranich, gibt es noch eine Möglichkeit, ihn ...“
Seine Worte verstummten, als er sich zu Chi-Ji umdrehte. Der Rote Kranich war verschwunden.
***
„Qilen tot. Flüchtlinge bei Weng.“ Rook schlug sich mit seiner riesigen Pfote gegen die Brust. Er war kurz nach Chi-Jis Erscheinen beim Teich eingetroffen. Nachdem der riesige Pandaren erfahren hatte, was mit Wolkenhuf geschehen war, setzte er sich hin und schluchzte eine lange Zeit, bevor er sich wieder erholte. Dezco hätte nie erwartet, dass der Tod Rook so mitnehmen würde. Er hatte die Kinder ja kaum kennengelernt.
Aber es nahm ihn mit. Aus irgendeinem Grund sorgte sich der Lotus so sehr um die Kleinen. Dezco wünschte, dass er verstehen könnte, warum. Er wusste nur, dass die Sorge des Ordens aufrichtig war. Auf eine gewisse Weise waren die Jungen für sie ein Teil der Familie.
„Gut!“, sagte Mokimo zu Rook und drehte sich dann zu Dezco. „Wir sollten am besten erst einmal zum Schrein zurückkehren. Ich weiß, dass Ihr gehen wollt, aber wir müssen Vorbereitungen treffen. Ich werde alles tun, um für Euch und Rothorn einen Weg nach Hause zu finden.“
Nach Hause. Dezco dachte an die kleine Enklave seines Stammes auf den sonnigen Ebenen von Mulgore. Nachdem er und Leza sie verlassen hatten, fragten sie sich, ob sie sie jemals wiedersehen würden. Er war davon ausgegangen, wusste jedoch, dass seine Frau eine andere Meinung gehabt hatte. Über das Land in ihren Visionen hatte sie immer gesprochen, als wäre es ihr Zuhause – ein Zuhause, wohin sie immer gehört, aber das sie noch nicht gekannt hatten. Nun verstand er endlich, was sie gemeint hatte. Er hatte die Kraft des Tals erlebt, die Möglichkeiten, die es nicht nur ihm, sondern vielen auf der ganzen Welt bieten könnte.
„Ich werde nicht gehen“, sagte Dezco.
„Wirklich?“, fragte Mokimo.
„Es gibt noch etwas“, fügte Dezco hinzu. Er blickte hinunter auf den in seinen Armen liegenden Rothorn. „Werdet Ihr trotzdem ...“, setzte er an, aber es war zu schwierig. Er hielt Mokimo das Kind hin.
„Das ist nicht nötig.“ Mokimo schüttelte den Kopf. „Wenn Ihr glaubt, dass Chi-Ji etwas für seine Tat fordert, liegt Ihr falsch. Für dieses Geschenk müsst ihr keine Gegenleistung erbringen.“
„Nehmt ihn“, bat Dezco. „Deshalb sind wir gekommen. Das ist der Grund.“ Bei An’she, dachte er, ich war so dumm, es nicht früher zu erkennen. Sie waren von so weit her gekommen, um das Tal zu suchen, um es mit eigenen Augen zu sehen, um dort zu wohnen. Aber ein Teil davon zu sein ... eins mit ihm zu sein – das war wesentlich mehr.
„Wenn Ihr es möchtet“, sagte Mokimo, “wenn ihr es wirklich möchtet, dann gerne.“
„Ich möchte es“, antwortete Dezco. „Gibt es noch etwas zu tun? Etwas, durch das es offiziell wird, meine ich.“
„Wir ...“ Mokimo senkte seinen Kopf. „Ja, es gibt Rituale. Ich werde das Kind zu Zhi bringen und er wird es für die Salbung Chi-Ji präsentieren. Leider darf dabei nur der Goldene Lotus anwesend sein. Es tut mir leid.“
„Ich verstehe.“ Dezco bekam die Worte nur schwer heraus. „Dann geht nun.“
„Es muss noch nicht jetzt sein“, sagte der Ho-zen. „Wir können auch erst zum Schrein zurückkehren.“
„Geht. Bevor ich es mir noch anders überlege.“
„Sobald die Rituale beendet sind, könnt ihr ihn sehen“, fügte Mokimo hinzu, als er Rothorn in seine Arme nahm. „In den nächsten Jahren wird er viel trainieren, aber er wird hier im Tal sein.“
„Als Mitglied des Goldenen Lotus.“
„Und als Euer Sohn“, sagte der Ho-zen. „Das wird er immer sein, aber nun wird er noch mehr werden.“
Mokimo schaute auf den an Dezcos Brust hängenden Korb, in dem Wolkenhuf lag. Der Tauren hatte den zerstörten Korb repariert und mit einem Seil um den Hals gebunden. „Und er?“, fragte der Ho-zen.
„Ich werde einen Scheiterhaufen aufschichten und ihn in der Morgendämmerung entzünden, damit An’she dem Ableben meines Sohnes beiwohnen kann“, sagte Dezco. „Das ... würde ich lieber allein tun.“
Mokimo nickte langsam. Ohne ein weiteres Wort gab er Rook ein Handzeichen. Als sie aufbrachen, erinnerte sich Dezco an etwas und rief ihnen hinterher.
„Wartet.“ Der Tauren suchte nach Lezas Locke in seinem Haar und band sie los. Er flocht sie in Rothorns Mähne, lehnte sich nach vorn und berührte die Stirn des Kindes mit seiner Schnauze.
Dann zogen Rook und Mokimo los. Dezco verbrachte die nächste Stunde mit dem Sammeln von Holz für den Scheiterhaufen und dachte über die kommenden Tage nach. Er würde seine Pflichten beim Schrein wieder aufnehmen, würde aber Nala und den anderen nur ungern erzählen, was geschehen war. Was würde er sagen? Würden sie ihm den Verlust von Wolkenhuf verzeihen? Würde er sich je selbst verzeihen? Vielleicht nicht. Aber das hatte er verdient. All das war seine eigene Entscheidung gewesen, doch eine schreckliche und falsche.
Dezco setzte sich hin, um sich vor dem Beginn der Begräbniszeremonie auszuruhen. Es war noch dunkel, aber der Morgen würde bald anbrechen. Er konnte es spüren. Über das Wann machte er sich keine Gedanken mehr.
„Wir sind zu Hause“, sagte Dezco laut. Er hatte Wolkenhuf auf seinen Schoß gelegt und streichelte die Mähne des Kindes. Er wandte sich nach Osten und wusste, dass die Yeena’e schon bald erscheinen würden.
Tod aus der Luft von Robert Brooks
Er schwebte allein. Zeit hatte keine Bedeutung. Schließlich bahnte sich der Klang ihrer Musik den Weg durch die Stille.
Stürmt die Mauer, sang die Kaiserin. Die Starken kehren zurück. Die Schwachen nicht.
Zum ersten Mal öffnete Kil'ruk die Augen.
***
Rauch und Staub verbargen den Horizont im Osten. Nur der Umriss der Mauer, des Schlangenrückens, war durch den Nebel schwach zu erkennen. Die Luft war erfüllt vom Widerhall des Krieges: der Jubel der jungen Mantis und das Schreien der Sterbenden verbanden sich mit dem charakteristischen Klang von Klingen, die aufeinandertrafen oder sich durch Fleisch bohrten.
Der neue Zyklus hatte wahrhaft glorreich begonnen.
Auf einem Hügel im Westen sah eine Gruppe älterer Mantis zu.
„Die Schwarmgeborenen scheinen gesund und lebhaft zu sein. Die Kaiserin hat sie gut aufgezogen“, sagte einer von ihnen. Niemand widersprach. Sie alle hatten beobachtet, wie die jungen Mantis nur wenige Minuten nach dem Betreten dieser Welt auf die Mauer zugestürmt waren und an nichts anderes denken konnten als daran, die niederen Kreaturen abzuschlachten. „Ihr Enthusiasmus wird sich als nützlich erweisen, falls die Mogu uns weiterhin provozieren. Nichts zähmt Ehrgeiz schneller als die Furcht vor Auslöschung.“
Die anderen Ältesten klickten und zirpten wortlos. Es klang zustimmend, aber nicht verbindlich. Eine Entscheidung war noch nicht nötig.
Die Klaxxi sahen erst einmal nur zu. Alles entwickelte sich wie geplant.
***
Ein einzelner Mogu, gekleidet in eine verzierte, präzise geschnittene Robe, betrat das große Zelt und warf den Sklaven, die um die seltsame Ansammlung von polierten weißen Röhren huschten, einen kühlen Blick zu. Mit lauter, verächtlicher Stimme rief er: „Ihr habt Kriegsfürst Gurthan versprochen, dass die Waffen jetzt fertig sein würden. Euer Versagen hat ihn enttäuscht.“
Die sechzehn Sklaven – hauptsächlich Pandaren, jedoch auch ein paar Jinyu – verstummten vor Angst. Weit hinten im Zelt erhob sich eine massige Person, deren Gesicht jedoch im Schatten blieb. Die Person lehnte sich nach vorn. Die Kante ihres Kinns wurde vom Flackern einer Kohlenpfanne beleuchtet. Trotz der harten Worte des Besuchers blieb der Gesichtsausdruck des größeren Mogu bedrohlich ruhig.
„Wäre Kriegsfürst Gurthan von mir enttäuscht, hätte er es mir selbst mitgeteilt, Hixin“, sagte Zuchtmeister Xuexing.
„Vielleicht wisst Ihr noch nichts von den jüngsten Vorkommnissen. Die Mantis greifen an“, sagte Hixin mit ruhiger Stimme, als ob es möglich gewesen wäre, von den schrecklichen Kampfgeräuschen im Westen nichts mitzubekommen. „Kriegsfürst Gurthan hat Wichtigeres zu tun, als sich mit einem straffälligen Arkanisten und dem verschwendeten Einsatz einiger Sklaven auseinanderzusetzen.“
Straffällig? Xuexing hielt sein Temperament unter Kontrolle. Hixin war der bei Weitem zwielichtigste Berater von Kriegsfürst Gurthan. Er provozierte niemanden ohne Grund. Zweifelsohne beabsichtigte er, dem Kriegsfürsten von Xuexings Wutausbrüchen zu berichten. Wenn er nicht einmal auf einfache Kritik ruhig reagiert, Kriegsfürst, würde Hixin bestimmt sagen, kann man ihm dann wirklich wichtige Aufgaben anvertrauen?
Es war kein Geheimnis, dass der Kriegsfürst Xuexing in nahezu allen arkanen Bereichen vertraute. Selbst die Zandalari suchten seinen Rat. Hixin müsste ihn erst anschwärzen, bevor er ihn ersetzen könnte. Er möchte aufsteigen, indem er mir auf den Kopf tritt.
„Das Huatang ist fertig, wenn es fertig ist“, sagte Xuexing. „Und wenn es fertig ist, werde ich es Kriegsfürst Gurthan persönlich sagen.“
„Soll ich ihm mitteilen, dass er in einigen Tagen eine funktionierende Waffe erwarten kann? In Wochen?Monaten? Die Insekten werden nicht warten“, sagte Hixin im selben ruhigen, diplomatischen Tonfall. Anscheinend geistesabwesend fuhr er mit einem Finger über den Rand einer seltsamen verzierten Urne, die neben ihm auf einem Tisch stand.
„Teilt ihm mit, was Ihr wollt“, sagte Xuexing.
„Ich schätze, ich werde den Kriegsfürsten darüber in Kenntnis setzen müssen, dass es von Euch keine Antwort gibt.“
„Reizt mich nicht, Berater.“
***
Geht gemeinsam. Stürmt die Mauer. Die Worte der Kaiserin erfüllten ihren Geist. Sie gab ihnen eine Bestimmung. Ihre Wünsche waren ihnen Befehl und sie würden sie umsetzen, ohne zu zögern.
Ohne sie waren die Mantis nichts.
Die Starken kehren zurück. Die Schwachen nicht, sagte sie.
Kil'ruk und Dutzende anderer Flieger hoben ab und flogen erneut nach Westen. Zum dritten Mal waren sie auf dem Weg zur Mauer – vielleicht auch zum vierten. Kil'ruk hatte nicht mitgezählt. Für ihn hatte nur ihre Stimme Bedeutung, die ihn antrieb. Vom ersten Moment seines Lebens an hatte er den Kampf herbeigesehnt. Seine Fühler zuckten unruhig. Seine Vorderbeine hatte er unter dem Hinterleib zusammengezogen, wo sie an seinem Panzer ruhten. Selbst die vier durchsichtigen Flügel an seinem Rücken in gleichmäßig brummendem Schlag zu halten, war für ihn so selbstverständlich wie das Atmen.
Die niederen Kreaturen müssen sterben, sang sie ihnen vor. Fegt sie hinfort.
Aus dieser großen Höhe betrachtet schien selbst der Boden vor ihrem Zorn zu beben. Tausende und Abertausende Mantis stießen nach Osten vor, ohne einen Gedanken an die niederen Kreaturen und ihr jämmerliches Hindernis zu verschwenden. Obwohl ihre Mauer hoch in den Himmel hinaufragte, hatte die Kaiserin befohlen, dass er fallen musste. Und so sollte es auch geschehen.
Sie nennen ihn den Schlangenrücken, hatte die Kaiserin gespottet. Durchbrecht ihn.
Auf dem Boden stürmten die Schwarmgeborenen die Mauer und versuchten, an seiner Außenseite hinaufzuklettern. Am Fuß türmten sich bereits Haufen zerbrochener Panzer auf. Der Aufstieg war anstrengend und gefährlich, und die wenigen Mantis, die es bis nach oben schafften, mussten es mit Legionen von Verteidigern aufnehmen. Sie überlebten nicht lang.
Kil'ruk und die anderen Flieger schwebten hoch über der Mauer, weit außerhalb der Reichweite von Bogenschützen. Jeder Mantis hatte ein Netz dabei, das bis zum Bersten mit seltsamen Klumpen gefüllt war, aus denen stinkender Rauch in kleinen Fahnen austrat. Ein Bernschmied, dem ein Auge fehlte, hatte sie Ladungen genannt. „Schmückt ihre Köpfe damit“, hatte er gezischt, während er sich Netze zwischen die Vorderbeine klemmte.
Die Flieger rupften die Ladungen aus ihren Netzen und ließen sie fallen. Beim Zerbersten versprühten sie Gift und Säure, das auf die Verteidiger in der Nähe herabregnete. Die niederen Kreaturen stießen Schreie von Schmerz und Verwirrung aus, doch das Gift löste sich im Wind schon bald auf. Die Verteidiger gingen am Rand der Mauer wieder in Stellung und deckten die Mantiskletterer mit Pfeilen und Steinen ein.
Kil'ruk ließ weitere Ladungen fallen, doch es war seltsam unbefriedigend. Er wollte die Qual der niederen Kreaturen aus nächster Nähe erleben. Er wollte die Mauer mit ihrem Blut bedecken. Bomben aus dieser Höhe abzuwerfen, wirkte zu sauber, zu distanziert und nicht besonders nützlich.
Als dem Schwarm die Ladungen ausgingen, flogen die Mantis zurück zum Bernschmied. Die anderen Flieger zirpten unterwegs fröhlich. Kil'ruk jedoch war in Gedanken versunken. Beim Bernschmied lagen weitere Netze im Schatten eines jungen Kyparibaums.
Zwei Tage und Nächte lang ging es stets so weiter: Sie flogen zur Mauer, warfen Ladungen von oben ab, flogen zurück und holten weitere Netze ab. Immer und immer wieder.
In der zweiten Nacht des Zyklus legte sich schon ein Großteil von Kil'ruks Schwarm vor lauter Erschöpfung unter einigen der größeren Kyparibäume hin. Kil'ruk nahm sich ein weiteres Netz mit Ladungen und flog ohne die anderen los.
Die Mauer stand noch. Die Feinde der Kaiserin lebten noch. Wie hätte er sich da ausruhen können?
Erst als die Sonne am vierten Tag aufging, gab er sich der Erschöpfung hin.
Ein allein jagender Falke zog hoch über dem Boden in der nachmittäglichen Brise seine Bahnen. Nahezu jedes andere Tier im Land der Mantis war zu Beginn des Zyklus sofort geflohen. Nur einige Shed-Ling-Junge, die an dem Massenexodus nicht teilnehmen konnten, blieben in ihren Bauen und erzitterten, als sie den entfernten Kampflärm hörten. Eine der winzigen Kreaturen reckte ihren Kopf hervor und schnupperte in der Hoffnung, etwas Essbares zu finden.
Der Falke entdeckte sie. Er legte seine Flügel eng an den Körper an und flog in einem Bogen nach unten. Kurz vor dem Auftreffen auf dem Boden breitete er die Flügel weit aus und streckte die Krallen aus. Pfeilschnell schoss er wieder nach oben, ein sich windendes Shed-Ling-Junges in den Krallen. Der Falke drückte fest zu und sorgte dafür, dass seine Beute sich nicht mehr wehren würde.
Er flog zurück zu seinem Nest hoch oben in einem Kyparibaum. Plötzlich änderte er die Richtung, um einem einzelnen Mantisflieger in der Nähe in großem Bogen auszuweichen.
Der Falke betrachtete den Flieger vorsichtig. Als jedoch klar wurde, dass der Flieger sich nicht für einen Angriff bereit machte, kreischte der Vogel wütend über die Verzögerung und flog davon. Der Mangel an leichter Beute hatte ihn hungrig werden lassen.
Der einzelne Mantis, Kil'ruk, sah erstaunt zu, wie der Falke verschwand.
***
„Ein Falke?“
„Ein Falke“, sagte der alte Mantis namens Klaxxi'va Pok. „Dieser Mantis ist fasziniert davon. Vielleicht sogar besessen. Er versucht andauernd, ihn nachzuahmen.“
„Sturzflüge sind für uns unmöglich“, wandte der andere Mantis ein. Er hatte Flügel. Klaxxi'va Pok nicht. „Jene von uns, die mit der Fähigkeit des Fliegens gesegnet sind, können in der Luft schweben. Wir bewegen uns flink von einem Ort zum anderen. Das ist unser Vorteil. Dieser Schwarmgeborene will sich wohl umbringen. Die Belastung beim Abfangen eines Sturzflugs aus der Höhe wird ihm die Flügel vom Leib reißen.“
„Wie ich schon sagte, er übt ständig“, erwiderte Klaxxi'va Pok. „Gestern hat er eine Höhe von zehn Schritten geschafft. Heute Morgen waren es 15.“
„Das ist wohl kaum nützlich, sondern nur ...“
„Heute Nachmittag waren es 25“, sagte Klaxxi'va Pok.
Der andere alte Mantis verstummte. Er rieb seine Vorderbeine nachdenklich aneinander. Einen unkontrollierten Fall aus einer Höhe von 25 Schritten abzufangen, war eine Leistung, die selbst hoch versierte Mantisflieger nicht übertreffen konnten. „Er wird also stärker?“
„Ja.“
„Viel stärker?“
„Anscheinend“, sagte Klaxxi'va Pok.
„Interessant.“
„Auf mehr Arten, als Euch vielleicht bewusst ist“, fügte Pok hinzu. „Es ist kaum eine Woche vergangen. Die Schwarmgeborenen sind noch zerbrechlich und ziemlich unreif. Sie verlassen sich noch vollkommen auf die Stimme der Kaiserin – von derart seltsamen Taktiken hat sie aber bisher nichts erzählt.“
Der andere Mantis verstand und schloss mit einem Klicken langsam seine Kiefer. „Er handelt aus eigenem Antrieb. Er beachtet ihre Wünsche nicht. Sehr vielversprechend für jemanden, der so jung ist.“ Seine Fühler zuckten leicht und ein krächzendes Kichern kam aus seinem Mund. „Seit drei Zyklen ist kein Schwarmgeborener zu einem Getreuen geworden. Vielleicht wird sich dieser hier schon bald einen zweiten Namen verdienen.“
„Vielleicht“, sagte Klaxxi'va Pok. „Vielleicht wird er aber auch einfach nur zu jenen gehören, die sterben, bevor sich ihr Potenzial entfaltet.“ „Ja. Schließlich läuft der Zyklus so ab.“
***
Yong tröstete sich mit einem einfachen Gedanken: Bald ist alles vorbei.
Nach den brutalen Schlägen der letzten Stunden war der Pandarensklave fast vollkommen blind und konnte nur noch verschwommene Formen und Schatten erkennen. Zwei Moguwachen zogen ihn ins helle Sonnenlicht und ketteten ihn an einen hohen Pfosten. Er konnte nicht sagen, ob es dieselben waren, die er am Tag zuvor angegriffen hatte.
Ich hoffe, ich habe ihnen wehgetan, dachte er müde. Es war eine jämmerliche Geste gewesen, von der er gewusst hatte, dass sie seinen Tod bedeuten würde. Trotzdem bedauerte er seine Handlungen nicht eine Sekunde lang. Meinen Gehorsam bekommen sie nicht mehr. Sie haben ihn nicht verdient.
„Wir werden bei dir etwas Neues ausprobieren“, sagte einer der Mogu. „Xuexing, Ihr könnt feuern, wenn Ihr bereit seid.“
Yong war zu erschöpft, um wirkliche Angst zu haben, neugierig war er jedoch schon. Er blinzelte angestrengt und versuchte, sich einen Reim auf den Umriss vor ihm zu machen.
Seltsam. Es sah aus, als wollten ihn die Mogu mit einer großen weißen Bienenwabe hinrichten.
Das Letzte, was Yong vor seinem Tod hörte, war das knisternde Geräusch arkaner Energie.
***
Der Sonnenuntergang am neunten Tag kam und ging. Bei Sonnenaufgang schaffte Kil'ruk einen Sturz aus einer Höhe von 50 Schritten. Aber er war noch nicht zufrieden – der Falke hatte mindestens 100 hinbekommen. Und doch spürte er, wie seine Flügel und die Muskeln an seinem Rücken stärker wurden.
Der Bernschmied hatte in der Nacht den Standort gewechselt und seine Netze an den Hängen vor Klaxxi'vess ausgelegt, wo der Kulturrat der Mantis beheimatet war. Als Kil'ruk von der Mauer zurückkehrte, hielt er inne, von der Bernarchitektur auf der Spitze des Hügels fasziniert. Natürlich war ihm der Zutritt nach Klaxxi'vess verwehrt. Sich ohne Einladung in das Gebiet der Klaxxi zu begeben, bedeutete den sicheren Tod.
Nicht zum ersten Mal fragte sich Kil'ruk, warum man die Klaxxi so selten sah. Die Mantis behandelten den Rat mit Respekt, aber nur wenige Schwarmgeborene hatten seine Mitglieder bisher außerhalb der Grenzen ihrer Stadt gesehen. Sie hatten noch nie einen Klaxxi kämpfen sehen. Im Hinblick auf die glorreiche Schlacht, die noch immer tobte, schien der Rat nutzlos zu sein.
Der Bernschmied unterbrach Kil'ruks Träumerei. „Bedrückt Euch etwas, Schwarmgeborener?“
Vieles. Kil'ruk stellte die Frage, die schon den ganzen Tag über schwer auf ihm lastete. „Was ist mit den niederen Kreaturen?“
„Was meint Ihr damit?“
Wie kann es sein, dass ein Falke besser fliegt als ich? Ich bin einer der Auserwählten der Kaiserin. Kil'ruk sprach diese Frage nicht aus. Er war beschämt von seiner Unfähigkeit und hatte nicht vor, sie jemandem zu offenbaren. Er stellte eine andere Frage. „Ich sehe, wie verschiedene Kreaturen auf der Mauer gegen uns kämpfen. Verschiedene Formen. Verschiedene Größen. Verschiedene Wesen. Warum arbeiten sie zusammen?“
Der Bernschmied zirpte amüsiert. „Zusammen? Die Saurok und die Pandaren wurden von den Mogu versklavt. Sie haben keine andere Wahl, als gegen uns zu kämpfen.“
Saurok? Pandaren? Kil'ruk kannte diese Namen nicht. Er hatte sich nie die Mühe gemacht, die Verteidiger als etwas anderes als niedere Kreaturen anzusehen. Der Bernschmied erklärte es ihm bereitwillig. „Die fähigen Kämpfer mit den Schuppen nennt man Saurok. Die Wesen mit dem Fell und den dicken Bäuchen heißen Pandaren.“
Der Bernschmied sprach ausgiebig über die Mogu und darüber, wie sie die Macht der Thronräuber genutzt hatten, um in den vergangenen Jahrtausenden ihr Reich zu etablieren, ihre Macht zu vergrößern und andere zu unterwerfen. Einige der größten Leistungen der Mogu wären ohne die Kraft der Sklaven aus den von ihnen eroberten Völkern nicht möglich gewesen.
Als Kil'ruk fragte, wie die Sklaven das Kämpfen lernten, lachte der Bernschmied wieder. „Die Saurok werden geboren, um zu töten. Einen anderen Sinn im Leben haben sie bisher noch nicht entdeckt. Die Pandaren, nun ja“, sagte er, „sie dürfen überhaupt keine Waffen tragen, wenn sie uns nicht auf der Mauer gegenüberstehen.“
Kil'ruk zuckte ungläubig mit den Vorderbeinen. „Die Mogu schicken nicht ausgebildete Kreaturen in den Kampf? So töricht können sie doch unmöglich sein.“
„So ist es aber, Schwarmgeborener“, sagte der Bernschmied. „Die Mogu bekämpfen Rebellionen schon beim ersten Anzeichen. Jeder Pandaren, der sich widersetzt, wird zur Bestrafung auf die Mauer geschickt. Das heißt, uns stellen sich hier die Stärksten entgegen. Aber sie sind nur hier, um zu sterben.“ Kil'ruk hatte nicht gewusst, dass die Mogu solch einen unglaublichen Sinn für Humor besaßen. Er lachte, bis seine Fühler schmerzten.
***
Ein junger Pandaren schenkte eine frische Tasse Tee ein. Einige Tropfen platschten auf den Boden und er stieß einen verängstigten Laut aus. Xuexing beachtete ihn nicht und nippte höflich an seinem Tee.
„Ich war erfreut über die erfolgreiche Vorführung des Huatang. Kriegsfürst Gurthan möchte, dass Ihr es umgehend in der Schlacht einsetzt“, sagte Hixin.
„Sagt Kriegsfürst Gurthan“, antwortete Xuexing mit donnernder Stimme, „dass ich den Einsatz des Huatang persönlich und unter vier Augen mit ihm besprechen möchte.“
„Dazu besteht kein Anlass“, sagte Hixin. Der Berater überreichte ihm ein fest zusammengerolltes Pergament – den offiziellen, durch Magie versiegelten Befehl des Klans Gurthan. Xuexing nahm es und untersuchte es misstrauisch.
„Was ist das?“
Hixin nahm einen kleinen Schluck Tee. „Kriegsfürst Gurthans Wille.“
Xuexing beäugte den anderen Mogu genau. Es war unvorstellbar, dass Kriegsfürst Gurthan diesen Diplomaten als Vermittler einsetzen würde, aber das Siegel wirkte echt. Er beschwor eine kleine Menge Magie und entsiegelte das Pergament. Es enthielt eine kurze Nachricht.
Beweist Euer Potenzial bei Einbruch der Nacht. Enttäuscht mich nicht noch einmal.
Xuexing sagte nichts. Nur die Kampfgeräusche in der Ferne und das flache, furchtsame Atmen des Pandarensklaven, der in einer Ecke des Zelts kniete, waren zu hören.
Das Huatang war bisher nur einmal getestet worden. An einem Sklaven. Nicht im Kampf. Das kleinste Ungleichgewicht im Energiefluss könnte es zerstören. Ein großes Ungleichgewicht könnte katastrophale Auswirkungen haben.
Im Kampf gibt es immer Ungleichgewichte, dachte Xuexing grimmig.
Nicht, dass er es vor dem Opportunisten zugeben würde, der ihm gegenübersaß. Xuexing leerte seine Tasse. „So sei es. Sagt dem Kriegsfürsten, dass der Himmel schon bald ihm gehören wird.“ Er stand auf, um zu gehen. „Danke für den Tee.“
Das Pergament nahm er gar nicht erst mit. Hixin sah zu, wie Xuexing ging, und erlaubte sich erst ein Lächeln, als er nicht mehr zu sehen war.
„Beseitige das“, befahl Hixin dem Sklaven und gab ihm das Pergament.
***
„Ich möchte eine Klinge“, sagte Kil'ruk.
Der Bernschmied wirkte irritiert. „Warum?“
„Ich brauche Krallen.“
„Wie bitte?“
„Ich habe gesehen, wie die Mantis am Boden mit Klingen kämpfen“, sagte Kil'ruk.
„Ich möchte es ihnen gleichtun.“
„Ihr seid ein Flieger“, sagte der Bernschmied. „Dafür seid Ihr nicht bestimmt.“
„Die Flügellosen können die Zinnen nicht erreichen“, sagte Kil'ruk. „Der Aufstieg ist zu gefährlich. An der gesamten Unterseite der Mauer liegen Haufen toter Mantis. Ich habe Flügel. Ich kann die Mauer von oben erreichen.“
„Dafür seid Ihr nicht bestimmt“, wiederholte der mittlerweile völlig verwirrte Bernschmied. „Ihr könnt doch noch den Willen der Kaiserin spüren, nicht? Sie befiehlt Euch, in der Luft zu bleiben.“
„Ich werde ihre Krallen sein“, murmelte Kil'ruk.
„Das verstehe ich nicht.“
„Dann ist unser Gespräch beendet.“
Bei Sonnenuntergang am zehnten Abend schaffte Kil'ruk einen Sturzflug aus einer Höhe von 75 Schritten.
Am vierzehnten Tag seines Lebens gewann Kil'ruk die Gunst der Kaiserin.
Kil'ruk und der Rest des Schwarms ließen Ladungen über der Mauer herabfallen, während sie sicher außerhalb der Reichweite von Angreifern schwebten. Das Gefühl der Nutzlosigkeit nagte weiterhin an Kil'ruk und doch fügte er sich dem Befehl der Kaiserin und ließ Gift auf die niederen Kreaturen herabregnen.
Sein Netz war erst zu einem Teil leer, als er seltsame Geräusche hörte – erst ein Knistern, dann ein tiefes, stotterndes Krachen, als würde ein riesiger Baumstamm im Sturm entzweibrechen.
Kil'ruks erste Reaktion war Verwirrung. Solch ein seltsames Geräusch hatte er noch nie zuvor gehört. Kurz darauf erfüllten erschrockene Schmerzensschreie die Luft. Im Norden stürzten fünf Flieger zusammen mit Fleisch- und Flügelstücken herab. Die anderen Mantis klickten und zirpten beunruhigt. Bogenschützen? Vielleicht mit verbesserten Bogen? Bei vorherigen Angriffen hatten sie keine große Gefahr dargestellt.
Kil'ruk suchte kurz den Boden ab und entdeckte am Rand des Mogulagers hinter der Mauer etwas Seltsames. Aus seiner Perspektive wirkte es zuerst wie eine Bienenwabe, doch als er genauer hinsah, erkannte Kil'ruk, dass es sich um ein Röhrenbündel handelte, das so hoch aufragte wie ein Mogu. Weißer Rauch kam aus den Öffnungen.
Sie hatten das Röhrenbündel mit Rädern versehen und zielten damit direkt auf den Mantisschwarm.
Sklaven huschten vor der Bienenwabe umher und steckten kleine Mengen Kieselsteine in die Röhren.
Ein weiteres Knistern erfüllte die Luft.
Kil'ruk begriff gerade noch rechtzeitig.
***
Xuexing füllte die Waffe von hinten mit einem gewaltigen Schwall arkaner Macht.
BUMM.
Das Geräusch der Explosion übertönte alles andere und die Erschütterung fühlte sich an wie ein Hammerschlag auf die Brust. Weißer Rauch verdeckte ihm die Sicht. Er sah die unklaren Umrisse mehrerer Pandarensklaven, die vor dem Huatang auf dem Boden lagen. Höchstwahrscheinlich tot. Xuexing hatte nicht gewartet, bis sie aus dem Weg gegangen waren.
Das würde die anderen lehren, schneller zu sein.
Als der Rauch sich verzog, konnte man die Auswirkung der Waffe erkennen. Der erste, etwas zu breit angelegte Schuss hatte nur wenige der Flieger am nördlichen Rand des Schwarms getötet, doch der zweite hatte sein Ziel genau getroffen. Dutzende Mantisflieger stürzten ab. Einige fielen in Stücken herunter. Xuexing entdeckte sogar einen, der sich noch mit bewegungslosen Flügeln an sein Netz klammerte. Vielleicht drei oder vier Flieger des gesamten Schwarms waren unverletzt davongekommen und besaßen genug Verstand, umzukehren und in ihr Land zu fliehen, wo sie außerhalb von Xuexings Reichweite waren.
„Nachladen!“, brüllte Xuexing. Die Sklaven schaufelten weiteren Kiesel und kleine Steine in die Röhren und klopften alles fest. Xuexing sammelte vorsichtig Energie, um noch einmal zu feuern. Ein dritter Schuss war höchstwahrscheinlich nicht nötig, aber warum sollte er es darauf ankommen lassen? Diese Waffe funktionierte besser, als er es sich erträumt hatte.
Den Himmel über diesem Abschnitt des Schlangenrückens hatte er mit zwei Salven freigeräumt. Nur zwei. Ich muss den Zandalari meinen Dank dafür aussprechen, dachte er. Im Gegensatz zu den Mogu beherrschten die Trolle das Arkane nur in primitiver Weise, doch die Beobachtung ihrer Techniken hatte Xuexings Gedanken in ganz neue Richtungen gelenkt.
Wer sonst unter den Mogu hätte sich vorstellen können, dass kleine Kiesel, auch wenn sie mit arkaner Energie auf unglaubliche Geschwindigkeiten beschleunigt wurden, solch einen Schaden verursachen konnten?
***
Die Schreie der Verwundeten kamen von allen Seiten. Fast der gesamte Schwarm war zerfetzt worden. Steine und Kiesel hatten Dutzende von Fliegern verletzt und ihre Panzer durchlöchert. Unkontrolliert stürzten sie vom Himmel.
Auch Kil'ruk stürzte ab, jedoch nicht unkontrolliert. Er würde nicht sterben.
Er machte einen Sturzflug. Wie der Falke.
Kurz vor dem Schuss der Bienenwabe hatte Kil'ruk das Netz dicht an den Panzer gezogen und seine Flügel hinter dem Körper angelegt. Die Ladungen im Netz hatten einen Großteil der Geschosse abgehalten und der Rest der Steine war zischend an ihm vorbeigeflogen.
Der Wind rauschte angenehm schnell an ihm vorbei. Als Kil'ruk herunterschoss, fühlte er sich unglaublich beflügelt. Die Mogu hatten keinen dritten Schuss abgegeben. Wahrscheinlich dachten sie, dass alle Flieger tot seien.
Es war Zeit, ihnen diesen Irrtum vor Augen zu führen. „Könnt Ihr mich sehen, Kaiserin?“, flüsterte Kil'ruk. Der Schreck des Angriffs hatte ihn ihr Lied vergessen lassen, doch nun konnte er wieder hören, wie sie sanft sang und die Schwarmgeborenen befehligte. Lag in ihrer Melodie etwa eine Spur von Kummer?Hatte sie gesehen, was die neue Waffe der Mogu angerichtet hatte?
Kil'ruk ließ das Netz fallen. Langsam schien es fortzuschweben. Er breitete seine Flügel ein wenig aus und die vorbeirauschende Luft streifte sie. Es schmerzte. Der Wind drohte, ihm die Flügel vom Leib zu reißen. Dieses Mal würde er sich aus weitaus größerer Höhe herunterstürzen als bei all seinen vorherigen Versuchen. Vielleicht aus 200 Schritten Höhe. Vielleicht aus 250.
„Kaiserin, schaut mir zu.“
***
„Sie sind alle tot!“, rief Xuexing. Nachdem er sein Handgelenk vorsichtig gedreht hatte und seinen Geist entspannte, löste sich die gesammelte arkane Energie zischend auf. „Weiter nach Norden!“
Im Norden befand sich das Tor der Untergehenden Sonne und die größte Ansammlung von Mantis. Zuerst würde er alle restlichen Flieger vernichten und dann ...
Ein Schatten fiel auf Xuexing. Er hatte kaum Zeit, nach oben zu schauen, bevor ein zornerfüllter Mantis unter ohrenbetäubenden Kreischen über ihn herfiel.
***
Kil'ruk landete mit den Füßen auf dem Bauch des Mogu. Er versuchte, mit seinen Vorderbeinen die Brust der Kreatur zu verletzen, aber der Aufprall war ziemlich heftig gewesen, sodass der Mogu auf den Boden fiel und Kil'ruk heruntergeworfen wurde. Er rutschte durch den Schlamm und kam an den dünnen Stoffwänden eines Sklavenzelts rollend zum Stillstand.
Kil'ruk dachte kurz nach. Ich muss das Landen üben.
Der Flieger kämpfte gegen seine Benommenheit an und sprang auf die Füße. Er war umzingelt von niederen Kreaturen, doch seine spektakuläre Ankunft hatte sie nervös gemacht. Die Pandaren und selbst die Saurok wichen vor Erstaunen instinktiv zurück.
Zu Kil'ruks Füßen lag ein toter Pandaren mit seltsamen Wunden – vielleicht von der Bienenwabe getötet. Von seiner eigenen Seite getötet. Ein abgenutztes Schwert lag neben der Kreatur. Schlechter, billiger Stahl. Jämmerlich. Kil'ruk hob es trotzdem auf. Einen Moment lang fühlte sich das ungewohnte Gewicht in seiner Hand eigenartig an.
Doch dann erinnerte sich Kil'ruk an den Falken, an seine Krallen und daran, wie elegant er sich seine Beute geschnappt hatte. Jetzt habe ich eine Kralle.
Plötzlich wurde das Schwert zu einer Erweiterung seines Körpers. Es fühlte sich in seiner Hand nicht seltsamer an als die Flügel auf seinem Rücken.
Kil'ruk hörte eine ohrenbetäubende Explosion auf der Mauer. Er und die niederen Kreaturen zuckten zusammen. Ach ja. Mein Netz. Als er es im Sturzflug fallen gelassen hatte, hatten sich noch viele Ladungen darin befunden, die beim Erreichen der Zinnen gleichzeitig explodierten. Eine Wolke aus Gift und Säure dehnte sich rasch aus. Zumindest würde sie die Verteidiger der Mauer eine Zeit lang beschäftigen.
Kil'ruk flog zur Menge der niederen Kreaturen bei der Bienenwabe. Seine neue Kralle sorgte schnell für Blutvergießen.
***
Es war Wahnsinn. Mantisflieger kämpften niemals am Boden und auf kurze Distanz. Nysis brüllte den anderen Saurok einen Befehl zu: Einkreisen und angreifen. Selbst der beste Mantiskämpfer würde gegen diese Taktik schließlich verlieren. Wenn die Pandarensklaven schlau wären, würden sie aus dem Weg gehen. Wenn nicht ...
Der verrückte Flieger sprang auf einen flüchtenden Pandaren und schnitt mit den Vorderbeinen durch seinen Unterleib. Nysis stürmte mit schwingendem Schwert herbei, aber die Flügel des Mantis summten und die Kreatur erhob sich außer Reichweite.
Nysis stockte.
Der Mantis ließ sich fallen und streckte einen anderen Saurok mit einem fast schon beiläufig wirkenden Hieb nieder. Dann flog er wieder in die Luft. Einkreisen würde also nicht funktionieren. Er hat Flügel. Beim Gedanken lief Nysis ein Schauer über den Rücken. Wenn sie ihn nicht einkreisen konnten, was konnten sie sonst tun? Der Mantis beugte sich über einen sterbenden Saurok und Nysis machte einen Ausfallschritt, um die unbewaffnete Seite der Kreatur anzugreifen.
Zu seiner Überraschung wurde sein Schwerthieb von Stahl aufgehalten. Der Mantis hatte eine zweite Klinge aufgehoben – das Schwert des sterbenden Saurok.
Der Flieger wirbelte herum und schlug mit beiden Klingen zu. Nysis konnte nur eine abwehren. Eine tiefe, tödliche Verletzung klaffte in seiner Brust. Der Mantis drehte sich weg und sprang zu neuen Gegnern, während er etwas Seltsames von einer „Kaiserin“ rief.
Nysis stürzte zu Boden. Sein warmes Blut lief in den kalten Schlamm.
Wahnsinn.
***
Das kann nicht sein. Xuexing schoss eine weitere Salve ab und verfehlte erneut sein Ziel. Das kann einfach nicht sein. Der andere Mogu in der Nähe stolperte zur Seite, am Oberschenkel eine Wunde bis zum Knochen. Das ist doch nur ein einzelner Mantis! Der Flieger erhob sich in die Luft, als eine Salve den Boden unter ihm in Brand steckte.
Für Finesse war keine Zeit. Xuexing ging in die Hocke, hielt die Hände nebeneinander und sammelte jedes Quäntchen Kraft, das er sich traute. Er achtete nicht mehr darauf, dass er direkt neben dem neuen Huatang stand. Er wusste, das Huatang war empfindlich und seine Reaktion auf überschüssige Energie könnte verheerend sein.
Aber darum würde er sich später kümmern. Zuerst musste ...
Tschack.
Xuexing starrte verwundert auf die Klinge, die aus seiner Brust ragte. Der Mantis hatte eines seiner Schwerter geworfen. Das kann nicht sein, jammerte Xuexing in Gedanken. Er stürzte zu Boden.
Nein. Diesen Mantis würde er nicht davonkommen lassen. Xuexing sammelte weiter arkane Kraft, als sich sein Blickfeld verdunkelte. Die Luft um ihn herum schien von knisternder Energie förmlich durchdrungen zu sein.
Er hob eine zitternde, schwache Hand in Richtung des Fliegers.
***
Knistern erklang überall. Am Ausdruck auf dem Gesicht des sterbenden Mogu erkannte Kil'ruk alles, was er wissen musste. Ohne nachzudenken, schoss der Flieger in die Luft.
Mit seinem letzten Atemzug hob der Mogu die Hand in Kil'ruks Richtung, doch kurz bevor er seinen Zauber wirken konnte, verließ der letzte Lebensfunke seinen Körper. Die Kreatur erschlaffte und die von ihr gesammelte Energie entwich plötzlich in alle Richtungen.
Die Bienenwabe erbebte und verschwand in einer gleißenden Welle von reinem Licht. Kil'ruk stieg weiter in den Himmel auf, bis die Echos der Explosion verklungen waren.
Weit unten konnte er sehen, wie der Rand des Mogulagers brannte. Zelte in der Nähe und Verteidiger waren von der Explosion zerrissen worden. Selbst auf der Hinterseite des Schlangenrückens glaubte er, Brandspuren zu entdecken. Was auch immer das für eine schreckliche Waffe sein mochte, sie war instabil. Wer versuchte, sie zu benutzen, musste mit einer Katastrophe rechnen. Kil'ruk würde sich daran erinnern, wenn er noch einmal eine sähe.
Als er zurück zum Bernschmied flog, erkannte er, dass sich etwas verändert hatte. Die Kaiserin sang ein neues Lied.
Erblickt unsere Macht, waren die Worte der Kaiserin. Erblickt unsere Stärke. Erblickt den Rauch, der aus dem Lager der niederen Kreaturen aufsteigt. Ihre neue Waffe ist fort, zerstört von einem einzigen meiner Bevorzugten.
„Kaiserin?“ Kil'ruk atmete schwer. „Kaiserin, habt Ihr zugesehen?“ Seine Fühler rollten sich vor Ekstase auf. Die Kaiserin sang von ihm. Mein Bevorzugter.
Die Schwarmgeborenen auf dem Boden starrten nach oben, als er an ihnen vorbeiflog. Schwärme von Fliegern gesellten sich dazu und folgten ihm nach Hause. Erblickt meinen Zorn, der aus der Höhe zuschlägt, sang die Kaiserin. Erblickt meinen Tod, der von oben herabschießt. Seht den Windschnitter.
Der Schwarm wiederholte ehrfürchtig ihre Worte. „Windschnitter“.
„Kaiserin“, sagte Kil'ruk. Sie hatte ihn gesehen.
Windschnitter.
Als Kil'ruk zu Klaxxi'vess ging, entdeckte er einen Falken, der bei den Kyparibäumen kreiste.
Es war derselbe Falke, den er Tage zuvor gesehen hatte.
Kil'ruk flog in seine Richtung. Der Vogel sah ihn und tauchte ab.
***
Falke, dachte Kil'ruk einige Minuten später, schmeckt köstlich.
„Wir haben viel zu besprechen, Windschnitter“, sagte Klaxxi'va Pok.
Kil'ruk trug seine beiden neuen Klingen, die auf Befehl der Kaiserin hin aus dem reinsten verfügbaren Kyparit gefertigt waren. Sie glänzten im Sonnenlicht. Nur ihrem Bevorzugten wird solch eine Ehre zuteil. „Wir können reden, sobald die niederen Kreaturen vernichtet sind.“
„Wir werden Euch nicht lang aufhalten.“
„Die Kaiserin hat den Tod aller niederen Kreaturen angeordnet“, sagte Kil'ruk. Der Gesichtsausdruck des älteren Mantis war seltsam. Es war fast so, als wäre er enttäuscht, dass Kil'ruk die Befehle der Kaiserin achtete. „Jede Verzögerung ist inakzeptabel.“
„Sehr gut“, sagte Klaxxi'va Pok mit ruhiger Stimme. „Seid vorsichtig. Ich glaube, die niederen Kreaturen werden alles in ihrer Macht Stehende tun, um Euch davon abzuhalten, Euer volles Potenzial zu entfalten. Vielleicht besitzen sie sogar weitere abscheuliche Waffen wie die Bienenwabe. Sie werden sie gegen Euch einsetzen.“ „Gut. Dann werde ich auch sie zerstören.“
***
Kriegsfürst Gurthan kraulte sanft die Stirn des geduldig an seiner Seite sitzenden Qilen, als er sah, wie der einzelne Mantis im Sturzflug in Richtung der Zinnen in der Ferne flog. Dünne, dunkle Pfeile schossen hinauf, verfehlten ihn jedoch. Der Mantis verschwand hinter der Mauer, sodass Gurthan dem Kampf nicht mehr folgen konnte. Gemessen an den Schreien, die durch das Lager schallten, schlugen sich seine Verteidiger nicht allzu gut.
„Erklärt mir doch noch einmal, Hixin“, sagte Gurthan, während er seinen Blick auf den Schlangenrücken gerichtet hielt, „warum sich Xuexing ohne meine Genehmigung in den Kampf gestürzt hat?“
„Es scheint, als sei er sich seiner Fähigkeiten zu sicher gewesen, Kriegsfürst“, antwortete Hixin. „Ich hatte ihn natürlich seit Wochen darum gebeten, sich nach Fertigstellung des Huatang sofort an Euch zu wenden, damit Ihr gemeinsam mit ihm eine passende Strategie ausarbeiten könnt ...“
Gurthan sagte nichts. Stattdessen griff er in seine Tasche, holte ein kleines Stück Pergament hervor und hielt es ausgestreckt hin. Hixin wurde sofort still.
Fulmin, einer der Unterberater, nahm das Pergament und begutachtete es. Er schaute verwirrt. „Es trägt Euer Siegel, Kriegsfürst.“
„In der Tat“, sagte Gurthan.
Hixin trat hinter ihm von einem Fuß auf den anderen.
***
Der Bernschmied hatte ganze Arbeit geleistet. Die Doppelbernklingen lagen gut in Kil'ruks Händen. Die Rüstung passte perfekt, ohne ihn beim Fliegen oder Kämpfen zu behindern.
Kil'ruk schnitt eine Schneise mitten durch die Verteidiger. Heute hatten sie ihre besten Truppen geschickt. Sehr gut. Heute würde er unter Beweis stellen, dass selbst die Besten ihn nicht aufhalten können.
***
Selbst aus dieser Entfernung konnte Kriegsfürst Gurthan sehen, wie es dunkelrot von den Klingen des Mantis herabtropfte. Der Anblick eines einzelnen Mantis, der sich durch die Reihen der Verteidiger schnitt, machte ihn wütend. Es war erniedrigend. Genau so etwas hätte das Huatang verhindern sollen.
„Wisst Ihr, wo das Pergament gefunden wurde, Hixin?“, fragte Gurthan.
„Nein, Kriegsfürst.“
„Ein Pandarenjunge hat es gebracht. Einer Eurer Sklaven, wie ich hörte. Er sagte, dass er es beseitigen sollte, nachdem Ihr es Xuexing gezeigt hattet. Anscheinend ging er davon aus, einen weniger grausamen Herrn zu finden, wenn er Euren Verrat aufdeckt“, sagte Gurthan.
Die Reaktion kam umgehend und heftig. „Lügen“, fauchte Hixin. „Bringt ihn zu mir. Mal sehen, was er zu sagen hat, wenn ...“
„Das Kind ist tot.“ Kriegsfürst Gurthans Worte ließen Hixins Zunge einhalten. „Jeder Sklave, der ein offizielles Siegel des Klans Gurthan anrührt, muss natürlich exekutiert werden. Aber ich kann Euch versichern, Hixin, dass er ... ermutigt ... wurde, vor seinem Tod die Wahrheit zu sagen.“
Hixins Augen schossen nervös hin und her. „Kriegsfürst, Ihr könnt den Worten eines sterbenden Sklaven nicht vertrauen – eines Kindes! Ich habe Euch jahrelang treu gedient.“
„Ich erinnere mich an dieses Pergament“, sagte Kriegsfürst Gurthan. „‚Beweist Euer Potenzial bei Einbruch der Nacht.‘ Diese Worte habe ich vor mehr als drei Jahren verzaubert. Ich glaube, ich habe einen Bestienmeister darum gebeten, sein Können beim Abrichten von Kampfqilen unter Beweis zu stellen. Aufgrund der Umstände wurde das Dokument überflüssig und niemals ausgeliefert. Das Siegel blieb unangetastet und das Pergament kam in meine Archive. Seit Xuexings Ableben habe ich Nachforschungen angestellt. Anscheinend wurde das Pergament vor Kurzem gestohlen.“
„Kriegsfürst, ich ...“
„Ihr wart doch mehrere Jahre mein Oberarchivar, oder nicht, Hixin?“
Hixin fiel auf die Knie und stotterte eine Entschuldigung, die er nicht zu Ende bringen sollte. Kriegsfürst Gurthan spitzte den Mund und pfiff einmal lang und einmal kurz. Der zu seinen Füßen liegende Qilen sprang Hixin an die Gurgel. Der Berater – der ehemalige Berater – stieß einen unterdrückten Angstschrei aus.
Die unschönen Geräusche hielten nur kurze Zeit an, dann trottete der Qilen zurück an die Seite des Kriegsfürsten und leckte sich das Blut vom Maul. Die anderen Berater schienen ihren Blick von der Sudelei nicht abwenden zu können.
„Ich sollte“, sagte Kriegsfürst Gurthan zu ihnen allen, „die Wahrheit nicht durch das Jammern eines sterbenden Sklaven erfahren müssen.“
Er drehte sich zurück zur Mauer. „Alle hundert Jahre greifen die Mantis an. Alle hundert Jahre kämpfen wir, um sie abzuwehren, und sie ziehen sich zurück in ihr Gebiet, als ob sie uns niemals hätten angreifen wollen. Niemand weiß, warum.“
Gurthan senkte seine Stimme, bis fast nur noch ein Flüstern zu hören war. „Ich habe nicht das Kommando über den Schlangenrücken übernommen, um eine weitere Pattsituation zu erleben. Xuexings Waffe bot uns eine Gelegenheit, dies zu ändern, endlich die Kontrolle über das Gebiet hinter dem Schlangenrücken zu erlangen und endlich einen Angriff auf die Mantis zu starten. Diese Gelegenheit wurde zunichtegemacht. Es wird dauern, weitere Huatang zu bauen. Was können wir noch tun?“
Die Berater schwiegen weiter und die meisten starrten immer noch auf Hixins Überreste. Schließlich räusperte sich Fulmin. „Kriegsfürst, das Relikt.“
Kriegsfürst Gurthan warf ihm einen kurzen Blick zu. Das Relikt war ein Projekt, mit dem sich Xuexing Jahre vor dem Angriff des Mantisschwarms befasst hatte. Es war ein faszinierendes Objekt arkanen Ursprungs. Bei keinem Experiment war jedoch mehr als ein seltsames Summen herausgekommen. „Das Relikt ist keine Waffe, Fulmin.“
„Und doch könnte man es als solche verwenden.“
„Wie denn? Soweit ich weiß, war es einst zur Kommunikation gedacht.“ Gurthan hielt inne. Ihm kam eine interessante Idee. „Deutet Ihr etwa an, dass wir mit den Mantis verhandeln könnten?“ Vielleicht könnte man sie ja überreden, sich dem Klan Gurthan anzuschließen ...
„Nein, Kriegsfürst. Das Relikt erzeugt Geräusche, die wir nicht hören können. Xuexing hat vor langer Zeit damit experimentiert, jedoch keine Verwendung dafür gefunden. Als er es mit einer großen Menge arkaner Energie testete, beschrieb er den Effekt als ‚Klangmauer‘ jenseits unseres Hörvermögens“, sagte Fulmin. „Angesichts der Gefahren beim Benutzen des Relikts sah er keinen Nutzen darin.“
„Worauf wollt Ihr hinaus?“, fragte Gurthan.
„Xuexing hat seine Experimente im Tal durchgeführt. Jetzt sind wir wesentlich näher an der Mauer. Ich schlage vor, dieses Relikt mit so viel Energie wie möglich dauerhaft zu überladen. Ich möchte diese ‚Klangmauer‘ ausprobieren. Wenn ich richtig liege, dürfte die arkane Energie die Kommunikation der Mantis nicht erleichtern, sondern sie vollkommen verhindern.“
Es dauerte eine kurze Zeit, bis Kriegsfürst Gurthan verstanden hatte. „Ihr sprecht von einer unbewiesenen Theorie.“
„Ja, Kriegsfürst.“
„Dass die Mantiskaiserin ihrem Schwarm aus der Entfernung Befehle und Anweisungen erteilt. Dass sie im Geist zum Schwarm sprechen kann.“
„Ja, Kriegsfürst.“
Gurthan ging die Auswirkungen in seinem Kopf durch. „Ihr glaubt, dass es eine Verbindung gibt, dass Relikt und Kaiserin auf dieselbe Art kommunizieren. Was genau würde das Relikt nach einer Überladung tun? Ihre Worte verbergen?“
„Im Grunde genommen ja, Kriegsfürst. Vielleicht können wir sie übertönen. Auf jeden Fall aber dürfte das Relikt die Mantis verwirren. Im besten Falle ...“ Fulmin zuckte mit den Schultern. „Ich bin mir nicht sicher. Der Effekt könnte drastisch sein. Ich schätze, dass er eine extreme Reaktion hervorrufen wird.“
Kriegsfürst Gurthan kratzte wieder die Stirn des Qilen. „Wenn Ihr unrecht habt, gewinnen wir nichts.“
„Wenn ich unrecht habe, verlieren wir nichts“, sagte Fulmin.
Kriegsfürst Gurthan lächelte. „Außer Euch. Man hat mir gesagt, das Relikt sei instabil. Einmal hat es eine kleine Energiemenge hundertfach verstärkt und zurück in Richtung des Arkanisten geschickt. Sehr unangenehm. Sehr unschön.“ Er blickt hinunter zu Hixins Überresten.
Fulmin neigte den Kopf. „Ich bin gewillt, das Risiko einzugehen.“
„Findet das Relikt. Bringt es her.“
„Ja, Kriegsfürst.“
***
Kil'ruk ließ die Mauer hinter sich. Seine Arme und Vorderbeine schmerzten, aber er freute sich, gute Arbeit geleistet zu haben. Ein winziger Schnitt an seinem rechten Bein schmerzte ein wenig, doch ansonsten hatte er beim Abschlachten der niederen Kreaturen keine größeren Verletzungen davongetragen.
„Kaiserin, habt Ihr zugesehen?“, murmelte er. Der Gesang der Kaiserin erfüllte Kil'ruks Geist und ...
Ein schreckliches Geräusch erklang. Ein fürchterliches, schreckliches, überwältigendes Geräusch. Und dann war es verschwunden.
Sie war verschwunden.
Einfach so.
Kil'ruk blinzelte und fiel vom Himmel. „Kaiserin?“, fragte er. Seine Flügel blieben unbeweglich. Der Boden raste auf ihn zu. „Kaiserin?“
Sie ist fort. Panik stieg in ihm auf. Dort, wo die Stimme der Kaiserin zuvor gesungen hatte, war nichts mehr zu hören. Völlige Stille. „Kaiserin!“
Kil'ruk dachte vor dem Auftreffen auf dem Boden noch daran, zu fliegen. Wie taub schwebte er in der Luft und versuchte angestrengt, ihre Stimme zu hören.
Sie ist fort. Warum ist sie fort? Was ist mit ihr geschehen? Ist sie ...?
***
Die plötzliche Stille aus dem Westen hing in der Luft. Einige Augenblicke lang waren alle Geräusche der Mantis verstummt. Dann wallten Kreische von Qual, Schrecken und Kummer über das Land.
Über Kriegsfürst Gurthans Gesicht huschte ein Lächeln.
„Sechs Tage. Es sind jetzt sechs Tage“, sagte Klaxxi'va Pok. „Hat jemand von Euch noch Hoffnung, dass die Schwarmgeborenen sich plötzlich wieder erheben und in den Kampf zurückkehren?“
„Nein“, sagte ein anderes Ratsmitglied. „Es sei denn, wir möchten versuchen, die Kaiserin wieder ins Freie zu bringen.“
Das war kein ernst gemeinter Vorschlag. Drei Tage zuvor hatten die Klaxxi die Kaiserin überredet, die Schwarmgeborenen im Freien von Angesicht zu Angesicht zu begrüßen, um zu beweisen, dass sie nicht tot war, sondern nur vom seltsamen Relikt der Mogu zum Schweigen gebracht worden war. Abertausende Schwarmgeborene hatten sich in Klaxxi'vess versammelt, doch als sie erschien, erkannte sie niemand. Sie war nicht mehr imstande, in ihren Köpfen zu ihnen zu sprechen, und damit war auch ihr Einfluss verschwunden. Alle starrten sie einfach nur an.
Die einzige gute Nachricht war, dass die Schwarmgeborenen nicht verschwunden waren. Unzählige Mantis wanderten immer noch ziellos in Klaxxi'vess herum. Zumindest würden sie als lebende Schilde gegen den unvermeidlichen Angriff der Mogu dienen. Keiner der Klaxxi hatte auch nur einen Funken Hoffnung, dass sie versuchen würden zu kämpfen.
Klaxxi'va Pok humpelte in die Mitte der Kammer. Eine Verletzung, die er sich drei Tage zuvor zugezogen hatte, bereitete ihm starke Schmerzen. Er blieb neben dem großen runden Klumpen aus glattem Bern stehen, den man erst eine Stunde zuvor gefunden und nach Klaxxi'vess gebracht hatte. Darin befand sich eine Legende, ein Held der Mantis, der für den Fall einer großen Krise konserviert worden war. Ein Getreuer.
„Dann ist das unsere einzige Chance“, sagte Klaxxi'va Pok ausdruckslos.
„Der Windschnitter soll die Rolle des Erweckers übernehmen“, sagte ein anderes Ratsmitglied. Alle drehten sich zu ihm. „Ihr wisst genauso gut wie ich, dass er verwirrt ist. Er ist nicht so unbrauchbar wie die anderen, aber in seinem Geist ruft er immer noch nach der Stimme der Kaiserin. Die Anwesenheit eines Getreuen wird ihn vielleicht aus seiner Trübsal holen.“
„Bringt ihn her.“
***
Ein Geräusch wallte durch die Stille.
Der Getreue öffnete zum ersten Mal seit Jahrhunderten die Augen.
Das Gefäß seiner Konservierung, das Bernei, zerfiel um ihn herum. Luft strömte in seine Lungen. Es schmerzte. Der Mantis stürzte zu Boden und würgte unkontrollierbar. Der Bern hatte ihn am Leben erhalten und sein Körper rebellierte gegen seine Abwesenheit.
Es dauerte ein wenig, bis er wieder die Kontrolle über sich zurückerlangte. Vor ihm lag eine große Menge Kypariharz, an der er sich labte. Er spürte, dass er von einigen Mantis beobachtet wurde, die ihn jedoch nicht unterbrachen. Es war ein Zeichen des Respekts. Sie täuschten vor, seine Schwäche nicht zu bemerken.
Zumindest vorerst.
Schon bald kehrte seine Kraft langsam zurück. Seine Gliedmaßen zitterten, aber er zwang sich, zu stehen. „Ich höre den Ruf der Klaxxi“, sagte Ninil'ko mit krächzender Stimme. „Ich bin zurückgekehrt.“
Einer der anderen Mantis im Raum sprach. „Ninil'ko der Blutrufer, geht es Euch gut?“, fragte er.
„Ja“, sagte Ninil'ko erfreut. Wenn sie seinen Namen kannten, kannten sie auch seinen Ruf. „Sagt mir, welche Krise Euch dazu geführt hat, mich zu erwecken. Ich erwarte Eure ...“
Er blinzelte. Vor ihm standen drei Mantis, von denen zwei das traditionelle Gewand der Klaxxi'va trugen. Keiner von ihnen war sein Erwecker. Ninil'ko konnte es erkennen. Er spürte, dass der dritte Mantis mit der interessanten Rüstung und den Waffen ...
„Ihr seid kein Mitglied der Klaxxi. Wie ist Euer Name?“
„Ich bin Kil'ruk. Manche nennen mich den Windschnitter.“
Manche? Er ist kein Getreuer?, dachte Ninil'ko. Interessant. Warum haben die Klaxxi ihn als Erwecker auserwählt?
„Blutrufer“, sagte einer der Klaxxi'va. „Wir brauchen Eure Hilfe. Der Zyklus ist in Gefahr.“
Ninil'ko schob seine Neugier auf den dritten Mantis beiseite. „Sagt mir, was Ihr benötigt.“
„Die niederen Kreaturen haben angegriffen. Die Kaiserin steht kurz vor der Auslöschung“, sagte der andere Klaxxi'va.
Dann ersetzt sie durch eine neue, dachte sich Ninil'ko insgeheim. Falls die Klaxxi'va sich darauf nicht schon vorbereitet hatten, ließen es die Umstände jedoch nicht zu und die Option war nicht erwähnenswert. „Ich muss mir die feindlichen Truppenbewegungen ansehen, bevor ich einen Plan ausarbeiten kann.“
Kil'ruk legte den Kopf leicht zur Seite. Er wirkte seltsam verwirrt, doch seine Stimme war fest. „Ich kann Euch tragen, Blutrufer. Ich zeige Euch den Feind.“
Ninil'ko warf den beiden Klaxxi'va einen Blick zu. Beide nickten. „Gehen wir, Erwecker.“
***
In den sechs Tagen seit dem Durchbruch gegen die Mantis war auf der Terrasse von Gurthan nur ein Gebäude erbaut worden. Sklaven hatten jedoch Tag und Nacht gearbeitet und die Fundamente und Mauern für ein Dutzend weitere errichtet. Das erste Gebäude sollte erst einmal als Einsatzzentrale dienen, entschied Kriegsfürst Gurthan. Nach der völligen Vernichtung der Mantis würde es sich dafür anbieten, Botschafter der anderen Moguklans zu empfangen. Zweifelsohne würden sie um seine Gunst buhlen, wenn das gesamte Land westlich des Schlangenrückens plötzlich nicht mehr bewohnt wäre.
Fulmin führte Kriegsfürst Gurthan hinein. „Ich möchte Euch etwas zeigen“, sagte der Berater.
An der südlichen Wand der Einsatzzentrale stand ein eigenartiges Objekt. „Ich habe es in den letzten Tagen für Euch vorbereiten lassen“, sagte Fulmin. „Nun ist es endlich fertig.“
Kriegsfürst Gurthan inspizierte das Objekt genau. Es war eine große bronzeüberzogene Urne. Sie schien zu leuchten und er spürte, wie Überreste arkaner Energie aufstiegen wie Rauch von einem Räucherstäbchen. „Wozu dient es?“
„Ich habe mir gedacht, Kriegsfürst, dass wir nach dem endgültigen Sieg über die Mantiskönigin einen passenden Ort benötigen, um ihre Überreste auszustellen“, sagte Fulmin.
Das tiefe Lachen des Kriegsfürsten grollte durch den Raum. „Ich bewundere Euren Weitblick.“
„Außerdem“, fügte der Berater hinzu, „müssen wir die Kaiserin vielleicht nicht einmal töten, um ihre Macht zu rauben.“
„Erklärt es mir.“
„Mit einem einfachen arkanen Zauber können wir den Geist der Kaiserin in dieser Urne erhalten. Ihr Körper wird vergehen, aber ihr Geist wird hier gefangen sein. Für sie wird es wie ein tiefer Schlaf mit beunruhigenden Träumen sein“, sagte Fulmin. „Und falls irgendein anderer Mogu anzweifeln sollte, dass Ihr die Mantis wirklich erobert habt, müsst Ihr nur ihren Geist beschwören. Ihr Wesen wird unter Eurem Befehl stehen. Ihr Geist wird Eure Trophäe sein.“
Der Kriegsfürst verzog das Gesicht. „Nein. Wenn die Mantis wissen, dass sie noch lebt, könnten sie versuchen, sie zu retten. Ich werde ihnen keine Gelegenheit bieten, sie zurückzuholen.“
„Ja“, sagte Fulmin mit einem Lächeln, „deshalb habe ich den Zauber so konzipiert, dass er von den Mantis nicht verändert werden kann. Sie werden die Urne nicht beschädigen können, den Geist im Inneren befreien schon gar nicht.“
„Das ist ein zu großes Risiko.“
„Ich werde mit meinem Leben dafür einstehen“, sagte Fulmin. „Fangt die Mantiskönigin. Schließt ihren Geist ein. Dann werft die Urne dem Rest der Insekten vor die Füße. Sollte ihr einer von ihnen auch nur einen Kratzer zufügen, könnt Ihr meinen Kopf haben.“
Kriegsfürst Gurthan betrachtete ihn einen Moment lang. Nur selten war Fulmin gewillt, sein Leben auf etwas zu verwetten, und Gurthan musste sich eingestehen: Der Gedanke, den Geist der Mantiskaiserin als Andenken an den Sieg zu behalten, war sehr reizvoll.
„Fulmin, ich glaube, Ihr habt größere Verantwortung verdient, sobald die Mantis bezwungen sind“, sagte Kriegsfürst Gurthan. „Könnt Ihr mir diesen Zauber beibringen?“
„Ja.“
„Dann tut es. Sofort.“ Ein breites Lächeln legte sich über Kriegsfürst Gurthans Gesicht. „Ich möchte den Mantis noch heute ein Ende bereiten.“
***
Die Aussicht aus der Luft war unglaublich. Ninil'ko kauerte auf dem Rücken des Windschnitters und ließ sich immer weiter hinauftragen, bis sie eine Höhe von fast 1000 Schritten erreicht hatten.
Der Getreue sagte nichts und auch Kil'ruk schwieg. Ninil'ko sah sich einfach nur die Truppenbewegungen der Mogu an. Die Situation war ziemlich aussichtslos. Die Klaxxi'va hatte nicht übertrieben. Falls die niederen Kreaturen nicht vorsichtig vorgingen, würde ihre Armee Klaxxi'vess wahrscheinlich vor Sonnenaufgang angreifen, und obwohl sich Tausende dicht gedrängter Schwarmgeborener um Klaxxi'vess befanden, würden sie nicht sonderlich viel Widerstand bieten.
Ninil'ko konnte das Fehlen der Stimme der Kaiserin spüren, aber es bedeutete ihm wenig. Er kannte sie nicht. Und selbst wenn, diente er nun einem neuen Zweck. Kaiserinnen kommen und gehen. Ninil'ko tippte Kil'ruk auf die Schulter und der Flieger zuckte überrascht zusammen, als ob er aus einem Dösen herausgerissen worden wäre. Seltsam, dachte der Getreue.
„Erwecker, wer von den Schwarmgeborenen ist am geschicktesten im Angriff auf die Mauer?“
„Ich“, sagte der Flieger. Das war die erste gute Nachricht, die Ninil'ko seit seinem Erwachen gehört hatte. Fetzen eines Plans schossen ihm durch den Kopf, allerdings gab es noch ernsthafte Herausforderungen zu bewältigen. „Diese Mauer hat es zu meiner Zeit noch nicht gegeben.“
„Könnt Ihr sie bezwingen?“
„Ich weiß es nicht.“
„Also ist das Schicksal der Kaiserin besiegelt.“ Kil'ruk klang niedergeschlagen.
„Das habe ich nicht gesagt“, erwiderte Ninil'ko. „Der Zyklus wird um jeden Preis bewahrt werden.“
„Aber das Schicksal der Kaiserin ist besiegelt.“
Ninil'ko schwieg einen Moment lang. Der Geist des Windschnitters ist noch unreif. Er ist der Kaiserin treu, nicht den Klaxxi. Es war ein beunruhigender Gedanke, der jedoch etwas Interessantes aufzeigte. Er ließ den Gedanken durch seinen Kopf jagen und versuchte, hinter das Geheimnis zu kommen.
Dann ergab alles einen Sinn. Ninil'ko verstand, warum die Klaxxi dem Windschnitter erlaubt hatten – oder ihn wahrscheinlich gezwungen hatten –, ihn zu erwecken. Ein Bernschmied hatte vor langer Zeit spekuliert, dass das Erwecken eines Getreuen aus seinem Bernschlummer vergleichbar sei mit einer Kaiserin, die ihre Schwarmgeborenen zur Welt brachte. Die Idee schien nicht völlig unlogisch zu sein. Konserviert zu werden, war schmerzhaft. Es fühlte sich an, als ob man sterben würde.
Wer konnte schon sagen, ob das Erwecktwerden nicht einfach eine Wiedergeburt bedeutete? Junge Mantis waren vollkommen abhängig von der Kaiserin. Vielleicht würde ein Getreuer eine ähnliche Bindung zu seinem Erwecker verspüren, selbst wenn es nur ein lauer Abguss solch blinder Loyalität war.
Ninil'ko erkannte, dass diese Theorie nicht vollkommen falsch war. Selbst jetzt ...
Er schüttelte heftig den Kopf. Er sah den Plan ganz klar in seinem Geist. Er wusste, wie er die Mogu aufhalten konnte. Aber Kil'ruk der Windschnitter musste sich vollkommen auf die bevorstehende Aufgabe konzentrieren und durfte sich von der Abwesenheit der Kaiserin nicht verwirren lassen.
Er wird so oder so sterben, vorher muss er jedoch so viel Schaden wie möglich anrichten, dachte Ninil'ko. „Erwecker, seit wann dient Ihr der Kaiserin?“
„Seit ich auf dieser Welt erschienen bin“, kam die irritierte Antwort.
„Seit wann dient Ihr den Klaxxi?“, fragte Ninil'ko. Da Kil'ruk nicht antwortete, hakte der Getreue nach. „Den Klaxxi zu dienen, heißt den Zyklus zu bewahren. Wenn der Zyklus bewahrt wird, überlebt die Kaiserin. Dient Ihr ihnen also nicht?“
„Ich diene der Kaiserin“, sagte Kil'ruk.
„Wisst Ihr, was der Zyklus ist?“
„Natürlich.“
„Erklärt ihn mir.“
Kil'ruk drehte den Kopf und der Getreue konnte sehen, wie der Flieger ihn mit einem Auge anstarrte. Ninil'ko wusste, dass er sich auf gefährlichem Terrain bewegte.
Wenn der Windschnitter den Eindruck bekam, dass er ein Verräter war, wäre es ein weiter Weg bis nach unten.
Nach einigen Momenten durchbrach Ninil'ko das Schweigen. „Ihr wurdet mit dem Wissen über den Zyklus geboren. Ihr könnt ihn spüren. Ihr wisst von seiner Wichtigkeit. Das ist ein Instinkt, den Euch einfach noch niemand erklärt hat. Das ist keine Schande.“
„Erzählt mir davon.“
Ninil'ko beschrieb den hundertjährigen Ablauf sehr genau. Wie die Kaiserin die Schwarmgeborenen aufzog. Wie sie alle gleichzeitig auf die niederen Kreaturen zustürmten, um sich im Kampf zu beweisen. „Wir wachsen nur im Kampf. Er ist uns ein guter Lehrer“, sagte er. Ninil'ko erwähnte nicht, wie oft Kaiserinnen schon gestorben und ersetzt worden waren. Als Kil'ruk ihn fragte, wie die Kaiserin vor langer Zeit war, wechselte der Getreue das Thema.
„Aber eine der unbequemen Wahrheiten über den Zyklus ist, dass die Kaiserin eines Tages sterben wird. Sie weiß es. Sie akzeptiert es“, sagte Ninil'ko. „Davor muss man sich nicht fürchten.“
Kil'ruk begann zu zittern. Ninil'ko wartete geduldig, bis Kil'ruk sich beruhigte, bevor er weiter erzählte. „Daher gibt es die Klaxxi. Sie sorgen dafür, dass der Zyklus weiterlebt. Sie sorgen dafür, dass das gute Werk der Kaiserin niemals stirbt.“
„Welchen Sinn hat der Zyklus ohne die Kaiserin?“, flüsterte Kil'ruk. Seine Flügel schienen ihm zu versagen und die beiden Mantis fielen einige Schritte herab, bevor er die Kontrolle zurückerlangte.
„Der Kampf ist ein guter Lehrer“, wiederholte Ninil'ko. „Von den niederen Kreaturen kann man vieles lernen.“ Warum wurde Kil'ruk bei dieser Aussage plötzlich ganz starr? Ninil'ko machte weiter, da er spürte, dass er endlich zu dem Flieger durchgedrungen war. „Mit jedem Zyklus lernen wir mehr über den Kampf, über die anderen und über uns. Wir werden stärker. Wir verändern uns. Die niederen Kreaturen lernen nichts außer Angst.“
Ninil'ko konnte spüren, wie Kil'ruk langsamer atmete. Er beruhigte sich. Er hörte zu. „Wie lang wird der Zyklus andauern?“, fragte Kil'ruk. „Ewig?“
„Nein. Der Tag wird kommen, an dem wir nicht mehr ausschwärmen müssen“, sagte Ninil'ko. „Bis dahin bewahren die Klaxxi den Zyklus. Sie sorgen dafür, dass diese Kaiserin – und alle Kaiserinnen, die es jemals geben wird – solange wie möglich lebt. Versteht Ihr?“
Kil'ruk antwortete nicht, aber Ninil'ko wusste, dass der Samen gepflanzt war. Nun war es Zeit, ihn wachsen zu lassen.
„Bringt mich bitte zurück zu den Klaxxi“, sagte Ninil'ko. „Ich muss ihnen von meinem Plan berichten.“
„Können wir gewinnen?“, fragte Kil'ruk.
„Natürlich.“
„Wie?“
Ninil'ko stieß ein kratzendes Lachen aus. „Indem wir das tun, was der Feind nicht erwartet. So kann man jeden Kampf gewinnen.“
„Die Jahrhunderte im Bern haben Euer Gehirn verrotten lassen, Blutrufer.“
„Hört mir zur“, sagte Ninil'ko, während er sich von einem Klaxxi'va zum nächsten drehte. Alle schauten ihn mit dem gleichen missbilligenden Gesichtsausdruck an. „Die Kaiserin wird bei Sonnenuntergang sterben, ganz gleich, was wir tun. Liege ich da falsch?“
„Nein. Und doch schlagt Ihr etwas Wahnsinniges vor. Es gibt niemanden, der den Platz der Kaiserin einnehmen könnte. Wir dürfen ihr Leben nicht aufs Spiel setzen. Wenn sie stirbt, endet der Zyklus.“
„Die einzige Lösung für die Moguinvasion sind die Schwarmgeborenen. Wenn wir die Geister unserer Jungen nicht wiederbeleben können, haben wir nicht genug Kämpfer, um sie zurückzuschlagen“, sagte Ninil'ko mit sanfter Stimme. „Die Schwarmgeborenen nützen uns erst wieder etwas, wenn das Relikt zerstört ist. Ich kann es jedoch nicht zerstören, wenn es von einer Armee umgeben ist. Unsere einzige Möglichkeit, es zu erreichen, besteht darin, die Armee mit etwas fortzulocken, dem sie nicht widerstehen können – der Kaiserin. Sie ist das Einzige, dem sie nicht widerstehen können! Das ist meine Logik. Das ist mein Plan. Dafür habt Ihr mich erweckt. Hört auf meine Worte.“
Es folgte eine lange Stille.
***
„Kriegsfürst!“ Der junge Mogu kam in das Gebäude gerannt. Sieben ältere Anführer schauten von den vielen Karten und Spähberichten auf, die auf einem langen Tisch verteilt waren. Gurthan saß am Kopfende. „Die Mantis haben sich in Bewegung gesetzt!“
„In unsere Richtung?“, fragte einer der Kommandanten.
„Nein!“, antwortete der junge Mogu keuchend. „Fort ... fort von uns.“ „Erklärt uns das“, sagte Kriegsfürst Gurthan. Der junge Mogu holte einige Male tief Luft. „Laut unseren Spähern haben einige Mantis ihre Festung aus der Luft verlassen und einen weiteren von ihnen mitgetragen.“
„Warum?“, fragte Gurthan.
„Das ist nicht klar ... Der, den sie mitgenommen haben, sah aus wie ...“ Der Bote wirkte plötzlich nervös. Er räusperte sich und wählte seine Worte sorgsam. Die Nachricht von Hixins Ableben hatte sich in Windeseile verbreitet. „Dieser Mantis sah anders aus. Ziemlich anders. Die anderen Insekten schienen ihn mit Sorgfalt und Respekt zu behandeln.“
Die Kommandanten tauschten untereinander Blicke aus.
„War es die Mantiskaiserin?“, fragte Gurthan leise.
„Die Späher gehen davon aus, Kriegsfürst, ja“, sagte der junge Mogu.
Kriegsfürst Gurthan stand langsam auf, sein Blick auf die verzierte Urne am Rand des Tisches gerichtet. Seine Armeen hatten sich jenseits der Mauer bislang vorsichtig bewegt. Gurthan wusste, dass die Zeit auf seiner Seite war – früher oder später würden den Mantis nur noch unbesonnene, verzweifelte Auswege bleiben. Das war der Moment, auf den er gewartet hatte. „Sie haben unsere Vorbereitungen gesehen. Sie hoffen, ihre Vernichtung hinauszuzögern und ihre Kaiserin von uns fernzuhalten, wenn auch nur ein paar Minuten länger. Und nun haben sie sie vom einen Ort entfernt, den sie gut hätten verteidigen können.“
Einer der Mogukommandanten wirkte besorgt. „Vielleicht versuchen sie uns herauszulocken ...“
„Natürlich tun sie das“, sagte Gurthan. Genau so würde ich es auch machen, dachte er. „Aber das ändert nichts. Wir haben genügend Krieger, um jegliche Verteidigung zu überrennen.“
„Eure Befehle, Kriegsfürst?“
Alle Kommandanten hielten den Blick auf ihn gerichtet. Der Kriegsfürst analysierte seine Optionen und suchte nach Schwachpunkten oder übersehenen Gefahren. Das Relikt wird in Gefahr sein, wenn die Armee die Kaiserin verfolgt, dachte Gurthan. Dieser gefährliche Mantisflieger lebt noch. Ist das eine Falle?
Ein Lächeln legte sich über das Gesicht des Kriegsfürsten. „Schickt jeden Mann. Jagt die Kaiserin. Bringt sie hierher. Am besten lebend. Ich will sie bei Sonnenuntergang in dieser Urne haben.“ Ich hoffe, dass der Flieger tatsächlich angreift, dachte Gurthan. „Und sorgt dafür, dass die Huatang-Mannschaften bereit sind. Teilt ihnen mit, dass sie einen Angriff aus der Luft zu erwarten haben.“
***
Kil'ruk sah, wie die Mogukrieger und ihre Sklaven ihre Zelte, Lagerfeuer und Besitztümer zurückließen. Jeder nahm sich nur eine einzige Waffe, bevor es hastig nach Westen ging. Der Kriegsfürst hatte ihnen offensichtlich befohlen, keine Zeit zu verlieren.
Sie werden diese Kaiserin und jede Kaiserin, die jemals gelebt hat, töten. Der Gedanke schoss wild in seinem Kopf umher wie eine Saftfliege um einen Kyparibaum. Seltsamerweise schien die geisteslähmende Wirkung des Mogurelikts trotz Kil'ruks Wut schwächer zu sein als noch vor einer Stunde. Er konnte die Kaiserin immer noch nicht hören, aber ihre Abwesenheit brachte seine Gedanken nicht mehr durcheinander.
Eigentlich hatte er seine Aufgabe nie zuvor klarer gesehen. Die niederen Kreaturen wollten den Zyklus beenden. Kil'ruk würde sie aufhalten.
Wir wachsen nur im Kampf, hatte Ninil'ko gesagt. Er ist uns ein guter Lehrer.
Anscheinend konnte selbst das Verlangen nach dem Kampf den Geist eines Mantis schärfen.
Kil'ruk wartete, bis die letzten Nachzügler der riesigen Moguarmee über den nahen Hügeln verschwunden waren. Dann erhob er sich in die Luft. Sechs andere Mantisflieger stiegen mit ihm auf. Nur sechs. Es waren die einzigen überlebenden geflügelten Mantis, die reif genug waren, ohne die Führung der Stimme der Kaiserin kämpfen zu können.
Die Terrasse von Gurthan lag vor ihnen. Über ihr ragte die Mauer hoch hinauf.
Kil'ruk flog auf die Mauer zu. In 600 Schritten Entfernung sah er auf der Mauer die weißen Umrisse von sechs auf ihn gerichteten Bienenwaben.
***
„Da ist er, Kriegsfürst.“
Kriegsfürst Gurthan blinzelte und legte die Hand über die Augen. Dieser spezielle Mantisflieger näherte sich in der Tat von Westen her. Einige andere, vielleicht fünf oder sechs, befanden sich direkt hinter ihm.
Zur Überraschung des Kriegsfürsten flogen sie nicht hinab zur Terrasse.
„Greifen sie den Schlangenrücken an?“, fragte Fulmin. „Sie wissen wohl nicht, dass wir das Relikt hierher gebracht haben.“
„Vielleicht“, sagte Gurthan zweifelnd. Die Mantis waren für solchen Weitblick nicht bekannt. Was übersehe ich? Gurthan blickte über die Terrasse. Seine Wachen hielten ihre Positionen, behielten die Mantis jedoch im Auge. Selbst die ausgebildeten Kampfqilen zu ihren Füßen verfolgten die Flieger am Himmel mit ihren Blicken.
Der erste Huatang-Schuss war zu hören, als die geflügelten Mantis gerade den westlichen Rand der Terrasse überflogen hatten. Zwei Flieger fielen sofort vom Himmel. Der gefährliche war nicht darunter.
***
Noch 200 Schritte. Der Schwarm hielt sich auf Höhe der Zinnen. Die Moguwachen auf dem Boden ließen sie nicht aus den Augen.
Die Mantis sahen die weiße Rauchwolke einen Augenblick, bevor die Kieselsteine der Bienenwabe vorbeizischten. Kil'ruk hörte Treffer an einem Panzer zu seiner Linken – tödliche Treffer. Er wusste nicht, um wen es sich handelte. Aber es war ihm auch egal. Es gab noch fünf weitere geladene Bienenwaben, um die er sich Sorgen machen musste. Nun würde sich herausstellen, ob der Blutrufer seinem Ruf als legendärer Taktiker gerecht wurde.
„Aufteilen“, sagte Kil'ruk.
Die restlichen Flieger – vier, wie Kil'ruk mit einem schnellen Blick erkannte – bewegten sich nach links, rechts und oben, nicht jedoch nach unten. Der Getreue hatte es ausdrücklich verboten.
Die niederen Kreaturen werden erwarten, dass Ihr hinab zur Terrasse fliegt, hatte Ninil'ko ihnen gesagt. Also tut es nicht.
Eine weitere Bienenwabe feuerte. Der Schuss ging daneben – zu niedrig. Zwei weitere feuerten gleichzeitig. Wieder zu niedrig. Der Getreue hatte recht gehabt. Sie erwarteten, dass sich die Flieger das Relikt schnappen wollten. Sklaven huschten um die vier leeren Bienenwaben und luden nach.
Windschnitter, die meisten Schüsse wird man auf Euch abgeben. So sehr fürchten sie Euch, hatte Ninil'ko gesagt.
Sie kamen der Mauer näher. Noch 50 Schritte. Die letzten beiden geladenen Bienenwaben waren gut ausgerichtet. Sie würden treffen – auf diese Distanz ging es kaum anders.
20 Schritte. Zeit für den nächsten Teil des Plans des Getreuen.
Sie können sich nicht vorstellen, dass Ihr nicht als Erster angreift, hatte Ninil'ko gesagt.
Ich auch nicht, hatte Kil'ruk geantwortet.
Überrascht sie. Überrascht Euch selbst, hatte der Blutrufer erwidert.
Kil'ruks Flügel summten plötzlich so schnell, dass sie fast nicht mehr zu sehen waren. Er stieg schnell auf, unglaublich schnell – fast so schnell, wie er im Sturzflug hinunterflog. Sie versuchten ihn mit den letzten beiden Bienenwaben zu verfolgen und gaben in Panik hastige Schüsse ab. Die Schüsse verfehlten ihn.
Noch keine der Bienenwaben war nachgeladen worden. Die anderen vier Flieger stürzten sich in einem Wirbelwind aus Bern und Blut auf die Mauer.
Kil'ruk bewegte seine Flügel nicht mehr. Sein Schwung trug ihn immer höher hinauf und in einem Bogen über den Schlangenrücken. Er erreichte den höchsten Punkt ungefähr 400 Schritte über der Mauer.
Hier oben war es seltsam ruhig. Die Geräusche der Schlacht waren weit unter ihm. Die Kaiserin schwieg. Zum ersten Mal in seinem Leben flog Kil'ruk wirklich allein in den Kampf.
Es beunruhigte ihn überhaupt nicht.
Er setzte zum Sturzflug an.
***
„Schlau“, sagte Kriegsfürst Gurthan mit einem Lächeln. Der Flieger hatte ihre Annahmen ausgenutzt und sich sauber durch ihre Verteidigung vorgearbeitet. Nun konnte er sich direkt auf den Schlangenrücken stürzen. „Wirklich sehr schlau.“
„Sollen wir Verstärkung schicken?“, fragte Fulmin.
„Nein. Selbst, wenn wir jeden Mann auf der Mauer verlieren, würde es wenig bedeuten, solange das Relikt ...“
Ein greller Schrei unterbrach den Kriegsfürsten. „Mantis! Mantis von Westen!“
Kriegsfürst Gurthan wirbelte herum. Ein Dutzend Mantis stürmten zu Fuß auf die Terrasse von Gurthan zu und waren nur noch 100 Schritte von den Mogu entfernt. Alle Wachen hatten sich vollkommen auf die Flieger konzentriert ...
Schlau, dachte er und lächelte nicht mehr.
***
Ninil'ko der Blutrufer stürzte sich mit den restlichen Mantis in die Schlacht. Er zischte und klickte mit seinem Kiefer – Kss kss tk-tk-tk-tk – und die anderen nahmen eine Keilformation ein. Er gönnte sich einen Moment der Zufriedenheit – die Zeit im Bern hatte sein Talent nicht im Geringsten einrosten lassen.
Die meisten Getreuen erhielten ihren zweiten Namen von den Klaxxi. Soweit Ninil'ko wusste, war er der Einzige, der ihn sich selbst ausgesucht hatte. Wer sonst hätte es auch tun sollen? Die Klaxxi hatten ihn für sein umfassendes strategisches Können gepriesen und seine Kaiserin, schwach und jämmerlich wie sie war, hatte sein geschicktes Niederschlagen einer Mantisrebellion bewundert.
Aber wer von ihnen hätte ihn schon Blutrufer genannt?
Ninil'ko hob seinen Speer, als die anderen Mantis die letzten paar Schritte zu den Mogu rannten. Er zeigte mit der geschwungenen Klinge auf die linke Flanke und klickte zweimal mit dem Kiefer. Die gesamte Mantistruppe nahm zwei bestimmte Mogu ins Visier. Die Feinde starben in einem Wirbel von geschärftem Bern.
Ninil'ko bewegte seinen Speer langsam entlang der Verteidigungslinie, um Ziele festzulegen. Klick klick klick. Drei weitere Mogu starben und hinterließen ein riesiges Loch in der Verteidigung. Die linke Flanke brach zusammen. Klick klick. Zwei Qilen starben. Klick klick klick. Ein Magier, ein Bestienmeister und ein verwundeter Qilen fielen als Nächste.
Es war eine Gabe. Schon als unreifer Schwarmgeborener hatte Ninil'ko entdeckt, dass er ohne Worte mit anderen Mantis kommunizieren und sie beeinflussen konnte. Wenn er seinen Willen ausstrahlte, wussten Mantis in der Nähe, wo sie anzugreifen hatten. Wenn er zischte oder mit dem Kiefer klickte, wussten sie, wann. Er konnte seine Soldaten nach Belieben in den Kampf schicken oder sie abziehen, um den Verlauf der Schlacht mit unglaublicher Präzision zu lenken.
Nie hatte er diese Gabe jemandem erklärt, nicht einmal den Klaxxi. Ninil'ko verstand sie selbst nicht ganz. Reagierten die anderen auf die Geräusche? Konnte er sie wie die Kaiserin beeinflussen? Er war sich nicht sicher. Vielleicht war es auch ein alter Teil des Mantisgeistes, ein Urinstinkt, der verblieben war, nachdem der Alte ihnen die Klarheit des Geistes und ein höheres Ziel gegeben hatte. Vielleicht hatten die Mantis vor langer Zeit auf diese Weise kommuniziert.
Letztendlich war es aber egal. Wenn Ninil'ko rief, strömte das Blut. Schon bald war die Terrasse rot.
***
Und Kil'ruk stürzte immer noch hinab.
„Weiter nachladen!“, brüllte der Zuchtmeister auf der Mauer.
Ein Pandarensklave fiel auf die Knie und schaufelte mit seinen Pfoten verzweifelt kleine Steine auf. Die Geräusche der sterbenden anderen Sklaven trieben ihn fast in den Wahnsinn. Er wollte weglaufen, aber er würde wieder ausgepeitscht werden, wenn ...
Ein grässliches Kreischen erfüllte die Ohren des Sklaven und seine Gedanken wichen purem Grauen. Er schaute gerade noch rechtzeitig nach oben, um zu sehen, wie eine bernfarbene und violette Gestalt wie der Wind auf ihn stürzte.
***
Der kniende Pandaren fing einen Großteil des Schlags ab. Kil'ruk erlangte schnell das Gleichgewicht wieder und stieß dem Sklaven eine Klinge in den Körper. Einen kurzen Moment lang spürte er Widerstand – sein erster getöteter Feind in der Schlacht.
Es würden noch viele folgen.
Zwei weitere Flieger lebten noch und tobten wie wild zwischen den niederen Kreaturen. Sie waren eifrig und freuten sich auf den Kampf an der Seite des Windschnitters, allerdings mangelte es ihnen an Erfahrung. In einem solchen Kampf würden sie nicht lange durchhalten. Die Mauer war voll besetzt. Sechs Bienenwaben und fast 200 Verteidiger befanden sich zwischen den beiden Wachtürmen über der Terrasse von Gurthan.
Kil'ruk stürzte sich mitten in die niederen Kreaturen und ließ seine Bernklingen tanzen.
***
Ninil'ko sprang mit einem Zischen nach hinten. Ksss-tk-tk-tk-tk-tk. Das war der einzige Befehl, den er benötigte, um die anderen ebenfalls nach hinten springen zu lassen. Zwei Mogu, blind vor wütender Kampfeslust, stürmten auf sie zu. Klick klick. Sieben Mantisklingen schnitten sie in Stücke. In weniger als einer Minute hatte Ninil'ko die Anzahl der Moguverteidiger halbiert und dabei nur eine Handvoll eigener Kämpfer verloren.
Ein ordentlicher Start. Nun waren sie nur noch zwei zu eins in der Unterzahl, doch die Mogu hatten sich vom Schock des Überfalls erholt und gewannen ihre Disziplin wieder. Sie bildeten eine lockere Angriffslinie zwischen den Mantis und dem Gebäude mit dem Relikt. Ninil'ko wusste, dass ihre Taktiken in den meisten Schlachten funktionieren würden.
Aber nicht heute. Ninil'ko schoss nach vorn und zeigte auf einen Mogu in der Mitte der Linie. Er wirkte am ängstlichsten und am erfahrensten. Das machte ihn zum momentan wichtigsten Ziel.
Klick.
***
Der Kriegsfürst sah ausdruckslos zu. Nur die zusammengebissenen Zähne verrieten seine Gefühle, als der letzte seiner Kommandanten starb. Schließlich wandte er sich Fulmin zu.
„Nehmt das Relikt und geht“, sagte Kriegsfürst Gurthan mit leiser Stimme.
„Was?!“, zischte Fulmin. „Wir sind ihnen zahlenmäßig überlegen!“
Gurthans Augen glänzten. „Nehmt das Relikt und geht zurück durch das Tor. Leise. Ohne erkannt zu werden. Das Relikt muss um jeden Preis aktiviert bleiben. Keine Fehltritte. Die Mantis müssen weiterhin besänftigt werden.“
„Kriegsfürst ...“
„Ich werde sie nicht gewinnen lassen. Niemals. Versteht Ihr? Unsere Armee wird sie in einer Stunde erledigt haben. Es ist egal, welche Wunder die Mantis auf dem Schlachtfeld vollbringen, wenn ihre Kaiserin tot ist.“
Fulmin zögerte. „Sie werden Euch töten, Kriegsfürst.“
„Ich zweifle nicht daran, dass sie es versuchen werden. Geht. Aber eilt zurück, sobald es vorbei ist“, fügte Gurthan mit einem schrägen Lächeln hinzu. „Vielleicht müsst Ihr mich aufwecken. Ich schlafe manchmal ziemlich tief.“
Langsam verstand Fulmin. „Ja, Kriegsfürst.“
Gurthan sah zu, wie Fulmin ging, und wartete, bis er sich außer Sichtweite befand, bevor er den nächsten Befehl erteilte. „Rückzug! Rückzug ins Gebäude!“
***
Die Mauer war rot mit dem Blut der niederen Kreaturen, die Kil'ruk getötet hatte. Und trotzdem kamen immer mehr.
Was haben die Mogu den Sklaven angedroht, falls sie weglaufen?, fragte sich Kil'ruk, als er einen weiteren Pandaren niederstreckte. Könnte es vielleicht noch schlimmer sein als das? Die Köpfe zweier Saurok rollten von den Schultern der echsenartigen Kreaturen. Welch nutzlose Wesen.
Kil'ruk stieg in die Luft auf und flog außer Reichweite der Verteidiger. Er landete bei der Bienenwabe, die sich am nächsten zum nördlichen Turm befand, und schlitzte den erstbesten Mogu auf.
Eine Gruppe wütender Saurok sprang aus der Masse der Verteidiger und griff ihn an. Kil'ruk rammte seine Klingen in zwei von ihnen, wurde jedoch einen Moment später flach auf den Rücken geworfen. Das Gewicht von Dutzenden Körpern ließ keine Bewegung zu. Nur Zentimeter über ihm schaute ihm ein Saurok grinsend entgegen.
Dann erfüllte ein Knistern die Luft. Der Saurok schaute nach oben. Sein Grinsen wich Schrecken.
Eine überwältigende Explosion betäubte seine Sinne. Ein Großteil des Gewichts verschwand von Kil'ruks Brust. Kil'ruk blinzelte nicht. Er wollte mit offenen Augen sterben. Er sah, wie der Saurok aufsprang und starb, als eine zweite Explosion die Mauer erschütterte. Bevor die niedere Kreatur zusammenbrechen konnte, verschwand sie in einer dritten Explosion.
Der Lärm hing in der Luft und lähmte alle anderen Sinne. Schließlich blinzelte Kil'ruk doch. Er lebte.
Von den meisten Saurok konnte man das nicht behaupten. Hustend schob Kil'ruk ihre Überreste beiseite und stellte sich auf die Beine. Das schmerzhafte Pfeifen in seinen Ohren wich langsam Schreien und Jammern.
Der Anblick machte Kil'ruk sprachlos.
Die Mogu hatten ihre nachgeladenen Bienenwaben nach Norden gedreht und direkt entlang der Mauer gefeuert. Sogar auf die Mauer. Dreimal. Sie hatten ihre eigenen Sklaven in einem Versuch zerfetzt, einen einzigen Mantisflieger auszulöschen. Nur die Körper der angreifenden Sklaven hatten Kil'ruk vor Verletzungen bewahrt.
Kil'ruks Respekt für die Mogu nahm erheblich zu. Eine kühne Taktik, dachte er.
Der anhaltende Rauch von den Explosionen verbarg ihn vor den Mogu. Aber schon bald würde er sich verziehen. Sie sollen ruhig glauben, dass ich mit den Sklaven gestorben bin, dachte Kil'ruk. Er sprang von der Mauer und schwebte sanft auf den Boden.
Von der Terrasse von Gurthan war immer noch Kampflärm zu hören. Alles schien sich in das Gebäude verlagert zu haben, in dem sich das Relikt befand. Kil'ruk lief schnell darauf zu.
***
Die Enge des Gebäudes hatte den Vorstoß der Angreifer stark behindert. Der einzige andere Mantis, der noch kämpfte, starb, von zwei Moguspeeren dreigeteilt, bevor er auf Ninil'kos gezischte Warnung reagieren konnte.
Der Blutrufer war allein auf dem Schlachtfeld. Ninil'ko stellte sich mit dem Rücken zur Wand und wartete auf den unvermeidlichen letzten Angriff. Nur noch drei Mogu waren übrig – nein, vier, wenn man den mitzählte, der in majestätische verzierte Gewänder gekleidet war. Dieser letzte Mogu stand mit verschränkten Armen außerhalb des Kampfgeschehens, seine beiden verbliebenen Qilen neben sich.
Das muss Kriegsfürst Gurthan sein, vermutete Ninil'ko.
„Halt“, sagte der vierte Mogu. Die anderen Mogu blieben stehen. „Mantis, habt Ihr einen Namen?“
***
Das einzelne Insekt schien ihn nicht zu hören. „Kreatur, versteht Ihr mich?“, fragte Gurthan.
Ein plötzliches hässliches Geräusch erfüllte den Raum. Die Kiefer des Mantis klickten in einem seltsamen kratzenden Rhythmus. Lacht er mich etwa aus?, dachte Gurthan. „Ich bin Kriegsfürst Gurthan, Mantis. Ich bin ...“
„Das ist mir egal, Mogu.“
Gurthan biss die Zähne zusammen. „Habt Ihr einen Namen, Mantis?“
„Keinen, den ich Euch mitzuteilen wünsche“, zischte die Kreatur.
***
Kil'ruk kroch zum Eingang. Er hörte Ninil'kos Stimme und eine andere.
„Wo ist das Relikt?“, fragte Ninil'ko.
„Ich habe Eure Spezies bis an den Rand der Auslöschung gebracht, Mantis“, sagte die andere Stimme. „Wenn Ihr zu logischem Denken fähig seid ...“
„Weitaus fähiger als Ihr, Gurthan. Wo ist das Relikt?“
„Ihr werdet das Relikt nicht finden, bevor Eure Kaiserin stirbt“, sagte Gurthan. „Aber vielleicht müssen ja gar nicht alle Mantis mit ihr sterben. Einige von Euch sind fähige Kämpfer. Möglicherweise ...“
„Versucht Ihr zu verhandeln?“ Ninil'ko zirpte amüsiert. „Dann ist hier mein Angebot, Mogu: Kniet vor mir nieder, bittet mich um Vergebung und händigt mir das Relikt aus, dann dürft Ihr diesen Raum lebend verlassen. Was auf dem Weg zur Mauer mit Euch geschieht, kann ich nicht sagen.“
„Knien?“ Gurthans Stimme bekam langsam einen wütenden Unterton. „Die Sklaven des Reichs knien vor mir. Bestien liegen zu meinen Füßen und erwarten meinen Befehl. Und in Eurer Arroganz ...“
Kil'ruk hatte kein Interesse daran, noch mehr zu hören. Er ging durch die Tür. „Mit Euren Worten vergeudet Ihr unsere Zeit“, sagte er laut. „Stellt Euch mir.“
Beim Anblick des zweiten Mantis wurden die drei Mogukrieger unruhig.
Gurthan spitzte einfach den Mund und pfiff zweimal laut. Die beiden zu seinen Füßen liegenden Qilen sprangen Kil'ruk entgegen.
Kil'ruk wirbelte mit seinen Bernklingen durch die Luft und beide Qilen fielen zu Boden. Einer von ihnen hatte knapp überlebt und ein jämmerliches Jaulen kam aus seinem Maul. Geschwächt versuchte er, zu Kriegsfürst Gurthan zurückzukriechen. Kil'ruk stieß ihm eines seiner Vorderbeine durch den Brustkorb und ließ das schwache Jammern verstummen.
„Blutrufer. Ich bin bereit. Ihr auch?“, fragte Kil'ruk.
Ninil'ko hob seinen Speer. „Ja, Windschnitter.“
Gemeinsam machten sie einen Schritt nach vorne.
***
„Tötet sie“, sagte Kriegsfürst Gurthan.
Die drei verblieben Wachen stürmten auf die beiden Mantis zu. Klingen stießen Funken sprühend gegeneinander.
Gurthan machte sich keine Illusionen über ihre Chancen. Sein Blick fiel auf die Urne, die für die Mantiskaiserin bestimmt war.
Er würde sich damit begnügen müssen.
Ich werde sie nicht gewinnen lassen.
Während seine Wachen starben, ging Gurthan in die Hocke und bildete mit seinen Händen eine Schale, um arkane Energie zu sammeln. Er würde nur für einen einzigen Zauber Zeit haben.
***
Die letzte Wache kämpfte tapfer, doch ihre beiden Kameraden lagen sterbend auf dem Boden und es war nur eine Frage der Zeit, bevor einer der Angriffe der Mantis ihn treffen würde. Beide Klingen des Windschnitters durchstachen seinen Oberkörper. Er brach zusammen, ächzte und blieb schließlich regungslos liegen.
Langsam drehte sich Kil'ruk zum letzten noch verbliebenen Mogu um. „Gurthan“, zischte er. „Ihr hättet die Kaiserin getötet. Diese und alle zukünftigen. Ihr hättet den Zyklus beendet.“
Der Mogukriegsfürst bewegte seine Hände in kleinen Kreisen. Er beschwor Kraft herauf. Für welchen Zweck wusste Kil'ruk nicht.
Aber es war ihm auch egal.
Ninil'ko trat einen Schritt zurück. „Windschnitter, ich überlasse Euch diese Ehre“, sagte der Getreue.
Kil'ruk hob seine Klingen und ging langsam nach vorn. Falls Gurthan einen letzten Angriff oder eine letzte feige Aktion plante, wäre der Windschnitter darauf vorbereitet. „Ihr werdet sterben, Kriegsfürst. Und es wird nicht schnell gehen.“
„Werdet Ihr es genießen, Insekt?“, fauchte Gurthan.
Nur noch fünf Schritte bis zur Genugtuung. „Mehr, als Ihr es Euch vorstellen könnt.“
Plötzlich bewegte Gurthan die Hände nicht mehr. Die Luft schien von Kraft erfüllt zu sein. Der Mogu schaute Kil'ruk in die Augen. „Gut. Dies schwöre ich: Ihr und Eure Art werdet nie das Vergnügen haben, mein Leben zu beenden.“
Der Kriegsfürst streckte die Hände aus. Ein blendender Lichtblitz zuckte durch den Raum. Kil'ruk hob seine Klingen schützend vor die Augen.
Als er wieder sehen konnte, war das Licht verschwunden.
Genau wie Kriegsfürst Gurthan. Die Urne schien zu vibrieren, als ob sie von Kraft, Energie und Leben erfüllt wäre.
„Nein“, sagte Kil'ruk.
***
Ninil'ko ließ Kil'ruk ein paar Minuten toben.
„Feigling! Feigling! Stellt Euch mir!“
Der Windschnitter schlug immer wieder mit seinen Klingen auf die Urne ein. Er konnte ihr nicht einmal einen Kratzer zufügen. Sie keinen Zentimeter bewegen. Die Verzauberung, mit der Gurthan seinen Geist in die Urne geschickt hatte, schützte sie anscheinend vor allen physischen Angriffen.
Kurz gesagt: Der Kriegsfürst befand sich außer Reichweite der Mantis. Mit blinder Wut schlug Kil'ruk immer und immer wieder zu.
Schließlich hatte Ninil'ko genug. „Windschnitter“, sagte er leise. Kil'ruk ließ nicht nach und hörte nicht auf. „Windschnitter, die Kaiserin ist immer noch stumm.“
Kil'ruk schlug ein letztes Mal gegen die Urne. Seine Klinge krachte mit einem seltsam gedämpften Klang dagegen. Er drehte sich keuchend zum Getreuen um.„Das Relikt ist nicht hier.“
„Es bewegt sich fort von uns. Ihr könnt es doch auch spüren, nicht wahr?“, fragte Ninil'ko. Es war ein seltsames Gefühl. Er konnte es nur mit Wolken vergleichen, die sich am Himmel bewegten. Vom Boden aus betrachtet sah es aus, wie wenn sie fast stillstehen würden.
„Ja.“ Voller Wut und Abscheu gab Kil'ruk der Urne einen Tritt. „Geht voran, Blutrufer. Lasst uns das erledigen.“
***
Fulmin ging vorsichtig am Fuß des Schlangenrückens entlang. Er hielt das Relikt eng an seinem Oberkörper und konzentrierte sich darauf, den Zauber aufrechtzuerhalten, da ansonsten das empfindliche Energiegleichgewicht außer Kontrolle geraten würde. Die Konsequenzen waren unvorhersehbar, aber für den Träger des Relikts wahrscheinlich tödlich.
Das Tor der Untergehenden Sonne lag direkt vor ihm. Nachdem Fulmin es durchquert hätte, könnte er das Relikt einem anderen Arkanisten geben und eine neue Mogutruppe zusammenstellen, um die Terrasse zurückzuerobern.
Das schreckliche Geräusch und der Lichtblitz bedeuteten, dass Kriegsfürst Gurthan seinen Geist eingeschlossen hatte, um dem Tod durch die Mantis zu entgehen. Fulmin hatte ihm den Zauber beigebracht und es wäre recht einfach, ihn nach der Beseitigung der Mantisbedrohung wieder umzukehren.
Hinter ihm knirschte das Laub.
Fulmin drehte sich um und verlor beinahe das Gleichgewicht. Ein Mantis mit einem großen Speer und in seltsamer Rüstung stand vielleicht 15 Schritte von ihm entfernt. Er hatte keine Flügel – es war nicht der Flieger.
Der Mantis hob seinen Speer und richtete ihn auf Fulmin. Der Mogu war erstaunt. Er spürte keine Energie. Das war kein Zauber. Und für einen schnellen Angriff war der Mantis zu weit entfernt.
Der Mantis machte ein seltsames Geräusch. Klick.
Ein Schatten fiel auf Fulmin. Er hatte nicht einmal Zeit, zu schreien.
Das Relikt fiel ihm aus den Händen.
***
„Ein seltsames Objekt“, sagte Kil'ruk.
Das Blut des Mogu tropfte noch von dem Relikt herunter. Ninil'ko untersuchte es und drehte es in seinen Händen. „Ich kann die Kaiserin nicht hören, Windschnitter. Und Ihr?“
„Nein.“
„Arkane Energie entzieht sich meinem Können“, sagte Ninil'ko. Das Relikt strahlte ein fahles Licht aus, das mit jeder Sekunde heller wurde. „Die Mogu setzen Magie auf äußerst ungewöhnliche Weise ein. Ich weiß nicht, wie man dieses schreckliche Ding zum Schweigen bringt.“
Der Getreue schaute hinunter zum abgeschlachteten Mogumagier. Die niedere Kreatur hatte den Zauber bis zu ihrem Tod aufrechterhalten. Warum hatte sie sich die Mühe gemacht? Das Relikt benötigte anscheinend keine ständige Energiezufuhr, um die Stimme der Kaiserin zu unterdrücken.
Ninil'ko hielt das Relikt von sich weg. „Windschnitter, vielleicht könnt Ihr herausfinden, ob ...“
Das Licht des Relikts wurde plötzlich heller und verschwand. Kil'ruk sah einen schwachen Blitz und hörte ein kurzes, leise knisterndes Geräusch.
Einen Moment lang spürte Ninil'ko, wie der Großteil der arkanen Energie im Relikt wie ein Blitz durch seinen Arm schoss. Als sie sein Gehirn erreichte und sich durch sein gesamtes Bewusstsein brannte, gab es einen Moment absoluter Qual.
Das Letzte, was der Getreue hörte, war ein einzelnes schwaches Klicken.
***
Kil'ruk wusste sofort, dass Ninil'ko tot war. Der Getreue fiel neben dem Mogu auf die Erde und blieb mit weit aufgerissenen Augen liegen.
Das Relikt, dieses verfluchte, abscheuliche Relikt blockierte die Stimme der Kaiserin immer noch. Aber nicht vollständig. Kil'ruk konnte kurze Fetzen ihres süßen Gesangs hören. Es war, als würde der Stoff des Moguzaubers ausfransen, Faden um Faden auseinandergerissen werden und kurze Blicke auf das gewähren, was darunter lag.
Wie lange würde es dauern, bis das Relikt keine Auswirkungen mehr hatte? Vielleicht Stunden? Das würde den Tod der Kaiserin bedeuten. Kil'ruk beugte sich über Ninil'kos Leiche und sah sich das Relikt genauer an, wollte es jedoch nicht berühren. Das Licht war schwächer geworden, aber er konnte immer noch ein Knistern und Zischen hören.
Genau wie bei der Bienenwabe ...
Kil'ruk hob das Relikt auf. Eine vibrierende Energie ließ seine Hand zittern. Es fühlte sich an, als würde das Relikt seine arkane Ladung jeden Moment freisetzen.
Er erinnerte sich an den ersten Tag, als er sich vom Himmel in den Kampf gestürzt hatte. Damals hatten eine Bienenwabe und ein bisschen arkane Energie eine zerstörerische Reaktion ausgelöst.
Kil'ruk ließ sich von seinen Flügeln über die Mauer tragen. Er hielt das Relikt fest in den Händen, während er suchend in Richtung Süden flog. Überall entlang der Mauer zeigten Verteidiger überrascht in seine Richtung und brüllten.
Da.
Die restlichen Bienenwaben standen noch zwischen den verstümmelten toten Sklaven auf der Mauer über der Terrasse von Gurthan. Die wenigen noch lebenden Sklaven und Mogu entdeckten ihn schnell, aber sie brauchten Zeit, um ihren Schuss auszurichten. Kil'ruk brauchte nur Zeit, um das Relikt in ihre Richtung zu werfen. Es war fast genauso groß und schwer wie eine seiner Ladungen. Kil'ruks Zielgenauigkeit hatte nicht nachgelassen.
Das abscheuliche Ding flog in einem Bogen zur Mauer und prallte zwischen zwei Bienenwaben auf. Das Relikt zerbrach in einer glitzernden Lichtwelle und einem stotternd ansteigenden Knistern.
Ein schreckliches Geräusch erklang und das Licht umhüllte die Bienenwaben. Ihre gesammelte arkane Energie schwoll blendend grell an und verschlang die niederen Kreaturen.
Dann gab es einen wundervollen Klang, den nur die Mantis hören konnten.
Ich bin noch da. Ich bin noch da, sang die Kaiserin. Mit jedem Wort wallte Euphorie in Kil'ruk auf. Die niederen Kreaturen sind da. Tötet sie. Tötet sie alle.
Weit von Kil'ruk entfernt, im Westen, brauste ein lautes Geräusch der Freude und Wut auf. Die Schwarmgeborenen erwachten und ihr Zorn explodierte.
Es war eine Sache von Stunden, nicht von Minuten, aber bei Sonnenuntergang hatte sich der Gesang der Kaiserin verändert.
Tot, tot. Sie sind alle tot. Gut gemacht. Gut gemacht. Ich bin in Sicherheit. Ich bin in Sicherheit.
Gut gemacht.
Sie machten mich zu einem Getreuen. Meine Taten wurden in meinem Zyklus und in allen Zyklen danach zur Legende. Die Klaxxi gewährten mir den zweiten Namen, den ich mir wünschte – Windschnitter. Und die Schwarmgeborenen flüsterten ihn.
Die Armee des Klans Gurthan war vernichtet worden. Beide Seiten hatten schwere Verluste erlitten, aber die Klaxxi wollten damit eine einfache Botschaft aussenden: Unser Land anzugreifen, bedeutet den Tod. Die Bestrafung oblag mir. Ich schlachtete auf der Mauer Tausende Verteidiger ab. Viele Tausende. Nach nur wenigen Monaten liefen sie weg, wenn sie mich nur schon sahen, Erwecker. Ich erinnere mich sehr gern an diese Zeit.
Dann erlaubten mir die Klaxxi, über den Schlangenrücken zu fliegen. Sie wiesen mich an, Lager und Nachschublinien der Mogu zu überfallen. Es war mir nie in den Sinn gekommen, bevor sie mir den Befehl erteilten. Seltsam, nicht? Es wäre für jeden Flieger so einfach, sich über die Verteidigung der niederen Kreaturen zu erheben und unvorbereitete Dörfer zu vernichten. Sie könnten diese Taktik nicht kontern. Es wäre unglaublich effektiv.
Jedenfalls wenn der Tod der niederen Kreaturen das Ziel wäre. Aber, Erwecker, das ist es wahrhaft nicht. Hätten die Klaxxi es gewünscht, würde nun der gesamte Kontinent uns gehören.
Als Getreuer habe ich mir das Recht verdient, Fragen zu stellen und Antworten zu erwarten. Die Klaxxi haben mir viel erzählt.
Sie haben mir von der Konservierung erzählt. Sie haben mir erklärt, wie ein Bernschmied meiner Wahl aus Kyparit die gestärkte Bernhülle formt, die mir als Ruheplatz dient, bis meine Hilfe als Getreuer erforderlich wird. Ich wählte natürlich den Bernschmied aus, der meine Klingen hergestellt hatte. Es war ihm eine Ehre. Allein gingen wir zur Terrasse von Gurthan, wo er den Fluss des Berns steuerte, bis ein Jahrtausende währender Schlaf mich überkam. Natürlich wurde dieser Bernschmied umgehend getötet. Die Klaxxi glauben, dass es wichtig ist, den Aufenthaltsort eines Getreuen geheim zu halten. Um unsere Berneier zu finden, ist die Kraft des gesamten Rates erforderlich. Diese Geheimhaltung verhindert, dass Fremde oder einzelne Klaxxi'va uns finden und vernichten. So etwas kommt aber mitunter vor, wie Ihr ja gesehen habt.
Sie haben mir so viel über den Zyklus erzählt ... Ich schätze, dass Ihr es immer noch nicht versteht, Erwecker. Der Zyklus war alt, als ich jung war. Er geht mir und Euch voraus. Ich wurde vor Abertausenden Jahren konserviert und viel hat sich seitdem verändert.
Aber wisst Ihr, was sich nicht verändert hat?
Der Wille der Klaxxi.
Der Wille der Klaxxi ist ewig.
Ihr habt in vielen Schlachten gekämpft und viele Feinde besiegt, und doch war nicht eine einzige Handlung Eures Lebens von Belang, bis Ihr den Schlangenrücken überquert und unser Land betreten habt. Ihr habt den Klaxxi gehorcht. Ihr habt mich aus meinem langen Schlaf im Bern erweckt. Dadurch hat Euer Leben nun endlich einen Sinn.
Ich möchte Euch nicht beleidigen, Erwecker. Freut Euch. Ihr habt Euch unser Vertrauen verdient. Alle Eure vorherigen bedeutungslosen Mühen haben Euch über die anderen niederen Kreaturen erhoben. Nur wenige von ihnen könnten jemals eine solche Hilfe sein wie Ihr.
Ich habe viel über Euren Krieg gehört. Über die Allianz. Die Horde. Zwei gleichermaßen nutzlose Seiten, die über Unbedeutendes kämpfen. Ich schätze, dass Ihr es anders seht. Euer Krieg könnte tausend Jahre andauern und wäre doch nur ein kleiner Fluss, der in den Ozean der Pläne der Klaxxi mündet. Es ist ihr Wille, dass der Zyklus bewahrt wird.
Der Sinn des Zyklus ist nicht der Tod. Sondern Wissen.
Wissen über Euch. Wissen über uns. Der Kampf ist ein guter Lehrer. Alle Kreaturen können ihr Potenzial nur erreichen, wenn die Alternative der Tod ist. Die Klaxxi sorgen dafür, dass der Kampf solange wie möglich andauert. Es liegt in ihrem Interesse, jeden Zyklus zu verlängern und die niederen Kreaturen so stark wie möglich unter Druck zu setzen, ohne sie zu brechen. Daher setzen die Verteidiger im Kampf ihr ganzes Können ein. Sie fürchten, dass alle, die sie kennen und lieben, vor der Auslöschung stehen, wenn sie versagen.
Die Stärksten unter den Mantis kehren zurück. Die Schwachen werden aussortiert. Unsere Art wird stärker. Und mit jedem Zyklus erfahren wir etwas über die Taktiken und Waffen der niederen Kreaturen und wie wir sie kontern können.
Von Kreaturen wie Euch gibt es so viel zu lernen, Erwecker.
Habe ich schon erwähnt, dass ich den Sturzflug aus dem Himmel durch die Beobachtung eines Falken erlernte?Ich war unglaublich fasziniert von seinem Können. Ich eignete mir seine Fähigkeiten an.
Auch Ihr fasziniert mich, Erwecker.
Li Lis Reisetagebuch von Blizzard Entertainment
Das Leben ist ein Abenteuer.
Das hat mir mal Onkel Chen in einem Brief geschrieben. Ein weiser Ratschlag. Mein Papa Chon Po vertritt allerdings eine andere Meinung. Er sagt, dass ich zu viel von der Welt da draußen träume und die Schönheit und Wunder der Wandernden Insel nicht erkenne. Aber da liegt er vollkommen falsch – ich liebe meine Heimat.
Und darum geht es in diesem Tagebuch. Wenn ich je eine so große Entdeckerin wie mein Onkel Chen werden will, muss ich wie er über meine Abenteuer schreiben. Und warum sollte ich damit nicht zu Hause beginnen? Vielleicht wird mein Buch ja irgendwann einmal in der Großen Bibliothek neben Onkel Chens Berichten stehen. Oder vielleicht werden eines Tages Leute aus Sturmwind, Orgrimmar oder anderen entfernten Ländern meine Aufzeichnungen lesen, um etwas über mein Volk, unsere Kultur und das, was diesen Ort hier so großartig macht, zu erfahren!
Aber immer der Reihe nach. Fangen wir mit der Einleitung an. Geboren wurde ich auf der großen Schildkröte Shen-zin Su, auch bekannt als „Die Wandernde Insel“. Heutzutage sitzen viele Pandaren nur noch herum und erzählen immer die gleichen alten Geschichten. Doch das war einmal anders. Unseren Ahnen lag das Abenteuer im Blut. Für sie bot jeder Tag auf der Insel die Möglichkeit, neue Dinge zu entdecken und neue Geschichten zu verfassen!
Während ich dies schreibe, führt Onkel Chen diese Tradition irgendwo dort draußen in der weiten Welt fort. Doch er ist nicht allein. Der Weg des Wanderers hat auch mich gerufen, hier bei mir zu Hause. Nun wird es Zeit, diesem Ruf endlich zu folgen!
Mein Name ist Li Li Sturmbräu und dies ist die Wandernde Insel.
***
1. Eintrag: Zurück zu den Grundlagen
Ich habe mich entschlossen, mein Zuhause auf Grundlage des Weges des Wanderers zu erkunden, einer Philosophie, über die Onkel Chen in seinen Berichten schon viel geschrieben hat. Dabei geht man auf jeder Reise Schritt für Schritt vor, beobachtet alles um sich herum, spricht mit jedem, dem man begegnet, und nimmt alle Einzelheiten wahr.
Nach einigen Überlegungen begann ich meine Reise durch Shen-zin Su dort, wo ich zum ersten Mal von der Geschichte der Insel erfahren hatte: an der Morgenspanne. Diese riesige Steinbrücke erstreckt sich entlang der hohen Klippen in der Nähe der Inselmitte. Auf ihrem höchsten Punkt kann man den gesamten Pei-Wu-Wald im Süden überblicken. Dort oben ist es wirklich atemberaubend!
Aber es ging mir nicht um die Aussicht. Ich begab mich in ein kleines Klassenzimmer unterhalb der Brücke. Dort erfahren die meisten Kinder etwas über Liu Lang, den ersten Pandarenentdecker, der mir schon aus einem Brief von Onkel Chen bekannt war. Das gemütliche Freilichtzimmer war voller eifriger Kinder, denen Lehrensucher die Geschichte von Liu Lang erzählten. Ich nahm Platz, schloss die Augen und versuchte mir vorzustellen, dass ich die Geschichte zum ersten Mal hörte.
Die Erzählung über Liu Lang gab mir das Gefühl, dass alles möglich wäre! Davon inspiriert ging ich über die Steinbrücke zum Tempel der Fünf Sonnenaufgänge, einem strahlenden Turm in der Mitte der Insel. In das Gebäude zu gehen ist, als beträte man eine andere Welt. Regen tropfte von der Decke, eine sanfte Brise wehte durch meine Kleidung, und obwohl es draußen kühl war, kam die Temperatur im Innern einem Sommertag gleich.
Die Lehrensucher behaupten, dass der Tempel gemeinsam mit Shen-zin Su gewachsen sei, als wäre das Gebäude selbst ein Teil der Großen Schildkröte. Dies ist ein heiliger Ort, und zwar aus gutem Grund. Der Tempel beheimatet die vier alten Geister des Landes: Shu (Wasser), Wugou (Erde), Huo (Feuer) und Dafeng (Luft). Solang es ihnen gut geht, bleibt das Wetter gemäßigt und die Jahreszeiten nehmen ihren gewohnten Gang.
Der Tempel ist voller weiser Sprichwörter und seltener Gegenstände. Am meisten interessierte mich jedoch Liu Langs Statue im ersten Stock. Während ich ihn betrachtete, dachte ich über all die großen Dinge nach, die er vollbracht hatte. Für seine Taten brauchte man wirklich Mut! Selbst zu Hause war er bestimmt stets von Abenteuern umgeben.
Als ich wieder ging, traf ich Meister Shang Xi. Er ist eine ziemlich wichtige Person – ein edler und tapferer Pandaren, der Jung und Alt gleichermaßen als Berater dient. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich schon Ärger mit Shang hatte. Aber trotzdem war er immer nachsichtig gewesen – außer an dem Tag, als ich ihm seinen Tee mit Stinktierwasser aus den Singenden Teichen gekocht hatte. Auf jeden Fall war er guter Dinge und so stellte ich ihm einige Fragen, die mir schon länger unter den Krallen gebrannt hatten: Was würde Liu Lang tun, wenn er noch am Leben wäre? Wo würde er Abenteuer auf der Insel finden?
„Warum fragst du ihn nicht einfach?“, antwortete Meister Xi und zeigt auf die Statue. Daran hatte ich nicht gedacht! Aber einen Versuch war es wert. Nicht, dass ich wirklich eine Antwort erwartet hätte. Doch ich bekam sie!
Der Geist Shu hatte wahrscheinlich zugehört. Der kleine Kerl hüpfte auf Liu Langs Schulter und warf etwas Wasser auf den Boden. Nach einem kurzen Augenblick bewegte sich die Pfütze. Sie kroch wie ein Lebewesen zum Eingang des Tempels und sprang draußen die lange Treppe des Anbrechenden Morgens hinunter.
Ich folgte ihr, so schnell ich konnte, bis ich das nördlich vom Tempel gelegene weite Tal erreichte. Ich fragte das Wasser nicht, wohin es ging, denn das hätte die Überraschung zunichtegemacht. Genau wie Chen machte ich mich Schritt für Schritt auf die Reise!
2. Eintrag: Das anbrechende Dilemma
Meine Reise über die Wandernde Insel führte mich ins Tal des Anbrechenden Morgens!
Ich verfolgte die von Shu erschaffene Pfütze über die grasbewachsenen Hügel und durch die Dickichte der Gegend. Sie war mir stets einen Schritt voraus, was mich jedoch nicht im Geringsten störte. Zu dieser Jahreszeit war das Tal voller faszinierender Pflanzen und Tiere wie zum Beispiel Honigblattstrolchen. Diese raffinierten Waldgeister treiben gerne Schabernack und sorgen für allerlei Unruhe. Ich habe sie schon immer gemocht. Doch am besten an diesem Teil der Insel gefallen mir die hellroten Puzhubäume. Sie haben etwas Magisches an sich. Selbst nach dem Pflücken behalten ihre Blätter noch monatelang ihre Farbe.
Die Lehrensucher berichten, dass Liu Lang vor vielen Jahren verschiedene Schösslinge und Samen auf der ganzen Insel pflanzte. Gibt es deshalb auch in Pandaria dieselben Arten von Pflanzen und Blumen?Vielleicht benutzen dann auch dort die Leute Puzhublätter als Medizin und Dekoration wie wir.
Jedenfalls verlor ich Shus Wasser nördlich vom Tal des Anbrechenden Morgens irgendwo in Wu-Song aus den Augen. Und was noch schlimmer war: Niemand in der Siedlung hatte es gesehen! Wie ist es möglich, dass einem eine Wasserpfütze entgeht, die durch die Straßen tanzt? Aber man konnte den Dorfbewohnern wohl keine Schuld geben. Sie schienen vollends mit ihrer Arbeit und dem Kampftraining beschäftigt zu sein. Viele der besten Mönche der Insel werden ihn Wu-Song geboren und großgezogen, unter anderem aufgrund der Nähe des Dorfs zum Shang-Xi-Ausbildungsgelände, das direkt östlich auf einem großen Hügel gelegen ist. Den ganzen Tag über hallen die Geräusche von gegen Trainingspuppen schlagenden Fäusten und Waffen durch das darunterliegende Tal. Als ich mich zum Gelände begab, traf ich auf zwei der weisesten Pandaren überhaupt: Aysa Wolkensänger, eine Meisterin der Tushui-Schule, und Ji Feuerpfote, einen Huojin-Meister.
Beide dieser Philosophien sind ziemlich beliebt, haben jedoch jeweils einen ganz eigenen Charakter. Tushui lehrt einen zuallererst, das Richtige zu verteidigen. Es gibt nur einen wahren Weg im Leben, dem man stets folgen muss. Bei Huojin dagegen dreht sich alles um Leidenschaft und unmittelbares Handeln. Bei dieser Schule wird davon ausgegangen, dass man flexibel beim Erreichen seiner Ziele sein kann, wenn man das Allgemeinwohl zum Ziel hat.
Als Anhängerin des Wegs des Wanderers konnte ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, Aysa und Ji mit Fragen zu löchern. Also wollte ich von ihnen wissen, was ich tun sollte, um die Wasserpfütze zu finden.
„Setz dich hin, beobachte und warte, junge Pandaren“, sagte Aysa. „Shu ist ein uraltes Wesen und wird dir nicht immer antworten. Wenn sein Wasser dich finden will, wird es geschehen. Alles zu seiner Zeit.“
Ji hatte da einen etwas anderen Ansatz. „Du wirst das Wasser nur finden, wenn du gründlich vorgehst, kleine Sturmbräu. Suche jeden Baum und jedes Flussufer ab. Lasse nichts aus!“
Schließlich versuchte ich es auf beide Weisen. Zuerst setzte ich mich an Fus Teich, einen ruhigen Ort südlich vom Ausbildungsgelände. Ich meditierte mehrere Stunden, aber von Shus Wasserpfütze war nichts zu sehen. Dann folgte ich Jis Ratschlag und durchsuchte jeden Busch, den ich finden konnte. Aber dann erkannte ich schließlich, dass das alles nichts bringen würde. Meine Mission bestand im Entdecken. Falls Shu mich aus einem bestimmten Grund dorthin geführt hatte, sollte mir das vielleicht den ersten Schritt meiner Reise erleichtern.
Nachdem ich mich zurück auf den Weg zum Tempel der Fünf Sonnenaufgänge gemacht hatte, traf ich den Karrenfahrer Lun, der mit seinem großen Yak unterwegs war. Er hatte gerade einige Vorräte zum Tempel gebracht und machte sich nun bereit für die Rückkehr zum Dai-Lo-Bauernhof. Warum sollte ich also nicht einfach diesen Teil der Insel als Nächstes besuchen? Ich überredete Lun, mich auf seinem Karren mitzunehmen.
Allerdings schien er schlechte Laune zu haben. Er blickte so säuerlich drein, als hätte er in ein süßes Anko-Daifuku gebissen, das jemand mit ranzigem Yakkäse gefüllt hatte – was mir übrigens auch schon mal passiert ist. Nach einigen Fragen kam es dann schließlich heraus: Ho-zen-Diebe hatten seine Nahrungsvorräte geplündert!
Natürlich tat Lun mir leid, aber um ehrlich zu sein, war ich auch ziemlich begeistert. Dai-Lo zu erkunden war eine Sache, aber gleichzeitig auch den Diebstahl der Ho-zen zu untersuchen, war für mich wie ein Traum, der in Erfüllung ging.
Der nächste Abschnitt meiner Reise entwickelte sich immer mehr zu einem richtigen Abenteuer!
3. Eintrag: Wie man einen Ho-zen fängt
Nach meinen Erlebnissen im Tal des Anbrechenden Morgens ging es nun zum Dai-LoBauernhof!
Dieser wunderschöne Ort ist die Kornkammer der Wandernden Insel und wie ich in der Großen Bibliothek erfahren habe, gehört der Boden in dieser Region zu den fruchtbarsten der Welt. Dai-Lo selbst ist eine kleine Bauerngemeinde in der Nähe der „Ränge“ – langer, gewundener Abschnitte aus bestelltem Land voller Kürbisse, Möhren und anderen leckeren Dingen. Das reichhaltige Angebot frei zugänglicher reifer Nahrungsmittel macht das Gebiet zu einem bevorzugten Ziel für lästige Plagegeister wie die Shed-Ling. Diese pelzigen Biester fressen alles, was sie in ihre schmutzigen kleinen Hände bekommen, aber besonders gern mögen sie Gemüse.
Doch die Shed-Ling stellen nur eines der Probleme auf dem Bauernhof dar. Auf dem Weg nach Dai-Lo erzählte mir der Karrenfahrer Lun, dass eine Gruppe Ho-zen-Diebe sich in das Dorf geschlichen und einige Säcke Reis sowie verschiedenes Gemüse gestohlen hatten. Normalerweise halten sich diese hartnäckigen Affen in Fe-Feng im nordwestlichen Teil der Insel auf, machen manchmal aber auch hier Ärger.
Eines muss ich jedoch klarstellen: Ich mag Ho-zen. Sie haben ihre eigene, faszinierende Kultur und spezielle Bräuche. Ho-zen sind auf eine sympathische Art ziemlich verrückt. Aber gelegentlich übertreibensie es einfach.
Ich war geschockt, als ich erfuhr, dass niemand versuchte, die Diebe zu finden. Da schon die Shed-Ling überall herumschlichen, erschien es den Bauern aus Dai-Lo wohl nicht so schlimm, ab und zu ein paar Nahrungsmittel zu verlieren. Ich sah es aber anders: Falls die Bauern es zuließen, dass die Ho-zen ihre Ernte stehlen, würden es diese pelzigen Rabauken immer wieder tun. Sie vergriffen sich an unserem Essen und ich wollte nicht die Hände in den Schoß legen und sie ungeschoren davonkommen lassen!
Lun sagte, dass die Ho-zen zuletzt in den nördlich von den Rängen gelegenen Wäldern auf ihrem Weg zu einem Gebiet namens „Die Singenden Teiche“ gesichtet worden waren. Schon bald hatte ich eine Spur aus angenagten Möhren und weggeworfenen BrokkoliRöschen gefunden. Anscheinend mögen selbst Ho-zen keinen Brokkoli ... Ich folgte der Spur bis in die abgelegenen Smaragdwälder, in denen sich die Teiche befinden.
Zu den Singenden Teichen bin ich schon immer gerne gegangen. Dieser Ort ist ruhig und voller Magie. Ich habe dort viel Zeit verbracht und auf Pfählen balanciert, die hoch aus dem Wasser ragen. Dieses Training ist ganz schön spannend, da man nicht einfach nur nass wird, wenn man hineinfällt. Das Wasser hat noch eine ganz andere Eigenschaft.
Im Laufe der Jahre sind alle möglichen Arten von Tieren in den Teichen gestorben und ihre Geister haben sich mit dem verzauberten Wasser verbunden. Wenn man nass wird, dann ... BUMM! Als Nächstes ist man ein hüpfender Frosch oder watschelt als Schildkröte durch den Schlamm. Es gibt sogar einen Teich mit Stinktiergeistern. Wenn der Fluch vorbei ist, riecht man noch tagelang äußerst unangenehm!
Gründlich suchte ich alles ab und beobachtete Kinder, die unter Anleitung eines Pandaren namens Bo der Starke von Pfahl zu Pfahl hüpften. Das ist ein kräftiger und ernster Geselle, der auch mich schon seit Jahren unterrichtet. Er hat ein gutes Herz, allerdings kann man mit ihm so viel Spaß haben wie mit einem Eimer voller alter Fischköder. Bei Bo dem Starken heißt es immer: „Mach das nicht!“ – wie bei meinem Papa. Die beiden sind das genaue Gegenteil von Onkel Chen.
Bo der Starke entdeckte mich, als ich an den Teichen entlangging, und warf mir einen bösen Blick zu. Er dachte wahrscheinlich, ich führte nichts Gutes im Schilde. Und da hatte er natürlich recht ... Zum Glück war er zu sehr mit dem Training beschäftigt, als dass er mir Ärger bereiten konnte.
Schließlich fand ich die Ho-zen-Diebe – und zwar genau fünf von ihnen. Sie lungerten am Stinktierteich herum und stießen sich gegenseitig ins Wasser. Immer, wenn einer hineinfiel und sich kurz verwandelte, hüpften die anderen ganz aufgeregt herum, wobei sie prusteten und brüllten, als würde es in der Brauerei Ki-Han etwas umsonst geben.
Auf einem nahegelegenen Hügel entdeckte ich hinter einem Baum die Überreste der Reissäcke und des Gemüses. Die Ho-zen waren so in ihr Spiel vertieft, dass sie gar nicht bemerkten, wie ich mich leise an das Versteck heranschlich, um mir die Waren anzusehen. Ich kam näher und näher, bis die Nahrungsmittel nur noch eine Armlänge entfernt waren, und dann ... kamen plötzlich zwei flaumige Ho-zen-Babys hinter den Säcken hervor!
Ich hätte nicht gedacht, dass hier eine ganze Familie auf Diebestour gegangen war. Da sie mit der Beute anscheinend ihre Jungen gefüttert hatten, konnte ich es nicht übers Herz bringen, sie ihnen wegzunehmen. Aber ein bisschen Rache war durchaus noch drin. Also warf ich einen der gestohlenen Kürbisse nach den Ho-zen beim Teich und rannte in den Wald. Dem lauten Platschen nach zu urteilen hatte ich zumindest ein paar von ihnen erwischt. Allerdings dürften sie nach der Verwandlung in Stinktiere besser gerochen haben als vorher ...
Auf meinem Rückweg zum Bauernhof entschied ich mich für mein nächstes Ziel, den Pei-Wu-Wald, ein dicht bewachsenes und furchteinflößendes Stück Wildnis in der Nähe von Dai-Lo. Dorthin zu gehen, war für mich mehr als nur eine Erkundung. Als Kind schlich ich mich alle paar Jahre in den Pei-Wu-Wald, lief dann allerdings nach ein paar Schritten immer ganz schnell nach Hause, da ich zu große Angst hatte, weiterzugehen.
Tja, nun war wohl die Zeit gekommen, mich endlich meinen Ängsten zu stellen. Ich besorgte mir Vorräte aus Dai-Lo und machte mich auf den Weg in den Pei-Wu-Wald, den gefährlichsten und verbotensten Ort auf der gesamten Wandernden Insel!
4. Eintrag: Der Verbotene Wald
Vollgepackt mit Vorräten vom Dai-Lo-Bauernhof bereitete ich mich auf meine Reise zum tödlichsten Ort auf der Wandernden Insel vor, dem Pei-Wu-Wald!
Der Wald ist gefährlich und der Zutritt daher fast allen Pandaren untersagt. Ich wusste, dass es nicht einfach sein würde, mich hineinzuschleichen. Der dichte Bambuswald ist von Hügeln und steilen Bergen umrandet und der einzige Zugang wird von zwei riesigen Toren versperrt. Diese unnachgiebigen Tore liegen vor Mandori, wo ich mein ganzes Leben verbracht habe. Das mag zwar praktisch klingen, bedeutet aber auch, dass in der Nähe der Tore immer Pandaren anzutreffen sind. Es ist also sehr schwierig, dieses Hindernis unbemerkt zu überwinden.
Was alles noch schlimmer machte, war, dass ich Bo den Starken sah, als ich nach einem stillen Fleckchen suchte, von dem aus ich das erste Tor genauer untersuchen konnte. Warum nur musste er unbedingt heute im Dorf herumschnüffeln? Er fragte mich, was ich vorher bei den Singenden Teichen gemacht hätte. „Ich habe die Schönheit und Pracht unserer Heimat genossen“, antwortete ich ihm – und das war nicht gelogen!
Trotzdem kniff Bo der Starke einfach nur die Augen zusammen und blickte mürrisch drein, wie immer. (Ich frage mich, ob er weiß, wie sehr er einer runzeligen Mooshautkröte ähnelt, wenn er das macht.) Da Bo unbedingt mit seiner fetten Schnauze herumschnüffeln musste, ging ich nach Hause, um mich etwas auszuruhen und abzuwarten, bis die Luft wieder rein war. Noch vor Sonnenaufgang verließ ich die stillen, verlassenen Straßen und kletterte mit einem Seil aus Yakhaar, das ich vom Dai-Lo-Bauernhof mitgebracht hatte, über die zwei großen Tore.
Schon bald erhob sich die Sonne über den Horizont, das dicke Kronendach des Pei-Wu-Waldes blockierte jedoch fast das ganze Licht. Nebelschwaden lagen dicht über dem Waldboden und erschwerten mir zusätzlich die Sicht. Um mich herum konnte ich aber Geräusche hören ... Unmengen von Geräuschen. Die Region ist für ihre reichhaltige Tierwelt wohlbekannt, doch es gibt nur eine Kreatur, die das Herz aller Pandaren mit Furcht erfüllt: der wilde Pei-Wu-Tiger.
Und einer von ihnen hatte es auf mich abgesehen. Wohin ich auch ging, aus einiger Entfernung folgte mir das Geräusch schwerer Pfotenschritte. Wenn ich anhielt, hielt auch mein Verfolger an. Wenn ich mich bewegte, bewegte auch er sich. Dann, ganz plötzlich, stürzte die Bestie schnaubend und knurrend auf mich zu. Ich nahm die Haltung des starken Ochsen an, um mich zu verteidigen, als die riesige Gestalt plötzlich aus dem Nebel hervortrat – es war Bo der Starke!
Warum konnte er sich nicht einfach um seine eigenen Angelegenheiten kümmern? Ohne ein Wort brachte Bo mich zurück nach Hause. Dann weckte er Papa auf und erzählte ihm, dass ich mich in den verbotenen Wald geschlichen hatte. Papa stauchte mich eine gute Stunde lang zusammen, bevor er sich wieder beruhigte. Zur Strafe, so entschied er, sollte ich eine ganze Woche lang das komplette Übungsprogramm bei den Singenden Teichen über mich ergehen lassen ... unter Bos strenger Aufsicht.
Ich versuchte, Papa zu erklären, worum es mir ging ... dass ich mich der Erkundung der Großen Schildkröte gewidmet hatte und darüber schrieb, wie wundervoll die ganze Reise war. Ich hatte geglaubt, es würde ihn glücklich machen, doch er schien sich weder darum zu kümmern noch mich zu verstehen.
Papa sagte, dass meine Bestrafung am nächsten Tag beginnen würde, was bedeutete, dass ich noch einen weiteren Ort besuchen konnte. Ich kochte noch immer vor Wut wegen allem, was geschehen war, machte mich aber dennoch auf den Weg nach Westen.
Schließlich gelangte ich zu einem langen, gewundenen Pfad, der zum Stabwald führte – der letzten Ruhestätte der Pandarenältesten der Wandernden Insel. Ein riesiger Steinlöwe, der Wächter der Ältesten, hütet den Eingang. Das mächtige Wesen gewährt nur jenen Zugang, die es im direkten Kampf bezwingen können. (Ich gehörte mit zu den jüngsten Pandaren, denen dies jemals gelungen war.)
Vor vielen Jahren, bevor er die Große Schildkröte verließ, hatte Onkel Chen mir erzählt, dass er diesen Teil der Insel oft auf der Suche nach Inspiration besuchte. Damals verstand ich ihn nicht, aber heute tue ich es. Dieser Ort ist von Magie erfüllt. Wenn jemand hier zur Ruhe gebettet wird, pflanzt man den Gehstab des oder der Verstorbenen in den Waldboden und der Stab wächst schließlich zu einem wundersamen Baum heran. So ist hier nach vielen Generationen ein ganzer Wald entstanden, der die gesamte Geschichte der größten Pandaren der Insel verkörpert.
Selbst meine Familie hat hier ein Grab, doch darüber möchte ich lieber nicht schreiben. Ich habe es dieses Mal nicht besucht. Nach dem Streit mit Papa konnte ich nicht noch mehr Kummer ertragen.
Als ich durch eines der ältesten Dickichte des Waldes spazierte, begegnete ich dem Ältesten Shaopai, der am Schrein seiner Familie gerade ein paar Räucherstäbchen anzündete. Shaopai ist ein unglaublich weiser Pandaren aus dem nahe gelegenen Morgenhauch. Der Älteste hat sein ganzes Leben dem Aufzeichnen weiser Worte gewidmet, zum Wohle zukünftiger Generationen.
Shaopai begleitete mich einen Teil des Weges, deutete dabei auf verschiedene Bäume und erklärte mir, an wen sie uns erinnern sollen. Bevor er den Rückweg in sein Dorf antrat, sagte er noch zu mir: „Ich spüre, dass dich etwas belastet, kleine Sturmbräu. Es steht mir nicht zu, dir Fragen zu persönlichen Dingen zu stellen, aber nimm bitte dies.“ Der Älteste gab mir einen glatten, runden Gegenstand, der kaum größer als meine Pfote war – es war ein Kummerstein. „Wenn dir das Leben schwer auf den Schultern lastet, kann der Kummerstein deine Last mindern. Seine Magie ist sehr stark."
Ich hatte die Kummersteine immer für nutzlosen Schnickschnack gehalten, doch wenn ein Weiser wie Shaopai an ihre Kraft glaubt, dann glaube auch ich daran.
Als ich schließlich den Wald verließ, überkam mich ein merkwürdiges Gefühl, das ich seither nicht abschütteln konnte. Ich war dankbar für Shaopais Geschenk und auch dafür, dass ich so viele wundervolle Orte auf dieser Insel bereisen konnte, aber ich wollte mehr. Die Wandernde Insel ist ein wunderschönes und zauberhaftes Land voller Geschichten und Wunder. Doch sie ist auch mein Zuhause. Ich habe hier alles gesehen. Aber da draußen, dort wartet eine ganze Welt darauf, entdeckt zu werden. Und ich mache mir Sorgen, weil ich fürchte, dass ich sie niemals sehen werde.
Den Rest des Tages verbrachte ich in der Großen Bibliothek und las erneut Onkel Chens Briefe durch. Er fehlt mir. Papa sagt, dass mein Onkel wahrscheinlich bei einem seiner „verrückten“ Abenteuer ums Leben gekommen ist, aber das glaube ich nicht. Ich weiß, dass er noch irgendwo da draußen ist, und ich weiß, dass er eines Tages zurückkehren wird.
Und bis dahin kann ich nichts weiter tun, als den Weg des Wanderers hier auf der Großen Schildkröte am Leben zu erhalten. Onkel Chen wäre stolz darauf ... Meine Ahnen wären stolz darauf. Denn genau für dieses Leben waren wir immer bestimmt! Liu Lang sagte einst selbst: „Jeder Horizont ist wie eine Schatztruhe, jede leere Karte eine Geschichte, die erzählt werden will.“
Wenn Papa das doch nur auch verstehen könnte. Aber es spielt keine Rolle, was er sagt. Eines Tages werde ich mir in dieser Welt einen Namen machen.
Und wenn es so weit ist, wird Onkel Chen an meiner Seite sein.
5. Eintrag: Der Jadewald
Seit meinem letzten Eintrag in diesem Tagebuch ist viel geschehen. Erst einmal ist Onkel Chen (dank der Hilfe meiner Wenigkeit) endlich nach Hause auf die Wandernde Insel zurückgekehrt. Kurz darauf brachen wir zu den weit entfernten Winkeln der Welt auf, um nach dem legendären Kontinent Pandaria zu suchen. Die meisten Bewohner der Großen Schildkröte glaubten, dass dieser Ort schon lange zuvor durch Kriege und Krankheiten zerstört worden war.
Nun, da lagen sie falsch.
Nachdem wir gegen Piraten gekämpft, einen wilden Sturm auf See überlebt und alle Arten von Gefahren überstanden hatten, gelang Onkel Chen und mir das Unmögliche: Wir fanden Pandaria, das Heimatland unserer Ahnen!
Doch die Reise dorthin verlief nicht ganz nach Plan. Geführt hat uns die Perle von Pandaria, ein mystisches Artefakt, die mir in Visionen zeigte, wie ich den Kontinent finden konnte. Es wäre allerdings schön gewesen, wenn uns diese dumme Perle vor der Gefährlichkeit der Reise gewarnt hätte.
Aber wichtig ist, dass wir Pandaria in einem Stück erreichten. Wir gingen in der Nähe des Jadewalds an Land, einer sich an der Ostküste des Kontinents erstreckenden Region. So weit das Auge reichte, waren grüne Wälder und Bambusdickichte voller seltsamer Pflanzen und Tiere zu sehen.
Onkel Chen und ich hatten zwar keine Karte, aber das war kein Problem. Nachdem wir uns die nähere Umgebung angesehen hatten, schlugen wir eine zufällige Richtung ein und begannen unsere Reise, wie es sich für wahre Anhänger des Weges des Wanderers gehört: Schritt für Schritt.
Schon bald tauchten die Bewohner auf und grüßten uns. Dutzende Echsenwesen mit Knopfaugen (die Saurok, wie ich später erfuhr) stürzten aus dem Wald hervor. Ihr Geruch ähnelte altem Leder, das man in verdorbenem Bier eingelegt und dann in ein Fass von Großmutter Meis fermentierter Fischpaste gesteckt hat. Und das war auch schon das Beste an ihnen.
Wir (oder eigentlich hauptsächlich Onkel Chen) machten kurzen Prozess mit den Ledergesichtern. Einige Problemchen hatten wir nur mit dem Anführer, einem riesigen Saurok voller Narben, Kriegsbemalungen – und noch mehr Narben. Aber schon bald zog er sich schreiend wie ein Kleinkind in den Wald zurück.
Das schmuddelige Lager der Saurok fanden wir in der Nähe. Es war voller Beute: Wagen mit Getreide und Gemüse und große Brocken reiner Jade. Während wir uns die Sachen ansahen, kam eine Gruppe Pandaren langsam aus dem Wald hervor. Als sie feststellten, dass die Saurok fort waren, verbeugten sie sich und überschütteten uns mit Lob, als wären wir Helden gewesen! Wie sich herausstellte, hatten die Ledergesichter das Gebiet terrorisiert, und alle Versuche, sie zu besiegen, waren fehlgeschlagen.
Unsere neuen Bewunderer waren vollkommen baff, als Onkel Chen ihnen erzählte, dass wir von der Wandernden Insel stammen. Die Leute in Pandaria hatten die Große Schildkröte seit Jahrhunderten nicht gesehen und die meisten von ihnen dachten, dass es die Insel nicht mehr gäbe. Ich war überrascht, wie sehr die Pandaren im Jadewald denen bei uns zu Hause ähnelten. Außer einigen kleinen Unterschieden wie der Kleidung gab es nicht viel, was sich über die Generationen hinweg geändert hatte.
Als sie erfuhren, dass wir ganz normale Entdecker waren, erzählten sie uns eine Menge über den Jadewald, seine Bewohner und seinen wichtigsten Ort: den Tempel der Jadeschlange. Dieser unglaubliche Tempel war nicht nur ein Monument für den legendären Pandarenkaiser Shaohao, sondern auch eng verbunden mit der Jadeschlange Yu'lon, einem der vier himmlischen Wesen, die über Pandaria wachten.
Als Onkel Chen und ich das Tempelgelände erreichten, meißelten Arbeiter gerade eine riesige Jadestatue namens „Schlangenherz“. Alle hundert Jahre überträgt Yu'lon ihre Lebensessenz in die Skulptur, die sich daraufhin in ein neues Wesen verwandelt. Dieser Kreislauf – das Erbauen von Statuen, um Yu'lon ihre Wiedergeburt zu ermöglichen – hatte seit Generationen bestanden, war jedoch von den Saurokräubern in Gefahr gebracht worden, die den Vorrat der Arbeiter an kostbarer Jade gestohlen hatten.
Einer der Tempelverwalter, Ältestenweiser Ren-Zhu, war so nett, Onkel Chen und mich ein wenig herumzuführen. Nach Norden ging es zum Arboretum, einem wundervollen Ort, an dem der Orden der Wolkenschlange beheimatet war. Diese furchtlose Gruppe hatte sich schon lange mit dem Zähmen, der Aufzucht und dem Reiten der Wolkenschlangen befasst, den majestätischen fliegenden Tieren, die ich am Himmel über dem Tempel gesehen hatte.
Der alte Ren-Zhu sagte, dass er uns zum Dank für den Sieg über die Saurok und die zurückgebrachte Jade jeden Wunsch erfüllen würde. Mein erster Impuls war, ihn um eine eigene Schlange zu bitten (die Jungen waren wirklich süß!), aber für Onkel Chen ging das ein bisschen zu weit. Also entschied ich mich für das Nächstbeste: einen Ritt auf einer Wolkenschlange!
Ich war zwar schon zu Hause mit einem der riesigen Kraniche und sogar im Zeppelin eines Goblins geflogen, aber diese Wolkenschlange war schon eine Klasse für sich. Sie schoss schneller in die Luft als alles andere, was ich je zuvor gesehen hatte. Aus dieser Höhe konnte ich gut erkennen, was hinter dem Jadewald lag. Im Westen gab es sanft ansteigende Ebenen und Ackerland. Im Nordwesten lag eine unglaublich hohe Bergkette mit schneebedeckten Gipfeln. Pandaria war riesig. Es gab dort so viel zu entdecken. Ich erkundete einen gesamten Kontinent, den seit Generationen kein Pandaren der Wandernden Insel mit eigenen Augen erblickt hatte!
Bevor mein Onkel und ich aufbrachen, um den Rest des Waldes zu erkunden, gaben wir Ren-Zhu die Perle von Pandaria. Er hatte uns wie einen Teil seiner Familie behandelt und als wir sahen, wie sehr die Pandaren den Tempel als Zentrum der Weisheit und Einsicht verehrten, war für uns klar, dass sie die Perle bekommen sollten. Sie herauszugeben, war nicht einfach, aber sie hatte mir bereits den Weg nach Pandaria gewiesen. Nun war für sie die Zeit gekommen, jemand anderen zu seiner Bestimmung zu führen.
In den darauffolgenden Wochen hatten Onkel Chen und ich vor allem eine Beschäftigung: Wir wanderten! Der Jadewald schien sich unendlich zu erstrecken und an jeder Ecke gab es etwas Neues und Spannendes: abgelegene Pandarenschreine, mit Ranken bedeckte antike Ruinen und Mönchskloster hoch in den Bergen. Das einzige Problem bestand darin, dass mein Onkel im Schneckentempo ging und sich alle paar Minuten hinsetzte, „um die Landschaft zu genießen“, wie er es ausdrückte.
Schließlich erreichten wir den Rand des Jadewalds. Vor uns lag das Tal der Vier Winde mit seinem Ackerland, das ich von der Wolkenschlange aus gesehen hatte. Ich war ganz wild darauf, etwas anderes als einen Wald zu erkunden, hätte aber nie erwartet, was Onkel Chen und mir auf dem nächsten Abschnitt unserer Reise begegnen sollte.
Schon bald darauf machten wir eine Entdeckung, die unser Wissen über die Familie Sturmbräu in den Grundfesten erschütterte!
6. Eintrag: Das Tal der Vier Winde
In den Wochen, in denen Onkel Chen und ich den Jadewald erkundeten, begann ich mich wie eine Fremde ohne wirkliche Verbindung zu Pandaria zu fühlen. Klar, meine Vorfahren stammen aus diesen Landstrichen, aber das liegt schon Generationen zurück. Obwohl ich ein paar Ho-zen getroffen hatte (noch größer und sogar noch verrückter als ihre Brüder zu Hause), war sonst auf diesem Kontinent fast alles anders, als ich es kannte.
Tja, doch dann besuchte ich das Tal der Vier Winde. Dort fühlte ich mich sofort wie zu Hause, allerdings war alles wesentlich größer. Das als Kornkammer von Pandaria geltende Tal war bedeckt mit ausgedehnten Ackerflächen, gegen die die Ränge auf der Wandernden Insel wie ein kleiner Garten anmuteten. Von einer Ernte dieses Tals hätten sich wahrscheinlich alle Pandaren in Mandori – und sogar Dickerchen wie Onkel Chen – ein Leben lang ernähren können.
Ich könnte dieses gesamte Tagebuch mit unglaublichen Dingen füllen, die ich im Tal sah – von der tosenden Huangtzekaskade bis hin zu den magischen Teichen der Reinheit. Aber nicht das Neue hat meine Aufmerksamkeit erregt, sondern die vertrauten Dinge, die ich an einem so weit von zu Hause entfernten Ort niemals erwartet hätte.
Diese Entdeckungen begannen, als Onkel Chen und ich das Tal an der Seite von Helden aus anderen Ländern Azeroths erkundeten, die Pandaria ebenfalls bereisten. Auf Fremde zu stoßen, war keine große Überraschung. Mein Onkel erzählte mir, dass ihm einige Wochen zuvor Mitglieder der Horde und Allianz über den Weg gelaufen waren, während ich geschlafen hatte. Wie sich herausstellte, sorgten die beiden Fraktionen im Jadewald für allerlei Ärger. Sie hatten sogar Einheimische wie die Ho-zen und ein Fischvolk namens Jinyu in ihren Konflikt hineingezogen. Zum Glück waren Onkel Chen und ich bereits dabei, den Wald zu verlassen, als diese Dinge geschahen.
Kurz nachdem wir das Tal betreten hatten, trafen wir Trübtrunk, einen freundlichen Pandaren, der sein eigenes Bier mit schmutzigem Wasser braute. Er war ein bisschen verrückt, aber ich mochte den großen Kerl. Aus heiterem Himmel erzählte er uns von einer Sturmbräu-Brauerei in der Gegend. Onkel Chen und ich konnten es gar nicht glauben. Wir hatten Angehörige in Pandaria – und eine Brauerei! Diese Nachricht brachte Chen dazu, sich zum ersten Mal seit Wochen schneller als ein paar Schritte pro Stunde zu bewegen.
Leider war die Brauerei in einem sehr schlechten Zustand. Shed-Ling, die denen auf der Wandernden Insel bis aufs Haar glichen, hatten die Getreide- und Reislager befallen. Hozen hatten Teile des Gebäudes eingenommen und waren dort Sturm gelaufen. Und was noch schlimmer war: Onkel Gao, der für die Brauerei verantwortliche Sturmbräu, wollte uns nicht mal helfen! Aber Chen und ich ließen uns die größte Entdeckung unserer Familiengeschichte nicht von irgendeinem griesgrämigen Verwandten ruinieren.
Schließlich beseitigten wir die Schädlinge in der Brauerei, was uns ohne die anderen Neuankömmlinge nicht gelungen wäre. Als alles wieder unter Kontrolle war, wurde Gao etwas zugänglicher. Zuvor hatten viele weitere Sturmbräus in der Brauerei gewohnt und gearbeitet, waren aber nach Westen gezogen, um gegen ein uraltes Insektenvolk namens Mantis zu kämpfen. Gao hatten sie zurückgelassen, damit er sich um die Brauerei kümmert. Auf ihm muss ein ziemlicher Druck gelastet haben, der Familie gerecht zu werden, da seine Bemühungen zu einigen ziemlich instabilen Gebräuen geführt hatten – von der Sorte, die lebendig werden und einen umbringen wollen.
Gao wusste nicht, wann die anderen Sturmbräus zurückkehren würden, erzählte uns aber alles über sie. Er klärte uns auch über die Geschichte unserer Familie im Tal und darüber auf, wie weit sie zurückreichte. Direkt vor der Brauerei zeigte er uns einen alten, der Witwe Mab Sturmbräu und ihrem Sohn Liao gewidmeten Schrein. Von den beiden hatte mir schon mein Papa erzählt. Nachdem Mabs Mann bei einem tragischen Traubenpressenunfall ums Leben gekommen war, hatte sie mit Liao ein neues Leben auf der Wandernden Insel begonnen.
Außer der Familie Sturmbräu gab es noch engere Verbindungen zwischen dem Tal und meiner Heimat. Gao behauptete, dass Liu Lang – der Gründer der Wandernden Insel – in der Nähe der Brauerei geboren worden und aufgewachsen war. Das muss man sich mal vorstellen! Sein Geburtsort bei einem Dorf namens Steinpflug befand sich am westlichen Rand des Tals.
Jeden Tag erfuhr ich neue Dinge über die Region und meine entfernten Verwandten. Alles lief gut, bis plötzlich schlechte Nachrichten eintrafen ...
Am Schlangenrücken, einer riesigen Mauer im Westen, geschah etwas Großes. Viele Jahre zuvor hatten die Mogu – gigantische Bestien und die ehemaligen Herrscher von Pandaria, bevor sie von meinen Vorfahren einen Tritt in den Allerwertesten bekommen hatten – die Barriere als Schutz vor ihren Erzfeinden, den Mantis, errichtet. Mittlerweile bewachten die Pandaren den Schlangenrücken, allerdings hatten diese Insektendinger kurz zuvor ihre Verteidigung durchbrochen und begannen nun mit einer Invasion der nächsten Siedlung: Steinpflug!
Onkel Chen und ich schlossen uns einer großen Pandarengruppe an, die sich in Steinpflug versammelt hatte, um die Angreifer abzuwehren. Zwar erledigten wir die Mantis, allerdings hatte ich das Gefühl, dass noch weitere Angriffe folgen würden. Die Einwohner erzählten von einer anderen Macht, die für den Angriff verantwortlich gewesen sein sollte – das düstere und geheimnisvolle Sha. Beim Gedanken daran, dass es so etwas in Pandaria gab, ließ es mir kalt den Rücken runterlaufen.
Nach dem Angriff beruhigte sich die Situation wieder. Onkel Chen und Onkel Gao diskutierten in der Brauerei tagelang über Rezepte und probierten neue Biere aus. Für mich war das in Ordnung. Seit unserer Ankunft in Pandaria hatte mich Chen immer gebremst. Nun wollte ich unbedingt selbst auf Entdeckungsreise gehen und hatte bereits den perfekten Ort dafür ausgemacht: die Krasarangwildnis. Von dort aus hatte Liu Lang Pandaria einst auf Shen-zin Su verlassen, der Meeresschildkröte, die schließlich zur Wandernden Insel heranwachsen sollte!
Von Krasarang hatte mir einer der Bauern im Tal berichtet. Er hatte mich vorgewarnt, dass der Ort sehrgefährlich wäre, aber das zu hören, steigerte mein Verlangen, ihn zu erkunden, noch mehr. Also besorgte ich mir ein paar Vorräte und schrieb Onkel Chen, wohin ich gehen würde. Er steckte mit seiner Nase so tief in Säcken voller Hopfen und Gerste, dass ich davon ausging, wieder zurück zu sein, bevor er es überhaupt mitbekommt.
Endlich war ich frei und ging meinen eigenen Weg. Nächster Halt: die Krasarangwildnis und der Ursprung der Wandernden Insel!
7. Eintrag: Die Krasarangwildnis
Auch ohne Onkel Chens Hilfe war es einfach, die Krasarangwildnis zu finden. Aber mich in diesem düsteren Sumpfgebiet an der Küste zurechtzufinden, war eine ziemliche Herausforderung. Das dichte Blattwerk hielt das Sonnenlicht ab, wodurch es fast unmöglich war, sich zu orientieren. Wenn ich nicht über knorrige Wurzeln stolperte, verfing ich mich in diesen dummen großen Ranken, die von den Bäumen hingen. Und dann waren da noch die Tiere: Saurok, riesige fauchende Wespen und andere Arten bedrohlicher Viecher gab es dort im Überfluss.
Es war genauso spannend, wie ich es mir erhofft hatte!
Aber es störte mich, dass ich die Stelle nicht finden konnte, an der Liu Lang diesen Ort auf Shen-zin Su verlassen hatte. Nach Tagen der ergebnislosen Suche traf ich den ersten Pandaren seit geraumer Zeit: einen Angler namens Ryshan, der gerade eine Fischladung an Zhus Wacht geliefert hatte. Dieser Außenposten im Nordosten der Krasarangwildnis war erbaut worden, um gefährliche Biester wie die Saurok davon abzuhalten, Reisende auf dem Weg zur Küste anzugreifen.
Freunde müssen in Krasarang ein seltenes Gut sein, da Ryshan mich wie ein Familienmitglied behandelte, obwohl wir uns erst seit Kurzem kannten. Als ich erklärte, warum ich in der Wildnis unterwegs war, berichtete er mir, dass die Stelle, an der Liu Lang Pandaria verlassen hatte, in der Nähe seines Dorfes – der Anlegestelle der Angler – lag. Er war so nett, mich in seine Siedlung einzuladen, damit ich meine Vorräte aufstocken konnte, bevor ich dorthin aufbrach. Endlich lief es wieder besser!
Auf dem Weg zum Dorf erzählte mir Ryshan von der Geschichte der Krasarangwildnis. In diese Wälder wagen sich nur wenige Pandaren. „Nur Angler und Verrückte – falls es da überhaupt einen Unterschied gibt“, sagte er voller Stolz. Wir gingen an einigen zerfallenen alten Ruinen vorbei, die seinen Informationen nach einst den Mogu gehört hatten. Vor dem Niedergang ihres Reiches hatten einige dieser großen Ungetüme in Krasarang gelebt. Erst kürzlich waren die Mogu wieder aufgetaucht, um ihre ehemaligen Territorien zurückzufordern, allerdings wurden sie von Helden wie jenen, die Onkel Chen und mir bei der Familienbrauerei geholfen hatten, aufgehalten.
Als wir an der Anlegestelle der Angler ankamen, brach schon fast die Abenddämmerung herein. Da das kleine Dorf mit seinen baufälligen Hütten vor der Küste von Krasarang lag, mussten Ryshan und ich per Boot übersetzen. Kein großes Problem, oder? Von wegen: Nachdem wir losgefahren waren, schrie der Angler plötzlich auf und schwang eines der Ruder. Was konnte einen tapferen Pandaren wie ihn aus der Fassung bringen? Krokolisken? Saurok? Ich hatte wirklich Angst um mein Leben, bis ich den Missetäter schließlich erblickte: einen Beuteldachs.
Diese pelzigen kleinen Kerlchen waren meisterhafte Diebe und naschten unglaublich gerne Fisch. Mit anderen Worten waren sie der Fluch der Angler. Der Beuteldachs in unserem Boot war ziemlich wild. Als Ryshan mit dem Ruder auf das Deck schlug, schreckte er nicht mal zurück, sondern fauchte und schlug mit seinen Krallen nach dem Angler.
Beuteldachse bleiben normalerweise im Tal der Vier Winde, aber dieser hatte den weiten Weg nach Krasarang zurückgelegt. Ich beruhigte Ryshan, indem ich versprach, mich um das kleine Fellknäuel zu kümmern und dafür zu sorgen, dass er keinen Fisch in die Pfoten bekam. Das war das Mindeste, was ich tun konnte, da der Beuteldachs ja immerhin auch ein Entdecker war. Seltsamerweise erinnerte er mich an meinen älteren Bruder Shisai. Vielleicht lag es an seinem dicklichen Gesicht und den buschigen Ohren, vielleicht aber auch an der Art, wie er alte Futterreste aus seinem Fell herauspickte und ohne Rücksicht darauf, wie eklig er dabei aussah, verspeiste. Wie auch immer, ich entschied mich, den Beuteldachs nach meinem großen Bruder zu benennen. So schwierig es auch zu glauben war, ich vermisste Shisai wirklich. Nun ja ... zumindest ein bisschen.
An der Anlegestelle der Angler brieten Ryshan und seine Freunde einen Teil des Tagesfangs und erzählten mir ihre schönsten Anglergeschichten. Als ich ihnen sagte, dass ich von der Wandernden Insel käme, nahmen sie dies als Herausforderung, mir noch abenteuerlichere Geschichten zu präsentieren und begannen, lang und ausufernd über einen Babykraken zu berichten, den sie Jahre zuvor gefangen hatten.
Nur Angler und Verrückte. Ja. Das traf den Nagel auf den Kopf.
Eine der interessantesten Erzählungen drehte sich um den Tempel des Roten Kranichs. Dieser in der Mitte der Krasarangwildnis gelegene, massive Komplex war zu Ehren des himmlischen Chi-Ji, auch bekannt als der Rote Kranich, erbaut worden. Laut Ryshan nannte man dieses mächtige und gütige Wesen auch den Geist der Hoffnung. Vor nicht allzu langer Zeit war etwas Gefährliches aus den Tiefen des Tempels des Roten Kranichs entkommen: Sha. Dieses seltsame Übel war später bezwungen worden, doch erst, nachdem sich ein Schatten der Verzweiflung über die Wildnis gelegt hatte.
Ich hatte vom Sha bereits während des Mantisangriffs auf Steinpflug im Tal der Vier Winde gehört. Warum tauchten diese eigenartigen Dinger plötzlich überall auf? War wirklich ganz Pandaria davon betroffen? Wenn ich nur an das Sha dachte, bekam ich schon eine Gänsehaut. Und gut schlafen konnte ich in dieser Nacht auch nicht wirklich.
Als ich mich am nächsten Morgen aufmachen wollte, nach dem Ursprungsort der Wandernden Insel zu suchen, landete ein riesiger Heißluftballon an der Anlegestelle der Angler! Der Pilot, ein freundlicher Pandaren namens Shin Flüsterwolke, war aus der nördlichen Region des Kun-Lai-Gipfels gekommen, um sich eine Ladung Fisch abzuholen. Anscheinend wollte er ihn an einen heiligen Ort hoch in den Bergen – den Tempel des Weißen Tigers – ausliefern. Der Fisch in Krasarang schien zum besten in ganz Pandaria zu gehören. Warum sonst hätte Shin so weit nach Süden reisen sollen?
Je mehr Shin über Kun-Lai erzählte, desto mehr entstand in mir der Wunsch, es selbst zu sehen. Der Ballonpilot sagte mir, dass ich ihn gerne begleiten dürfte, wenn ich ihm helfen würde, den Fisch einzuladen. Wie konnte ich dazu schon Nein sagen? Ich hatte zwar immer noch nicht die Stelle gefunden, an der Liu Lang und die Große Schildkröte ihre Reise über das Meer angetreten hatten, aber zumindest wusste ich nun, wo ich ungefähr suchen musste. Onkel Chen und ich könnten ja irgendwann später zurückkehren. Aber wann hätte ich noch einmal die Gelegenheit erhalten, zum Kun-Lai-Gipfel zu fliegen?Da mein Onkel sich in der Brauerei verkrochen hatte, hätte es noch Wochen – oder sogar Monate – dauern können, bevor wir endlich Pandarias entfernte Winkel besuchen würden. Vielleicht wäre es auch nie dazu gekommen. Ich stellte mir vor, wie Onkel Chen in der Brauerei saß, Unmengen von Bier trank und dicker als Shins Ballon wurde – so dick, dass er nicht mal mehr durch die Tür gepasst hätte!
Jetzt gab es nur noch eine Sache zu tun: Ich krempelte die Ärmel hoch, hielt die Luft an und begann, Fischfässer in den am Ballon hängenden großen Korb zu verladen. Danach roch ich wahrscheinlich wie eine echte Anglerin, aber das war nur ein geringer Preis für eine kostenlose Reise zu einem solch geheimnisvollen und spannenden Ort wie dem Kun-LaiGipfel.
Nachdem ich mich von den Anglern verabschiedet hatte, steckte ich Shisai in meine Reisetasche und sprang an Bord des Ballons. Schon bald stiegen wir immer höher über die Krasarangwildnis auf! Der Wind trug uns nach Norden über den Jadewald und bis zum majestätischen Kun-Lai-Gebirge. Durch die lockeren weißen Wolken konnte ich langsam mein Ziel erkennen.
Als ich Shin sagte, wie schön Kun-Lai aus der Ferne wirkte, wurde er traurig. „Es ist schon seltsam, wie perfekt alles von oben aussieht“, sagte er. „Kun-Lai ist ein wundersamer Ort. Aber mittlerweile gibt es auch dort Probleme. Ein Sturm braut sich über der Region zusammen, Kleines.“
Shin erklärte, dass in Teilen von Kun-Lai Krieg herrsche. Allerdings sollte ich mir keine Sorgen machen, da das Gebiet, in das er mich bringen würde, sicher wäre. Trotzdem fragte ich mich, ob es nicht ein Fehler gewesen war, mitzufliegen.
Dann erinnerte ich mich daran, dass Onkel Chen und alle anderen großen Entdecker gefährliche undfriedliche Orte bereisen mussten. Für einen Wanderer gehörte das einfach dazu. Ich holte tief Luft und blickte nach vorn, bereit, mich jeder Herausforderung zu stellen, die mich in den verschneiten Bergen des Kun-Lai-Gipfels erwarten würde!
Eintrag 8: Kun-Lai-Gipfel
Ich hatte gedacht, dass der Jadewald schon ziemlich groß wäre, aber mit dem Kun-Lai-Gipfel war er nicht zu vergleichen. Die Berge waren so hoch, dass ich selbst im Heißluftballon meinen Hals recken musste, um zu erkennen, wo die verschneiten Abhänge über den Wolken verschwanden.
Unser Ziel – der Tempel des Weißen Tigers – befand sich im Nordosten vom Kun-Lai. Genau wie die Tempel im Jadewald und in der Krasarangwildnis war er einem der legendären Erhabenen Pandarias gewidmet, in diesem Fall dem Weißen Tiger Xuen. Der Ballonfahrer Shin nannte dieses Wesen auch den Geist der Stärke, die man in diesen unwirtlichen Bergen sicherlich gut gebrauchen kann.
Auf dem Tempelgelände herrschte bei unserem Eintreffen klirrende Kälte und nachdem wir die Fischfässer ausgeladen hatten, waren meine Pfoten vollkommen taub. Selbst mein Beuteldachs Shisai konnte der Kälte nichts entgegensetzen. Vom Kopf bis zum Schwanz war er mit Reif bedeckt und seine Schnurrhaare waren komplett eingefroren. Wäre er in letzter Zeit nicht so ein Miesepeter gewesen, hätte mir das kleine Kerlchen sogar leidgetan. Am Abend zuvor hatte er mich doch glatt versucht zu beißen, als ich ihn beim Stibitzen von Fisch aus den Fässern erwischt hatte!
Irgendwas stimmte nicht mit ihm, allerdings wusste ich nicht, was ... Noch nicht.
Nachdem wir unsere Lieferung ausgeladen hatten, ging es wieder gen Himmel und in Richtung der felsigen Hochlandsteppe südlich des Kun-Lai. In dieser Region lebte ein Großteil der Bevölkerung. Außer Ho-zen-Hütten und Pandarendörfern erblickte ich an einem See namens Tintenkiemenweiher eine Siedlung der Jinyu. Ich hatte gehofft, einiges über die uralte Kultur und vielfältige Geschichte dieses amphibischen Volkes zu erfahren. Aber was noch viel wichtiger war: Ich wollte unbedingt herausfinden, wie sie es schafften, winzige Fische in Blasen zu stecken und dann herumfliegen zu lassen.
Doch zum Erkunden des Weihers kam ich leider nicht. Außerdem konnte ich mich an keinem der faszinierenden Anblicke in Kun-Lai wirklich erfreuen, da Shisai immer gefährlicher und unberechenbarer wurde.
„Er ist wütend“, erklärte Shin, als er das Verhalten des Beuteldachses bemerkte. „Aber es ist nicht seine Schuld ...“ Der Pandaren erzählte mir, dass das Sha – ein Wesen aus purem Zorn – aus seinem Gefängnis hoch in den Bergen entkommen war. Es terrorisierte die Steppen und entfachte Gewalttätigkeiten zwischen den verschiedenen, dort ansässigen Völkern.
Und was noch schlimmer war: Ein Volk zotteliger, yakgesichtiger Nomaden namens Yaungol war von Westen aus in die Region einmarschiert. Diese Typen führten sich hier wie die großen Chefs auf und brannten alle Siedlungen nieder, die ihnen im Weg standen. Shin wusste nicht, ob das plötzliche Erscheinen der Yaungol mit dem Sha in Verbindung stand, aber sicherer machten diese Grobiane den Kun-Lai ganz bestimmt nicht.
Obwohl wir keine Möglichkeit hatten, viel gegen das Sha und die Yaungol auszurichten, konnten wir doch meinem Beuteldachs helfen. Shin sagte, dass es eine Person gäbe, die Shisai von seinem Zorn befreien konnte: den Mutigen Yon.
Yon lebte in einer kleinen Höhle auf dem Kota-Gipfel, einem abgelegenen Berg im Südwesten von Kun-Lai. Er war ein exzentrischer Pandaren und berühmt für seine Fähigkeit, wilde Tiere zu zähmen und für den Kampf zu trainieren. Da er und Shin alte Freunde waren, hieß Yon uns in seinem Zuhause willkommen und willigte ein, Shisai zu helfen. Er sah sich den mürrischen Beuteldachs genau an. Zwischendurch stellte Yon den Tieren in seiner Höhle Fragen oder murmelte leise vor sich hin. Was ich aber wirklich höchst seltsam fand, waren die an den Wänden hängenden Pullover, Schuhe und Schals für verschiedene Tierarten. Auf jedem Kleidungsstück war sogar der Name eines von Yons Haustieren eingestickt!
„Du kannst mich ruhig für verrückt erklären“, rechtfertigte sich der Zähmer, als er mich dabei erwischte, wie ich die Kleidung anstarrte. „Aber hier oben in der Kälte ist es wichtig, seine Haustiere warm zu halten. Sie könnten sich ja sonst etwas zerren.“
Ja ... Yon war schon irgendwie verrückt, aber ich mochte ihn. Er erinnerte mich an die Meistermönche auf der Wandernden Insel, die ihr ganzes Leben damit verbrachten, ihre Kampfkünste zu trainieren. Statt jedoch sein inneres Gleichgewicht zu erlangen, ließ Yon Babyhäschen gegen kleine Krokilisken antreten – was auch nicht schlecht war.
Am darauffolgenden Tag zeigte mir Yon, wie ich mich um Shisai kümmern und „seinen Zorn bündeln“ konnte, womit gemeint war, dem Beuteldachs beizubringen, gegen andere Tiere zu kämpfen. Ich hätte nicht erwartet, dass mein ungepflegtes kleines Wollknäuel mal Kampftaktiken einsetzen würde, aber wie sich herausstellte, war er ziemlich gut darin!
Shisai konnte sogar gegen Yons kampferprobte Tiere wacker standhalten (natürlich dank meiner strategischen Tipps). Außerdem wurde er durch die Kämpfe wirklich ruhiger. Wenn er gerade keinen Gegnern in den Allerwertesten trat, war er wieder ganz der Alte, wenn auch mit ein paar Narben mehr.
Am nächsten Morgen brach ich mit Shin und Shisai vom Kota-Gipfel auf. Bevor wir abreisten, gab Yon mir einen Beutel mit altem Haustierzubehör: Kauspielzeuge, um Shisai zu beruhigen, wenn er mal wieder mürrisch würde, Leckerchen und alles mögliche andere Zeug. Um eine Bezahlung bat mich der Zähmer nicht, was ich ihm sehr hoch anrechnete. Er hatte Shisai geholfen, weil er gerne wilde Tiere zähmte. Eventuell lag es aber auch daran, dass er wusste, wie es um meine Finanzen bestellt war.
Shin steuerte den Ballon nach Osten und wir unterhielten uns darüber, wo er mich am besten absetzen könnte. Mitten in unserem Gespräch fiel mir etwas auf dem Boden ins Auge: Aberdutzende Pandaren gingen durch ein riesiges Tor an der südlichen Grenze des Gebirges.
Shin nannte es das „Tor der Himmlischen Erhabenen“ und war ganz erstaunt darüber, dass es geöffnet war. Anscheinend war die Barriere zuvor Tausende Jahre lang verschlossen gewesen. Hinter der Mauer lag ein seit Langem von Mythen und Legenden umgebener Ort: das Tal der Ewigen Blüten. Auf dieses Land hatten nur wenige jemals einen Fuß gesetzt.
Mit anderen Worten war es also der Traum eines jeden Entdeckers und ich wusste, dass dort die nächste Etappe meiner Reise beginnen würde.
9. Eintrag: Das Tal der Ewigen Blüten
Das Tal der Ewigen Blüten war wie eine eigene kleine Welt, versteckt im Herzen von Pandaria. Eine warme, sanfte Brise wehte über Hügel voller goldenem Gras. Laub und Blüten fielen von den Bäumen und erfüllten die Luft mit einem süßen Wohlgeruch. Statt trocken und spröde wie gewöhnliche Blätter zu werden, blieben diese noch tagelang weich und frisch.
Viele Dinge, die ich sah, schienen zu den Legenden zu passen, dich ich über das Tal gehört hatte. Die Kinder in ganz Pandaria sogen die Mythen über diesen Ort sozusagen mit der Muttermilch auf. Laut einer der beliebtesten Geschichten gab es in dieser Region einige magische Teiche und manche behaupteten sogar, dass das Wasser darin Wunder vollbringen könnte! Das Tal war auf jeden Fall etwas ganz Besonderes und nicht nur ich wollte herausfinden, ob die Erzählungen über diese Region stimmten.
Dutzende Pandarenflüchtlinge kamen in das goldene Tal. Fast alle von ihnen waren vom Kun-Lai-Gipfel vertrieben worden, da die Yaungol ihre Häuser zerstört hatten. Die armen Leute brachten alles mit, was sie tragen konnten – in den meisten Fällen nur ihre Kleidung. Wer Glück hatte, besaß noch ein oder zwei Yaks, alte Familienerbstücke und genug zu Essen für ein paar Tage.
Ich schloss mich zwei Flüchtlingen – einem Pandaren namens Buwei und seinem Sohn – an, die allein unterwegs waren. Beide sagten nicht viel, bis ich den Charme der Sturmbräus spielen ließ, um ein bisschen mehr über sie in Erfahrung zu bringen. Es stellte sich heraus, dass Buwei und sein Sohn alles bei einem Überfall der Yaungol in Kun-Lai verloren hatten – sogar den Rest ihrer Familie. Nun waren sie auf dem Weg nach Nebelhauch, einem Dorf, in dem bereits viele der Pandaren aus Kun-Lai Zuflucht gefunden hatten.
Wie alle Flüchtlinge glaubten auch Buwei und der kleine Fu, dass sie im Tal Frieden finden würden. Und wer sollte es ihnen auch verübeln? Bis vor ein paar Tagen war dieser Ort seit Tausenden von Jahren vom Rest Pandarias abgeschottet gewesen. Die ganze Zeit über hatten die großen Erhabenen darüber gewacht. Diese legendären Wesen hatten besondere Hüter – den Goldenen Lotus – bestimmt, ihnen dabei zu helfen, das Tal im Blick zu behalten. Die Pandaren, denen ich begegnete, sagten, es wäre eine große Ehre, als Mitglied des heiligen Ordens auserwählt zu werden. Allerdings erschien mir die Sache ein wenig seltsam. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mir eines Tages eine gottähnliche Kreatur erscheinen und mich bitten würde, Freunde und Familie zu verlassen, um in einem geheimen Tal zu leben.
Trotzdem verstand ich, warum die Flüchtlinge ins Tal kamen. Die Erhabenen und der Goldene Lotus sorgten dafür, dass dort der wahrscheinlich sicherste Ort ganz Pandarias war.
Zumindest war es zuvor so gewesen.
Buwei sagte mir, dass sich im Tal einst der Sitz des Mogureichs befunden hatte. Kurz zuvor hatten diese großen Fieslinge einen Weg zurück dorthin gefunden und versuchten, sich ihr altes Territorium zurückzuholen. Es war zwar schwer zu glauben, dass die Mogu einst über einen solch schönen Ort wie das Tal geherrscht hatten, aber überall gab es Statuen von ihnen!
Trotz der Nachrichten über die Mogu besserte sich Buweis und Fus Laune im Laufe der Tage. Ich wünschte mir, ich hätte etwas damit zu tun gehabt, aber die Ehre gebührte einzig und allein meinem Beuteldachs Shisai. Das kleine Wollknäuel hatte nach unserer Abreise aus Kun-Lai seine Aggressionsprobleme größtenteils in den Griff bekommen. Für den Fall der Fälle zeigte ich den beiden Flüchtlingen aber, wie sie ihn mit Leckerchen und Kauspielzeugen wieder beruhigen konnten, falls er seine wilden fünf Minuten kriegen sollte. Buwei und sein Sohn spielten viel mit dem Beuteldachs und besonders Fu schien zu vergessen, was sie alles verloren hatten. Nur wenn er Shisai auf dem Arm hatte, lächelte er, und schon bald war er ein wahrer Meister im Umgang mit dem kleinen Kerlchen. Als wir Nebelhauch schließlich erreichten, war ich überrascht, wie groß und belebt dort alles war. Die Steinstraßen des Dorfes wirkten uralt und abgenutzt, aber viele der Gebäude schienen neu erbaut worden zu sein. Laut Buwei war Nebelhauch zuvor kleiner gewesen und hatte nur aus ein paar wenigen Gebäuden bestanden, in denen der Goldene Lotus Quartier bezogen hatte. Nach der ersten Welle von Pandaren aus Kun-Lai war der Ort jedoch schnell angewachsen.
Die Flüchtlinge schienen hier schnell heimisch geworden zu sein. Jeder Winkel des Dorfes war erfüllt vom Plaudern, Lachen und Singen der Pandaren. Die meisten Wagen, die sie mitgebracht hatten, waren zu behelfsmäßigen Tischen und Marktständen umfunktioniert worden. Was von ihnen übrig blieb, wurde als Feuerholz benutzt, um in großen Töpfen grünes Fischcurry zuzubereiten oder Hühnchenspieße mit Erdnusssoße zu braten. Gelegentlich spähten Waldgeister wie auf der Wandernden Insel von den Dächern herab. Die boshaften Gesellen beobachteten die Flüchtlinge bei ihren Aktivitäten und verschwanden dann blitzschnell wieder.
Nebelhauch zu besuchen, war schön, aber den Rest des Tals wollte ich auch noch erkunden. Am darauffolgenden Morgen brach ich in aller Frühe auf. Buwei und sein Sohn schliefen noch und der kleine Fu hielt Shisai mit einem Lächeln auf dem Gesicht in seinen Armen. Eigentlich hatte ich den Beuteldachs mitnehmen wollen, konnte es aber nicht übers Herz bringen, als ich sah, wie glücklich er Fu machte. Nach allem, was er durchgemacht hatte, sollte er Shisai ruhig behalten. Außerdem war ich es leid, ständig seine Haare in meiner Kleidung, meinem Essen und im Tee zu finden. Zumindest redete ich es mir ein, um nicht wie ein Kleinkind zu flennen, als ich Vater und Sohn zum Abschied einen kleinen Brief schrieb. Danach verließ ich das Dorf.
Kurz nach Sonnenaufgang begann irgendjemand – oder irgendetwas – mir durch das Tal zu folgen. Ich hatte so ein Bauchgefühl, aber ein sicheres Zeichen war dieser seltsame Gestank, der die Luft wie Räucherstäbchen erfüllt. Die Mischung aus verschwitztem Fell und Fisch erinnerte mich an Ryshan und die anderen Angler in der Krasarangwildnis. Ich spürte dem Geruch nach und erwischte meinen Verfolger schließlich hinter einem großen Felsbrocken. Zuerst hatte ich gedacht, es wäre Oma Mei gewesen, aber als ich dann genauer hinsah, stellte ich fest, dass dieses Ding nicht annähernd so behaart war.
Es war ein Grummel. In Kun-Lai hatte ich diese seltsamen Kreaturen schon gesehen, allerdings noch keinen von ihnen aus der Nähe. Sie konnten sich in den Bergen perfekt bewegen und waren dank ihres unglaublichen Geruchssinns gute Fährtensucher. Da das Leben im rauen Gebirge sie hatte abergläubisch werden lassen, trugen sie Amulette aus Münzen oder Hasenpfoten als Glücksbringer bei sich. Die Grummel nahmen sogar die Namen ihrer Lieblingsglücksbringer an, was in meinem Fall auch den Gestank erklärte ...
„Bote Fischflosse zu Euren Diensten!“, sagte der Grummel. „Chen Sturmbräu hat mich geschickt, um Euch zu finden – was ziemlich schwierig war. Viele Tage bin ich euch gefolgt, um sicherzugehen, dass Ihr auch wirklich Ihr seid. Nicht genug Gestank. Ihr braucht einen besseren Glücksbringer.“
„Ihr hättet mich aber auch einfach fragen können, wer ich bin“, antwortete ich.
„Ein Grummel vertraut zuallererst immer auf seine Nase.“
Er überreichte mir eine Schriftrolle von Onkel Chen. Zwischen all den Bierflecken und Tofustückchen auf dem Pergament erfuhr ich, dass er endlich mal seinen Allerwertesten bewegt und die Brauerei verlassen hatte. Was noch dazu kam: Er hatte noch weitere Sturmbräus im Abendlichtbraugarten gefunden, einer Art Siedlung in einer Region, die er als „Schreckensöde“ bezeichnete. Ich sollte ihn an einem der Wachtürme des Schlangenrückens treffen, der großen Mauer, die sich durch den Westen Pandarias zog.
„Und Li Li“, hatte Onkel Chen zum Schluss noch geschrieben, „was auch immer geschieht, geh nicht auf die andere Seite der Mauer! Dort ist es sehr gefährlich. Rühr dich einfach nicht von der Stelle, wenn du den Wachturm erreichst.“
Der Umstand, dass er nicht erwähnt hatte, wie ich ohne seine Erlaubnis weggelaufen war, machte mich nervös. Wenn er mir das durchgehen ließ, musste etwas Großes in der Schreckensöde geschehen. So sehr ich es auch bedauerte, das Tal zu verlassen, wusste ich, dass Onkel Chen mich brauchte. Und außerdem wollte ich mir doch zu gern mal auf der Mauer die Beine vertreten.
„Los, los!“ Bote Fischflosse zeigte nach Westen, wo der Schlangenrücken sich am Rande des Tals erstreckte. „Ich führe Euch zur Mauer, aber wir müssen uns beeilen. Wir haben Ostwind. Das bedeutet Glück und eine sichere Reise!“
Selbst aus großer Entfernung wirkte der Schlangenrücken riesig. Ich hatte die Barriere schon im Tal der Vier Winde gesehen und von diesem Moment an gehofft, eines Tages mal von ganz oben über Pandaria zu blicken.
Tja, und nun war dieser Tag endlich gekommen.
10. Eintrag: Die Tonlongsteppe
Eine Legende besagt, dass der Schlangenrücken aus Milliarden von Steinen besteht.
Ganz recht. Milliarden.
Als ich das zum ersten Mal hörte, hielt ich es für dummes Zeug. Aber als ich dann selbst auf der großen Mauer stand und ihre gewaltigen Ausmaße erblickte, begann ich, es doch zu glauben. Der Schlangenrücken wand sich gen Süden wie eine riesige Schlange, so weit, dass ihr Ende nicht einmal zu erahnen war. Der Wehrgang war breit genug, um gleich von mehreren Fuhrwerken nebeneinander befahren zu werden und trotzdem noch selbst einem so beleibten Pandaren wie meinem Onkel Chen bequem Platz zu bieten, zwischen ihnen herumzuschlendern. Einige Teile des Walls waren gerade frisch renoviert worden, mit flachen und exakt behauenen Steinen. Andere Bereiche wiederum waren verwittert, schroff und uneben und von vergangenen Gefechten gezeichnet.
Auf dem Schlangenrücken zu stehen, glich einem wahr gewordenen Traum, insbesondere nachdem mich der Weg dorthin so viel Zeit gekostet hatte. Nach den genauen Anweisungen Onkel Chens, hatte mich der Grummel-Bote Fischflosse zu einem entlegenen Wachturm in Kun-Lai geführt. Und als wir die Mauer endlich erreicht hatten, verstand ich, weshalb wir einen solchen Umweg auf uns genommen hatten.
Onkel Chen hatte dafür gesorgt, dass mich dort eine Eskorte erwartete ... ein Mitglied der Shado-Pan!
Sein Name war Min. Seit Generationen bewachte sein geheimnisvoller Orden den Schlangenrücken und schützte Pandaria vor Garstigkeiten wie den Mantis. Gekleidet war er wie die meisten Shado-Pan, denen ich bisher begegnet war: Er trug eine leichte Rüstung, einen breitkrempigen, tief ins Gesicht gezogenen Hut und hatte ein Tuch um sein Gesicht geschlungen. Er redete nicht viel, aber was er sagte, war äußerst interessant. Min erzählte mir, dass jeder Stein der Mauer eine Geschichte habe, Geschichten vom Kampf der ShadoPan gegen die Angreifer und wie manche von ihnen ihr Leben opferten, um ihre heilige Pflicht zu erfüllen.
Unser Aufbruch gen Süden wurde von Regen begleitet. Statt sich jedoch in großen Pfützen zu sammeln, rann das Wasser durch feine Fugenöffnungen hindurch und stürzte an den Mauerrändern herab, wie Tausende winziger Wasserfälle. Ich war gerade damit beschäftigt die Architektur des Schutzwalls zu bewundern, als mir an Min etwas Seltsames auffiel. Er schien die Augen stets gen Westen zu richten, als wäre es ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Das Land, das dort lag, war unter dem Namen Tonlongsteppe bekannt, ein Gebiet freier, grasbedeckter Hügel und schroffer Felsen.
Tonlong war ein raues Land mit ebenso rauen Bewohnern: den Yaungol. Min erzählte mir, dass man in den vergangenen Jahren oft riesige Gruppen dieser bepelzten Nomaden durch die Hügel streifen sehen konnte. Im Moment wirkte das Gebiet verlassen. Geier kreisten über den glimmenden Überresten von Yaungol-Lagern.
Krieg war über Tonlong gekommen und wieder gegangen. Begonnen hatte er mit einer Invasion der Mantis, die die Yaungol nach Kun-Lai fliehen und Pandaren-Dörfer brandschatzen ließ. Der Einfluss des Sha hatte sie noch brutaler als gewöhnlich werden lassen. Doch schließlich konnten die Pandaren und ihre Verbündeten die Yaungol besiegen.
„Ich hege keinen Hass gegen die Yaungol“, sagte Min. „Die Shado-Pan tun nur, was zum Schutz der Pandaren nötig ist. Gefühle haben keinen Einfluss auf unser Handeln. Wir lernen, unsere Gefühle im Zaum zu halten, damit wir nicht von ihnen beherrscht werden. Aber keine Sorge, Kleine. Diese Nomaden sind Überlebenskünstler. Ihre Kultur wird Bestand haben. Und vor allem hoffe ich, dass sie aus diesen Ereignissen ihre Lehren ziehen.“
Das waren Mins letzte Worte für den Rest unserer Reise, wogegen ich nichts einzuwenden hatte. Es gab viel, über das ich nachzudenken hatte. Ich hätte die Yaungol für ihre Gräueltaten in Kun-Lai bestrafen wollen, doch nach dem, was ich in Tonlong gesehen hatte, wusste ich nicht mehr, was ich fühlen sollte. Sollte ich traurig oder froh sein?
Als wir den Wachturm erreichten, an dem wir Onkel Chen treffen sollten, hatte der Regen aufgehört und der Himmel hatte sich aufgeklart. Das gute Wetter ließ meine Stimmung steigen ... bis mir auffiel, dass mein Onkel fehlte. Die Shado-Pan, die normalerweise auf dem Turm Wache hielten, waren ebenfalls verschwunden.
Noch bevor ich Min fragen konnte, wo sie hin waren, griffen die Mantis an.
An die Außenseite der Mauer geklammert, hatten die Insekten uns aufgelauert. Plötzlich sprangen Dutzende von ihnen hinter den Zinnen hervor und kreisten uns ein. Sie stoben nach Nord, Süd und Ost, verstellten uns den Fluchtweg und drängten Min und mich gegen den Tonlong zugewandten Rand der Mauer. Ich hatte die Mantis zwar bereits im Tal der Vier Winde zurückgeschlagen, aber das machte diese erneute Begegnung mit ihnen keineswegs einfacher. Ihre bizarren Fühler, Mandibel und pergamentartigen Flügel jagten mir eine Gänsehaut über den Rücken.
Min bahnte sich mithilfe seines Speers einen Weg durch die Reihen der Insekten. Er stieß, parierte und wich aus, als wüsste er bereits vor den Mantis, was sie als Nächstes tun würden. Ich sprang vor, um ihm beizustehen, aber er hielt mich zurück.
„Wir haben in der Nähe der Wachtürme geheime Vorratslager angelegt“, sprach er stoisch, während er mit einem Speerwirbel einige Mantis zurückdrängte, die sich seiner Flanke näherten. „Such nach einem Stein mit einem eingravierten fauchenden Tiger. Dem Wappen der Shado-Pan. Schieb ihn beiseite und nimm dir das Seil.“
Ich fand den Stein zu seinen Füßen und stemmte ihn mit meinem Stab hoch. Darunter befand sich eine große Kammer voller Taschen mit getrockneten Nahrungsmitteln und einem dicken Seil. Während er gleichzeitig die Mantis abwehrte, befahl er mir, ihm das Seil um die Taille zu schlingen und das andere Ende über den Mauerrand zu werfen.
Danach wies er mich an, hinunterzuklettern.
Panik kroch in mir hoch. Den gewaltigen Schlangenrücken hinabzuklettern war eine Sache, aber es zu tun, während meine Sicherung sich im Kampf gegen eine ganze Armee von Mantis befand, war eine vollkommen andere. Außerdem, was würde mich am Boden erwarten? Mir fiel die mysteriöse Nachricht ein, die mir Onkel Chen geschrieben hatte: Und Li Li, was auch immer geschieht, geh nicht auf die andere Seite der Mauer! Dort ist es sehr gefährlich.
Und hinzu kam noch, dass es mir falsch vorkam, Min im Stich zu lassen. Doch was blieb mir anderes übrig? Er war ein Shado-Pan und hochrangiger Mönch. Er wusste, was er tat, und wenn ich seinen Respekt gewinnen wollte, musste ich ihm gehorchen.
Also begann ich zu klettern. Meinen Weg begleiteten die Klänge von Mins Speer auf MantisSchwertern und -Rüstungen. Die ganze Zeit über hoffte ich darauf, er würde sich endlich über die Mauer beugen und mir bedeuten, dass der Kampf vorüber sei. Doch nichts dergleichen geschah.
Als ich dem Boden näher kam, wurde das Seil plötzlich schlaff. Jemand hatte es gekappt. Ich fiel und landete in einem Dornenbusch am Fuße des Schlangenrückens. Dort verharrte ich bewegungslos und befürchtete das Schlimmste. Als Min endlich seinen Kopf über den Mauerrand beugte und zu rufen begann, seufzte ich erleichtert auf.
Wegen der großen Entfernung waren seine Worte kaum zu hören. Allem Anschein nach hatte er die Mantis besiegt, aber der letzte hatte das Seil durchtrennt. Min zeigte immer wieder nach Süden und ruderte mit den Armen, als würde er mir noch etwas anderes zu erklären versuchen. Er war ein hervorragender Mönch (einer der besten, der mir je begegnet war), aber was Gestik anging, war er gänzlich unbegabt. Ich wusste nur, dass es keine gute Idee war, hierzubleiben. Da das Seil kaputt war, gab es keinen Weg zurück auf die Mauer. Und das die Mantis uns dort angegriffen hatten, ließ vermuten, dass sich in der Gegend noch weitere von ihnen herumtrieben, die nur auf die Gelegenheit zu einem weiteren Überfall warteten.
Tonlong wirkte vom Boden aus noch weitaus bedrohlicher. Das Gras fühlte sich merkwürdig kalt an. Der klare Himmel war hinter einer finsteren Wolkenschicht verschwunden. Es donnerte. Hinter jedem Hügel oder Felsbrocken konnten sich wilde Tiere verstecken, die es auf mich als Mahlzeit abgesehen hatten.
Doch die größten Sorgen machte ich mir um Onkel Chen. Wo steckte er bloß? Warum war er nicht am Treffpunkt gewesen? So etwas vergaß er nicht einfach. Mich überfiel kurz der Gedanke, dass die Mantis ihm etwas angetan haben könnten, aber ich wusste, dass er für diese Insekten eine Nummer zu groß gewesen wäre. Er hätte sie zu Kleinholz verarbeitet, mit einer Hand auf den Rücken gebunden (oder wahrscheinlich eher einem Krug Bier in der Hand).
Ich entschloss mich, südwärts in Richtung der Schreckensöde zu gehen und zu versuchen, den Abendlichtbraugarten auf eigene Faust zu finden. Vermutlich wusste man dort, was Onkel Chen widerfahren war oder wo er steckte.
Es war zwar nur eine Vermutung, aber etwas anderes blieb mir in meiner derzeitigen Lage nicht übrig.
11. Eintrag: Die Schreckensöde
Zum ersten Mal in meinem Leben Angst verspürt – also so richtig – hatte ich auf der Wandernden Insel. Ich war noch ganz klein und hatte in der Großen Bibliothek das Buch der Schildkröte gelesen. Nach ein paar Seiten verschüttete ich ein Tintenfass über das Pergament. Ich versuchte, die Flecken wegzuwischen, wodurch es jedoch nur noch schlimmer wurde. Ich bekam es mit der Angst zu tun, stellte das Buch in eine verstaubte Ecke der Bibliothek und hoffte, dass niemand es je erfahren würde.
Die folgenden drei Tage waren der Horror, da ich mir sicher war, dass man mich erwischen würde. Ich konnte nicht richtig schlafen und essen. Ich verließ mein Zimmer kaum. Die Angst hatte von mir Besitz ergriffen wie einer dieser bösartigen Waldgeister aus Oma Mais Gruselgeschichten. Am Abend des dritten Tages fanden die Bibliothekare heraus, was ich getan hatte. (Zum Glück war das Buch nur eine Abschrift.) Zur Strafe zwang mein Papa mich, den Text des „Lieds von Liu Lang“ einige Tausend Mal abzuschreiben, was jedoch kein großes Problem war. Das Schlimmste waren diese schrecklichen drei Tage gewesen.
Derartig viel Angst hatte ich danach nie wieder gehabt ... bis ich in die Schreckensöde kam, die Heimat der Mantis. Ich betrat die Region weiter vom Schlangenrücken entfernt, als mir lieb war. Eine riesige Schlucht trennte die Tonlongsteppe von der Schreckensöde. Ich war am Abgrund entlang nach Westen gegangen, bis ich eine Naturbrücke – einen riesigen ausgehöhlten Baumstamm – gefunden hatte, über den ich auf die andere Seite gelangen konnte.
Das Sha der Angst hatte aus der Schreckensöde ein bizarres Abbild der Tonlongsteppe gemacht. Das Gelände war dasselbe – grasbewachsene Hügel, Felsen und riesige Kyparibäume –, alles andere wirkte jedoch seltsam und unnatürlich. Über der Öde drehten sich dunkle Wolken in einem großen, bedrohlichen Wirbel und der sie umgebende Himmel leuchtete gespenstisch. Flecken weißer und schwarzer Sha-Energie sprudelten überall aus dem Boden. Sie erinnerten mich an die Tintenspritzer auf dem Buch der Schildkröte. Jedes Mal, wenn ich atmete oder einen Schritt tat, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken und ich fühlte mich, als würde ich den Schrecken jener drei Tage voller Angst aufs Neue erleben.
Ich wollte weglaufen. Und das hätte ich auch getan, wenn ich nicht an Onkel Chen gedacht hätte. Ich musste den Abendlichtbraugarten finden.
Je mehr ich mich auf den Ort konzentrierte, desto ruhiger wurde ich. In meinem Geist wiederholte ich ständig den Namen, während ich mich zum Stamm eines Kyparibaums begab (der Kor'vess hieß, wie ich später erfuhr). Die freiliegenden Wurzeln waren so groß, dass sie sich wie riesige Torbogen über mir wölbten. Stücke aus glitzerndem Bern lösten sich von den Zweigen und flogen wie träge Glühwürmchen durch die Luft. Hier und da konnte ich im Stamm des Kyparibaums gewölbte Eingänge und Fenster mit Wabenmustern erkennen. Die Architektur hatte etwas Insektenartiges und mir wurde klar, dass die Mantis diese Strukturen erbaut haben mussten. Diese Viecher lebten im Innern des Baums!
Zum Glück begegnete ich keinen Mantis – zumindest keinen lebenden. Überall lagen Insektenleichen, als ob ein Kampf stattgefunden hätte. Trotzdem wollte ich auf Nummer sicher gehen und blieb in den Schatten der Kypariwurzeln, während ich nach Anhaltspunkten suchte, die mir den Weg zum Braugarten weisen könnten.
Der erste Wink ergab sich, als ich die Überreste eines Holzfasses fand, das ganz klar von Pandaren hergestellt worden war. Die einzelnen Stücke waren von hellem Bern umgeben. Dann kam es mir in den Sinn: Waren die in den Schreckensöden lebenden Pandaren hinter dem Saft der Kyparibäume her? Es erschien mir logisch, da die Mantis Bern von der Waffenherstellung bis zum Bauen ihrer Behausungen für alles Mögliche nutzten. Ich hatte sogar gehört, dass dieses klebrige Zeug eine heilende Wirkung besitzt. Mit anderen Worten wäre es die perfekte Zutat für ein recht ungewöhnliches Bier.
Ich brauchte fast eine Stunde, um den Braugarten auf einem anderen Kyparibaum in der Nähe von Kor'vess zu entdecken. Pandaren in leichter Rüstung trotteten durch die verwitterte Siedlung. Dampf entstieg Kesseln, in denen Gerste und Hopfen kochten. Vom Baum tropfte der Saft in dicken Klumpen in die darunter stehenden Fässer. Der Ort wirkte behaglich, hatte jedoch auch etwas Raues an sich.
Nachdem ich den Braugarten betreten hatte, hörte ich schon bald eine vertraute Stimme.
„... die Shado-Pan haben sie auf dem Weg zur Schreckensöde zum letzten Mal gesehen“, sagte Onkel Chen. Ich entdeckte ihn im hinteren Abschnitt der Siedlung neben drei anderen Pandaren.
„Also, worauf warten wir noch?“, antwortete eine ältere Frau, die ihr Haar zu zwei Knoten zusammengebunden hatte. Sie gab einem auf dem Boden dösenden beleibten Pandaren einen Tritt. „Steh auf, Dicker Dan! Wir dürfen nicht noch eine Sturmbräu verlieren.“
„Sucht ihr nach mir?“, unterbrach ich die Runde.
Alle drehten sich gleichzeitig um. Onkel Chens überraschter Gesichtsausdruck war einfach Gold wert.
„Li Li!“ Er hob mich hoch und umarmte mich. Plötzlich verflog all meine Angst. Ich begann mich dafür zu entschuldigen, die Brauerei ohne zu fragen verlassen zu haben, aber Onkel Chen unterbrach mich.
„Wie könnte ich dir böse sein, wenn du wegläufst, um Dinge zu entdecken?“, sagte er. „Das habe ich schon immer so gemacht. Ich bin nur froh, dass es dir gut geht.“
Onkel Chen erklärte mir, warum er sich nicht mit mir am Schlangenrücken getroffen hatte. Die Mantis hatten die große Mauer an mehreren Stellen angegriffen und dadurch den Weg versperrt. Nach dem Sieg über die Insekten hatte er den Shado-Pan-Mönch Min getroffen und von ihm erfahren, was mit mir geschehen war. Mein Onkel war erst kurz zuvor zum Braugarten zurückgekehrt und war gerade dabei, einen Suchtrupp zusammenzustellen.
Einen Suchtrupp voller Sturmbräus! Ihre Namen waren Han, Mama und Dicker Dan.
„Du hast es ganz allein durch die Tonlongsteppe und die Schreckensöde geschafft?“, fragte mich Han.
„Natürlich hat sie das!“ Mama zwickte mir in die Wange. „Immerhin ist sie eine Sturmbräu, nicht wahr?“
Der Dicke Dan schnaubte, setzte sich hin und rieb sich die Augen. Mir schien, als würde er sich nicht oft so viel bewegen ... Er starrte mich still an und sagte schließlich: „Sie ... sie ist Evie wie aus dem Gesicht geschnitten.“
Mama, Onkel Chen und Han nickten und senkten die Köpfe. Als ich fragte, wer diese Evie überhaupt war, führten sie mich aus dem Braugarten hinaus zur Schlucht, die an die Schreckensöde angrenzt. Am Rand des Abgrunds stand ein steinernes Denkmal, das Evie gewidmet war.
Evie Sturmbräu.
Sie war während der Jagd in der Schreckensöde von den Sha oder den Mantis (oder vielleicht von beiden) getötet worden und Onkel Chen hatte sie gefunden. Obwohl ich sie nie kennengelernt hatte, fehlte sie mir. Wenn ich, wie der Dicke Dan behauptete, wie Evie aussah – hatten wir dann auch das gleiche Wesen?Hätten wir gute Freundinnen oder vielleicht so etwas wie Schwestern sein können?
Die Sha und die Mantis hatten mir jede Möglichkeit genommen, Antworten auf diese Fragen zu finden. Ich war wütend, nicht nur wegen Evie, sondern wegen all der Dinge, die ich auf meiner Reise durch Pandaria gesehen hatte. Auf die eine oder andere Art hatten die Sha auf dem ganzen Kontinent für Ärger gesorgt. Wie viele Unschuldige wie meine Cousine sollten noch sterben?
„Ich bringe dich zurück zum Tal der Vier Winde“, sagte Onkel Chen. „Dort solltest du bleiben, bis die Sha und die Mantis erledigt sind. Solch ein Ödland zu erkunden, ist nicht sicher.“
„Nein“, antwortete ich. Erkunden war das Letzte, was mir in den Sinn kam. „Es gibt eine Zeit des Erkundens und es gibt eine Zeit, in der man standhalten und kämpfen muss. Das hast du mir mal in einem deiner Briefe geschrieben. Und nun folge ich deinem Rat. Ich möchte hierbleiben und helfen.“
Ich fürchtete, Onkel Chen würde ablehnen und mich trotzdem ins Tal schicken, doch nach kurzer Zeit huschte ein Lächeln über sein pummeliges Gesicht. „Hm. Gesprochen wie eine wahre Wanderin.“
Danach gingen wir zurück zum Braugarten. Es gab noch viel zu planen. Vielleicht würde ich nicht an vorderster Front gegen die Sha und die Mantis kämpfen, aber ich würde alles in meiner Macht Stehende tun, um zu helfen – und wenn ich kochen oder Verbände schneiden müsste. Ich würde dafür sorgen, dass Evie nicht umsonst gestorben war ... dass Buwei und der kleine Fu zu ihrer Familie zurückkehren und sich etwas Neues aufbauen können ... und das jeder, den ich auf meinen Reisen getroffen hatte, die Möglichkeit bekäme, frei vom Einfluss der Sha zu leben.
Ich würde dafür sorgen, dass es noch ein Pandaria zum Erkunden gibt, wenn das alles vorbei wäre.
– Li Li Sturmbräu
Über dem Wasser von Ryan Quinn
Ganz gleich, wie oft man es macht, einfacher wird es nie. Jeden Tag trägt man dieselbe schmutzige Kleidung. Man wartet stundenlang darauf, dass ein paar von ihnen angreifen, während sie die ganze Zeit über wie Wölfe knurren. Man schwingt sein Schwert, bis man seine Schultern nicht mehr spürt. Man hat so viel Angst davor, sich selbst oder einen seiner Gefährten zu verletzen, wie man sich vor einem Messer im Rücken fürchtet. Am Ende ist man bedeckt mit Blut und Schweiß und hat keine Ahnung, woher das alles stammt. Man geht zurück in irgendein Loch, dass man sich zum Schlafen gegraben hat, und versucht herauszufinden, wer tot ist und wer noch lebt. Dann wird man irgendwann wachgerüttelt und alles geht von vorne los. Manchmal muss man auch erst noch marschieren.
Der Junge hatte Tarlo den idiotischsten Blick zugeworfen, den man sich vorstellen konnte. Wahrscheinlich hatte ihm jemand erzählt, dass der Krieg vorbei wäre und die Allianz gewonnen hätte.
Klar, sie waren besser dran als die Gegenseite. Orgrimmar war eingenommen, der Orc-Häuptling lag in Ketten und die besiegte Horde leckte ihre Wunden.
Doch was hatten sie davon? Pandaria war verwüstet, was wirklich niemanden überraschte. Nun, da ihre Plagen zurückgeschlagen worden waren, bedankten sich die Bewohner vor Ort überschwänglich, doch Tarlo wusste, dass dies nur der Höflichkeit geschuldet war. Wenn Armeen in der eigenen Heimat kämpfen, dann hasst man auch die Leute, die den Krieg begonnen haben.
Und die Horde war nicht vernichtet, sondern nur besiegt. Es gab nun einen neuen Kriegshäuptling und nach etwas Eingewöhnungszeit würde es auch einen neuen Krieg geben. Wer auch immer gedacht hatte, dass ein Kannibalen-Troll die Horde in eine Ära des Friedens und der Verständigung führen würde, der hatte noch nie die Zandalari erlebt.
Ja, sie waren die Sieger.
Tarlo Mondan hatte seit dem ersten Aufruf nach Freiwilligen an dem PandarenFeldzug teilgenommen und auch davor schon in vielen anderen Schlachten gekämpft. Orcs, faulende Untote, seltsame Hörnerköpfe, die menschliche Schädel trugen – gegen sie alle war er angetreten und hatte überlebt.
Und was hatte ihm das alles gebracht? Genug Narben, um sich den Schädel zu rasieren? Ein bisschen Plündergut auf der Bank? Keine Kinder, keine Frau, kein Haus, das er selbst gebaut hatte, keine Bilder an der Wand. Nichts, womit man angeben könnte. Sie segelten auf der Stolz des Patrons in Richtung Heimat, aber es hätte auch jedes andere große Schiff voller Beute und neuer Rekruten sein können. Zum ersten Mal seit Monaten würden sie saubere Uniformen tragen und billige Medaillen verliehen bekommen. Und dann? Würden sie auf den nächsten Ruf zu den Waffen warten?
Der Junge hätte es lieber schnell verstehen sollen. Je eher, desto besser, ehe irgend so ein geistloser Hordenochse auf ihn zustürmte. Wenigstens konnte er aufhören, solang er noch jung war.
Natürlich verstand er es nie. Als in der Nacht die dritte große Welle auf das Deck ihres Schiffs klatschte, hatte er wieder diesen idiotischen Blick drauf.
Die Welle ließ Tarlo in die Knie gehen. Weißes, schaumiges Wasser spülte über alles hinweg, floss ihm in den Mund und brannte an seinem verletzten Zahnfleisch, doch er blinzelte nur und konzentrierte sich auf den Jungen.
Das fast in zwei Teile gerissene Segel peitschte hin und her. Männer brüllten, damit man sie über den Lärm hinweg hören konnte, und rappelten sich wieder auf. Die Stolz des Patrons schlingerte und Tarlos Herz rutschte ihm in die Hose. Dort blieb es auch, als er zu dem Jungen lief.
Tarlo hatte das Deck zur Hälfte überquert, doch dann wurde ihm klar, warum sich der Gesichtsausdruck des Jungen nicht geändert hatte: Er war leblos an der Seite des Schiffs zusammengesackt und kleine Wellen spülten seinen Körper hin und her. Dunkle, von Wasser durchtränkte Holzsplitter bedeckten seine Kleidung und schwammen um ihn herum. Seine vormals blaue Tunika war voller Blut und hatte nun ein ekelhaftes Lila angenommen. Vielleicht war eine Kanone zur Seite gerutscht und hatte ihn zerquetscht.
Vielleicht hatte ihm ein Holzstück den Schädel gebrochen. Vielleicht ...
Während Tarlo noch über die Ursache nachgrübelte, schleuderte eine weitere Welle das Schiff zur Seite. Seine Füße verloren den Kontakt zum Boden und er wurde von Deck geworfen. Eine kurze Zeit lang sah er überall unter sich Meerwasser. Ein paar Stunden zuvor hatte er sich noch darin erleichtert.
Tarlo klatschte mit dem Rücken zuerst ins Wasser und seine Lungen waren bereits halb leer. Das Wasser zerrte an ihm und riss seine Gliedmaßen wie die Teile einer Puppe nach links und rechts. Er ging unter.
Nein.
Die Kälte war durchdringend, als ob ihn ein Speer aus heiterem Himmel getroffen hätte. Seine Finger krallten sich unfreiwillig zusammen. Es schmerzte, die Augen zu öffnen.
Nein.
Es ging hinab. Sein Körper wurde unablässig herumgewirbelt. Das Wasser traf ihn von allen Seiten gleichzeitig. Seine Arme und Beine schlugen wild um sich.
Es fühlte sich an, als würde Tarlo noch weiter hinabgezogen. Er spürte den Schmerz in seinen Lungen, die sich ausdehnen wollten. Sie würden platzen und mit Wasser volllaufen. Er konnte nicht sagen, wann. Er schloss fest die Lippen, schlug um sich und wurde von Wasserblasen umhüllt.
Seine Lungen brannten jetzt noch stärker, noch heißer. Die Adern in seinem Hals pulsierten spürbar und die Muskeln waren zum Zerreißen gespannt.
Seine Brust gab nach. Sein Körper war eine Marionette. Vielleicht waren auch seine Beine gebrochen, denn sie bewegten sich kaum.
Alles wirkte schwer. War er im Begriff, zu ertrinken? Wie passend, dass er hier sterben sollte, ganz in der Nähe seines Schiffs, nachdem er ein Dutzend Schlachten überlebt hatte.
Er konnte seinen Mund nicht mehr geschlossen halten. Wie aus dem Nichts traf ihn ein harter Schlag und sein Mund öffnete sich von selbst.
Er schluckte Wasser und heißes Salz. Der Schmerz ließ ihm keine andere Möglichkeit, als einzuatmen. Er hasste sich dafür.
Luft. Aus seiner Nase kamen Luft, Wasser und Schleim. Tarlo erkannte, dass sich sein Kopf über Wasser befand. Er atmete. Sein Rücken und seine Seiten brannten wie Feuer, seine Arme schmerzten, aber zum ersten Mal seit einer Ewigkeit konnte er wieder geradeaus blicken und sehen, wie das Licht der am Himmel stehenden Zwillingsmonde auf ihn herabschien. Tarlo stieß gegen etwas hinter ihm. Felsen. Scharfe Felsen. Er drückte sich mit den Beinen dagegen und atmete noch einmal tief ein.
Tarlo hustete rote, salzige Galle in seinen Mund. Es schmerzte – ein gutes Zeichen. Er lebte.
Er konnte sehen, wie die Stolz des Patrons in der Ferne angeschlagen und mit eingefallenen Segeln wackelig forttrieb. Er erwartete nicht, dass sie in diesem Sturm zurückkommen würden. Er hätte es auch nicht getan. Besser ein Mann über Bord als einhundert.
***
Das Wasser war eiskalt. Zuerst hatten ihn die Wellen nur schmerzhaft gegen die Felsen gestoßen, allerdings war klar, dass sie ihn hochheben und hinunterdonnern lassen wollten. Tarlos Versuch, nicht an seinen Rücken zu denken, schlug fehl. Hoffentlich war es nur eine Zerrung. Er wagte es nicht, mit den Armen herumzugreifen und ihn zu berühren.
Wasser stieg überall sprudelnd um ihn herum auf. Wie lang hatte er noch? Er blickte abermals hoch, suchte nach der Stolz des Patrons und bemerkte eine winzige Welle in der Ferne, die sich immer weiter auftürmte. Wahrscheinlich würde sie nicht so groß werden wie die, durch die ein Schiff der Allianz ins Chaos gestürzt worden war, aber für ihn allein reichte sie aus.
Tarlo holte hastig Luft und zitterte. Die Wellen kamen ohne Unterlass. Wenn es nicht diese wäre, würde es die nächste sein. Er atmete unregelmäßig.
Als die Welle, die ihm am nächsten war, in sich zusammenfiel, nur um schon bald wieder aufzusteigen, erblickte er auf einmal etwas auf ihrem Kamm. War das ein Trümmerstück? Es sah aus wie eine lange Planke.
Wenn er es erreichen könnte, nachdem die Welle ihren Tiefpunkt erreicht hatte, dann vielleicht ...
Die Welle stürzte hinab, umhüllte ihn mit Gischt und drückte ihn wieder nach hinten. Tarlo wollte schreien, als die Felsen an seinem Rücken entlangschabten, doch er drückte sich dagegen. Er fühlte sich, als bewegte er sich kaum, und doch kam er zu seiner Erleichterung der Planke irgendwie näher. Wie konnte sie nach diesem letzten Stoß noch immer über Wasser sein?
Er bemerkte, dass die Planke auf ihn zukam. Im Mondlicht konnte er genau sehen, wie sie durch eine aufsteigende Welle schlug und direkt vor ihm landete. Sie wurde größer. Und noch größer. War das etwa ein Schiff?
Auf jeden Fall irgendein Wasserfahrzeug. Tarlo sah, wie aus der Planke ein langes Holzboot wurde, das an der Seite Netze hinter sich herzog.
Die Mannschaft des Bootes war groß und hatte breite Nacken. Sie lehnten sich nach vorn und die Ruder, die in ihren Fäusten wie kleine Stöcke wirkten, stießen immer wieder ins Wasser.
Orcs. Tarlo erkannte drei, als sie näherkamen. Er wünschte, er hätte sein Schwert dabei gehabt.
Eine Welle warf das Boot auf die rechte Seite, woraufhin die drei Gestalten schnell ihre Positionen wechselten. Sie standen nun aufrecht und stießen ihre Ruder wie Lanzen ins Meer, damit ihr Boot keine Schlagseite bekam. Tarlo hielt den Atem an und klapperte auch nicht mehr mit den Zähnen, während er ihnen zusah. Besser, zu erfrieren oder zu ertrinken, statt gefangen genommen zu werden von ...
Nein, das waren keine Orcs. Ihre Gesichter und Hände waren mit komplett nassem Fell bedeckt. Selbst ihre Augen wirkten durchgeweicht. Sie hatten sich in graubraune Umhänge gewickelt, die feuchten Lappen ähnelten, und mit ihren Pfoten, auf denen zotteliges Fell wuchs, klammerten sie sich an die Seite des Boots.
Pandaren?
Eine riesige Gestalt hatte ihren breiten Mund geöffnet, schien jedoch nichts zu sagen. Sie ... brüllte nur. Eine Welle türmte sich hinter dem Boot auf, das mit gefährlich nach oben geneigter Achternseite nach hinten gezogen wurde. Die brüllende Gestalt hob die Pfote und machte ein Zeichen, als das Boot außer Kontrolle geriet. Ihren Mund schloss sie jedoch nicht.
Konnte es sein ... dass sie jubelte?
Das Pandaren-Boot glitt einige Sekunden lang über die Spitze der Welle, bevor es nach unten klatschte. Tarlo starrte das Boot aus nicht einmal fünf Metern Entfernung an. Die drei Seeleute waren völlig durchnässt, doch der Größte unter ihnen zeigte mit ausgestrecktem Arm und kräftiger Pfote auf Tarlo. Sein Mund stand immer noch offen. Hinter dem Boot erhob sich eine weitere Welle, die bald gegen die Felsen schlagen würde.
Tarlo strampelte mit den Beinen und schwamm um sein Leben.
***
Er zitterte und würgte, während die drei Gestalten ihn an Bord hievten, doch als sie sich in Bewegung setzten, schluckte Tarlo das salzige Erbrochene herunter. Die Pandaren hatten genug Kraft, um gegen die aufsteigenden Wellen anzukommen.
Sie riefen etwas Unverständliches. Zwei schnelle Schreie, gefolgt von einem weiteren. Sie sangen etwas, als eine Welle sich erhob, und jubelten, nachdem sie sie durchnässt, aber unverletzt passiert hatten. Sie schlugen sich gegenseitig auf den Rücken und brüllten, als wären sie nicht kurz zuvor nur knapp dem Tode entronnen. Jedes Mal, als das Schiff durch eine neue Wasserwand fuhr, fürchtete Tarlo, gleich ins Meer gespült zu werden ... Doch dann ging der Singsang weiter und das Boot sprang gegen die Wellen. Überall spritzte Wasser umher, als ob riesige unsichtbare Hände auf den Ozean schlugen, aber trotzdem hörten die Pandaren nicht auf. Irgendwann ebbten die Wellen schließlich ab und es gab nur noch Jubel.
Tarlo hatte aufgehört, die Wellen zu zählen, die ihr Boot fast hatten kentern lassen, und lag irgendwann einfach auf dem Rücken. Es fühlte sich nicht an, als hätte er sich irgendetwas Schlimmes gebrochen – vielleicht eine angeknackste Rippe. Seine Seite schmerzte, aber da das Sitzen weniger wehtat als gedacht, kauerte er sich unter den zusätzlichen Umhang, den die Pandaren ihm übergelegt hatten. Der Himmel sah immer noch düster aus, der Regen prasselte hinab und ihr winziges Boot ruckte nahezu ohne Vorwarnung hin und her, doch das Wasser war ... ruhiger. Er konnte die Stolz des Patrons nirgendwo ausmachen, sah weit entfernt jedoch felsige, dunkle Klippenvorsprünge. Genau die hatten die Männer wahrscheinlich vor dem Sturm umfahren wollen.
Tarlo sah sich im Boot um und fühlte sich, als wäre er gerade erst erwacht. Er war sicher. Sicherer. „Ihr ... Danke“, murmelte er.
Einer der Pandaren, der große, der nicht aufgehört hatte, zu rufen, hielt gerade so lang inne, um zustimmend zu brummen. Ein anderer – klein und stämmig, mit ausgeprägter Kieferpartie – schaufelte mit einem Krug das Wasser aus dem Boot. Der dritte trug eine Kapuze bis über die Ohren und bewegte abwechselnd zwei Ruder, während er sich gegen etwas stützte, das wie ein großes Bierfass aussah. Der Pandaren drehte sich während des Sprechens nicht um und hörte auch nicht auf zu rudern. Seine Worte waren im unablässigen Regen kaum zu verstehen.
„Seid Ihr ... von der Allianz?“ Er sprach mit Akzent. Raue, kratzige Stimme. Männlich?
„Ja.“ Tarlo hielt inne. „ Wo sind wir? Wohin fahrt Ihr mit diesem Boot?“
Das Boot fuhr noch ein Stück weiter, als der Pandaren aufhörte zu rudern. Er drehte sich um und sah Tarlo aus goldenen, hell unter der Kapuze glänzenden Augen wie ein aufgeschrecktes Tier an. Sein dünner Bart aus zwei langen Fellbüscheln zuckte.
„Zum Fischen.“
Tarlo war so trocken, wie es gerade eben ging: also gar nicht. Er zog sich eine weitere Decke über den Kopf, als die Pandaren die Ruder hochzogen und sich hinsetzten, um das Boot auf den Wellen schaukeln zu lassen.
Die Klippen waren nun noch weiter entfernt und Tarlo sah sie kaum noch. Er konnte sich nicht vorstellen, wo die Stolz des Patrons sich befand oder ob sie nicht schon ein Wrack war. Am Himmel zuckten Blitze.
Die Pandaren plapperten, rollten Leinen auf, überprüften Netze auf Löcher und brachten Köder an den Haken an. Der große, brüllende hatte den Stöpsel vom Fass entfernt und füllte jeweils zwei Krüge gleichzeitig.
„Also, ich bin Euch dankbar“, sagte Tarlo zum großen Pandaren, „aber könntet Ihr mich in der Nähe dieser Klippen, an denen wir vorbeigekommen sind, herauslassen?“
„Cousin Shi Ga bereitet den Auswurf vor. Wollt Ihr ein Getränk?“
Ihre – ihre! – Stimme war erstaunlich sanft. Tarlo konnte kaum glauben, dass sie aus demselben brüllenden Maul kam, das er zuvor gehört hatte.
Er nahm den Krug mit schaumigem Bier an, den sie ihm in die Hände drückte. Seine Zähne klapperten, als er ein paar Schlucke nahm. Es war warm ... aber nicht schlecht.
„Äh, danke. Tarlo“, sagte er und deutete auf sich.
„Ich heiße Mei Pa. Es ist schön, mit Euch zu trinken, Tarlo. Das ist mein Bruder Kuo.“ Mit ihrer Handfläche zeigte sie in Richtung des stämmigen Pandaren mit dem großen Gesicht.
Kuo, der die Finger seiner kräftigen Pfote durch die Henkel zweier Krüge gesteckt hatte, während er die Netze richtete, nickte zurück.
„Kuo hat uns gerade erzählt, wie er vor der Küste des Jadewaldes mal einen Lungenfisch gefangen hat. Fischt Ihr, Tarlo?“
Das tat er nicht. Langweiliger könnte diese Tätigkeit kaum sein. Man saß herum, wartete, beobachtete und wartete noch mehr. Die Leute angelten unter den allerbesten Bedingungen und nannten sich dann Fischer, als wäre das etwas Besonderes. Im Frühling konnte jeder ein Fischer sein. Während eines Gewitters in einem winzigen Boot mitten im Meer zu fischen, während man fast erfriert, war dagegen nicht langweilig – es war einfach nur hirnverbrannt.
„Ein Fischer bin ich nicht unbedingt“, sagte er.
„Aber Ihr erzählt doch bestimmt Geschichten, oder?“
„Geschichten? Ja, natürlich. Ich kenne ein paar.“
Sofort hatten Mei Pa und Shi Ga ihn fest im Blick. Sie waren begeistert davon und vielleicht könnte eine Gemeinsamkeit dabei helfen, die Pandaren zu überreden, ihn an einen etwas trockeneren Ort zu bringen ...
Tarlo räusperte sich.
„Na ja, als ich vor ein paar Jahren im Sumpfland diente, stießen wir auf diese alte Stadt. Ich glaube, es waren, ähm, insgesamt acht Leute in unserem Trupp. Wir sahen ein altes, heruntergekommenes Fort, wahrscheinlich vor langer Zeit von den Zwergen erbaut. Wir hatten es auf einer Spähmission entdeckt und sahen es uns von innen an, aber anscheinend hatte die Horde wohl einen Tipp erhalten, denn schon bald standen zwei komplette Kompanien vor den Toren und suchten einen Weg hinein. Sie hatten die ganze Stadt umstellt. Es gab keine Möglichkeit, unerkannt durch ihre Reihen hindurchzuschlüpfen. Es waren unzählige. Absolut hässliche Mistkerle. Mit riesigen Äxten, Schwertern und allem Drum und Dran.“
Mei Pa runzelte die Stirn.
„Da hatte Griley folgende tolle Idee: Wir holten alle steinernen Abbildungen und Figuren von den Wänden, nahmen uns ein paar Teppiche, die noch nicht verrotteten, und legten alles auf einen Haufen im Innenhof. Einige zerrissen wir, damit es so aussah, als hätten Plünderer sie zurückgelassen. Dann warfen wir noch ein paar Münzen dazu, denn Orcs können ja bekanntlich keinem Müllhaufen widerstehen, wenn noch ein bisschen Kleingeld drin ist.“
Die Pandaren waren wirklich gefesselt von der Geschichte. Shi Ga hatte seine Angelrute zur Seite gelegt und sich Tarlo zugewendet, um ihn beim Erzählen sehen zu können.
„Dann haben wir ein halbes Dutzend Ladungen unter all das Zeug in den Haufen gelegt und uns versteckt. Als die Orcs kamen, lief mir der Schweiß in Sturzbächen den Rücken runter. Ungelogen. Mir war nicht klar, ob sie darauf reinfallen würden.
„Sie haben eine Zeit lang darüber diskutiert, dann aber schließlich ein paar Goblins geschickt – Ihr wisst schon, diese kleinen grünen Kerle mit den großen Ohren – die alles durchsuchen sollten. Wir warteten, bis immer mehr sich im Haufen befanden, sechs, acht, zehn ... und dann: BUMM! Das hat wahrscheinlich zwanzig von ihnen erledigt, einen Großteil des Fallgatters und der Vordermauer auch. Das war das Lauteste, was ich je in meinem Leben gehört hatte. Während sie die Hälse mit ihren dummen Köpfen darauf verrenkten, um herauszufinden, was geschehen war, warfen wir unsere Seile über das Westtor und schlichen uns davon.“
Geschafft. Es wirkte, als hätte Kuo die Luft angehalten. „Und?“, fragte er.
„Was?“, fragte Tarlo.
Mei Pa schaltete sich ein. „Ich glaube, mein Bruder fragt sich, was die Moral dieser Geschichte ist.“ Ihr Gesicht sah klein und seltsam aus.
Moral? „Tja, wir haben sie angelockt. Sie überlistet. Und wir sind entkommen. Keiner unserer Leute wurde verletzt. Wir waren fast zehn zu eins in der Unterzahl!“ Tarlo wurde langsam rot im Gesicht.
„Ich ... verstehe.“ Mei Pa wirkte auf jeden Fall verstört.
„Wir befanden uns im Krieg, wisst Ihr?“ Tarlo erhob seine Stimme, aber die Pandaren hatten sich weggedreht, fummelten an ihrer Ausrüstung herum, legten Leinen in neue Schlaufen und starrten in die Schwärze des Gewitters. Das Boot schaukelte wie wild, bewegte sich jedoch nicht von der Stelle. Ein peinlicher Moment.
„Was macht Ihr überhaupt während eines Gewitters draußen auf dem Meer?“, fragte Tarlo und war sich der Absurdität bewusst, Leute infrage zu stellen, die ihm das Leben gerettet hatten. „Es ist ziemlich offensichtlich, dass Ihr nicht nach unserem Schiff Ausschau gehalten habt.“
„Darf ich Eure Frage mit einer eigenen Geschichte beantworten, Tarlo?“, kam Mei Pas sanfte und nicht unfreundliche Antwort. Tarlo nickte. Warum nicht? Nass war er sowieso schon.
***
Vor vielen, vielen Jahren, nicht weit von hier, gab es ein winziges Dorf namens Za Xiang. Die Pandaren, die dort lebten, waren angestammte Fischer und füllten ihre Bäuche mit den Früchten des Meeres. Darauf waren sie fast vollkommen angewiesen, da sich nicht ein einziger Bauer oder Jäger unter ihnen befand. Aber sie waren glücklich und gesund, bis eines Tages eine ungewöhnliche Hungersnot über ihr Dorf hereinbrach und die Fische aus dem umliegenden Meer spurlos verschwanden. Sie tranken Regenwasser und Bier, aßen Nüsse, doch schon bald waren ihre Lager geleert. Die Fische kehrten nicht zurück und ihr Leid begann.
Nach Wochen des Hungers und der Rationierungen überkam die Dorfbewohner Hoffnungslosigkeit. Sie schickten Boten mit der Bitte um Nahrung in die Hauptstadt und während sie warteten, verließen Familien Za Xiang in Heerscharen. Pandaren saßen in der Hoffnung, etwas zu fangen, stundenlang am Hafen, doch es biss nicht ein einziger Fisch an und sie kehrten stets mit leeren Pfoten heim – bis auf einen ungefähr 12 Jahre alten Jungen namens Xun.
Xun hatte einen Dickkopf. Er schwor, ohne Unterlass zu fischen, bis er genug hätte, um nicht nur seine Familie, sondern das gesamte Dorf zu versorgen. Leider hatte er nicht den Hauch einer Ahnung vom Fischen. Folglich wartete er am Hafen, rief nach den Fischen und suchte über dem Wasser nach ihnen. Er hatte einen Stock mit einem darangebundenen Band, jedoch schon wie seine Nachbarn einen Großteil der Köder selbst gegessen und besaß darum nichts, womit er die Fische hätte anlocken können. Also kam Xun auf die Idee, ihnen einen Streich zu spielen: Er polierte Steine, bis sie glänzten, und ließ sie über das Wasser springen, damit die Fische ihnen nachjagten. Was sie aber nicht taten.
Eine ganze Woche lang warf er Steine und tat kein Auge zu, bevor er schließlich aufgab. Als Nächstes versuchte Xun die Fische aus dem Wasser zu locken. Er steckte seinen Mund ins Meer und erzählte ihnen Witze in ihrer Sprache. Aber Fische haben einen etwas anderen Humor und falls wirklich einer Xuns Stimme gehört hat, ist jedenfalls keiner an die Oberfläche gekommen, um ihn zu begrüßen.
Nach drei weiteren Tagen schien es ihm, als befänden sich überhaupt keine Fische im Meer, und Xun wurde wütend. Er warf seine Steine weg und watete ins Meer hinein, bis es kalt wurde und unter seinen Füßen nur noch Wasser war. Das Ufer und sein Zuhause lagen nun weit hinter ihm.
Er hielt die Luft an und steckte seinen Kopf ins Wasser. Mit offenen, brennenden Augen suchte er nach den Fischen, um sie mit seinen Pfoten fangen zu können. Unter ihm entdeckte er einen winzigen, vom Meeresboden bedeckten braunen Fisch, der sich zu verstecken schien. Xun war schnell und schwamm zu ihm, um ihn sich zu schnappen, aber als er sich näherte, verdunkelte ein riesiger Schatten das von oben ins Meer fallende Sonnenlicht. Er sah, wie das Maul einer gigantischen, hungrigen Schlange an ihm vorbeischoss und sich in dem Fisch verbiss.
Das Monster, das Xun den Fisch wegschnappte, besaß enorme Größe und wand sich wie ein Aal, war jedoch zusammengerollt, als ob es sich nicht komplett ausstrecken konnte. Sein Bauch war dick und aufgebläht und auf seinen silbernen Zähnen steckten noch lebende Fische. Xun erkannte, dass dieses Monster alle Fische in Za Xiang gefressen hatte. Dies war der Grund, warum nicht einmal die besten Fischer der Stadt es schafften, irgendetwas zu fangen.
Xuns ganzer Körper hätte in das Maul der Kreatur gepasst. Sie war so groß, dass Xun schon Angst bekam, nur mit ihr im Wasser zu sein, doch war er zu wütend, um wieder nach Hause zurückzukehren. Er schwamm dem Monster hinterher, bewegte die Arme und Beine im selben Rhythmus und schlängelte sich durch den Ozean, indem er seine Bewegungen nachahmte.
Xun hielt die Luft an, so gut es ging, und schwamm direkt auf das offene Maul der Bestie zu. Mit seiner Pfote griff er problemlos durch die riesigen Lücken zwischen den Zähnen und zog einen Fisch heraus. Dann stieß Xun die Luft aus und schoss an die Oberfläche, bevor die Kreatur ihn mit ihrem Maul erwischen konnte.
Er brachte seinen Fang sofort nach Hause, legte ihn auf den Tisch und sagte seinen Eltern, Brüdern und Schwestern, dass sie das Dorf nicht verlassen mussten. Um genug Nahrung für alle zu bekommen, mussten sie sich nur eine neue Art des Fischens überlegen.
Xun hatte entdeckt – so wie alle, die etwas fangen wollen – dass passives Fischen einfach nicht die beste Option war.
***
Tarlo musste seinen Blick senken und seine Lippen hinter dem Bierkrug verbergen, um nicht zu grinsen – trotz der Schmerzen in seinem Rücken, trotz des Regens, der Kälte und all der anderen Dinge, die an den verrückten Pandaren einfach abzuperlen schienen.
Natürlich war ein Pandaren-Junge mitten aufs Meer geschwommen, hatte einem riesigen Aal blitzschnell einen Fisch aus dem Maul ziehen können, war entkommen, ohne gefressen zu werden, und hatte sein vom Hunger betroffenes Dorf gerettet. Na klar.
Tarlos Antwort: „Hm. Interessante Geschichte.“
Mei Pa lächelte ihn an, als könnte sie seine Gedanken lesen. „Es ist nur eine Geschichte, Tarlo, und auch nur ein Teil davon. Aber ich glaube, sie ist wichtig.“
Diese Pandaren ließen wirklich niemanden außen vor. Sie hatten ihm nicht nur das Leben gerettet und eine Geschichte erzählt, sondern ihm auch eine winzige, verbogene Angel und einen Köder gegeben, so wie man einem Kind ein Holzschwert zum Spielen gibt. Er hatte seine Leine mit einer Hand ins Wasser geworfen, während Mei Pa immer weiter erzählt hatte. Fischen. Genau. Eine Schnur im Meer baumeln zu lassen, um sich vom eigenen Zittern abzulenken, hätte es schon eher getroffen. Eine Stunde des Wartens und Zuhörens ohne Ergebnis. Nichts hatte angebissen.
Jetzt, da sie nicht mehr redete, drehte Tarlo beide Beine in Richtung Meer und starrte konzentriert aufs Wasser hinaus. Warum hatte er denn nach dieser langen Zeit nichts gefangen? Kuo und Shi Ga hievten Netze voller stinkender goldener Fische hinauf. „Keine Sorge, Tarlo. Manchmal kommen die Fische einfach nicht. Das hat nur wenig mit Euch zu tun.“
Tarlo riss die Spielzeugangel aus dem Wasser, sah zu ihr hinüber und knurrte gleichgültig, während er die Rute auf das Deck fallen ließ. Die Pandaren waren fertig, also war er es auch. Es konnte losgehen. Innerhalb weniger Minuten bewegte sich das Boot wieder.
***
Tarlo sah hinauf zum Himmel. Der Regen prasselte jetzt noch stärker. Seine Decken hatten schon seit Langem nur noch dafür gesorgt, ihn feucht und kalt zu halten. Er versuchte sich daran zu erinnern, wann er diese Klippen zum letzten Mal gesehen hatte. Vor vielleicht vier oder fünf Stunden? Noch immer war es dunkel.
„Fahren wir irgendwo in Richtung Land?“, fragte er in die Runde.
„Es gibt noch einiges zu fischen“, kam Shi Gas gekrächzte Antwort. Am Himmel zuckten Blitze und die Wolken schienen sich erneut zu öffnen.
Tarlo wäre lieber durch eigene Fehler als die schlechte Einschätzung eines anderen gestorben, also blickte er auf das Wasser und suchte nach etwas, wohin er trotz seiner Verletzungen schwimmen könnte. Treibholz, ein Stück Koralle – irgendetwas. Doch alles, was er sah, waren Regenwände, die so dick waren, dass er die Augen zusammenkneifen musste.
Nein, er sah noch etwas. Dort, direkt unter der Oberfläche, befand sich eine gewundene, ölig schwarze Form, die sich bewegte. Tarlo dachte, er hätte eine Flosse gesehen, allerdings konnte man das in dieser Tiefe nicht genau sagen. Ihr Boot schaukelte leicht und Tarlo hielt sich an der Seite fest. Das Gewitter schüttelt uns durch. Nicht ... das, was auch immer es ist.
„Hey ...“, setzte er an, doch Kuo und Shi Ga hatten ihre Ruder aus dem Wasser gezogen. Langsam kam das Boot zum Stillstand und der Regen stürzte mit aller Macht auf sie herab.
„Tastet die Wasseroberfläche nicht an“, flüsterte Shi Ga mit seiner Pfeifenraucherstimme. „Es wird vorbeiziehen.“
Tarlo sah, wie die schwarze Form unter ihnen perfekte Kreise zog, und war sich da nicht ganz so sicher. Sein Hals juckte und er wollte das, was in seinem Rachen hochkam, am liebsten aushusten, aber solang dieses Ding in der Nähe war, würde er nicht einen Laut von sich geben.
Kuo hatte diese Skrupel nicht. „Tarlo, soll ich Xuns Geschichte weitererzählen? Das scheint mir jetzt genau der richtige Zeitpunkt zu sein.“ Mit seinen dicken Pfoten schob er noch ein Bier rüber. Der strömende Regen ließ den Schaum im Krug überschwappen.
Verrückt.
***
Xuns Fang reichte nicht aus, um das gesamte Dorf Za Xiang mit Nahrung zu versorgen. Er war nicht einmal genug für seine Familie, die ihn würfelten, eine Suppe aus den Flossen machten und die Schuppen als Beilage kauten. Aber er bedeutete etwas. Wenn ein Amateur Fische fangen konnte, warum sollten es dann die Meister nicht auch können, die ihr ganzes Leben lang gefischt hatten? Die Dorfbewohner warfen fortan den ganzen Tag und die ganze Nacht über ihre Angeln aus. Es waren so viele, dass gar nicht alle in den kleinen Hafen passten und sich ihre Leinen in dem Gedränge verhedderten. Jene, die nicht fischen konnten, begannen mit dem Ausbau des Piers, um Platz für alle Bewohner zu schaffen, damit sie Seite an Seite mit ihren Angeln am Wasser stehen konnten.
Aber obwohl alle zusammenarbeiteten, gab es nur selten etwas zu essen. Pro Tag fingen sie höchstens zwei Fische und die Pandaren schnitten im Dorfzentrum Stücke heraus, die sie kochten und an Schlangen anderer Bewohner verteilten. Das Knurren ihrer Mägen hallte bis zum Ozean. Ihre Körper, Arme und Gesichter wirkten ausgemergelt und sie wanderten schlaflos umher. Die See schien leer zu sein.
Xun war unglücklich. Sein Dorf hatte alles gegeben, um Nahrung zu bekommen, aber er wusste, dass das Monster, welchem er begegnet war, in der Tiefe warten, alle Fische fressen und dafür sorgen würde, dass er und seine Familie bis in alle Ewigkeit hungern müssten. Er hatte niemandem von der Bestie erzählt, da er davon ausging, dass die Dorfbewohner dann vor lauter Furcht nicht mehr fischen würden. Stattdessen nahm er sich des Nachts ein Kanu und fuhr damit aufs Meer hinaus. In das Boot hatte er haufenweise leere Fässer und Kochtöpfe gelegt, die ihn mit ihrem Gewicht nach unten drückten. Er paddelte mit einer Lanze, da das meiste Holz für Ruder schon längst zum Ausbau des Hafens verwendet worden war. Er brauchte einen halben Tag, bis er sich außer Sichtweite des Festlandes befand. Der Wind blies nun stärker und da Xun keinen Mantel hatte, fror er. Schlau hätte man diese Aktion nicht gerade nennen können.
Als er sein Zuhause nicht mehr sehen konnte, begann Xun zu brüllen und mit seiner Lanze ins Wasser zu stoßen. Er nahm die schweren Töpfe und Fässer, die er mitgebracht hatte, hob sie über den Kopf und warf sie mit aller Kraft ins Meer. Einige trafen auf dem Meeresboden auf und wirbelten große Wolken auf. Er hatte die ganze Nacht hindurch fast bis zum Morgen auf das Wasser eingeschlagen, als er mit scharfem Blick sah, wie das Aalmonster sich in seine Richtung schlängelte und dabei Wellen aufwarf.
Xun nahm seine Lanze, um dem Ding einen Stoß zu verpassen, wenn es sein Boot erreichte, erblickte dahinter jedoch weitere sich nähernde Formen. Einige hatten dieselbe Größe wie der riesige Aal, andere waren noch gigantischer. Er sah Mäuler mit Schnäbeln, riesige Panzer und Schwänze mit Flossen. Jede Kreatur war größer als das Haus einer Familie in Za Xiang und Xuns Falle hatte sie hergelockt.
Xun war vollkommen überwältigt und bevor er überhaupt darüber nachdenken konnte, was er tun sollte, erreichten die Ungeheuer sein Boot und zerrissen es mit ihren Kiefern. Xun fiel in das kalte Meer mitten zwischen die Bestien.
Der Hunger zog sie mit knirschenden Zähnen zu ihm. Xun schwang seine winzige Lanze nach links und rechts und strampelte so schnell mit den Füßen, dass er sich wie ein springender Fisch aus dem Wasser erhob. Die Kreaturen wurden jedes Mal wilder, als ihre Mäuler in der Luft zuschnappten, und bissen so oft nach einander wie nach Xun. Er fasste die Gelegenheit beim Schopf und stach mit seiner Lanze auf eine Bestie ein, doch das Eisen zerbarst beim Aufprall.
Das Getümmel lief weiter, die Sonne ging auf, ging wieder unter und Xun wurde müde. Fünf der riesigen Bestien hatten ihn eingekreist und schlugen aufeinander ein, um die anderen davon abzuhalten, ihn zuerst zu fressen. Dann schlug eine der großen steinartigen Schildkröten unter ihm mit ihren Flossen, öffnete ihr langes Maul sperrangelweit und Xun wurde mit Strömen von Meerwasser hineingezogen. Als er sich im Rachen befand, wurde alles schwarz.
***
„Und was soll ich daraus lernen, Kuo?“, platzte es aus Tarlo heraus, der seine Augen vom Wasser abgewandt hielt. „Dass man mit einem winzigen Boot nicht mitten aufs Meer fährt? Mir scheint es nämlich nicht so, als würdet Ihr drei diese Lektion befolgen.“
Kuo schaute leicht erstaunt nach hinten. „Oh, nein, nein. Xun lernte, dass es, egal wie groß die Fische sind, die man sieht, immer noch einen größeren gibt. Aber ich bin noch nicht fertig.“
***
Im Rachen der Bestie, der voller Meerwasser und dumpfer Geräusche war, war es kalt. Xun konnte nichts sehen, da Dunkelheit und das Maul der Kreatur ihn niederdrückten. Das Wasser bremste seine Schläge im Innern ab und die eisernen Kiefer blieben fest verschlossen.
Xun wusste, dass er sich keinen Weg nach draußen freikämpfen konnte. Er wusste jedoch auch, dass die Kreatur auf einen Leckerbissen wartete. Also hielt er seine ihm noch verbliebene Luft an, blies seine Wangen auf, spannte die Brust an und drückte sich gegen die Wand des Rachens der großen Bestie, während sie weiterschwamm, mit ihrer Zunge nach Xun schlug und versuchte, ihn hinab in ihren Magen zu ziehen. Xun war müde und hatte Angst, doch er hielt die Augen fest geschlossen und wartete.
Einige Tage später, als die meisten Dorfbewohner von Za Xiang sich am Hafen versammelten hatten und sich mit dem Fischen abmühten, ging ein alter Pandaren am Strand entlang, um nach Holzstücken und Seetang zu suchen. Seine Überraschung war groß, als er meinte, ein Haus am Ufer zu erkennen, und noch größer, als er sich näherte und sah, dass es sich bei diesem „Haus“ um eine Drachenschildkröte handelte. Sie hatte einen schmalen, langen, schlangenähnlichen Kopf und einen Panzer, der sich um den gesamten Körper herum bis zum Bauch erstreckte.
Das ganze Dorf musste mitmachen, um die Kreatur unter großer Anstrengung weiter an den Strand zu ziehen. Die Dorfbewohner brachten Hämmer mit, um den Panzer aufzubrechen, und schwangen sie bis spät in die Nacht. Der Krach übertönte sogar das Knurren ihrer Mägen. Als der Panzer geöffnet war, fanden sie weiche Stellen, an denen sie das Fleisch der Schildkröte abschneiden konnten, und das gesamte Dorf war versorgt.
Die lauten Hammerschläge hatten Xun aufgeweckt und als die Dorfbewohner den Bauch der Bestie öffneten, kroch er zur Freude seiner Familie und des ganzen Dorfes Za Xiang heraus. Die Bestie war fast so starrköpfig wie Xun gewesen. Sie hatte ihr Maul geschlossen gehalten, um ihre Beute nicht entkommen zu lassen. In ihrer Speiseröhre hatte Xun so lang die Luft angehalten, bis die Kreatur ertrank, allerdings war sie aufgrund der mächtigen Luftwirbel in Xuns Lungen nicht hinab in die Tiefe gesunken.
Xun versicherte den Dorfbewohnern, dass sie nichts zu befürchten hätten und von kleinen Fischen bis zu enormen Bestien alles aus dem Meer fischen könnten. Sie kochten das Fleisch der Drachenschildkröte und wurden zum ersten Mal seit langer Zeit satt.
***
Nach dem Ende der Geschichte bemerkte Tarlo, dass ihm die gleichmäßigen Geräusche des Regens und der Wellen bewusst waren, die immer und immer wieder anstiegen und abflauten. Noch mehr aber war er sich seiner Furcht bewusst: Seine Hände hielten ein Ruder krampfhaft wie Krallen fest umschlossen und öffneten sich nicht.
Die große Form im Wasser hatte sich nach einer gefühlten Ewigkeit des Umherkreisens nun erhoben. Tarlo dachte sich, dass sie wahrscheinlich angreifen würde. Shi Ga hatte sie während der Geschichte von der Seite des Bootes aus betrachtet. Regenwasser floss in Unmengen von seiner Kapuze und dem Bart aus Schnurrhaaren, der aussah, als befänden sich zwei Rattenschwänze an seinem Kinn.
Dann, auf einmal, wich die Form wieder zurück und wurde immer kleiner, bis Tarlo sie nicht mehr sehen konnte. Keiner der Pandaren sagte etwas, doch schon nach kurzer Zeit waren ihre Ruder wieder im Wasser.
Es war wahrscheinlich sowieso nur ein Hai. Die größten Sorgen musste er sich um die Kälte machen. Tarlo zitterte im Sturm so sehr, dass ihn die Eiseskälte bis auf die Knochen durchdrang. Er konnte kaum seine Hände stillhalten. Die Pandaren halfen ihm dabei, einen durchnässten Umhang auszuziehen, und warfen ihm zwei neue über, die sie aus einer Eisentruhe geholt hatten. Mehr Bier schenkten sie auch noch ein. Vielleicht würden sie ja bald das Land erreichen und er könnte sich wirklich sicher sein, überlebt zu haben.
Doch in der Zwischenzeit hatte sich das Boot wieder in Bewegung gesetzt und Tarlo überkam die Neugier, so dumm und ziellos sie auch oftmals sein mochte. Dieser Junge, Xun, war aufgebrochen, um sein Dorf zu retten, hatte dann mit etwas Glück genau den richtigen Ort gefunden und schließlich gegen zähnefletschende Riesenfische gekämpft, ohne sich zu verletzen. Und auf einen Streich hatte er die Probleme der Dorfbewohner gelöst, war in der Nähe seines Hauses an den Strand gespült worden und lebte daraufhin normal weiter? Aber ja!
Tarlo tippte Kuo auf die Schulter.
„War das alles? Er findet irgendwelche großen Kreaturen, wird von einer verschluckt, überlebt wie durch ein Wunder und als die Bestie an Land gespült wird, erlöst das die Dorfbewohner von ihrem Hunger?“
Kuo schüttelte den Kopf. „Natürlich ist Xuns Geschichte noch nicht zu Ende.“
„Natürlich nicht“, kam Tarlos scharfe Erwiderung. „Es ist nie zu Ende, wenn man sie währenddessen weiterspinnt. Es muss ja recht angenehm sein, sich nicht auf Dinge zu beschränken, die wirklich geschehen sind. Wie lang hat Xun die Luft angehalten? Zwei Tage?“
Tarlo erwartete, in Kuos Gesicht ein Anzeichen von Kränkung zu erkennen, aber es wirkte, als lächelte er, wenngleich mit durchnässtem Fell.
„Gut, dass Ihr Euch den Namen gemerkt habt. Shi Ga kann den Rest der Geschichte am besten erzählen, also lasse ich ihn weitermachen.“
Kuo und Mei Pa übernahmen die Ruder, Shi Ga lehnte sich an die Bank neben Tarlo und schaute zu ihm hoch, während das Boot weder in Richtung Land trieb noch ein anderes für ihn erkennbares Ziel zu haben schien. Shi Gas Augen waren gewohnt hell und Tarlo beugte sich widerwillig nach unten, um seine kratzige Stimme verstehen zu können.
„Viel Zeit war vergangen, seit Xun seine Leute gerettet hatte, und wenn die Zeit vergeht, bleiben Veränderungen nicht aus ...“
***
Viele Jahre lang versorgte Xun sein Dorf mit Nahrung. Die Bewohner von Za Xiang aßen Drachenschildkröten, große achtäugige Tintenfische und riesige Aale. Doch niemand aß mehr als Xun selbst, der auch das Öl der Bestien trank. Als er heranwuchs, wurde er größer und stärker, bis man seinen Kopf über den Dächern der Häuser im Dorf sehen konnte. Er hatte einen geraden und festen Gang, unerschütterlich wie eine Eiche.
Wie es alle männlichen Pandaren taten, wenn sie in der Nähe der kalten Meereswinde lebten, ließ sich Xun einen langen Bart wachsen, in dem sich das Salz des Ozeans fing und der zerzaust war wie das Fell eines wilden Tieres. Seine Augen wurden rot und blutunterlaufen, seine Pupillen zogen sich wie die eines Fisches zusammen und man erzählte sich, dass er unter Wasser fünf Kilometer weit sehen konnte.
Wenn Xun seine Hemden im Meer trug, erzitterte das Wasser vor ihm und floh in seine Kleidung, die daraufhin tagelang durchnässt war. Schließlich fing er damit an, seine großen Hemden, die von einem Dutzend Schneider im Dorf angefertigt werden mussten, am Strand trocknen zu lassen. Das Salz ließ sie verkrusten und hart werden, sodass junge Pandaren über sie stolperten. Was jedoch noch schlimmer war: Wenn er sich im Schlaf drehte, riss er mit seinen breiten Schultern sein Haus nieder, also trug er fortan keine Hemden mehr und schlief am Pier, um dem Dorf die Last seiner Größe zu ersparen.
Als Erwachsener begann Xun, die großen Seeungeheuer allein zu fangen. Er wurde unzählige Male gestochen und gebissen, trug jedoch die weißen Narben wie einen Wald auf seiner Brust und seinem Kiefer. Ein riesiger Hai mit einem Zahn für jede Seele auf Pandaria in seinem Maul verbiss sich eines Tages in Xuns Ohr. Da er ihn nicht abschütteln konnte, ging er über den Meeresboden zurück an Land, hob die Bestie aus dem Wasser, sodass sie nicht mehr atmen konnte, und zog sie an den Strand, wodurch die Flüsse gebildet wurden, die in der Nähe von Za Xiang immer noch landeinwärts fließen. Als Dorfbewohner den Hai von Xun losschnitten, ging auch ein Teil seines Ohrs verloren. Was übrig blieb, sah aus wie getrocknetes Leder und Xuns Familie brachte ihm einen großen Ring von der Größe eines Reifens, mit dem junge Pandaren spielen, den er fortan trug.
Und alle Bewohner des Dorfes hörten auf zu fischen, da sie es nicht mehr mussten.
Xun kümmerte sich gern um alles. Doch im Alter begann er sich Sorgen zu machen. Die Fische im Ozean um Za Xiang herum waren rar geblieben und seit seiner Kindheit hatte er niemals mehr als ein paar von ihnen gleichzeitig gesehen. Der Appetit der Dorfbewohner, welche die mächtigen Bestien aßen, die Xun fing, hatte sogar noch zugenommen, doch kein anderer Pandaren wurde so groß wie er und niemand konnte die Meeresbewohner wie er an Land holen. Er fürchtete, dass die Leute im Dorf nach seinem Tod den Ozean an die Bestien verlieren und gezwungen sein würden, ihre Heimat zu verlassen, wenn sie nicht hungern wollten.
Ein weiser Pandaren hätte vielleicht vorgeschlagen, dass Xun die Bewohner seines Dorfes auf der Suche nach einem Neuanfang durch das Land führen sollte. Ein Held von Xuns Größe und Stärke, der so vieles erreicht hatte, hätte zu einem versierten Jäger werden oder einen Platz für seine Familie und Freunde in einer großen Stadt finden können.
Aber Xun war nicht weise – er war starrköpfig und liebte seine Heimat. Also entschloss er sich, Za Xiang stattdessen für immer zu versorgen.
Während er nachts am Pier ruhte, hatte er alte Fischer reden gehört, Pandaren, die schon zu seinen Kindertagen grauhaarig gewesen waren. Und eine Geschichte hatten sie so oft erzählt, dass Xun sie nun auswendig konnte: die Geschichte eines namenlosen Monsters, groß wie das Meer selbst. Es war dreihundert Meter breit und größer als jede Bestie, die er je an Land gebracht hatte.
Als Xun diese Geschichte zum ersten Mal hörte, war das Wesen ein riesiger Hai mit unzähligen, stets kauenden Zähnen. Beim zweiten Mal war es eher so etwas wie eine durchsichtige, mit Stacheln bedeckte Qualle.
Für Xun waren diese beiden abweichenden Beschreibungen kein Anzeichen von Unwahrheit. Ganz gleich, welche der Realität entsprach, so dachte er sich, die Bestie war stets so groß, dass alle etwas abbekamen, und es gab reichlich Salz und Rauch, um die Stücke zu trocknen. Ihre Flossen oder Tentakel gaben einer dicken Suppe die Würze; aus ihrem Bauch konnte man gleichermaßen gut frische Steaks und haltbares Fleisch herstellen. Es konnte gewürfelt, gebraten, gepfeffert, gefüllt, mariniert, mit Gemüse belegt, filetiert, gegrillt oder am Spieß zubereitet werden. Von diesem Fang würden sie mehrere Monate essen. Jahre. Generationen.
Eine weitere Gemeinsamkeit aller Geschichten über diese gigantische Kreatur bestand darin, dass sie sehr tief im Meer lebte, tiefer als irgendein Pandaren je vorgestoßen war. Also verbrachte Xun Stunden damit, seine Lungen mit Luft zu füllen, indem er auf dem höchsten Hügel in der Nähe des Dorfes saß und die Windstöße hinunterschluckte, die ihm in den Mund bliesen. Er band sich schwere Fässer an die Füße, um bis auf den Meeresboden absinken zu können. Als er in den Ozean watete, brachte die durch seine schweren Schritte ausgelöste Flut Sandbänke zum Vorschein und die Seemöwen, die in seinem Bart genistet hatten, flogen wie ein weißer Pfeil gemeinsam hinauf in den Himmel. Die Dorfbewohner hatten sich an diesen Anblick gewöhnt und winkten den Möwen zu, als wären sie Xun.
***
Das Boot hatte wieder angehalten und ohne dass er es wirklich wollte, hielt Tarlo nun seine Angel ins Wasser und ließ die Gedanken treiben. Mei Pa und Kuo hatten es ihm gleichgetan und die Angeln mehrere Male ausgeworfen, bis sie zufrieden waren. Nun saßen sie still wie Statuen, während der Regen an ihnen herunterlief.
Als Tarlo in den Dienst der Allianz eintrat, war auch er jung und dumm. Er wusste einfach, dass der Kampf für die Allianz zu etwas anderem führen könnte als neuen Kämpfen und weiteren vernichteten, leeren Körpern, die im Boden alle gleich aussehen. Aber wenn man jung und dumm ist, kann man etwas wissen, ohne dass es stimmt. Es gab immer wieder neue Feinde oder eine Trophäe, die zwei Parteien haben, aber nicht teilen wollten. Leute, die Krieg führten, brachten Generationen hervor, die Krieg führten. Tod führte zu noch mehr Tod. Und so weiter.
Warum also war er nicht aus der Armee ausgetreten und nach Hause gegangen?
Er hielt inne. Es war absolut seltsam, aber Tarlo hätte schwören können, ein Ziehen an der Leine zu spüren. Vielleicht ließ ihn ja die Kälte zittern ... Aber dann spürte er es noch einmal. Er nahm die Angelrute in beide Hände und Shi Ga hörte plötzlich mit seiner Erzählung auf, um Tarlo beim Fischen zuzusehen. „Ganz vorsichtig jetzt ...“
So behutsam er konnte, stand Tarlo langsam auf. Er griff nun fester zu, als hätte er eine Lanze in der Hand gehalten. Ein weiteres Ziehen, dann noch eins. Er riss die Angel schnell nach oben und ...
... ein leerer Haken sprang aus den Wellen und klatschte gegen Tarlos Schulter, wobei sich die feuchte Schnur um sein Ohr wickelte.
Dieser Mistkerl von Fisch hatte sich den Köder geschnappt. Vielleicht hatten auch zwei zusammengearbeitet, ihn in zwei Stücke gerissen und waren dann damit verschwunden. Er war schon fast so wütend, dass er hinterherschwimmen wollte, sah dann jedoch Shi Gas unergründliches, mit Fell besetztes Gesicht. Konnte ein Pandaren süffisant grinsen?
„Ja. Fahrt fort“, knurrte Tarlo.
***
Xun verschwand in den Wellen. Er sank länger, als er es ermessen konnte, tausendmal seine Größe hinab in die Tiefe. Das Wasser wurde kälter, die Fische weniger und das Meer um ihn herum dunkler.
Er war schon zuvor unter der Meeresoberfläche geschwommen, aber nie so weit, dass es keine Wellenbewegungen mehr gab und die Felswände sich wie in einer Schlucht vor ihm auftürmten. Obwohl ihm Wasser in die Ohren floss, fühlte er in ihnen ein tief im Kopf entstehendes Zwicken. Kurz danach platzte das Innere seiner Ohren auf und Blut strömte heraus. Das Salz des Meeres brannte, aber er wich nicht aus der Tiefe zurück.
Xun tauchte in die Dunkelheit hinab, bis er fast nichts mehr sehen konnte, nicht eine Spur von Licht und nicht weiter als bis zu seinen Pfoten vor dem Gesicht. Er sah nicht die schemenhaften Kreaturen, groß wie Wale, die in der Dunkelheit an ihm vorbeischwammen und ihn aufgrund ihrer Größe nicht einmal wahrnahmen, als er ihre schuppige Haut streifte.
Er sank hinab, schlief ein, wachte nach einer ganzen Nacht wieder auf und sank noch immer. Von unten kam eine schwache Wärme und Xun schwamm schneller hinab, bis er mit seinen Pfoten schwarzblauen Staub berührte. Unter ihm befand sich ein riesiger Graben, eine Spalte im felsigen Meeresboden. Als er seine Gewichte entfernte und sich hindurchzog, war er sicher, schon bald die Mitte von Azeroth zu erreichen.
Im Graben spürte Xun, wie das Wasser an ihm vorbeirauschte, und in seinen verletzten Ohren hörte er den langen Widerhall seiner Bewegungen. Er wusste, dass die Größe der Höhle sie zu einem eigenen Meer machte, und die Wände so weit voneinander entfernt waren, dass man eine Stunde gebraucht hätte, um von einer zur anderen zu schwimmen.
Er setzte sich hin, wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit in der Nähe des Bodens der Welt angepasst hatten, und begann schon bald, schwache Umrisse, sich wellenartig bewegende Formen und den vorspringenden Teil eines großen Felsalkoven wahrzunehmen. Vor dem Alkoven befanden sich riesige Grate und Xun ging fest davon aus, dass im Innern die namenlose große Bestie leben würde, da er im ganzen Meer noch keinen tiefer liegenden Ort erlebt hatte.
Doch der kleine Berg um die Höhle herum wirkte seltsam. Er hatte eine blasse gelbweiße Farbe und war nicht Braunblau wie die Unterwasserfelsen. Selbst in der Dunkelheit konnte Xun die Farbe klar erkennen. Er war verwirrt.
Dann flatterten die Kiemen des Bergs, Steine regneten von ihm herab und Xun wusste, dass dieser Berg lebte.
Er war so groß wie Xuns Dorf und die von ihm ausgehende Hitze war so stark, dass sie den Graben auf dem Grund des Ozeans wärmte. Er bewegte sich, nachdem Xuns Anwesenheit ihn hatte aufwachen lassen, und Xun konnte Hunderte von Tentakeln unter seinem Körper sehen, die wie am Stamm eines großen Baumes hingen. An ihren Spitzen befanden sich dicke, mit Widerhaken besetzte Stacheln von der Größe eines ausgewachsenen Pandaren.
Sein Maul war eine Sandbank oder ein Korallenriff und die zwischen seinen Zähnen umherschwirrenden und an den Resten seiner Beute nagenden Haie waren so groß, dass sie mit einem Stoß ihrer Schnauze ein Boot hätten kentern lassen können. Seine glatte Haut war bedeckt mit Stacheln, die sich im dunklen Wasser bewegten. Als die Kreatur sich erhob und die auf ihr liegenden Erdschichten abschüttelte, flutete der Gestank ihres Atems den Ozean mit Tod und Fäulnis, die sich seit Urzeiten angesammelt hatten. Xun war zum ersten Mal seit langer Zeit müde.
Seine einstmals großartigen Augen und Ohren versagten in der Dunkelheit ihren Dienst; bei seinem rauen, treibenden Bart – er spürte den nicht zu verleugnenden Schmerz des Alters. Seit Tagen hatte er keine frische Luft und keinen kühlen Wind mehr genossen. Verglichen mit der Kreatur vor ihm wirkte Xun nicht nur klein, sondern war klein wie ein Pandarenjunges im Vergleich zur Sonne.
Xuns blanke Faust traf einen der großen Zähne. Risse schossen von unten herauf. Ein weiterer Schlag schmetterte durch das Wasser, der Zahn zersplitterte und seine Teile schossen wie Harpunen im Maul dieser Kreatur umher. Nicht weniger als vier Haie, die den Zahnbelag der namenlosen Kreatur verschlangen, wurden mit einem lauten Gurgeln wie durch einen unsichtbaren Strudel in ihre Speiseröhre gezogen.
Xun senkte den Kopf und schlug weiter zu. Mit einem entsetzlichen Knirschen, das er in seinen verletzten Ohren noch hören konnte, flogen sechs weitere Zähne in Spiralen ins Meer. Auf ihrem raketengleichen Weg nach oben nahmen sie Seetang, Fische und Wale mit. Als sie schließlich bedeckt mit Pflanzen und Tieren durch die Oberfläche stießen, wirkten sie wie baumgroße Spieße mit Meeresfrüchten.
Danach bewegten sich die Kiefer des Wesens aufeinander zu. Xun drückte seine Füße in das treibsandartige Zahnfleisch und stemmte sich dagegen, um die Kreatur davon abzuhalten, ihr Maul zu schließen. Seine Handgelenke waren schmerzhaft verdreht und seine Knochen standen kurz vor dem Zerbersten, doch er schaffte es, das Maul der Bestie wie mit einem Keil offen zu halten. Sie gab jedoch nicht auf und steckte die Tentakel an ihrem Rumpf zwischen ihre Zähne, schlang sie um Xuns Hals, zog an seinen Gliedmaßen und stach ihm immer wieder in den Bauch.
Ihre Stiche waren schrecklich und hinterließen rote Wunden in seinem Fell, aber ihr Gift war noch schlimmer. Xun spürte, wie das Blut in seinem Körper brannte. Da er seine Arme nicht bewegen und sich schützen konnte, während das furchtbare Maul sich immer weiter schloss, biss er so fest und lang auf einen der Tentakel ein, bis dieser sich freiwand. Dann ergriff er das sich zurückziehende Körperteil und wurde ins Meer geschleudert.
Die im Maul des Wesens lebenden Haie klammerten sich an Xuns Arme und Beine, aber da ihre Bisse einen Teil des Gifts aus ihm herausströmen ließen, hielt er sie wie Schilde vor sich, um von den sich schlängelnden Tentakeln nicht in die Augen gestochen zu werden. Währenddessen schwamm er über das Maul der Kreatur nach oben und begann, auf ihren Kopf einzuschlagen. Die Stacheln auf ihrer Haut standen aufrecht, als wäre sie ein großer Kugelfisch, und Xuns Fleisch zerriss bei jedem Treffer wie ein Lappen, doch er hörte nicht auf. Seine Schläge waren wie in der Tiefe gedämpftes Donnerkrachen. Die Stacheln der Kreatur brachen ab und ihr Fleisch zischte unter der Kraft jedes Hiebs, doch sie blieb still wie ein Tintenfisch.
Tagelang kämpften sie ohne Unterlass: Xun schlug auf den Kopf oder gegen den Bauch der Kreatur und zog sich zurück, als ihm die Tentakel zu nahe kamen, das Wesen zog ihn in Richtung seines Mauls oder zerschmetterte seine Knochen. Ihr Kampf war so wild, dass Wellen bis ans Ufer nahe Za Xiang gespült wurden und so hoch aufstiegen, dass die Dorfbewohner um ihr Leben fürchteten. Der Pier zerbrach und wurde hinaus aufs Meer gespült und die Leute flohen in ihre Häuser.
Schließlich wurde Xun müde. Das Gift fraß an seinem Herz und die Schläge wurden immer mühsamer. Das Dutzend übrig gebliebene Tentakel umschlang ihn, wickelte sich immer wieder um seine Hüfte und die Beine und drückte zu. Xun wusste, dass er nicht genug Kraft hatte, um sie wegzuschlagen.
Bevor sie seine Arme umschlungen, vergrub er seine Finger in zwei der sich windenden Tentakel, steckte seine Beine in den Boden und zog. Xun spürte sein Inneres wie ein Band zerreißen.
Der gigantische, mehrere Kilometer große Körper schoss durch das Wasser und baumelte über seinen Tentakeln wie ein Drachen an einer Schnur. Xun zog mit aller Kraft und ließ die berggroße Masse mit einem Knall, den er nicht hörte, gegen den Meeresboden krachen. Grobe graue Erde und Staub schossen durch den Aufprall kilometerweit davon.
Xun vergeudete keine Zeit, wickelte die riesigen Tentakel zweimal um seine Handgelenke und versuchte die Kreatur nach vorn zu bewegen. Er hatte sie schon einmal angehoben und musste nun mit ihr nur noch bis an die Oberfläche schwimmen. Er zog und wartete, dass der enorme Kadaver nachgab.
Aber er bewegte sich nicht.
Xun sah nur noch Punkte. Er bewegte sich wie in Schlamm und seine Lungen sehnten sich nach Luft. Irgendwann kam er wieder zu Kräften und versuchte es noch einmal. Er nahm seinen widerhallenden Herzschlag kaum noch wahr und zog sich in den Alkoven hinein, den das riesige Tier versperrt hatte.
In der Dunkelheit huschte ein Schwarm Fische um seinen Kopf. Ihre wallenden Flossen waren winzig und ihre Schuppen glänzten blass golden.
Trotz seines ernsten Zustandes regte sich Mitleid in Xun – Mitleid für die goldenen Fische, die hier gefangen waren, aber auch Mitleid für den, der sie gefangen gehalten hatte. Die riesige Bestie hatte einen Großteil der kleinen Fische im Meer gefressen und den Rest für sich selbst eingesperrt. Sein Dorf musste Hunger leiden, weil eine andere Kreatur hungrig war.
Für Xun wurde es immer schwieriger, sich an irgendetwas zu erinnern, sein Ziel verlor er jedoch nicht aus den Augen. Er würde sich ausruhen und danach versuchen, das Ding erneut anzuheben. Er legte sich auf den Meeresboden und ließ ein kleines bisschen seines Atems in Tausenden Blasen entweichen, während Fischschwärme in kräftigen Farben über ihm ihre Bahnen zogen.
Xun fragte sich, ob er wirklich den tiefsten Punkt des Ozeans gefunden hatte. Er machte sich Gedanken über den Wahrheitsgehalt der Geschichten, und währenddessen begann sein Geist ihn zu verlassen. Bevor sich seine Augen schlossen, sah er, wie die Fische die Höhle verließen und hinauf ins weite Meer schwammen.
***
Shi Ga stand auf. Wahrscheinlich, so dachte sich Tarlo, weil die Geschichte vorbei war. Aber der Pandaren hatte noch etwas zu sagen.
„Als Xun kämpfte, sahen die Bewohner von Za Xiang nur die Wellen. Doch beim Fischen geht es nicht einfach nur darum, was man über dem Wasser sieht, sondern darum, was darunter vor sich geht – was die Fische sehen. Es findet ein Kampf auf Leben und Tod statt, auch wenn es einem nicht so erscheint.“ Tarlo nickte. „Und was war mit den Fischen in der Höhle?“
„Xun wusste es nicht, aber diese Fische“, krächzte Shi Ga, „waren die Vorfahren des Goldkarpfens. Sie schwammen in ungefährliche Gewässer und vermehrten sich. Heute gehören sie zu den am häufigsten anzutreffenden Fischen in unserem Meer und werden von Jung und Alt, von Groß und Klein gegessen.“
Tarlo schaute zu einem Eimer auf dem Boot hinüber. Zwei Fische mit goldenen Schuppen wirbelten darin herum. In Ordnung. Nun konnte er zumindest ansatzweise begreifen, worum es ging. Xun hatte sein Dorf durch die zufällige Entdeckung einer neuen Nahrungsquelle gerettet. Eine nette kleine Geschichte, wenn auch mit ein paar Ungereimtheiten.
„Wenn Xun in dieser Höhle gestorben ist, woher wisst Ihr dann so viel über den Kampf?“, fragte Tarlo so leise, dass man ihn im Regen nicht genau verstehen konnte. Es war ihm unangenehm, diesen Punkt angesprochen zu haben. Ganz offensichtlich lag die Geschichte diesen Pandaren sehr am Herzen. Xun war wahrscheinlich der Ururgroßvater von jemandem, der zu seiner Zeit ein großes Tier gewesen war.
„Hmm.“ Shi Gas Reaktion klang, als würde er sich die Frage auch zum ersten Mal stellen. Keiner der anderen beiden Pandaren sagte etwas, stattdessen schlugen sie weiter mit ihren Rudern auf das Meer ein. Shi Ga nahm sein Ruder hoch, während der Regen immer noch in Sturzbächen auf sie niederprasselte.
Sie hatten seit Stunden gerudert. Die Sonne war noch nicht aufgegangen und Tarlo glaubte nicht, dass sie sich nun näher am Festland befanden. Die drei Pandaren bewegten ihre Ruder nun gleichmäßig. Es wirkte, als würden sie sich nur geradeaus bewegen, doch dann schnupperte Shi Ga und hob sein Ruder aus dem Wasser. „Ahhh“, sagte er, während er einen tiefen Atemzug auf dem schwankenden Boot nahm.
„Das ist es.“
***
Tarlo zitterte bereits, doch als die Wellen hochschlugen und ihnen Meerwasser auf den Schoß sprühten, vergaß er die Kälte völlig. Mei Pa war zur Eisentruhe herübergerutscht, die nun mitten in einer der größeren Pfützen im Boot stand.
Was sie vorsichtig aus der Truhe holte, schien zu groß zu sein, um überhaupt hineinzupassen. Es ähnelte einer rostigen Bootskette mit Haken, die normalerweise mehrere Männer benutzen, um ein Schiff im Hafen festzumachen. Riesige Netze hingen an ihr wie Blütenblätter.
Mei Pa stand auf dem Rand ihres winzigen Boots und balancierte, als ob sie jede Sekunde hätte herausfallen können. Doch trotz ihrer Größe bewegte sich das Boot überhaupt nicht. Sie begann, die Kette auszuwerfen, schwang sie in weitem Bogen über ihrem Kopf und Tarlo duckte sich instinktiv weg, als sie mit gewaltigem Platschen auf das Wasser traf. Die auf einem Haufen liegenden Metallglieder liefen über ihre Schulter in Richtung Meeresboden.
Tarlos Kopf schmerzte.
Mei Pa konzentrierte sich weiterhin auf ihre Aufgabe und starrte minutenlang auf die Wellen. Irgendwann spannte sie ihren Körper an und Tarlo war sich sicher, dass sie ins Meer stürzen würde. Doch dann begann sie, an der Kette zu ziehen, und das erste der an ihr angebrachten Netze landete an Deck. Es war prall gefüllt mit glitzernden Fischen in Gold, Weiß und Grün, die Kuo und Shi Ga herausholten und wie in einen zuckenden Wirbel aus Meerestieren auf das Boot warfen.
Langsam tauchte Tarlo die Leine seiner Kinderangel wieder ins Wasser.
Während die Pandaren arbeiteten, sah er, wie die Bierkrüge, Töpfe, Netze und Ködereimer übervoll mit sich windenden Fischen waren, die sogar in den Pfützen unter seinen Füßen schwammen. Auf dem Boot ging langsam der Platz aus. Und die Pandaren zogen noch mehr hinauf: einen düster dreinblickenden braunen Fisch mit plattem Gesicht und einem Tentakel über dem Kopf; einen dunkelbraunen Fisch, aus dem der Dampf wie aus einem sich abkühlenden Lavastein schoss; einen kleinen blauen Fisch, dessen Körper von dünnem, schimmerndem ... Eis ... bedeckt war.
„Die ... sind sehr köstlich“, sagte Mei Pa, während sie eine kurze Pause beim Sichern der Kette einlegte.
Nachdem sich nun einige weitere gefüllte Netze an Bord befanden, wurden Mei Pas Arme langsam müde. Kuo und Shi Ga waren herbeigekommen, um ihr zu helfen. Zu dritt ließen sie wieder ihren Frage-und-Antwort-Singsang erklingen und brüllten vor lauter Anstrengung beim Hochziehen der riesigen Angelkette.
Tarlo war zwar müde, hatte aber schon lange zuvor gelernt, dass Nichtstun inmitten einer wilden Aktivität die sicherste Möglichkeit ist, sich Überraschungen einzuhandeln, getötet zu werden oder beides nacheinander zu erleben. Er dachte daran, den Pandaren zur Hand zu gehen, als plötzlich ...
... etwas an seiner Leine zog.
Diesen würde Tarlo nicht verlieren. Er ignorierte den heißen Schauer des Schocks und spannte seine Arme an. Der Wind kühlte den Schweiß der Anstrengung auf Hals und Gesicht.
Was immer sich auch entschieden hatte anzubeißen, zog die Leine scharf nach links und Tarlo spürte, dass er wesentlich mehr als erwartet nachgab. Obwohl sein Rücken schmerzte, spannte er die Schultern an und stand auf, während die Leine sich erneut und scheinbar von dem Wesen unter Wasser gelenkt bewegte. Er zog in die Gegenrichtung, schaffte es so aber nur, die Rute gerade zu halten.
Für Tarlo waren Kraftproben nichts Neues. Er war mit brüllenden Tauren in voller Rüstung zusammengestoßen, hatte ihnen Keulen und Schwerter entrissen und ihre säulendicken Arme von seiner Kehle weggezogen. Aber das hier ... war etwas anderes. Die Kreatur, gegen die er kämpfte, um sie aus dem Wasser zu ziehen, schwamm durch Melasse, war behangen mit Gewichten und trat über eine dünne Leine an einem dürren Hölzchen im Armdrücken gegen ihn an. Er riss noch einmal an der Rute, aber seinen Widersacher näher an die Oberfläche, ans Boot oder sogar in eine gerade Bahn zu lenken, war ein ziemlicher Kampf.
Mit vor Anstrengung rotem Gesicht stieß er seinen Atem in unregelmäßigen Abständen aus. Die winzige Angelrute sprang in seinen Händen hin und her, zerkratzte sie und ließ seinen Arm so taub werden, als hätte er mit einem Schwert immer wieder auf eine Burgmauer eingeschlagen. Ein dumpfes Klatschen hinter ihm ließ ihn zusammenfahren, aber er wagte nicht, sich umzudrehen.
Die Rute war nach unten gebogen und bewegte sich nun immer unregelmäßiger. Tarlo zog sie nach hinten, holte Luft und stellte sich auf seine Zehen, um noch das letzte bisschen Hebelkraft herauszuholen. Seine Leine war so straff gespannt, dass er für kurze Zeit die aufrecht stehenden Fasern daran erkennen konnte, und er wusste, nun würde etwas kommen.
Er hatte nur nicht erwartet, dass es ein Fisch wäre. Ohne Vorwarnung ließ der Druck auf seine Arme nach und die goldenen Schuppen des zuckenden Fisches glänzten, als Tarlo ihn aus dem Wasser hievte.
Er war wesentlich kleiner, als es eigentlich angebracht gewesen wäre. Auf jeden Fall kleiner, als er es nach dem Kampf, den er ihm geliefert hatte, erwartet hätte.
Der Fisch war kaum von den Dutzenden anderen Goldkarpfen zu unterscheiden, die in Unmengen in ihrem Boot umhersprangen, und Tarlo musste sich nur wenig Mühe geben, damit er sich nicht aus seinen Händen wand.
Alle drei Pandaren hielten die Kette fest und bewegten sich wie in einer Choreografie, um sie wieder in ihre riesige Ausrüstungskiste zu legen, hielten jedoch gleichzeitig inne, als sie sahen, wie Tarlo seinen Fang über den Kopf hielt und dabei grinste, als hätte er gerade den Krieg gewonnen.
Während sie ihm zusahen, entfernte er den Haken aus dem mit dicken Lippen besetzten Fischmaul. Er warf das Tier in einen Wassereimer in seiner Ecke des Boots und lehnte sich zurück.
Nummer eins.
***
Als sie den Fang des Abends verstauten, schwächte sich der Regen endlich zu einem Nieseln ab. Die Tropfen waren nun kleiner und Tarlo konnte sie sich sogar aus den Augen reiben, statt nur zu blinzeln. Er setzte sich neben Shi Ga.
Eigentlich wollte er eine Frage stellen: „Geht es jetzt zurück an Land?“
Heraus kam jedoch eine einfache Aussage: „Ich glaube, ich verstehe, warum Ihr mir diese Geschichte erzählen wolltet.“
„Hmmm?“ Shi Ga hob eine Augenbraue.
„Um zu beweisen, dass Ihr nicht verrückt seid. Aber auch ... als Inspiration, oder?“
Shi Ga lächelte. „Wir haben Euch die Geschichte von Xun nur erzählt, weil es eine gute Geschichte ist. Vielleicht bietet sie Euch aber auch noch mehr.“
„Und deshalb seid Ihr hier draußen? Um Fische zu fangen und Geschichten zu erzählen?“
„Wir setzen Xuns Arbeit fort. Nicht nur, um uns zu versorgen und zu überleben, sondern auch, um unser eigenes Vermächtnis zu finden. Um ... unsere eigenen Geschichten zu erzählen. Seid Ihr nicht deshalb hierhergekommen?“
Tarlo dachte darüber nach. Was hatte er erwartet, auf Pandaria zu finden? Einen kalten Tod fern der Heimat? Ein Ende der Kämpfe? Dass er sein Abendessen fangen würde, hätte er sicherlich nicht gedacht. Beim Tiefseefischen im Gewitter zieht man alles Mögliche hoch.
Er nahm ein Ruder und gesellte sich zu den Pandaren. Zu viert im Gleichtakt.
Die Suche nach Pandaria - Teil 1 von Sarah Pine
„... Und gerade, als die Bahn wieder steil bergauf fuhr, fiel dieser eklige grüne Goblin über mich her!“ Mit gekrümmten Fingern vor ihrem Gesicht versuchte Li Li Sturmbräu, so gut es ging, einen knurrenden Goblin nachzumachen. Ganz versessen auf Aufmerksamkeit lehnte sie sich zu der Gruppe anderer junger Pandaren die sich über den grasbewachsenen Hang verteilte.
Eine von ihnen rollte sich auf den Rücken und grunzte laut. Aus ihrem Mund tropfte der Sabber auf das weiße Fell ihrer Wangen. Ein anderer blickte kurz von seinem Buch auf, sodass für einen Moment die dunklen Ringe um seine Augen zu sehen waren, bevor er sich wieder in seine Lektüre vertiefte. Ein anderer gähnte äußerst auffällig. Den um Li Li herum versammelten Pandarenkindern stand die Langeweile buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Sogar ihr Bruder Shisai ignorierte sie und beschäftigte sich lieber damit, Grashalme zu verknoten.
„Aber ich habe dem Goblin einen ordentlichen Tritt verpasst und er ist aus dem Wagen in hohem Bogen direkt in eine Mauer geflogen. Und dann ist er explodiert! Bumm!“
Jemand hustete.
„Na gut, eigentlich ist sein Trank explodiert", fügte Li Li mit erhobener Stimme hinzu, „aber das war wirklich aufregend!“
„Ja, wissen wir, Li Li“, sagte ein Kind, das mit seinem Finger gedankenverloren Kreise auf den Boden malte. „Das hast du uns schon tausendmal erzählt.“
„Chen, erzähl du uns doch mal eine Geschichte!“, bettelte ein anderes Kind.
„Hmm?“ Chen, der unter den Ästen einer großen Magnolie auf einer Decke ein paar Tonkrüge sortierte, blickte auf. Durch das Blätterwerk fiel das nachmittägliche Licht in goldenen Flecken auf die große Pandarengruppe beim Picknick. An diesem warmen, wunderschönen Tag waren fast alle auf den höchsten Hang von Shen-zin Sus mächtigem Panzer geklettert, um es sich in der Sonne gemütlich zu machen.
„Wie war das noch mal mit diesem Wetttrinken gegen vier Zwerge am Nistgipfel?“
„He, ich hab euch doch gerade was erzählt!“, rief Li Li beleidigt. „In Eisenschmiede hab ich König Magni getroffen und ...“
Das Kind verdrehte die Augen. „Li Li, immer du mit deinen Geschichten über König Magni! Wir wollen, dass Chen! was erzählt!“
Li Li schnaubte mit stechendem Blick und öffnete ihren Mund, um etwas zu entgegnen.
„He, Li Li kennt auch viele tolle Geschichten“, rief Chen. „Eines ist jedoch nicht ganz richtig, junger Pandowan.“ Er zwinkerte allen verschwörerisch zu. „Es waren nicht vier Zwerge. Es waren fünf..“ Die anderen Kinder lachten zustimmend, doch Li Li blickte nur mürrisch drein. Chen schien es nicht zu bemerken und fuhr fort: „Und wo wir gerade vom Trinken reden – ich vergesse schon meine guten Manieren.“
„Tut mir wirklich leid, dass das Bier nicht besser ist“, entschuldigte sich Chen bei einer Gruppe erwachsener Pandaren, als er die Krüge füllte. „Leider gibt es auf der Großen Schildkröte nicht sonderlich viele Brauzutaten.“
„Es schmeckt bestimmt trotzdem vorzüglich, Chen“, gab eine der Ältesten zurück, als sie ihr Getränk mit einem gütigen Blick in Empfang nahm. „Es ist wundervoll, unseren besten Braumeister zurückzuhaben! Wir haben dich alle vermisst.“
„Ihr seid zu gütig“, erwiderte Chen, während sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht breitmachte.
„Ach, Chen, erzähl uns doch bitte eine Geschichte!“, rief eines der Kinder.
„Gleich. Erst bediene ich eure Eltern. Dann hol ich euch einen Tee und dann erzähle ich euch vielleicht etwas Schönes.“
„Mich hat mal fast ein Oger gefressen“, sagte Li Li. „Da hatte ich ganz schön Angst.“
„Wissen wir, Li Li! Jetzt sei doch endlich mal still!“, rief ein anderes Kind. „Chen kennt so viele Geschichten, die wir noch nicht gehört haben.“
„Also gut!“ Li Li warf die Arme hoch. „Dann geht meinem Onkel eben weiter auf die Nerven.“ Erwartungsvoll blickte sie zu Chen hinüber und hoffte, er würde sie erzählen lassen, doch der war inzwischen an einer anderen Stelle des Hangs in ein Gespräch vertieft. Sie änderte ihre Taktik. „Wie wär's, wenn ihr mir ein paar eurer Geschichten erzählt? Zum Beispiel wie ihr Blumen gepflückt oder Kalligrafie geschwänzt habt. Das ist doch bestimmt ziemlich spannend!“
Kaum hatte sie geendet, protestierten auch schon einige der Kinder lautstark und machten ihrem Ärger mit geöffneten Mündern Luft.
„He, Kinder!“, ging Chen gerade noch rechtzeitig dazwischen. „Wer möchte alles einen Tee?“
Als Antwort erschallte ein lautes „Ich, ich“ aus den Mündern der Kleinen, deren Aufmerksamkeit jetzt wieder vollständig auf Chen gerichtet war. Kurz entschlossen ergriff Li Li die Gelegenheit, den Hang zu verlassen. Als sie schließlich außer Sichtweite der Picknicker war, atmete sie mit einem Seufzen aus und blickte zum Himmel empor. Bauschige weiße Wölkchen zogen gemächlich vorbei, verdunkelten zwischendurch immer wieder die Sonne und ließen sie die Landschaft dann wieder in helles Licht tauchen.
Sie trottete weiter und ließ ihren Frust heraus, indem sie kleine Steinchen wegtrat, denen sie dann auf ihrem Weg den Abhang hinunter folgte. Seit der Rückkehr von ihren Reisen mit Strongbo war ihr Leben immer eintöniger geworden. Li Lis Vater Chon Po war ihr mit einer Mischung aus Erleichterung und Wut begegnet. Und dass Chen ihr alles über Bos Schicksal berichtet hatte, verschlimmerte das Auf und Ab ihrer Gefühle noch.
Bei jedem Gedanken an Bo wurde Li Lis Herz schwer wie ein Stein. Immer wieder hatte Chen ihr versichert, dass Bos Tod nicht ihre Schuld gewesen war und rein nüchtern betrachtet, verstand Li Li es auch. Aber diese unerträgliche, ruhige Stimme in ihrem Kopf ließ sie niemals wirklich vergessen, dass Bo wahrscheinlich noch am Leben wäre, wenn sie der Großen Schildkröte Shen-zin Su nicht den Rücken zugekehrt hätte.
Li Li kehrte ins Hier und Jetzt zurück, fort von ihrer Schuld, und bemerkte, dass sie wie von selbst den Weg zur Großen Bibliothek eingeschlagen hatte. Als sie den prachtvollen Tempelbau sah, in dem die Bibliothek untergebracht war, hob sich ihre Stimmung. Die Bibliothek war für sie immer ein Rückzugsort, an dem sie sich in den Seiten eines Buchs oder Briefs verlieren konnte. Und genau das brauchte sie jetzt. Voller Erwartung durchschritt sie die offenen Eingangstüren.
Im Innern des Gebäudes empfing sie der wohltuende, vertraute Duft von Tinte und Pergament und ließ sie entspannen. Li Li zog einen dicken Atlas und einen Stapel zerknitterter Briefe mit Eselsohren aus den Regalen und ließ sich in einen der Polstersessel fallen. Sie legte die Rollen auf den Lesetisch in der Nähe und schlug eine zufällige Seite des Buchs in ihrem Schoß auf.
Sie betrachtete die mit grüner und brauner Tusche gezeichneten Sümpfe des Elends. Die Karte war uralt und Li Li kannte sie beinahe auswendig, da sie vor langer Zeit einen Großteil davon und noch viele weitere Karten zu Hause in ihr Tagebuch übertragen hatte. Li Li lehnte sich über den Lesetisch und blätterte durch die Seiten, bis sie schließlich fand, wonach sie suchte.
Der Brief von Chen enthielt eine Beschreibung seiner Erkundung des Gebiets, das einst die südliche Region der Sümpfe des Elends gewesen war und nun „Verwüstete Lande“ genannt wurde. In der letzten Zeit war schändliche Magie durch einen Spalt zwischen den Welten gedrungen, deren schädliche Wirkung die üppige Vegetation verdorrt und nichts als rote Erde zurückgelassen hatte. Im Text wurde erläutert, dass der Spalt von einem unglaublich mächtigen Zauberer namens Medivh geöffnet worden war, dem Orcs aus der anderen Welt geholfen hatten. Mehr war dazu aus dem Brief nicht zu erfahren und in der Bibliothek gab es keine weiteren Hinweise auf die Verwüsteten Lande oder Medivh. Wahrscheinlich war er lange nach dem Zeitpunkt geboren worden, an dem Li Lis Landsleute auf Shen-zin Su ihr Vermächtnis des kühnen Erforschens aufgegeben hatten. Li Li fragte sich, wie wohl eine moderne Karte der Sümpfe aussähe. Chens Briefe waren mehrere Jahre alt und seine Rückkehr hatte bedeutet, dass es keine Berichte von der Außenwelt mehr geben würde.
Lustlos blätterte Li Li die Briefe erneut durch, doch die Worte darin sprachen sie nicht mehr an. Sie blieben statisch und die Tinte, mit denen Chens Berichte einst geschrieben worden waren, verblasste bereits. Li Li wusste, dass sich die Welt außerhalb ihres abgeschiedenen Lebens auf der Wandernden Insel stetig veränderte.
Mit mürrischer Mine brachte sie wieder alles in die Regale zurück. Sie fühlte sich, als würde sie ausgehungert vor einem Festmahl sitzen, das man ihr nach dem ersten Bissen unter der Nase wegzog. Die Welt war so viel größer und schöner als alle Worte oder Karten es je wiederzugeben vermochten – und sie hatte noch nicht einmal an der Oberfläche gekratzt. Shen-zin Su hielt nichts mehr für sie bereit.
***
„Heute Abend gibt es was ganz Feines! Spinat und Möhrensuppe mit Hühnerbrühe, gedünsteter Fisch und natürlich Reis“, verkündete Chon Po fröhlich, als er das Essen für Li Li, Shisai und Chen auftischte. „Sagt auf jeden Fall was zur Suppe – das Rezept ist neu.“
„Hört sich köstlich an, Po“, meldete sich Chen zu Wort. „Danke für die Einladung.“
Chon Po strahlte voller Stolz über seine kulinarische Kreation und nahm Platz. „Hattet ihr einen schönen Tag?“, fragte er. „Das Wetter war toll. Ich wäre auch gerne zum Picknick gekommen.“
„Wir wissen, dass du viel zu tun hast", antwortete Shisai, während er sich reichlich am Fisch bediente. „Es hat aber wirklich Spaß gemacht!“
„Es war in Ordnung“, sagte Li Li und zuckte die Achseln.
Shisai verdrehte die Augen. „Du bist doch nur sauer, weil sich niemand deine Geschichten anhören wollte“, zog er sie auf. „Chens Geschichten sind sowieso besser. Nicht wahr, Onkel Chen?“
„Ähh ...“, stammelte Chen und nahm sich etwas Suppe. Zornig starrte Li Li ihren Bruder an und schaufelte voller Wut Reis in den Mund.
„Onkel Chen hat uns erzählt, wie er einmal fast den großen Bestienmeister Rexxar getötet hat!“, fuhr Shisai fort und merkte dabei gar nicht, wie unangenehm die Situation Chen und Li Li war.
„Was?“ Chon Pos Augenbrauen hoben sich fast bis an den Haaransatz. „So etwas Grausames sollte man Kindern aber nicht erzählen, Chen.“
„Ähm, tja, das ist etwas übertrieben dargestellt.“ Chen kratzte sich am Hinterkopf. „Darum geht es in der Geschichte. Er hat halt von meinem Bier getrunken und das war so stark, dass er mich dann beschuldigte, ich hätte versucht ihn umzubringen!“ Er lachte unbeholfen. „Siehst du? Das ist, äh ... das ist lustig ...“
Chon Pos Blick blieb eisig.
„Aber so ist es nicht ausgegangen!“, beharrte Shisai. „Seid ihr beide nicht nach Theramore gegangen, um gegen Admiral Prachtmeer zu kämpfen und ...?“
„Es reicht!“, unterbrach Chon Po seinen Sohn. Er warf seinem Bruder einen wütenden Blick zu. „Bedenke doch bitte, welches Vorbild du hier abgibst, Chen! Sieh dir an, was mit Li Li geschah, als sie nur noch deine Briefe hatte!“
„Mit mir ist nichts geschehen, Papa“, murmelte Li Li. „Ich bin hier. Und ich kann dich hören.“
„Deine Worte haben ernsthafte Folgen, Chen.“
„He, sieh mich an! Ach, nein, das kannst du ja nicht. Ich bin ja Li Li Sturmbräu, die unsichtbare Pandaren!“
„Li Li hätte sich solch einen Unsinn niemals selbst ausgedacht“, fuhr Chon Po fort, „nicht ohne ...“
„Unsinn? Wovon redest du? Das ist kein Unsinn! Die Welt da draußen ist riesengroß und kein Pandaren auf dieser Insel kümmert sich darum, weil alle viel zu beschäftigt sind, ihren Kopf wie Shen-zin Su bei einem schweren Sturm unter einem Panzer zu verstecken!“
„Panhahen 'aben geine Panzer, Li Li“, nuschelte Shisai mit vollem Mund.
„Das war eine Metapher, du Schlaumeier.“
„Mit vollem Mund spricht man nicht, Shisai! Und du, hör auf, deinen Bruder zu beschimpfen, Li Li!“
Li Li warf ihrem Vater und ihrem Bruder kurze Blicke zu. „Ich kann nicht glauben, dass ihr überhaupt nicht neugierig seid. Auf die Menschen in der Welt. Auf ihre Länder und Städte.“
„Nicht direkt, wenn man dabei fast von einem Oger gefressen wird, wie du erzählt hast, Li Li.“ Shisai schluckte seinen Bissen geräuschvoll herunter. „Also, Onkel Chens Geschichten sind ja echt spannend, aber ...“
„Junge, Junge, der Fisch ist ja wirklich köstlich, Po. Danke für das Essen!“, sagte Chen laut.
„Von einem Oger gefressen?“ Chon Po sprang auf. „Denkst du dir solche Sachen aus, um deinem Bruder Angst einzujagen?“ Er lehnte sich auf seinen Händen nach vorne und starrte seine Tochter an.
„Nein!“, rief Li Li empört. „Ich denke mir nichts aus! Also, nun ja ... Ich wurde von diesem Oger gefangen gehalten, aber ‚fast gefressen‘ war vielleicht ein bisschen übertrieben ...“
„ES REICHT JETZT!“, brüllte Chon Po. „Du solltest dich reden hören! Erst erzählst du, dass dir nichts geschehen sei, und dann erwähnst du so ganz nebenbei, dass dich ein Oger gefangen gehalten hat! Und du schwärmst immer noch von dieser tollen Welt da draußen? Hast du denn aus Bos Tod überhaupt nichts gelernt?“
Alle waren wie versteinert – selbst Shisai. Li Li ließ den Kopf sinken und starrte auf ihren Teller. Sie kniff die Augen zusammen, als ob ihr eine Lanze der Schuld direkt durchs Herz getrieben wurde.
„Das war nicht ihre Schuld, Po", sagte Chen leise.
„Nein“, räumte Chon Po ein, seinen Blick auf Li Li gerichtet. „Aber wäre sie nicht weggelaufen, dann wäre es auch nie geschehen.“
Li Li spürte Tränen in ihren Augenwinkeln. Wie oft hatte sie diesen Gedanken schon selbst gehabt?Gedemütigt und voller Wut biss sie die Zähne zusammen. Ich werde nicht weinen. Ich werde nicht weinen. Ich werde nicht ...
„Chon Po, warst du es nicht, der Bo Li Li hinterhergeschickt hat?“
„Was willst du damit sagen, Chen?“
Chen seufzte. „Nur, dass Spekulationen reine Zeitverschwendung sind. Li Li wusste genauso wenig wie du, was passieren würde.“
„Ach ja?“ Chon Po wandte sich voller Wut seinem Bruder zu. „Ist so etwas schon jemals hier auf Shen-zin Su geschehen? Unser Zuhause ist am sichersten ...“
„Ja“, unterbrach Chen mit fester Stimme. „Xiu Li.“
Nachdem Chen den Namen von Li Lis und Shisais Mutter genannt hatte, wurde die Atmosphäre am Tisch noch angespannter. Chon Po beugte seinen Kopf nach vorn und zitterte fast vor Zorn.
„Und“, fuhr Chen gnadenlos fort, „Wanyo wird ebenfalls seit langer Zeit vermisst. Wahrscheinlich ist er auch tot.“
Chon Po hob seinen Kopf, sah Chen an und knurrte: „ Was soll das denn?“
„Die Fischerboote fahren hinaus. Nicht alle kommen zurück. Wie bei Wanyo, wie ... bei deiner Frau oder bei irgendwem, Po. Egal, wo wir sind, Risiken wird es immer geben. Das kann man nicht kontrollieren.“
Chon Po setzte sich still und langsam wieder hin, aber jeder sah, dass es in ihm brodelte.
„Papa“, äußerte sich Li Li vorsichtig, „Ich möchte die Welt sehen. Ich werde vorsichtig sein ...“
„Es ist einfach vollkommen dumm, so etwas auch nur in Erwägung zu ziehen!“ Chon Po schlug so stark mit der Faust auf den Tisch, dass das Geschirr klapperte. „Die Welt ist gefährlich, woran uns dein lieber Onkel Chen gerade eben noch einmal erinnert hat. Du bist ein Kind. Willst du wie Bo enden? Oder wie deine Mutter?“
„Chon Po!“, wies Chen ihn scharf zurecht. Doch nachdem er die Worte ausgesprochen hatte, war Li Li schon mit einem unterdrückten Schluchzen aus dem Zimmer gelaufen. Oben hörte man eine Tür knallen.
Chen blickte Chon Po an, der auf der anderen Seite des Tisches trotzig seine Arme verschränkte. Sein stur hervorgeschobener Kiefer forderte Chen förmlich heraus.
„Wollen wir mal reden, lieber Bruder?“, fragte Chen, so höflich er konnte, und zeigte in Richtung der etwas abseits gelegenen Küche.
„In Ordnung.“ Chon Po stand abrupt auf und ging dicht von Chen gefolgt in das andere Zimmer.
Shisai saß nun allein am Tisch, fischte ein Stück Möhre aus seiner Suppe und kaute sie langsam. Er blickte erst in Richtung Küche, dann zur Treppe und schluckte.
„Hm, ganz schön schwierig“, sprach er in den leeren Raum und tat sich noch etwas auf den Teller.
***
Chen schob Chon Po förmlich durch die Tür auf die überdachte Veranda hinter dem Haus. „Du verhältst dich Li Li gegenüber vollkommen ungerecht“, sagte er. „Es ist doch nicht schlimm, dass sie reisen möchte.“
„Es ist gefährlich“, fauchte Chon Po. „Gefährlicher als hierzubleiben, da kannst du sagen, was du willst! Xiu Li und Wanyo sind vielleicht fort, aber das waren Unfälle. Bo wurde getötet! Möchtest du, dass Li Li auch getötet wird?“
„Hör auf, davon immer so zu reden, als wäre es unvermeidlich! Das hätte sie nicht vorhersehen können! Die Angreifer waren auf der Suche nach der Perle von Pandaria oder was auch immer Wanyo ihrer Meinung nach gefunden hatte. Sie gingen davon aus, dass Li Li wusste, wo sie sich befindet, weil sie eine Pandaren war! Und was den Orc betrifft: Ich war es, hinter dem er her war. Und hätte ich Bo und Li Li früher gefunden ...“
„Deine Geschichte beweist doch nur eins: Für unsere Feinde ist jeder Pandaren Freiwild.“ Chon Po ging unter den Laternen auf und ab, deren orangefarbenes Licht ihn noch zorniger wirken ließ. „Hier ist Li Li sicherer als irgendwo sonst!“
Chen schüttelte den Kopf.
„Du kannst sie nicht zum Bleiben zwingen, wenn sie es nicht möchte. Das hat sie schon einmal unter Beweis gestellt. Du kannst sie nicht ewig beschützen, und wenn du es versuchst, wirfst du dir nur selbst Stöcke zwischen die Beine.“
„Tja, dann weißt du wohl besser als ich, wie ich meine Kinder großziehen soll!“, erwiderte Chon Po spöttisch.
„Nein, Chon Po, ich sage nur, dass ich weiß, wie sie sich fühlt. Was unsere Eltern auch gesagt oder getan hätten, als ich in ihrem Alter war – meine Meinung wäre dieselbe geblieben. Warum glaubst du also, dass du ihre ändern kannst? Sie wird ihre eigenen Entscheidungen treffen.“
„Ihre eigenen schlechten Entscheidungen. Einfach so der Gefahr in die Arme zu laufen, ihre Familie zu verlassen, sich aller Verantwortung zu entziehen ...“ Chon Po zählte Li Lis gesamte Fehltritte an seinen Fingern ab. „Uns dazu zu zwingen, in gelegentlichen Briefen darüber informiert zu werden, ob sie noch lebt oder schon tot ist ...“
Chen runzelte die Stirn.
„Sich nie mit einer eigenen Familie niederzulassen ...“
„Po, woher weißt du, dass sie das nicht eines Tages tun wird?“, fragte Chen verwirrt.
Chon Po schien ihn nicht gehört zu haben.
„Nicht zur Hochzeit des eigenen Bruders zu erscheinen ...“
„Wen heiratet Shisai denn? Du erzählst Unsinn ...“ Chen verstummte mitten im Satz, als ihn die Erkenntnis traf. Er starrte über das Verandageländer in die Nacht. Sein Kopf war plötzlich leer, als ihm einige Dinge auf einmal wie Schuppen von den Augen fielen. Chon Po bemerkte es gar nicht und zählte weiter einen empfundenen Fehltritt Li Lis nach dem anderen auf.
„In Wahrheit geht es hier um mich“, sagte Chen leise. „Nicht wahr, Chon Po?“
Chon Po wurde plötzlich still, blieb stehen und wich Chens Blick aus. Quälend lange Sekunden vergingen, während Chen sich auf einen verbalen Angriff gefasst machte, der wohl schon seit Jahren in seinem Bruder hochgekocht war.
„Dieses Gespräch ist beendet.“
Chon Po stampfte zurück ins Haus und schlug die Tür hinter sich zu.
***
In dieser Nacht konnte Li Li nicht einschlafen. Sie wälzte sich herum und jedes der harten Worte ihres Vaters zerrte gnadenlos an ihrem Gewissen. Als der heller werdende Himmel schließlich den Anbruch des Tages verkündete, gab sie auf, stieg aus dem Bett und zog sich an.
Auf ihrer Kommode stand ein kleines Tongefäß, ähnlich denen, die Bo früher mit Wasser gefüllt und an die Übungsstäbe zum Trainieren von Gleichgewicht und Haltung gehängt hatte. Sie nahm es in die Hände, spürte sein vertrautes Gewicht und steckte es in ihre Schärpe, als sie sich aus dem Haus schlich.
Zu dieser Stunde war Shen-zin Su so still, dass Li Li glaubte, sie könnte hören, wie der Tau zwischen ihren Füßen hinuntertropft. Im gedämpften Licht wirkten die Spinnweben zwischen den Ästen wie zarte, glänzende Spitze. Während sie ging, pflückte sie zwischendurch einige bunte Blumen aus den Spalten zwischen den Pflastersteinen und machte daraus zwei behelfsmäßige Sträuße.
Am Ende des Wegs erstreckte sich der von Mauern und dem stolzen Löwenwächter beschützte prachtvolle Stabwald. Jeder Pandaren, der diesen wunderschönen Wald betreten wollte, musste den Wächter im Einzelkampf besiegen, was Li Li Jahre zuvor bereits gelungen war. Der Wächter neigte seinen Kopf in ihre Richtung und sie verbeugte sich respektvoll, während er zur Seite trat, um sie passieren zu lassen. Li Li war schon seit langer Zeit nicht mehr in diesem Wald gewesen, der dank der eifrigen Arbeit einer kleinen Gärtnerarmee so makellos wie immer wirkte. Kurz nach Sonnenaufgang sorgten sie normalerweise dafür, dass zwischen den Schreinen alles sauber war. Doch in diesem Moment war sie erst einmal allein und sehr froh darüber.
Li Lis und Shisais Mutter Xiu Li war nicht lang nach deren Geburt beim Fischen ertrunken. Li Li hatte nur wenige Erinnerungen an ihre Mutter, und obwohl sie den Verlust nur selten direkt spürte, schmerzte er sie von Zeit zu Zeit doch sehr. Sie kniete vor dem Schrein der Familie Sturmbräu nieder und legte einen der kleinen Sträuße auf den Altar.
„Mama, ich vermisse dich so sehr.“ Li Lis Atem kondensierte in der kühlen Morgenluft. „Papa versteht es nicht. Das wird er auch niemals. Und Onkel Chen möchte ihn nicht verärgern.“ Sie zögerte und hatte fast Angst, laut zu reden, obwohl der Wald ziemlich ausgestorben war. „Du würdest es verstehen, oder, Mama? Ich kann hier nicht für immer bleiben. Ich kann es einfach nicht.“
Li Li setzte sich aufs Gras und zog die Beine an den Körper. Sie legte den Kopf in stiller Versenkung zwischen die Knie, während sie den Vögeln zuhörte, die auf den Ästen des großen Baums auf der Hügelspitze die ersten Lieder des noch jungen Morgens trällerten. Bevor ihre Beine zu steif wurden, stand sie auf, verbeugte sich noch einmal und begab sich durch die Reihen von Gedenkstätten zu ihrem nächsten Ziel.
Strongbos Familienschrein befand sich auf dem Hügel unter den prachtvoll ausgebreiteten Ästen des Baums. Li Li spürte einen Kloß im Hals, als sie sich mit schmerzvoller Klarheit an die Worte ihres Vaters erinnerte:
„Hast du denn aus Bos Tod überhaupt nichts gelernt?“
Sie setzte das kleine Tongefäß vor dem Schrein auf den Boden, stellte die Blumen hinein und kniete sich nochmals hin.
„Wenn ich dich wieder zurückholen könnte, Bo, würde ich es tun. Oder ich hätte es anders gemacht. Ich wäre an einen Ort gegangen, an dem die schreckliche Naga und ihr Orcschläger uns nicht hätten finden können.
Aber gegangen wäre ich trotzdem.“
Bei diesem Eingeständnis kullerte eine Träne über Li Lis Wange auf ihr Fell.
„Ich musste gehen. Es macht mich verrückt, hier zu bleiben. Vielleicht bin ich deswegen schlecht. Papa glaubt das anscheinend. Aber ich habe mehr Angst davor, was geschehen würde, wenn ich bliebe, als vor den Dingen, die mich dort draußen erwarten. Ich hoffe, damit die Erinnerung an dich nicht herabzuwürdigen, Bo. Ich möchte nur das tun, was für mich richtig ist. Es tut mir so leid.“ Sie bekam die Worte nur schwer heraus. „Ich habe nie gewollt, dass irgendjemand verletzt wird.“ Sie senkte den Kopf wie am Schrein ihrer Mutter und sprach ein Gebet für die Toten.
„Ich wünsche dir Frieden“, sagte sie zum Abschluss und richtete sich wieder auf. Sie blickte hinauf in den rotgoldenen Morgenhimmel, an dem der orangefarbene Rand der Sonne gerade am östlichen Horizont auftauchte. Dann putzte Li Li den Saum ihres Kleids ab und starrte auf ihre Füße. Ihr Herz tat immer noch weh und sie hatte keine Lust, nach Hause zu gehen. Es war zwar noch früh, aber Chen würde nun wahrscheinlich schon wach sein.
***
Beim vierten Klopfen kam seine Antwort.
„Li Li?“ Er zwinkerte überrascht. „Komm rein! Ich mach dir erst mal Frühstück.“
Li Li folgte ihm in das kleine Haus und setzte sich an den Küchentisch, während er das Frühstück vorbereitete.
„Tut mir leid, dass ich dich so früh störe, Onkel Chen.“
„Nicht die Spur“, rief er hinter einer Schranktür hervor. „Ich habe gerade mein neuestes Brauprojekt vorbereitet. Hier habe ich zwar nicht sonderlich viel Abwechslung bei den Zutaten, aber wir sehen einfach mal, wie es wird.“
Li Li saß still am Tisch und spielte geistesabwesend an ihren Ärmeln, während Chen Haferbrei auf dem Ofen zubereitete.
„Bist du wegen gestern Abend noch verärgert?“, fragte Chen und rührte dabei den Brei mit einem langen Stab um.
„Ich habe nie gewollt, dass Bo etwas geschieht", murmelte sie und starrte dabei auf den Tisch.
„Ich weiß, Li Li. Dein Vater weiß das auch. Er ist einfach ...“
„Ein Hornochse“, schnaubte Li Li.
„...stur“, sagte Chen diplomatisch, während er an sein Gespräch mit Chon Po auf der Veranda dachte.
„Mir gefällt es nicht, meinen Vater zu verärgern“, gestand Li Li ein, als Chen ihr eine Schüssel hinstellte und sich zu ihr an den Tisch setzte. „Aber hier bin ich unglücklich. Und“ – ihre Stimme wurde lauter – „das Leben ist ein Abenteuer! Oder zumindest sollte es eines sein. Aber das ist es nicht.“ Sie hielt inne und rammte einen Löffel in ihr Frühstück. „Hier zumindest nicht.“
Chen klopfte ihr auf die Schulter. „Alles in Ordnung, Li Li.“
„Komm mit, Onkel Chen.“
„Wie bitte?“
„Weißt du noch, als wir darüber geredet haben, gemeinsam Abenteuer zu erleben? Lass uns das machen! Mit dir wäre ich sicher – das weiß Papa. Lass uns losziehen und die Welt sehen!“
Chen öffnete den Mund, zögerte dann aber. Li Lis erwartungsvoller Blick suchte sein Gesicht ab, aber als die Sekunden vergingen, erkannte sie langsam, dass sie nicht die erhoffte Reaktion erhalten würde.
„Du teilst Papas Meinung, oder?“
„Das ist es nicht“, sagte Chen. „Ich finde, ihr habt beide vernünftige Ansichten. Aber was mich betrifft ...“ Er blickte sich in seinem kleinen Haus um und betrachtete die über dem Ofen hängenden Pfannen, die Regale voller Geschirr, die Rollen, die Dekoration, die bequemen Möbel. Dann lächelte er. „Ich bin gerne hier. Ich habe so viel Zeit unterwegs verbracht, ohne eigenes Zuhause. Das ist etwas Neues. Das ist jetzt ein Abenteuer für mich.“
„Du machst doch wohl Witze.“ Li Li schluckte einen Happen Brei herunter und schob die halb leere Schüssel weg. Die einzige Person, die sie verstand, hatte aufgegeben. Sie war verraten worden.
„Ich weiß, dass du die Dinge anders siehst als ich, Li Li. Du bist noch jung ...“
„Ach, jetzt klingst du wirklich wie Papa. Wann ist denn aus dem großen Abenteurer Chen Sturmbräu solch ein Langweilergeworden?“, warf sie ihm die Worte vorwurfsvoll entgegen.
„Die Dinge ändern sich, Li Li.“ Alles an ihm strahlte eine Ruhe und Geduld aus, die sie wütend machte. „Meine Reisen sind beendet. Ich bin jetzt bereit für etwas Neues.“
„Tja, meine sind es nicht“, schoss sie zurück, „und wenn es nach dir und Papa geht, werde ich nie hier wegkommen! Dann werde ich alt und klapprig, mache den ganzen Tag Tee, rede über das Wetter und mein Leben habe ich verschwendet!“
„Li Li, du weißt, dass das nicht stimmt.“
„Ach, sei still. Du bist auf seiner Seite!“ Li Li sprang auf und rannte aus dem Haus. Chen legte seinen Kopf in die Hand und sah mit einem halben Lächeln zu, wie sie ging.
„Wir Sturmbräus“, sagte er zu sich selbst, „sind eben ein sturköpfiger Haufen.“
***
Platsch. Der Stein traf mit einem heftigen Spritzen auf die Meeresoberfläche. Platsch. Platsch. Platsch. Sie warf noch mehr Steine ins Wasser, aber das Vergnügen hielt nicht lange an. Niedergeschlagen setzte sie sich hin.
Das hier war einer ihrer Lieblingsorte auf ganz Shen-zin Su. Vorne an seinem Panzer konnte Li Li ihre Beine über der Stelle baumeln lassen, an der sein breiter Nacken im Wasser verschwand, und in Richtung des blaugrauen Horizonts blicken, wo Meer und Himmel ineinander übergingen. Vor langer Zeit hatte der berühmte Reisende Liulang die Siedlung auf Shen-zin Su gegründet, um die tapfersten und wagemutigsten Pandaren auf ihrer Suche nach Abenteuer und Wissen durch Azeroth zu befördern. Aber die Neugier hatte sich schon seit Langem in Selbstzufriedenheit verwandelt und diese früheren Tage waren nur noch Geschichte.
„Ich hasse das“, sagte Li Li. „Als ich gereist war, bevor Bo und ich Probleme bekamen, fühlte es sich einfach richtig an. Wenn ich hier feststecke, kann ich einfach nichts erreichen. Ähm, das ist natürlich nicht gegen dich gerichtet, Shen-zin Su.“ Li Li klopfte tröstend auf den Rand des Schildkrötenpanzers. „Aber dort draußen gibt es so viel mehr!
Sturmwind und Eisenschmiede hätte ich mir mit allen Karten und Briefen dieser Welt nicht vorstellen können. König Magni war so nett zu mir! Er zeigte mir sein Zuhause. Ich wünschte, ich könnte ihm auch etwas zeigen. Aber ich kann es nicht. Chen hat beschlossen, dass hier sein Zuhause ist. Schön für ihn. Tut mir leid, Shen-zin Su. Ich mag dich sehr, aber hier hat es sich nie wirklich wie ein Zuhause angefühlt. Gibt es denn irgendwo einen Ort, den ich jemals mein Zuhause nennen könnte?“
Li Li erwartete keine Antwort auf ihre Frage und war daher ziemlich verblüfft, als Sie ein Grummeln der Großen Schildkröte hörte, die im Meer vor ihr Blasen aufsteigen ließ. Sie fragte sich kurz, ob Shen-zin Su versucht hatte, über diese Geräusche mit ihr zu kommunizieren, ging dann aber doch davon aus, dass es nur reiner Zufall war.
„Ich wünschte, ich könnte mit dir reden“, seufzte Li Li. „Du wärst mir wahrscheinlich eine größere Hilfe als meine Familie.“ Niedergeschlagen ließ sie ihr Kinn auf die Brust fallen und faltete die Hände in ihrem Schoß.
Der Boden unter ihr verschob sich ruckartig und warf sie so heftig auf die Seite, dass ihre Schulter schmerzte. Erschrocken versuchte Li Li sich hinzusetzen, doch die Große Schildkröte schüttelte sich erneut und warf sie auf den Rücken. Li Li drückte sich mit pochendem Herzen gegen den Boden, als Shen-zin Su sich wie ein Boot während eines Sturms hob und senkte. Sie wurde nach vorne an den Rand des Panzers geschleudert, wo sie wie wild nach einem Halt suchte. Unter ihr teilte sich das Wasser langsam auf und lief von Shen-zin Su mächtigem Hals, als sie ihren riesigen Kopf hob.
Li Li spürte, wie sich die Schildkröte unter ihr sammelte, gleich einem Yak, der kurz davor ist, über einen Zaun zu springen. In ihrem Rachen begann ein tiefes, trommelfellerschütterndes Grummeln, das Li Li mehr spürte, als dass sie es hörte. Mit großer Kraft ... hustete Shen-zin Su.
Li Li hätte schwören können, dass genau das geschehen war. Die Große Schildkröte machte ein Geräusch wie ein tiefes, dunkles Nebelhorn und die plötzliche Bewegung warf sie erneut gegen den Panzer. Als sie mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug, sah sie nichts als Sterne. Sie hielt sich die Schläfen und schaffte es mit letzter Kraft, von der Kante wegzurollen. Das Beben ließ nach, schwächte sich zu einem Schaukeln ab und schließlich war Shen-zin Su wieder still.
Vorsichtig drückte Li Li sich mit den Armen hoch und machte sich bereit für ein weiteres Beben. Mit einer Hand fasste sie an die Stelle, an der sie sich den Kopf gestoßen hatte. Sie spürte ein schmerzhaftes Pochen und wusste, dass ihr eine Beule nicht erspart bleiben würde. Mit verzerrter Mine fragte sie sich, was dieses eigenartige Verhalten der Schildkröte ausgelöst haben könnte. Hatte Shen-zin Su zufällig einen Wal verschluckt?
Sie starrte angestrengt auf das Wasser hinaus und massierte sanft ihren Kopf. Rund um Shen-zin Su waren überall Wirbel mit weißen Kronen zu sehen – ein Hinweis darauf, dass Sie sich das alles zumindest nicht nur vorgestellt hatte. Vorsichtig stand sie mit noch verschwommenem Blick auf.
Li Li zwinkerte und traute ihren Augen nicht. Da war ein weißer Abschnitt auf dem Meer, der sich vom Rest unterschied. Er war zu gleichmäßig, um die schäumende Spitze einer Welle zu sein, und sah vielmehr wie das Segel einer kleinen Fischerdschunke aus. Li Li kniff die Augen zusammen und versuchte, genauer hinzuschauen. Sie hatte sich nicht getäuscht. Das Boot bewegte sich auf den Wellen und am Bug waren klar Pandarenzeichen erkennbar.
Das Schiff kam langsam näher. Da der Mast gebrochen und eine Seite des Segels zerstört war, blieb dem Kapitän nichts anderes übrig, als sein lahmendes Schiff zu rudern. Ungefähr zehn Meter vor dem Anlanden richtete er sich auf und schob seinen ausgefransten Strohhut von der Stirn. Er winkte enthusiastisch und rief zu Li Li über das Wasser herüber.
„Ach, hallo! Es mag sich seltsam anhören, aber ich habe schon seit Langem die Sonne nicht mehr gesehen. Der Himmel ist wirklich blau! Und alles riecht so gut – gar nicht nach Fisch!"
Diese bizarren Worte ließen Li Li verstummen. Verwirrt runzelte sie die Stirn und sah still dabei zu, wie das Boot die letzten paar Meter an Land glitt und mit einem sanften Knirschen zum Stehen kam. Der Fischer sprang leichtfüßig über den Dollbord und winkte ihr mit breitem Grinsen zu. Li Li bekam den Mund nicht mehr zu. Vorübergehend vergaß sie sogar den pochenden Schmerz in ihrer Schläfe.
Wanyo, der seit Langem verschollene Fischer, war zurückgekehrt.
***
„Ihr wart also wirklich die ganze Zeit über in Shen-zin Su?“
„Ja!“, antwortet Wanyo fröhlich. „Ich wurde verschluckt. Aber ich wollte nie wirklich wieder raus.“
Li Li drückte ihr Ohr fest gegen die Tür – ein bisschen zu fest – und zuckte zusammen, als ihr Kopf wieder schmerzte. Widerwillig trat sie etwas zurück. Sie würde zwar nicht so viel vom Gespräch der Ältesten mit Wanyo hören, aber es war besser, als noch mehr Kopfschmerzen zu haben. Durch die Holztür vernahm Li Li, wie jemand ein gluckendes Geräusch machte, und sie konnte sich schon vorstellen, wie die langweiligen alten Pandaren ihre Köpfe schüttelten. Sie verkniff sich ein Kichern.
„Nun, ganz davon abgesehen ...“ – Li Li erkannte die charakteristische Stimme ihrer Großmutter Mei – „stellt sich die Frage, was wir mit diesem Ding machen sollen, dass Ihr da mitgebracht habt.“
„Das kann ich wirklich nicht sagen“ Li Li konnte förmlich hören, wie Wanyo mit den Achseln zuckte. „Vielleicht ist das so eine Art Kristallkugel. Mir hat sie immer gezeigt, wo ich am besten Fischen konnte, und zwar genau dort, wo ich mich befand – in der Schildkröte!“ Er brach in schallendes Gelächter aus.
Irgendjemand murmelte etwas, das Li Li nicht ganz verstehen konnte, jedoch dem folgenden Schnauben und Kichern nach zu urteilen, ein abfälliger Kommentar gewesen sein musste.
„Es sieht rein gar nicht wie eine Kristallkugel oder ein anderes magisches Artefakt aus, das mir jemals untergekommen ist.“ Das war Chon Pos Stimme, die Li Li mit pochendem Herzen in Anspannung versetzte. Wenn er sie beim Belauschen des Treffens erwischt hätte, wäre er ziemlich wütend geworden.
Danach sprach Chen.
„Am ehesten sieht das wie eine riesige Perle aus.“ Eine bestimmte Intensität in seinen Worten ließ Li Li vermuten, woran ihr Onkel dachte – an die sogenannte Perle von Pandaria, von der die Nagasirene Zhahara einst behauptet hatte, sie befände sich in Wanyos Besitz. Hatte sie recht gehabt?
„Ich habe sie von einem Murloc. Unglaublich, oder?“ Wanyo lachte erneut. „Wenn es eine Perle ist, dann auf jeden Fall eine magische, da ich noch nie eine Perle gesehen habe, die weiß, wo man am besten Fischen kann.“ Er legte eine Pause ein. „Und, na ja, warum sonst hätte diese verrückte Naga auftauchen sollen, als ich sie bekommen hatte?“
Li Li riss die Augen auf. Das muss Zhahara gewesen sein.
„Verrückte Naga?“, fragte Chon Po. „Li Li hat mir mal irgendwas in dieser Richtung erzählt. Würdet Ihr das ein bisschen genauer erklären, Wanyo?“
„Ich war des Nachts unterwegs und habe den Murloc mit der Perle in meinem Fischernetz gefangen. Der Kleine war schon ziemlich alt und gab mir das Ding. Kurz nachdem ich sie genommen hatte, schoss auf einmal die Naga aus dem Wasser und griff mich mit einem Blitzstrahl an, der meinen Mast zerbrach! Ich wollte natürlich nichts wie weg und zum Glück habe ich im Meer auch ein paar Freunde. Ein großer Fisch half mir dabei, der Naga zu entkommen. Das war wohl einer der kleinen, die ich Jahre zuvor zurück ins Meer geworfen hatte, und der sich nun dafür revanchierte!“
„Und dann wurdet Ihr von Shen-zin Su verschluckt?“, fragte Chen.
„Ja. Ich achtete nicht darauf, wohin es ging, da ich nur dieser schuppigen Hexe entkommen wollte. Und dann tauchte der Fisch ab und ich sah der Großen Schildkröte ins Gesicht, die mich sofort verschluckte.“
„Eine Frage habe ich noch, Wanyo“, sagte Chon Po. „Warum habt Ihr Euch denn entschlossen, heute Eure, ähm, Fischgründe nach so langer Zeit zu verlassen?“
„Dieses Perlending hat es mir gesagt.“
„Wie bitte?“
„Heute Morgen habe ich nach dem Aufstehen wie jeden Tag hineingesehen. Und statt mich beim Fischen zu zeigen, zeigte sie mich, wie ich in die Stadt zurücksegelte. Also dachte ich mir, es wäre nun Zeit zu gehen. Ich sprang in mein Boot und Shen-zin Su spuckte mich aus.“
Chon Po seufzte so laut, dass Li Li es deutlich durch die Tür hören konnte. „Nun gut, Wanyo. Das wäre es dann wohl. Wir müssen irgendwann herausfinden, was dieses Ding wirklich ist. Ich würde sagen, wir behalten es erst einmal in der Großen Bibliothek. Sind alle einverstanden?“
Auf Chon Pos Frage folgte ein zustimmendes Murmeln, woraufhin die Ältesten sich wieder mit banaleren Dingen befassten.
Li Li entfernte sich schnell von der Tür und eilte nach draußen, wo sie sich unter der Hecke duckte, bis sie den Tempel der Fünf Sonnenaufgänge weit hinter sich gelassen hatte. In ihr rasten die Gedanken, während sie analysierte, was sie gerade gehört hatte. Die riesige magische Perle – die Perle von Pandaria?Li Li setzte sich an einen Baum und tippte mit der Fingerspitze an ihr Kinn. Zhahara hatte behauptet, die Perle wäre ein mächtiges uraltes Artefakt. Li Li, ihr Vater und Chen waren immer davon ausgegangen, dass es sich um einen Mythos handelte. Aber nun ...
Die Schatten im Gras neben ihr wurden länger. Li Li sprang auf und eilte nach Hause. Da ihr Vater keinen Verdacht schöpfen durfte, musste sie sich normal verhalten, aber in ihrem Kopf schwirrte es nur so vor übersprudelnden Ideen.
***
Spät in dieser Nacht schlich Li Li die Treppen ihres Hauses hinunter. Auf Zehenspitzen ging sie durch den Flur und schloss leise die Vordertür hinter ihr, als sie draußen war. Jetzt musste sie nur noch zur Perle gelangen. Sie musste sie mit eigenen Augen sehen.
Da die Große Bibliothek nie offiziell geschlossen war, erleuchteten die kleinen magischen Laternen den Gang, als Li Li vorbeieilte. Sie ging davon aus, dass die Perle mit den besten Sammlungen der Bibliothek präsentiert werden würde, und begab sich zum Ausstellungsraum.
Und tatsächlich lag sie unter Glas geschützt auf einem Holzpodest inmitten des Raumes. Li Li nahm die Glasverkleidung vorsichtig ab und stellte sie zur Seite.
Die Perle war noch größer als Li Li gedacht hatte – fast wie eine Melone. Ihr schillernder Glanz reflektierte das gedämpfte Licht in einem Kaleidoskop aus sanft pastellenen Regenbogenfarben. Betört von ihrer Schönheit starrte Li Li die Perle an. Sie konnte nicht widerstehen, ihre Hände behutsam auf beide Seiten zu legen und sie ganz nah an ihr Gesicht zu halten. Die Perle war warm und strahlte leise summend ihre Energie aus. Wie Wanyo schon gesagt hatte, war dieses Ding auf jeden Fall magisch.
„Du hast Wanyo gezeigt, wo er fischen soll“, flüsterte sie in Richtung der Perle, „aber was kannst du mir zeigen?“
Wie auf ein Stichwort hin begann die Perle sanft zu schimmern und die auf der Oberfläche reflektierten Farben vermischten sich zu einem großen Strudel. Li Lis Augenlider wurden schwer und fielen schließlich zu. Als sie die Augen wieder öffnete, war sie umgeben von dichtem, silbergrauen Nebel. Sie hielt die Perle nicht mehr in den Händen und fühlte sich seltsam zwischen Wachheit und Traum schwebend. Geschah das alles wirklich?
Der Nebel begann sich aufzulösen und enthüllte einen Blick aus der Vogelperspektive auf grüne Weiden mit wunderschönen Bäumen, an denen rosafarbene Blüten hingen. Li Li ruderte mit den Armen, da sie befürchtete, auf den Boden zu stürzen – was jedoch nicht geschah. Langsam beruhigte sie sich und streckte den Kopf nach links und rechts. Ihr Herz pochte vor lauter Aufregung. Die Perle gewährte ihr eine Vision.
Der Schauplatz wechselte und nun blickte sie auf eine geschäftige Stadt voller Pandaren, die in den Straßen Handel trieben und ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgingen. Li Li runzelte die Stirn, da sie nichts und niemanden erkannte. Rein architektonisch sahen die Gebäude aus wie die auf Shen-zin Su, aber irgendetwas stimmte nicht. Die Straßen, die Landschaft – alles war anders. Ähnlich, aber anders.
Der Blick schwenkte herum. Riesige dichte Wälder mit Zypressen und Nadelbäumen erstreckten sich über die Hänge schneebedeckter Berge, die hoch in den Himmel ragten. Möwen und Gänsesäger flogen über die sandige Küste, an der das Land auf das Meer traf. Überall sah Li Li Anzeichen ihres Volkes – von den großen Tempeln an den Hügeln bis hin zu den charakteristischen Markierungen entlang der Straßen. Was auch immer dieser Ort war, hier hatten Pandaren sehr lange gewohnt.
Li Li schwebte langsam nach oben. Vom Meer herankommend zog der silberne Nebel in Richtung des Zentrums der Region, bis er das Land darunter komplett bedeckte. Am Himmel schwebend konnte Li Li sehen, wie die Sonne am westlichen Horizont unterging und weit hinter dem Nebel rotgolden auf der Meeresoberfläche glitzerte. Im Osten funkelten bereits die Sterne und Azeroths Doppelmonde schienen beide hell in ihren späten Phasen.
Sie erinnerte sich an den Erdkundeunterricht vor vielen Jahren: Weite Teile des südlichen Ozeans waren praktisch nicht befahrbar, da sie stets in dichtem Nebel lagen. Shen-zin Su hielt sich aus diesen Gebieten fern.
Ein unbekanntes Land voller Berge, Wälder und Äcker, versteckt unter den großen Nebeln des Südmeers und doch bewohnt von ihrem Volk?
Pandaria.
Als dieser Gedanke ihr kam, begann die Vision zu verschwinden und löste sich vor ihren Augen auf. Li Li blinzelte und der Himmel sowie das Gefühl des Schwebens waren verschwunden. Sie stand nun wieder sicher in der Großen Bibliothek und starrte auf die glänzende Oberfläche der riesigen Perle, die sie in den Händen hielt.
Pandaria ... die legendäre Heimat ihres Volkes, der Ort, den Liulang und seine Anhänger einst verlassen hatten, um auf dem Rücken von Shen-zin Su einem spannenderen Leben nachzugehen. Existierte es wirklich? Die meisten Pandaren auf der Großen Schildkröte gingen davon aus, dass Pandaria seit Langem durch Kriege zerstört oder aufgrund von Krankheiten unbewohnbar oder ... irgendetwas anderes war. Sonst hätten sie es ja mittlerweile wieder gesehen, oder?
Li Li drehte die große Perle langsam in den Händen. Die Welt barg viele Geheimnisse und Magie konnte mancherlei Dinge vollbringen.
„Ich muss es finden“, flüsterte sie. „Deshalb hatte ich diese Vision, oder? Wanyo und die Ältesten hatten sie nicht. Selbst mein Vater oder Onkel Chen nicht. Nur ich.“
Die Farben der Perle vermischten sich erneut, was Li Li als gutes Omen ansah.
„Du musst mitkommen“, sagte sie, während sie die Perle unter den Arm klemmte. Sie war ein wenig sperrig, würde aber in einen Beutel oder Rucksack passen. Schnell lief Li Li durch die Bibliothek zurück und machte sich auf den Heimweg. Sie musste noch viel vorbereiten und hatte nur wenig Zeit. Wer weiß, wie lang diese Vision gedauert hatte?
Einstmals war sie aufgebrochen, um Chen zu finden. Sie hatte Erfolg gehabt, musste dafür jedoch Bos Leben als schrecklichen Preis zahlen. Li Lis Herz pochte in ihrer Brust. Sie würde ihre Fehler nicht wiederholen. Ihre Mission war klar.
***
Zusätzliche Kleidung, ihr Tagebuch mit Notizen und kopierten Karten, aus der Küche gestohlene Rationen, verschiedene Kleinigkeiten, die sie für nützlich hielt, und schließlich die Perle. Li Li wickelte sie ehrfürchtig ein und legte sie auf die anderen Dinge in ihrem Rucksack. Das war alles, was sie für ihre Reise benötigte. Sie band sich einen kleinen Beutel mit verzaubertem Pulver um, das man immer gebrauchen konnte, und sah ein letztes Mal in ihrem Zimmer nach, ob sie etwas vergessen hatte. Doch sie hatte alles dabei, was sie brauchte. Sie ging zur Kommode, nahm ihre Kranichpfeife aus der Schublade und legte sich das Band mit den Draenei-Perlen, die ihr Chen einst geschenkt hatte, um den Hals. Sie rieb beide Ketten zwischen ihren Fingern und wünschte sich Glück.
„Jetzt gibt es nur noch eines zu tun“, sagte sie sanft.
Li Li hatte solch einen Brief einst ihrem Vater geschrieben und die Worte flossen nahezu aus ihrem Stift.
Lieber Papa, lieber Onkel Chen,
wenn ihr das lest, werde ich schon unterwegs nach Eisenschmiede sein. Shen-zin Su ist nicht der richtige Ort für mich. Das habe ich euch schon seit Jahren gesagt.
Onkel Chen, dich zu finden, war für mich wie die Enthüllung eines großen Geheimnisses. Doch es gibt noch eins – ein noch größeres. Wanyos Perle hat mir gezeigt, wie ich es lüften kann, und das werde ich nun versuchen. Dieses Mal wird niemand verletzt werden – das verspreche ich. Wenn wir uns wiedersehen, werdet ihr nicht glauben, was ich gefunden habe!
— Li Li
***
Weit vom Stadtzentrum entfernt legte Li Li die Pfeife an ihre Lippen und blies hinein, um einen scharfen, deutlichen Klang zu erzeugen. Nach einem kurzen Moment hörte sie das leise Rascheln von Federn und ihr alter Freund, der Kranich, landete vor ihr. Der große Vogel legte seinen Kopf zur Seite und sah sie aus einem dunklen, unergründlichen Auge an. Li Li lächelte schüchtern.
„Wahrscheinlich würdest du jetzt dasselbe wie Papa sagen. Aber ich kann nicht herumsitzen und warten, bis die Welt an meine Tür klopft. Ich habe Dinge zu erledigen.“
Der Kranich krümmte seinen Hals und stieß einen Schrei aus, während er mit den Flügeln schlug und von einem dünnen Bein auf das andere hüpfte.
„In Ordnung, dann lach doch.“ Li Li verdrehte die Augen. Der Kranich stieß einen weiteren vergnügten Schrei aus und setzte sich hin, damit sie auf seinen Rücken steigen konnte. Als sie sich hingesetzt hatte, schnellte er nach oben und schoss mit kräftigem Flügelschlag in den Himmel.
„Pandaria liegt im Süden“, rief Li Li mit eng an den Hals des Kranichs gedrücktem Gesicht gegen den Wind, „verborgen unter einer riesigen Nebelbank.“
Der Kranich neigte sich nach vorn und warf Li Li fast ins Meer. „Kräh?“
„Was sollte das denn, du verrückter Vogel?“ Li Li klammerte sich an den Federn des Kranichs fest, da ihr Kopf aufgrund der plötzlichen Bewegung wieder schmerzte. „Natürlich erwarte ich nicht, dass du mich den ganzen Weg fliegst! Wir müssen uns mehrere Tage lang versorgen. Klar?“
Der Kranich schien nicht überzeugt zu sein. „Kräääh?“
„Ein Luftschiff!“ Li Li grinste. „Und rein zufällig kenne ich jemanden, der mich seins schon mal hat benutzen lassen.“
"Kräääääääääääääh?"
„Eisenschmiede! König Magni! Willst du hier die ganze Zeit über plappern, oder was? Flieg!“
„Das ist deine Schuld.“
Chon Po schwang Li Lis Brief mit wutgeröteten Augen wie einen Dolch vor Chens Gesicht. Chen trat von einem Fuß auf den anderen.
„Ihr ganzes Leben lang hieß es immer ‚Onkel Chen‘ dies und ‚Onkel Chen‘ das und ‚Oh, wäre es nicht toll, die Welt mit Onkel Chen zu sehen?'“ Chon Po lief voller Zorn hin und her. „Und nichts konnte sie von diesem Irrsinn abringen. Oh nein, Li Li sah immer nur die Romantik. Woran deine Briefe einen großen Anteil hatten, Bruder.“
Chen holte tief Luft. Chon Po war außer sich, also ließ Chen ihn seine Schimpfkanonade abziehen und fragte sich, wie viel davon seiner Tochter und wie viel ihm galt.
„Du hast ihr auf unverantwortliche Weise falsche Hoffnungen gemacht. Was glaubt sie wohl, dort draußen finden zu können, was es hier nicht schon gibt?“
Auf jeden Fall anständige Brauzutaten, dachte sich Chen und starrte über den Kopf seines Bruders hinweg auf die Wand. Er musste fast grinsen. Plötzlich erschreckte ihn Chon Pos wutentbranntes Gesicht, das er nun erblickte.
„Hast du denn gar nichts dazu zu sagen?“
„Chon Po, ich weiß nicht genau, was ich sagen kann. Ich habe Li Li nicht geraten, irgendwo hinzugehen.“
„Das hättest du aber ebenso gut tun können!“, schrie Chon Po. „Das hast du ihr seit Jahren immer wieder erzählt! Sie vergöttert dich und jetzt ist sie auf dieser abenteuerlichen Suche nach irgendeinem ‚großen Geheimnis‘. Es liegt in deiner Verantwortung, sie wieder zurückzubringen aus“ – er sah noch einmal in Li Lis Brief nach – „aus Eisenschmiede.“
Ehrlich gesagt machte sich Chen wirklich Sorgen um seine Nichte. Sie war viel zu jung, um allein dort draußen unterwegs zu sein, und falls sein Gedächtnis ihm keinen Streich spielte, ging es bei diesem „großen Geheimnis“, über das sie einst gesprochen hatten, darum, Pandaria zu finden. Allerdings wusste er selbst nicht, ob dies überhaupt möglich wäre. Außerdem hatte sie eine Perle gestohlen und eine Naga war ihr schon wegen dieses Gegenstands auf den Fersen gewesen. Es bestand also eine offenkundige Gefahr. Darüber hinaus konnte man aus Sturmwind-Kürbissen ein tolles Bier brauen.
„In Ordnung, Po, ich werde sie suchen“, stimmte Chen zu. „Aber sie hat ihr eigenes Leben. Ich werde sie nicht zwingen, zurückzukommen.“
Chon Po schnaubte. „Sie ist ein Kind, Chen.“
Chen schüttelte den Kopf.
„Jeden Tag ein bisschen weniger, Po. Ich werde so bald wie möglich aufbrechen.“
„Je schneller, desto besser.“ Chon Po verschränkte die Arme. „Wer weiß, in welchen Ärger sie sich diesmal hineinbugsiert?“
Die Suche nach Pandaria - Teil 2 von Sarah Pine
„Nur damit ich Euch richtig verstehe. Ihr wollt mir sagen, dass ich nicht mit König Magni sprechen kann, weil er sich in einen Stein verwandelt hat?“
Vor dem Rat der drei Hämmer im Thronsaal der ausgedehnten unterirdischen Zwergenstadt Eisenschmiede machte sich Li Li so groß sie konnte, hielt ihren Stock fest in der Hand und schob das Kinn vor, um so aufgebracht wie möglich zu wirken.
„So ein Unsinn“, sagte sie.
„Das ist die Wahrheit!“, antwortete ihr der Zwerg in der Mitte. „Ihr könn' zur Altstadt von Eisenschmiede geh'n un' selbs' nachschau'n! Mein Bruder hat kurz vor der Katastrophe ein Ritual zur Verbindung mit der Erde durchgeführt.“ Muradin Bronzebart ballte seine Finger zur Faust. „Un' das kam dabei raus.“
„Ihr seid ziemlich unverschämt, den Rat der drei Hämmer der Lüge zu bezichtigen“, fügte Moira Thaurissan mit betont sanfter Stimme hinzu. „Wenn sich euer Volk auch so verhält, bin ich nicht traurig darüber, es bisher noch nicht kennengelernt zu haben.“
„Das beruht auf Gegenseitigkeit“, murmelte Li Li leise vor sich hin. Dann wandte sie sich an alle drei Mitglieder des Rats. „Ich höre heraus, dass Ihr mir nicht helfen könnt.“
Muradin schüttelte den Kopf. „Das können wir leider nich'. Was Magni Euch eins' auch immer versproch'n haben mag, jetzt kann er's nich' mehr un' der Rat is' sich über Euch nich' einig.“
„Na gut. Dann verschwinde ich mal wieder.“ Li Li drehte sich um und wollte gehen.
„Manieren, junge Dame“, ermahnte sie Moira. Li Li hielt einen Moment inne, dreht sich dann mit einer sanften Bewegung um, legte einen Arm über ihren Bauch und neigte sich mit einer übertriebenen Verbeugung nach vorn.
„Oh großer Rat der drei Hämmer, Euer Taktieren verdient höchste Anerkennung! Ihr habt bewiesen, nicht weniger als der sprichwörtliche Baum zu König Magnis Borke zu sein, und ich fühle mich äußerst geehrt, zwischen den beiden zu stehen.“
Moiras Ausruf der Empörung wurde teilweise von Falstad Wildhammers schallendem anerkennendem Gelächter übertönt, und als Muradin es endlich geschafft hatte, beide niederzuschreien, war Li Li schon längst auf und davon.
***
In der Steinfeuertaverne war mehr von der erwarteten Gastfreundschaft der Zwerge als im Thronsaal zu spüren. Vergnügt plaudernde Gäste saßen an den Tischen, um gemeinsam zu lachen und zu trinken. Trotzdem zog Li Li es vor, allein im hinteren Teil der Taverne zu sitzen. Obwohl sie eine Art Kuriosität für die anderen war, ließen sie sie allein mit ihrem Bier schmollen.
„Es war wohl dumm von mir, den Kranich fortzuschicken, bevor ich mit dem Rat geredet hatte“, murmelte sie. „Ich habe ja auch nicht erwartet, dass der König von Eisenschmiede sich in einen Steinverwandelt hat.“
Sie schlürfte ihr Bier, nickte zustimmend und stützte sich auf ihren Ellbogen, während sie geistesabwesend die Muster auf dem Holztisch nachverfolgte. Tief in Gedanken versunken hörte sie nicht die Schritte, die sich ihr von hinten näherten, bis ein Schatten über sie fiel.
Li Li blickte nicht auf. „Hau ab, ja? Ich bin beschäftigt.“
Die Antwort war ein vertrautes Kichern. „Zu beschäftigt, um etwas mit deinem Onkel zu trinken? Das ist schade.“
Li Li sprang auf und drehte sich auf dem Absatz um. Chen stand mit einem Rucksack und seinem Stock vor ihr.
„Onkel Chen!“ Sie nahm ihn in den Arm. „Ähm, tut mir leid, dass ich so unhöflich war.“
Chen lachte, drückte sie liebevoll und setzte sich neben sie. „Kein Problem. Du ahnst wahrscheinlich schon, warum ich hier bin.“
Li Li stieß einen Seufzer aus und setzte sich hin. „Papa hat dich geschickt, um mich nach Hause zu holen.“
„Hat er, aber das werde ich nicht tun. Ich habe deinen Brief gelesen und außerdem erfahren, dass Wanyos Perle verschwunden ist.“
Li Li versuchte ihren verlegenen Gesichtsausdruck zu kontrollieren, versagte dabei aber kläglich. Chen hob eine Augenbraue.
„Und?“
Li Li wusste, dass sie erwischt worden war, holte tief Luft und erzählte, was sie vor ihrem Aufbruch nach Eisenschmiede in der Perle gesehen hatte.
Chen nippte nachdenklich an seinem Getränk. „Ich war mir ziemlich sicher, dass du versuchen würdest, Pandaria zu finden, da wir darüber ja schon mal gesprochen hatten. Du hast von dieser Perle wirklich eine Vision erhalten?“
Li Li nickte begeistert. „Deshalb habe ich sie mitgenommen. Ohne Grund hätte sie mir diese Vision nicht gewährt!“
Chen blickte sie kurz von der Seite an. „Ich vertraue irgendwelchen magischen Perlen, die Wanyo von einem Murloc erhalten hat, nicht wirklich, aber ich vertraue deiner Einschätzung, Li Li.“
„Ich bin mir ganz sicher, Onkel Chen!“
„In Ordnung. Also, was werden wir jetzt tun?“
Li Li rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. „Tja, es hat sich nicht alles nach meiner Vorstellung entwickelt und ich, äh, habe keinen wirklichen Plan B.“
Chen grinste. „Du hast doch gesagt, dass einem die Perle Visionen verleiht, oder?“
Li Lis Handfläche traf mit einem überzeugenden „Platsch“ auf ihre Stirn. „Natürlich. Warum habe ich daran nicht schon früher gedacht?“ Sie trank den Rest ihres Biers aus und sprang auf. „Komm. Die Perle ist in meinem Zimmer.“
***
Li Li saß auf der Kante ihres Betts, hielt die große Perle zwischen den Händen und ließ sich von dem beruhigenden Leuchten in Trance versetzen. Sie zwinkerte und schloss die Augen im fahlen Schein der Perle. Als Sie sie wieder öffnete, stand sie an einem Kai und blickte hinaus auf das hellblaue Meer. In der Mitte des Naturhafens erhob sich eine große Insel, auf deren Kuppe eine ramponierte Granitstatue eines einarmigen Goblins stand. Li Li drehte sich im Kreis, um sich die Umgebung anzusehen. Baufällige hölzerne Piere und Häuser waren U-förmig um die Bucht herum angeordnet. Zwischen den Gebäuden erblickte Li Li dunkelgrüne Palmenzweige und weitere dichte Dschungelvegetation.
„Was hast du gesehen?“
Chens Stimme holte Li Li in die körperliche Welt des Zimmers in Eisenschmiede zurück. Sie legte die Perle wieder in ihren Rucksack neben dem Bett und verbarg sie sorgfältig unter einem Tuch.
„Beutebucht“, antwortete sie.
„Was?“ Chen setzte sich neben sie. „Bist du sicher? Wäre es nicht einfacher, von Sturmwind aus zu reisen?“
„Ja, aber es war eindeutig in Beutebucht.“ Sie seufzte, ließ sich auf den Rücken fallen und legte einen Arm über ihr Gesicht. „Beutebucht ist so weit weg!“
Chen schnalzte mit der Zunge und starrte auf die gegenüberliegende Wand. Nach kurzer Zeit klatschte er die Hände zusammen und sprang auf.
„Los, Li Li. Wir haben einiges zu Laufen. Erinnerst du dich? Das Leben ist ein Abenteuer!“
Li Li hob ihren Arm ein kleines Stück, um Chen einen Blick zuzuwerfen. Seine Augen funkelten schelmisch und sie verspürte plötzlich den Drang, ihm gegen die Füße zu treten. Nicht, dass sie sich großartige Hoffnungen machte, ihn zu überraschen – aber der Gedanke war äußerst angenehm.
„In Ordnung, in Ordnung.“ Sie setzte sich auf. „Dann mal los.“
***
Sie nahmen die südliche Tiefenbahn nach Sturmwind und fuhren zurück entlang der Strecke, auf der Li Li mit Bo auf ihrer ersten Reise durch Azeroth unterwegs gewesen war. Dieses Mal bereitete ihr die Fahrt nicht mehr ganz so viel Spaß, da sie Bos Verlust intensiv spürte, als sie an den Orten vorbeifuhren, die sie gemeinsam bereist hatten. In der Bahn hatten beide gegen einen Goblin gekämpft, bei dem sich später herausstellte, dass er für dasselbe Gespann aus Naga und Orc arbeitete, das für Bos Tod verantwortlich war. Im Nachhinein wünschte sich Li Li, dass sie die Gefahr für sich und Bo besser hätte einschätzen können. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen.
Li Li zwang sich dazu, diese Gedanken beiseitezuschieben. Es ergab keinen Sinn, über Dinge nachzugrübeln, die man nicht mehr ändern konnte.
Sturmwind hatte sich jedoch verändert, und zwar mehr, als sie es je hätte vorstellen können. Außer dem neuen Bau im Zwergendistrikt, in dem die Bahn eintraf, konnte sie verkohlte Dächer, ausgebrannte Gebäude und zerstörte Steinzinnen auf den höchsten Türmen sehen. Überall in der Stadt gab es klare Anzeichen von Feuerschäden. Chen sprach einen Händler an, um zu erfahren, was geschehen war.
Der Händler runzelte die Stirn.
„Todesschwinge“, sagte er.
Chen drängte ihn, weitere Informationen herauszurücken. „Der große Drache Todesschwinge?“
„Ja.“ Der Händler zuckte die Achseln. „Ich hatte noch nie von ihm gehört, aber er war wohl in seinem Versteck. Zumindest sagen das die Gelehrten. Auf jeden Fall kam er zurück, verbrannte den Park und legte die halbe Stadt in Schutt und Asche.“ Die Erinnerung daran ließ ihn erschaudern. „Das war der schlimmste Tag meines Lebens, als ich sah, wie diese riesige Bestie Feuer auf uns herabregnen ließ. Ich dachte, die Welt würde untergehen.“
„Danke,“, sagte Chen. Als Anerkennung kaufte er bei dem Händler ein kleines Schmuckstück.
„Ich weiß, dass du in meinen Tagebüchern etwas über Drachen gelesen hast, Li Li“, sagte ihr Chen, als sie weitergingen. „Vor einer Weile gab es diese schrecklichen Wellen auf Shen-zin Su. Das muss zu der Zeit gewesen sein, als Todesschwinge auf die Welt zurückkehrte.“ Er blickte hinauf zum Himmel und Li Li fragte sich, ob er vielleicht erwartete, den legendären ehemaligen Aspekt vorbeifliegen zu sehen.
Li Li nickte. Sie wusste ein paar Dinge über die Drachen, doch Chen hatte auf jeden Fall mehr Informationen und die Nachrichten über Todesschwinge schienen ihn sehr zu beunruhigen.
Sie verweilten einige Tage in Sturmwind, um Vorräte für ihre Reise anzulegen. Der Weg nach Süden war lang und bis Beutebucht gab es keine größeren Städte. Nachdem sie alles besorgt hatten, gingen sie los und ließen den regen Betrieb der Stadt hinter sich.
Obwohl Sturmwind stark beschädigt worden war, sah der Wald von Elwynn im Großen und Ganzen wie vorher aus und nichts auf ihrem Weg erschien Li Li ungewöhnlich. Das Schlingendorntal war eine gänzlich andere Geschichte. Auf ihrem Weg über den schmalen und ausgetretenen Dschungelpfad waren die Zeichen von Todesschwinges Rückkehr überall zu sehen – von zerstörten Waldgebieten bis hin zu neu gegründeten Siedlungen der Allianz und der Horde. An einigen Stellen war die Straße wirklich gefährlich. Als sie in Beutebucht ankamen, war der Anblick der Stadt eine wahre Wohltat. Die unter Kontrolle des Dampfdruck-Kartells stehende kleine Ansiedlung erstreckte sich über die Spitze des Schlingendornkaps mit dem unvergleichlichen Trotz der endgültig Gebrochenen. Alle Arten brutaler Halsabschneider und blauäugiger Abenteurer wollten in Beutebucht Geld machen oder ganz einfach der Verfolgung in den größeren Städten entgehen. Li Li und Chen betraten die klapprigen Holzpfade mit einer Mischung aus Erleichterung und Freude.
„So sehr ich das Reisen auch liebe: Es wird toll sein, heute Nacht in einem Bett zu schlafen.“ Chen seufzte glücklich. Li Li wusste, dass Beutebucht einer seiner Lieblingsorte in Azeroth war.
„Die Straßen in diesem Teil der Welt könnten mal ein bisschen ausgebessert werden“, schnaubte Li Li. „Wäre es zu viel verlangt gewesen, ein Schild aufzustellen? ‚Warnung: Dieser Weg endet in einem riesigen Todesstrudel‘!“
Chen wurde schnell sachlich.
„Todesschwinge hat wirklich einiges zertrümmert.“
„Aber Beutebucht wirkt noch intakt.“
„Ich glaube, es wären mehr als ein paar riesige Todesstrudel nötig, damit die Goblins diesen Ort aufgeben.“ Chen zwinkerte und lächelte wieder. „Los, Li Li. Hier gibt es einen Becher mit schrecklichem Goblin-Grog, auf dem mein Name steht.“
***
Die Taverne „Zum Salzigen Seemann“ wäre keinem Architekten jemals aufgefallen – höchstens als Lehrbuchbeispiel für Baufälligkeit. Die heruntergekommene, alte Bruchbude wirkte unvollkommen und desorganisiert. Die zusätzlichen Stockwerke und Zimmer waren einfach dort angebaut worden, wo der stetige Strom von Gästen die Kapazität des Gebäudes überstiegen hatte. In Beutebucht ging es den Eigentümern zuallererst nicht um Sicherheit und Stabilität – hier galt: Kaufen auf eigene Gefahr!
Für redliche Touristen mochte die berüchtigte Kneipe also kein geeignetes Ziel sein, doch für Unterdrückte, Kleinkriminelle, Seeleute oder anderweitige Gestalten, die eher zum Rand der Gesellschaft gehörten, war sie genau das Richtige. Es gab eine Vielzahl von Möglichkeiten, sich zu verstecken oder andere ungesehen zu beobachten.
Und genau das war eine von Catelyns beliebtesten Methoden, sich die Zeit zu vertreiben. Von ihrem Aussichtspunkt im halbgeschossartigen zweiten Stock konnte sie gut erkennen, wer hier alles ein- und ausging. Natürlich hatte sie dabei stets mögliche Gelegenheiten im Blick.
Nach Beutebucht kamen ungewöhnliche Leute. Trotzdem war Catelyn wirklich überrascht, zwei Pandaren durch die Tür kommen und Skindel ein paar Münzen auf die Theke legen zu sehen. Sie hatte schon von diesem Volk gehört, jedoch noch nie einen Pandaren mit eigenen Augen gesehen. Irgendetwas an ihnen weckte Catelyns Neugier. An ihren Stöcken und Rucksäcken erkannte sie schnell, dass es sich um Reisende handelte. Sie beobachtete, wie sie sich mit einem Bier an einen leeren Tisch setzten, und ging langsam an der Treppe entlang, um mehr über die beiden faszinierenden Fremden zu erfahren.
***
Chen bewegte den Metallbecher sanft zwischen seinen Händen und beobachtete, wie das Bier darin hin- und herfloss.
„Es ist auf jeden Fall noch so schlecht, wie ich es in Erinnerung habe“, kommentierte er.
„Pandaren brauen Bier, um einen Effekt wie Schießpulver zu erhalten“, sagte Li Li, „aber ich bin mir sicher, dass die Goblins es mit Schießpulver brauen.“
Nachdenklich tippte Chen an sein Kinn.
„Li Li, kannst du dich noch an andere Dinge erinnern, die du über die Perle gehört hast?“
Li Li hielt mit ihrem Becher auf halbem Weg zum Mund inne.
„Ich habe dir und Papa alles erzählt, was mir die Naga gesagt hatte, und Wanyos Bericht hat es bestätigt.“
„Du hast also doch bei diesem Treffen gelauscht.“
Li Li starrte Chen an. „Das war ein schmutziger Trick!“
Chen lachte. „Das hast du alles selbst gemacht, Li Li.“ Mit einem verschmitzten Augenzwinkern hob er mahnend den Finger.
„Ja, in Ordnung, ich habe gelauscht“, schnaubte sie. „Na und?“
„Ich denke nur über diese Perle nach. Wir wissen nichts über sie, außer dass irgendeine Naga sie unbedingt in die Finger bekommen wollte und man Visionen von ihr erhält, und trotzdem folgen wir ihren Hinweisen.“
Li Li verstand, was Chen sagte, vertraute jedoch der Perle instinktiv.
„Ich weiß es nicht“, gab sie zu. „Vielleicht ist die Perle gefährlich. Aber sie fühlt sich nicht böse an. Es ist nichts Unheimliches an ihr.“
„Seinen Instinkten zu vertrauen, ist durchaus vorteilhaft, wenn es um Magie geht. Trotzdem sind die Naga normalerweise nicht besonders nett und rücksichtsvoll. Wenn eine Naga sie haben wollte, verfügt sie wahrscheinlich über zerstörerische Kräfte.“ Als Chen Li Lis Gesichtsausdruck sah, fügte er hinzu: „Ich versuche nur, auf dich aufzupassen, wie Po mich gebeten hat.“
Li Li stellte ihren Krug etwas fester als sonst auf den Tisch und blickte mürrisch zur Wand. Chen nahm das Thema noch einmal auf.
„Bist du immer noch verärgert, Li Li?“
„Ich werde nicht in die Bucht fallen und ertrinken oder so.“
Chen wollte lieber keinen Streit mit seiner Nichte haben.
„Ich weiß, dass du stark bist, und ich weiß, dass du kein Kind bist. Dein Vater macht sich ganz einfach Sorgen um dich.“
„Es gefällt ihm noch nicht mal, wenn wir mit den Fischerbooten unterwegs sind. Was Mama geschehen ist, jagt ihm wohl zu viel Angst ein. Aber wenn es nach ihm ginge, würde ich den ganzen Tag zu Hause sitzen, im Garten arbeiten, kochen und niemals etwas Interessantes machen.“ Li Li lehnte sich zu Chen. „Die Perle hat mir eine Vision gewährt. Es ist meine Aufgabe, und wenn ich sie abgeschlossen habe, wird Papa zugeben müssen, dass es falsch war, mich aufhalten zu wollen!“
„Väter können ganz schön anstrengend sein, was?“
Chen und Li Li blickten beide in Richtung der neuen Stimme. Die Sprecherin hielt ihre Hände beschwichtigend nach oben.
„Tut mir leid, dass ich euch unterbrochen habe. Die Taverne ist ganz schön voll und ich habe einfach unabsichtlich gelauscht.“ Sie zog einen leeren Stuhl heran und setzte sich neben Li Li. Die blasse Menschenfrau ließ ihre Tasche neben dem Tisch auf den Boden fallen. Anmutig legte sie einen Knöchel über ihr Knie und einen Arm über die Stuhllehne.
„Ich heiße Catelyn“, stellte sie sich vor. „In dieser Gegend nennt man mich Catelyn die Klinge.“ Sie schob eine rotbraune Locke hinter ihr Ohr. „Das hört sich zugegebenermaßen etwas theatralisch an, klingt aber auch irgendwie gut, oder?“
„Klingt schneidig“, sagte Li Li. Catelyn lachte.
„Du bist ziemlich intelligent!“ Sie grinste. „Ich habe euer Gespräch gehört. Um ehrlich zu sein, habe ich ohne nachzudenken geredet. Eure Geschichte klingt so vertraut.“
„Vertraut?“
„Ich habe etwas Ähnliches erlebt“, sagte Catelyn, während sie zur Decke blickte. Mit einer Hand klopfte sie auf ihr überkreuztes Bein. „Mein Vater ist ein spießiger alter Gelehrter und wollte, dass ich auch so werde. Ich konnte dieses Leben nicht ausstehen und er konnte den Gedanken nicht ausstehen, dass ich irgendetwas anderes mache, als er es will. Also bin ich gegangen. Das war vor vielen Jahren und die beste Entscheidung, die ich jemals getroffen habe.“
„Tut mir leid, dass du dich nie mit deinem Vater versöhnen konntest“, sagte Chen höflich.
Catelyn zuckte mit den Achseln. „Das ist wirklich seine eigene Schuld. Wäre er bereit gewesen, mir zuzuhören, hätte ich nicht hinter seinem Rücken verschwinden müssen.“ Sie blickte zu Li Li herüber und kratzte sich unter dem Tisch an der Wade. Li Li starrte mit gerunzelter Stirn konzentriert auf ihr Bier.
„He“, sagte Catelyn mit etwas sanfterer Stimme zu ihr. „Tut mir leid, wenn ich das vielleicht nicht hätte sagen sollen. Ich wollte dich nur ein bisschen aufmuntern. Du musst du selbst sein und dein eigenes Leben führen! Wenn dein Vater das nicht verstehen kann, ist das nicht dein Problem.“
„Er macht es aber gerne zu meinem Problem“, murmelte Li Li. Chen kniff die Augen zusammen.
„Er wird es akzeptieren, Li Li“, sagte er.
„Vielleicht wird er es, vielleicht auch nicht“, antwortete Catelyn. „Mein Vater hat es nie akzeptiert. Aber ich bereue meine Entscheidungen nicht.“ Sie stand auf und nahm ihre Tasche. „Und ich bezweifle, dass du das wirst. Viel Spaß in Beutebucht.“ Sie winkte ihnen salopp zu und verschwand in der Menge.
„Das nenne ich einen ungebetenen Ratschlag“, kommentierte Chen, während er ihr nachblickte.
Li Li rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, leerte ihren Bierkrug und verzog bei dem Geschmack das Gesicht. „Aber sie versteht es. Sie hat das Gleiche wie ich erlebt.“
Chen warf ihr einen Blick zu. „Das stimmt wohl. Gehen wir nach oben.“
Li Li nahm ihren Stock, warf den Rucksack über die Schulter und folgte Chen. Ihr Zimmer befand sich im zweiten Stock und das kleine, schiefe Fenster ließ selbst den spektakulären Ausblick über die Bucht billig wirken.
Li Li legte sich in eines der alten Betten, deren Bretter unter ihr knarrten. Ein langer Schlaf würde ihr gut tun.
Sie zog ihren Rucksack heran und wollte sich umziehen. Die Oberseite war merkwürdig flach, als würde etwas fehlen. Mit pochendem Herzen öffnete sie den Rucksack und riss das Tuch heraus, mit dem sie die Perle bedeckt hatte. Es war leer. Mit letzter Hoffnung verstreute sie den Inhalt auf dem Bett und wollte nicht glauben, was sie bereits wusste.
„Onkel Chen!“, schrie sie voller Wut. „Die Perle! Die Perle ist weg! Diese Frau – diese schmeichlerische Menschenfrau – wie hieß sie noch gleich? Cathy die Halsabschneiderin?“
„Du meinst Catelyn die Klinge?“
„Ja, sie! Sie hat sie gestohlen!“
Sie liefen hinunter in die Bar zurück und Li Li verspürte ein entsetzliches Gefühl in ihrem Bauch. Mit Chen suchte sie die Menge immer hastiger ab. Li Li erkannte, dass Catelyn sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr in der Taverne aufhalten würde, wollte aber nicht aufgeben und ging den gesamten Raum ab. Bei ihrer dritten Runde warf ihr der Wirt, ein dicker, alter grüner Goblin namens Skindel, einen Blick von der Seite zu, während er Münzen zählte.
„Na, was suchste, Kind?“
Chen schaltete sich ein, bevor Li Li antworten konnte.
„He“, sagte er. „Hast du gesehen, wie wir uns gerade mit einer Frau unterhalten haben? Brünett, ungefähr dreißig, nennt sich Catelyn die Klinge. Wir müssen sie finden.“
Skindel zog an einem Ohrläppchen seiner übergroßen Lauscher und Chen warf einige Münzen auf die Theke. Der Wirt grinste breit und steckte sie ein.
„Catelyn ist bei den Schwarzmeerräubern und arbeitet für das Dampfdruck-Kartell. Sie befehligt ein Schiff namens Neptulons Braut.“ Als er Li Lis Gesichtsausdruck bemerkte, fügte er hinzu: „Sucht lieber keinen Ärger. Sie ist die beste Messerkämpferin in Beutebucht. Jeder, der auch nur ein bisschen Verstand hat, stellt sich gut mit ihr – wirklich jeder.“
„Danke für den Rat.“ Chen warf Skindel noch eine Münze zu.
„He, kein Problem.“ Skindel hielt den Rand der Goldmünze an seine Schläfe und zwinkerte. „Mit Geld bringt man so manchen zum Reden.“
„Gehen wir“, murmelte Chen Li Li zu und verließ eiligen Schrittes die Taverne.
***
Sie gingen direkt zum Hafen. Es war nicht schwierig, die Neptulons Braut zu finden, und schon bald näherten sich die beiden einer bekannten Gestalt, die damit beschäftigt war, die Verladung von Fracht auf das robuste, mit einem Holzrumpf ausgestattete Kohlenschiff zu beaufsichtigten. Die beiden Pandaren kletterten an Bord und traten Catelyn gegenüber.
„Ach, wen haben wir denn da?“ Sie grinste selbstgefällig und legte ihre Hand keck an die Hüfte, wobei sie nichts mehr von ihrer zuvor an den Tag gelegten charmanten Freundlichkeit ausstrahlte.
„Du kannst dir wahrscheinlich schon denken, warum wir gekommen sind“, sagte Chen.
„Diebisches Miststück!“, knurrte Li Li. „Du hast unsere Perle gestohlen!“
„Es gibt keinen Grund, beleidigend zu werden“, antwortete Catelyn und drohte mit dem Finger. „Ihr habt recht. Ich habe sie mir genommen. Ihr solltet ein wenig vorsichtiger sein, wenn ihr in der Öffentlichkeit über seltene magische Artefakte redet – besonders in diesem Teil der Welt.
„Ich weiß, dass das nicht besonders nett von mir war, aber ich habe Ausgaben und das Dampfdruck-Kartell macht auch beim Schuldeneintreiben gerne Druck, wenn ihr versteht, was ich meine. Ich bin jedoch auch ein anständiger Mensch und da ihr mir vom ersten Moment an gefallen habt, sage ich euch was. Seht ihr dieses Schiff hier?“ Catelyn zeigte auf den Frachter. „Eure Perle ist irgendwo an Bord. Wenn ihr sie finden könnt, gehört sie euch.“ Ihr Grinsen wurde breiter. „Aber seid gewarnt, dass meine Besatzung zu Gewalttätigkeit neigt und Fremde nicht sonderlich mag.“
Es schien, als wären Li Li und Chen auf einmal von bedrohlichem Lächeln umgeben, von Männern und Frauen, die bis eben noch ganz normal gearbeitet hatten. Plötzlich wuchsen Waffen wie Krallen aus ihren Fäusten. Chen verzog das Gesicht und Li Li hob den Stock in ihrer Hand.
„Entweder seid ihr ziemlich mutig oder ziemlich dumm“, bemerkte Catelyn.
„Du hast noch nie gegen Pandaren gekämpft, oder?“, sagte Li Li.
Nun zog auch Catelyn ihre Waffe, einen Dolch so lang wie ihr Unterarm.
„Ich glaube nicht, dass ihr großartig anders als der Rest seid“, antwortete sie.
Li Li stürzte sich auf Catelyn, während Chen die angreifende Besatzung aufhielt. Catelyn parierte Li Lis Stockangriff gekonnt mit ihrem Dolch und führte einen Stich in Richtung ihres Bauchs aus. Li Li wehrte ihn mit einem Tritt gegen Catelyns Handgelenk ab, der den Dolch aus ihrer Hand wirbelte. Li Li sah, wie Catelyn überrascht die Augen aufriss. Die Piratenkapitänin wusste nun, mit wem sie es zu tun hatte.
Catelyn sprang auf das Deck und rollte sich in Richtung ihres verlorenen Dolchs. Li Li folgte ihr, wobei sie ein wenig verzaubertes Pulver in Richtung eines anderen Piraten warf, der vom benachbarten Schiff herbeigesprungen war. Das Pulver verwandelte sich in einen kleinen Schwarm winziger wütender Vögel, die mit ihren Schnäbeln in Richtung seiner Augen hackten. Er fluchte, als er mit der Schulter gegen die Takelage stieß.
Chen wirbelte seinen Stock blitzschnell umher, wobei er die langsameren Seeleute überraschte und zu Boden schickte. Ein besonders kräftiger Orc bekam einen Tritt direkt gegen das Brustbein, verlor sein Gleichgewicht und fiel über die Reling auf den darunter liegenden Kai. Chen konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Da hatte er schon Schlimmeres mitgemacht.
Irgendwo in der Ferne ertönte eine laute Glocke. Li Li hoffte, dass es sich dabei nicht um einen Ruf nach Verstärkung handelte.
„Bukaniere!“, rief einer der Piraten. „Blutsegelbukaniere! Wir werden angegriffen!“
„Ihr werdet doch schon angegriffen!“, schrie Li Li und schlug ihren Stock einem anderen Piraten gegen die Brust.
Trotzdem ignorierte die gesamte Besatzung sie und Chen, um in Position zu gehen. Li Li wirbelte herum und reckte ihren Hals, um zu sehen, was los war. Aus allen erdenklichen Verstecken am Hafen strömten bewaffnete Piraten mit charakteristischen hellroten Hemden hervor, überfielen die Goblinschläger aus Beutebucht und liefen in Richtung des Schiffs der Schwarzmeerräuber.
„Leinen los!“ Catelyns Stimme übertönte alle anderen. „Bringt uns so schnell wie möglich hier weg! Die anderen verteidigen das Schiff! Wir müssen die Fracht beschützen!“
Ein Blutsegelbukanier sprang über den Dollbord direkt vor Li Li auf die Neptulons Braut und schwang sein Entermesser. Sie landete einen Tritt in seine Rippen, der ihn mit den Füßen über dem Kopf zurück auf den Kai fallen ließ. Überall um sie herum schnitten die unter Catelyns Befehl stehenden Schwarzmeerräuber Seile durch oder taten alles, um die gegnerischen Piraten abzuwehren. Die Schläger am Pier versuchten, die Bukaniere aufzuhalten, waren jedoch ebenfalls überrascht worden. Chen erschien an Li Lis Seite.
„Wir sollten verschwinden, solange wir es noch können, Li Li.“
„Ohne die Perle werde ich nicht gehen!“, fuhr sie ihn an. „Sie ist irgendwo auf diesem Schiff! Wir müssen sie finden!“
Das Schiff unter ihnen machte einen Ruck. Catelyns Besatzung hatte die Vertäuung gelöst und versuchte jetzt, das große Frachtschiff hinaus in die Bucht zu schieben. Aus Öffnungen an der Seite des Schiffes kamen Ruder zum Vorschein und Li Li erkannte, dass sich unter Deck mehr Besatzungsmitglieder als gedacht befanden. Stoßweise begann die Neptulons Braut sich vom Hafen in Beutebucht zu entfernen.
„Los, los!“, schrie Catelyn. Sie kämpfte noch gegen einen der Blutsegelbukaniere und wehrte dessen Schwert mit ihrem Dolch ab. Nach kurzem Scharmützel konnte sie ihn über die Seite des Schiffs treten, woraufhin er mit einem lauten Platschen in die Bucht fiel. Sie lief zum Ruder und nahm ihren Platz ein, um das Schiff zu steuern. Andere Besatzungsmitglieder setzten die Segel, um schnell aus dem Hafen entkommen zu können.
Als sie den Schutz der Bucht verließen, wurde der Wind stärker und man konnte die lange Spitze des Schlingendornkaps sehen. Die Ruder verschwanden wieder unter Deck. Die Segel schwollen und ließen das Schiff gleichmäßiger fahren. Li Li war sich nicht ganz sicher, ob sie erleichtert oder besorgt sein sollte. Einerseits hatten sie und Chen einem Kampf zwischen zwei gegnerischen Piratenfraktionen erfolgreich aus dem Weg gehen können. Andererseits waren sie nun auf Catelyns Schiff mit dem Meer als einzigem Fluchtweg gefangen. Als Beutebucht hinter ihnen schnell kleiner wurde, fragte sich Li Li, wie bald Catelyn und die Besatzung sie wieder angreifen würden, da die Gefahr des Hinterhalts nicht mehr bestand.
Catelyn rief einen solch vulgären Satz, dass selbst Li Li errötete.
Im Meer vor Beutebucht warteten knapp außerhalb der Kanonenreichweite des Hafens nicht weniger als drei Vollschiffe mit rot-schwarz gestreiften Segeln – den Farben der Blutsegelbukaniere. Catelyn fluchte erneut und auch andere Besatzungsmitglieder machten nun mit. Chen trat voller Unbehagen von einem Fuß auf den anderen. Die Neptulons Braut war direkt in eine Falle gesteuert.
„Macht die Kanonen bereit!“, rief Catelyn. „Verteidigungspositionen einnehmen! Das wird der Kampf unseres Lebens!“
„Für uns auch“, sagte Chen grimmig.
Sobald sie in Reichweite kamen, feuerten die Bukaniere. Die meisten Schüsse erreichten sie nicht, aber ein paar trafen die Neptulons Braut. Das Deck schwankte unter den Treffern und riesige Holzsplitter wirbelten durch die Luft. Li Li und Chen warfen sich auf den Boden und legten ihre Arme über die Köpfe.
„Es ist unerträglich“, knurrte Li Li, „sie angreifen zu sehen und nicht zurückschlagen zu können.“
Chen nickte. „So sind Seeschlachten wirklich schrecklich.“
Endlich konnten Catelyn und ihre Besatzung mit einer eigenen Kanonensalve antworten und sogar einige gute Treffer landen, doch ihre Gegner hielten weiter direkt auf sie zu. Bevor die Besatzung die Kanonen nachgeladen hätten, würde die Neptulons Braut bereits von Blutsegelbukanieren wimmeln.
„Zu den Waffen!“, schrie Catelyn, während die feindlichen Schiffe sich immer näher an die Brautheranschoben. „Wir werden ihnen einen Kampf liefern, den sie so schnell nicht vergessen werden!“
Die sich nähernden Blutsegelschiffe stießen heftig gegen die Neptulons Braut, als sie an der Seite vorbeisteuerten. Von der Takelung schwangen Besatzungsmitglieder, die alle Arten von Klingenwaffen trugen. Die Besatzung der Neptulons Braut kämpfte heftig, war jedoch stark in der Unterzahl.
Catelyn nahm es mit zwei Gegnern gleichzeitig auf: einem wütenden Goblin, dem ein Teil seines Ohrs fehlte, und einer großen, schlanken Nachtelfenfrau mit einem Dolch, der fast so lang wie Catelyns Waffe war. Sie drängten sie über das Deck, bis sie Rücken an Rücken mit Li Li stand, die schnell zur Seite trat und die Nachtelfenfrau mit ihrem Stock von den Beinen holte. Die Elfenfrau fiel mit dem Gesicht auf das Deck und aus ihrer Nase troff Blut.
„Jetzt tut es dir bestimmt leid, meine Perle gestohlen zu haben“, sagte Li Li.
„Eigentlich nicht“, antwortete Catelyn gelassen, während sie einen Blutsegelgnom um seine Innereien erleichterte, der tollkühn genug gewesen war, sie anzuspringen. „Hätte ihr nicht nach mir gesucht, würde ich jetzt mit zwei Leuten weniger an meiner Seite kämpfen.“
Li Li wollte antworten, aber die Bukaniere kamen näher und sie musste ihre volle Konzentration auf den Kampf richten. Sie trat, duckte sich und benutzte ihren Stab, um die Feinde niederzuschlagen und auszuschalten. Sie warf verzaubertes Pulver in alle Richtungen, woraufhin Schwärme von Bienen, kleinen Vögeln und Stechmücken die angreifenden Piraten ablenkten, aber der Ansturm der Bukaniere nahm einfach kein Ende. Es waren einfach zu viele und irgendwer nahm stets den Platz der eben gefallenen Kameraden ein.
Langsam erkannte Li Li, dass sie auf verlorenem Posten stand. Sie und Chen kämpften Schulter an Schulter, obwohl sie wussten, dass sie überrannt wurden. Die gesamte Besatzung der Neptulons Brautdrängte sich auf der Mitte des Decks neben Catelyn, Li Li und Chen. Schwitzend, schwer atmend, mit blutenden Wunden und von allen Seiten umzingelt streckten sie ihre Waffen hervor. Li Li biss die Zähne zusammen. Der wahre Kampf hatte gerade erst begonnen.
Der Klang gleichmäßiger schwerer Schritte auf den Holzbalken des Decks durchbrach die Ruhe vor dem Sturm. Über den Blutsegelbukanieren bewegte sich ein Kapitänshut auf und ab, dessen Träger einen ganzen Kopf größer als alle anderen war. Er schob sich vor die Menge und Li Li konnte ihn nun klar erkennen. Er war ein riesiger Draenei mit tellergroßen Spalthufen. Seine Gesichtsranken hingen wie die Tentakel eines schleimigen blauen Tintenfischs über den roten Mantel. Sein rechtes Auge war von einer Klappe bedeckt und in der linken Hand hielt er das größte Entermesser, dass Li Li jemals erblickt hatte.
„In deinen Aufzeichnungen stand, dass die Draenei ein friedliches und spirituelles Volk sind!“, fauchte Li Li Chen an.
„Dieser Kerl hier muss mir wohl entgangen sein“, flüsterte Chen zurück.
„Gut, gut“, sagte der Draenei selbstgefällig mit charakteristischem Akzent. „Ich wusste, dass mir Schwarzmeerräuber ins Netz gehen würden, wenn ich es richtig anstelle. Wie schön für mich, dass es die berühmte Catelyn Runenweber sein sollte. Jetzt schaut mich nicht so an; das ist doch Euer Name, oder?“
„Der Name kommt mir bekannt vor“, murmelte Chen. „Wo habe ich den schon mal gehört?“
„Als berühmte Duellantin bedeutet Ihr Baron Revilgaz ziemlich viel, Catelyn“, fuhr der Draeneikapitän fort. „Obwohl mir zu Ohren gekommen ist, dass Ihr momentan ein paar finanzielle Probleme habt. Vielleicht könnte ich Euch dabei helfen.“
„Lieber lasse ich mir vom Kartell die Eingeweide rausreißen, als mich mit Euch zusammenzutun“, knurrte Catelyn. „Wer zum Teufel seid Ihr überhaupt? Ich kenne jeden Blutsegelbukanier von hier bis Ratschet.“
Der Draenei-Kapitän setzte seinen Hut mit übertriebenem Schwung ab.
„Ich bin Kapitän Koslov. Wie Ihr richtig erraten habt, bin ich ein neues Gesicht in der Hierarchie – und nach meinem heutigen Erfolg zu urteilen auch wesentlich fähiger als meine Vorgänger.“
In der Entfernung blitzte bei Beutebucht ein grelles indigofarbenes Licht auf. Kapitän Koslov dreht sich schnell in Richtung der Lichtquelle, doch nichts weiter geschah. Er räusperte sich lautstark und wand sich erneut Catelyn zu.
„Ihr und alle anderen auf diesem Schiff habt die Wahl“, fuhr Koslov fort. Aufgeben oder sterben. Einfach, oder?“
„Ihr habt noch nicht gewonnen“, antwortete Catelyn, während sie ihren Dolch drohend schwang.
„Ihr habt Euch also für das Sterben entschieden“, antwortete Koslov mit einem süffisanten Lächeln. Er hob den Arm, um das Signal für den Angriff zu geben.
Um das ganze Schiff herum war die Luft erfüllt von einem an Kanonenschüsse erinnernden Knallen und Krachen. Alle gingen schnell in Deckung. Die Neptulons Braut begann zu schwanken, als der Rumpf aus dem Wasser gehoben wurde. Während sich das Schiff neigte, verlor Li Li den Halt, rutschte unelegant über das Deck und stolperte über einen bewusstlosen Bukanier. Sie knallte gegen den Dollbord und stellte sich wieder hin, nachdem die Bewegungen des Schiffs nachgelassen hatten.
Ein großer Abschnitt des Meers um die Neptulons Braut und alle drei Schiffe der Blutsegelbukaniere herum hatte sich zu Eis verwandelt.
Li Li zwinkerte. Im Osten konnte sie noch die Küste von Schlingendorn erkennen, bedeckt mit einem Dschungel aus Palmen und dichter Vegetation. Sie befanden sich in tropischen Gewässern.
„Was geht hier vor sich?“, brüllte Kapitän Koslov.
„Das würde ich auch gerne wissen“, murmelte Li Li sich selbst zu.
„Was hier vor sich geht? Ihr werdet kapitulieren!“, dröhnte eine männliche Stimme.
Alle blickten sich verwirrt um.
Auf dem Eis näherten sich vier Personen in violetten Roben schnell dem Schiff. Angeführt von einem Menschenmann mittleren Alters mit rotbraunem Haar und blasser Haut stiegen sie leichtfüßig über die Reling der Neptulons Braut und stellten sich auf das Deck.
„Wer seid Ihr denn?“, fragte Koslov vor Wut schäumend.
„Vater?“ Könnte der Klang einer Stimme die Realität verändern, hätte Catelyns zweifelnder Unterton diese neuen Figuren im Spiel einfach verschwinden lassen.
Der Anführer der Magier lächelte kaum merklich.
„Aha, Ihr müsst Ansirem Runenweber sein.“ Kapitän Koslov grinste spöttisch. „Welch anrührendes Familientreffen. Leider werdet ihr nun alle sterben. Tötet sie!“
„Oh, das bezweifle ich wirklich“, sagte Ansirem.
Die Blutsegelbukaniere griffen an.
Es einen Kampf zu nennen, wäre übertrieben gewesen. Li Li kam das Wort „Schlappe“ in den Sinn, da niemand die Magier auch nur im Ansatz erreichte. Mit kurzen Handbewegungen erzeugten sie Blitze aus arkaner Energie, die so rein war, dass selbst das Fell an Li Lis Armen sich aufstellte.
Die Bukaniere konnten keinem der schlagkräftigen Magier auch nur ein Haar krümmen. Die Piraten schlugen auf das Deck und gegen die Masten. Einige wurden vom Schiff geworfen und rutschten über das Eis. Wer auch nur einen Funken Verstand hatte, lief zu seinem Schiff zurück und wartete unter Deck auf das Ende des Sturms. Um dieNeptulons Braut herum wirkte der Himmel wie bei einem spektakulären Feuerwerk. Bunte Lichter explodierten und regneten auf jeden herab, der es wagte, Ansirem oder seine Kameraden anzugreifen.
Li Li lehnte sich gegen eine Kiste auf dem Deck und sah sich alles zufrieden an. Also, das konnte man wirklich Magie nennen!
Kapitän Koslov hatte jedenfalls seine fünf Sinne beisammen und verschwand ziemlich schnell, nachdem die Magier ihre außergewöhnliche Beherrschung des Arkanen unter Beweis gestellt hatten. Er sprang über den Dollbord und lief voller Wut über seine Niederlage, so schnell er konnte, über das Eis.
Nachdem der letzte Bukanier sein Schiff erreicht hatte, hoben die Magier gemeinsam die Hände und das alle vier Schiffe umschließende Eis begann zu schmelzen. Li Li konnte sehen, wie die Besatzungen der Blutsegelbukaniere auf den Decks herumliefen und die Segel hissten, um sich so weit wie möglich von der Neptulons Braut zu entfernen. Als sie verschwanden, legte sich eine seltsame Stille über das Schiff, während die Überlebenden die Köpfe schüttelten und wieder Haltung annahmen.
Catelyn Runenweber wandte sich an ihren Vater und seine aus einer Menschenfrau, einem fröhlich wirkenden weiblichen Gnom und einem großen Hochelfen bestehende Begleitung.
„Ich ... äh ...“, begann Catelyn. Sie seufzte und setzte noch einmal an. „Danke. Ähm. Dass ihr uns das Leben gerettet habt.“
„Du musst mir nicht danken“, sagte Ansirem. „Ich weiß, dass du von mir nicht viel wissen willst, aber dieses Mal hörte es sich schlimm an und ich konnte nicht einfach danebenstehen und nichts tun.“
„Wie hast du das erfahren?“, fragte Catelyn. „Du lebst hier ja nicht.“
Ansirem grinste verschmitzt. „Soweit ich mich erinnern kann, bringt man in Beutebucht mit Gold jeden zum Reden. Ich habe ein paar ‚Freunde‘, die mich immer gerne auf dem Laufenden halten, wenn etwas geschieht. Ich hatte gehört, dass jemandem eine Falle gestellt wurde, aber als ich es sicher wusste, war es leider schon zu spät.“
Catelyn zog die Augenbrauen hoch. „Ah, ich verstehe.“
„Euer Name kam mir gleich bekannt vor“, unterbrach Chen, als er sich Catelyn und dem Magier näherte. „Ich wusste, dass ich irgendwo schon mal von einem Runenweber gehört hatte.“ Er beäugte Ansirem von oben bis unten. „Ihr seid ein Erzmagier der Kirin Tor, oder?“
Ansirem nickte. „Das bin ich in der Tat.“ Er neigte seinen Kopf in Chens Richtung. „Ich habe von eurem Volk gelesen, bin jedoch noch nie zuvor einem Pandaren begegnet. Seid Ihr ein Mitglied der Besatzung meiner Tochter?“
Chen grinste so breit, dass man die Zähne sehen konnte. „Nein. Aber meine Nichte und ich sind Opfer ihrer Tätigkeit als Piratin geworden.“
Catelyn schluckte und ihr Gesichtsausdruck war eine seltsame Mischung aus „Auf frischer Tat ertappt“ und „Ich schlage hier gleich alles kurz und klein“. Ansirem warf ihr einen scharfen Blick zu.
„Catelyn ...“
„Oh, bei Neptulon!“, schrie sie und warf ihre Arme hoch. „Das kann doch nicht sein. Ich bin eine Piratin, Papa! Ich stehle manchmal Dinge! Das bringt die Arbeit so mit sich! Und wag es nicht, mich so anzusehen, als ob alles, was du als Erzmagier jemals gemacht hast, absolut ethisch gewesen wäre.“
Ansirem öffnete seinen Mund, um ihr zu widersprechen, schloss ihn dann aber sofort wieder. Die Menschenfrau der Gruppe, die ihn begleitete, musste sich ein Lachen verkneifen.
„Tja, erwischt, Ansirem“, sagte sie.
Ansirem seufzte übertrieben. „Das muss ich mir wahrscheinlich noch öfter anhören, oder, Modera?“
„Auf jeden Fall!“
„Wenn du erlaubst“, antwortete Ansirem, „gehe ich mal davon aus, dass dein Diebstahl in diesem Fall etwas mit deinen Schulden beim Dampfdruck-Kartell zu tun hat, da du keinen Kampf abgesprochen verlieren wolltest.“
„He, woher weißt du ...“, hob Catelyn an, unterbrach dann aber wieder. „Ich frage gar nicht erst. Ja. Es hat etwas damit zu tun.“
„Habe ich es mir gedacht.“ Ansirem griff in einen der weiten Ärmel seiner Robe und holte einen nahezu faustgroßen glänzenden Edelstein hervor. „Das hier ist ein verzauberter Edelstein. Er müsste wertvoll genug sein, um deine Schulden zu begleichen.“
Catelyn riss die Augen gierig auf. Sie streckte ihre geöffnete Hand aus. „Absolut. Verzauberte Edelsteine sind sehr begehrt. Was kann er denn?“
„Er sollte dem Träger beim Wirken von Zaubern helfen.“
Catelyn kniff die Augen zusammen. „Sollte?“
„Der Magier, der ihn hergestellt hat, war damals noch ein Lehrling und zugegebenermaßen auch nicht der allerbeste. Er wollte ihn zum Schummeln bei seinen Prüfungen benutzen. Durchgefallen ist er trotzdem.“
Alle drei Begleiter von Ansirem brachen in Gelächter aus. Catelyn wirkte misstrauisch.
„Hast du ihn einem deiner Lehrlinge abgenommen?“
„Wohl kaum“, fiel Modera Ansirem ins Wort. „Obwohl ich keine Zweifel habe, dass seine Lehrlinge so etwas oft einsetzen wollten.“
Ansirem verdrehte die Augen.
„Du hast ihn hergestellt, oder, Papa?“ Nun dämmerte es Catelyn.
Ansirem räusperte sich und wirkte etwas verlegen. „Ja. Na ja, wie gesagt: Es hat nichts geholfen. Schummeln bringt einfach nichts. Ich musste mir Magie auf die harte Tour aneignen.“
Genau wie ihr Vater kurz zuvor verdrehte nun auch Catelyn ihre Augen.
„Ist er denn überhaupt wirklich verzaubert?“
„Oh ja, das ist er. Nur nicht besonders gut. Er funktioniert nur ungefähr in der Hälfte der Fälle.“ Ansirem hielt inne. „Ich schlage vor, dies beim Verkaufsgespräch nicht zu erwähnen.“
„Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“, kam der Kommentar von der immer noch kichernden Modera.
Ansirem stieß einen lauten Seufzer aus und legte seiner Tochter die Hände auf die Schultern.
„Natürlich wäre es schön gewesen, wenn du dich für eine ... etwas normalere Laufbahn entschieden hättest“, sagte er. Sein Gesichtsausdruck wurde milder. „Aber trotz allem bist du meine Tochter und das werde ich nie vergessen.“
„Geht es vielleicht noch ein bisschen sentimentaler?“, schnaubte Catelyn, lächelte dabei aber.
Ansirem trat einen Schritt zurück und wirkte einen Zauber. Mit einem letzten Winken teleportierten er und die anderen Magier sich fort.
***
Zurück in Beutebucht saßen Li Li und Chen mit Catelyn in ihrem Quartier auf der Neptulons Braut. Catelyn holte einen Kasten aus einem Schrank und reichte ihn Li Li.
„Das gehört glaube ich dir. Es tut mir leid, dass ...“ Catelyn hielt inne und schüttelte den Kopf. „Verdammt. Mein alter Herr hatte recht.“ Sie seufzte. „Na ja, da ich sie zum Abbezahlen meiner Schulden nicht brauche, kannst du sie zurückhaben.“
Li Li hustete und Chen verschränkte die Arme.
„Ich weiß, ich hätte sie gar nicht erst stehlen sollen. Meine Güte.“
„Schon besser“, sagte Li Li fröhlich und nahm den Kasten. Sie blickte hinein und sah die in Samt gebettete, still vor sich hin leuchtende Perle. Zufrieden legte Li Li sie in ihren Rucksack, wo sie hingehörte.
Catelyn schien sich ein wenig unwohl zu fühlen. „Als Wiedergutmachung für den Diebstahl und als Dank, dass ihr mir und meiner Besatzung beim Kampf gegen die Blutsegelbukaniere geholfen habt, möchte ich euch ein Angebot machen.
Ich weiß, dass ihr nach Süden wollt. Der Angriff hier in Beutebucht hat ein ziemliches Chaos hinterlassen und es wird eine Weile dauern, bevor man wieder auf privaten Schiffen reisen kann. Ich muss mich in Gadgetzan mit jemandem vom Kartell treffen, um meine Schulden abzubezahlen, und wenn ihr möchtet, kann ich euch kostenlos mitnehmen. Ich habe dort einige Verbindungen und könnte helfen, jemanden zu finden, der euch führt.“
„Nicht schlecht, nicht schlecht!“, sagte Li Li. „Du hast wohl wirklich ein schlechtes Gewissen, weil du unser Zeug geklaut hast, oder?“
„Übertreib es nicht“, sagte Catelyn ausdruckslos. „Und?“
„Hört sich gut an“, sagte Li Li. „Ich war noch nie in Gadgetzan. Was meinst du, Onkel Chen?“
„Es ist schon ein bisschen her, dass ich auf einem Piratenschiff mitgefahren bin“, sagte Chen. „Ich denke, das könnte gehen.“
„Die Reparaturen dürften in ein bis zwei Tagen abgeschlossen sein“, sagte Catelyn. Sie stand auf und schüttelte Li Lis Hand.
„Bis dann“, sagte Li Li.
***
Die Reise nach Gadgetzan erwies sich als äußerst ereignisarm. Wieder auf See zu sein, machte Li Li etwas unruhig, obwohl es auf dem Schiff ganz anders war als auf Shen-zin Su. Immer wieder erinnerte sie sich an die Szene zwischen Ansirem Runenweber und seiner verlorenen Tochter. Li Lis Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Aber es lenkte sie ab, bis die sandige und trostlose Küste von Tanaris in Sichtweite kam.
Als sie sich ihrem Ziel näherten, ging Li Li zum Ruder des Schiffs, wo Catelyn das Steuerrad festgebunden hatte, um den Kurs auf Gadgetzan zu halten.
„Bei Einbruch der Nacht müssten wir da sein“, sagte Catelyn, als Li Li sich näherte.
Li Li nickte. „He“, sagte sie. Sie zögerte, fuhr dann aber fort. „Ich möchte dich etwas fragen.“
Catelyn sah sie neugierig an. „Was?“
Li Li stellte ihren Rucksack ab und nahm die Perle heraus. „Nimm sie mal in die Hand. Konzentriere dich auf sie und sag mir, was du siehst.“
Catelyn wirkte skeptisch, nahm dann aber doch die Perle in beide Hände, wie Li Li es in der Großen Bibliothek auf Shen-zin Su getan hatte. Catelyns Blick verschwamm und sie stand steif auf dem sich sanft hebenden und senkenden Deck des Schiffs, während sie auf die Oberfläche der Perle starrte. Nach ein paar Minuten blinzelte sie und schüttelte sich. Mit nachdenklichem Blick schaute sie über Li Lis Kopf hinweg in die Ferne.
„Was hat sie dir gezeigt?“, fragte Li Li, während sie die Perle nahm und wieder behutsam in den Rucksack legte.
Catelyn beäugte Li Li. „Du wusstest also, dass sie die Zukunft vorhersagt?“
Li Li zuckte mit den Achseln. „Sie gewährt Visionen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie stimmen oder nicht.“
„Ich habe mich am Ruder eines Schiffs gesehen“, sagte Catelyn. „Es ähnelte diesem hier, aber ich wusste aus irgendeinem Grund, dass es mir gehörte. Wirklich mir“, fügte sie hinzu und sah Li Li wieder an. „Nicht den Schwarzmeerräubern und nicht dem Dampfdruck-Kartell.“ Einen Moment lang schwieg sie. „Mein eigenes Schiff“, sagte sie leise und verstummte dann gedankenverloren. Li Li nahm ihren Rucksack und legte ihn über die Schulter. Während sie die Treppen hinabstieg, blickte sie Catelyn an. Die junge Frau lächelte still und starrte hinaus auf das azurblaue Meer.
***
Nachdem sie am Abend sicher in Gadgetzan eingetroffen waren, legten Li Li und Chen sich im Gasthaus in ihre Hängematten. Li Li war erstaunt darüber, wie lang es dauerte, sich wieder an das Gefühl zu gewöhnen, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Ihre Beine fühlten sich an wie Gummi und nichts bewegte sich.
„Du warst die ganze Zeit über ziemlich still, Li Li“, sagte Chen und blickte zu ihr hinüber. „Was ist los?“
Li Li antwortete nicht sofort. Sie legte sich in die Hängematte und legte ihre Hände hinter den Kopf.
„Onkel Chen, fandest du es nicht ein wenig seltsam, als diese Magier uns vor den Blutsegelbukanieren gerettet haben?“
„Was? Dass vier mächtige Mitglieder der Kirin Tor sich einfach nach Beutebucht teleportierten, auf unser Schiff hüpften und unsere Gegner besiegten? Überhaupt nicht. So etwas passiert doch andauernd.“
„Sehr lustig“, sagte Li Li. Sie konnte Chens Grinsen förmlich hören. „Ich meinte, als Catelyns Vater ihr sagte, dass sie immer seine Tochter sein würde und er das nie vergessen würde, was auch geschähe.“
„Und, Li Li?“ Chens Stimme war leiser geworden.
„Glaubst du ...“ Li Lis Hals war plötzlich wie zugeschnürt. „Glaubst du, das stimmte?“ Bevor Li Li ihn unterdrücken konnte, kam ihr noch ein Gedanke. Denkt mein Vater auch so über mich? Oder glaubt er, ich sei ein hoffnungsloser Fall? Sie setzte sich plötzlich auf und verlor ihr Gleichgewicht, woraufhin sie fast aus der Hängematte fiel.
Chen fing sie auf und hielt sie fest. Danach kniete er sich hin und hielt ihre Oberarme. Li Li wandte ihren Blick ab und wischte sich über die Augenwinkel. „Das ist nur Staub“, murmelte sie.
„Li Li, sieh mich an.“ Sie hob ihren Kopf.
„Ich habe überhaupt keine Zweifel“, sagte Chen.
Als Chen sie in den Arm nahm, liefen Tränen über Li Lis Gesicht und hinterließen feuchte Rinnsale im Fell ihrer Wangen.
„Danke, Onkel Chen“, flüsterte sie.
„Dein Vater liebt dich über alles“, sagte Chen. „Darauf würde ich mein Leben verwetten.“
Li Li nickte und legte ihr Gesicht an die Schulter ihres Onkels, als die Nacht langsam über Gadgetzan und die Wüste von Tanaris hereinbrach.
Die Suche nach Pandaria - Teil 3 von Sarah Pine
Der Dampf aus dem Teekessel verströmte einen frischen Minzduft, der Chon Po an die Zeit erinnerte, als Shen-zin Su in höheren Breitengraden schwamm und die Tage kürzer und kälter wurden. Um gegen die Kälte anzukämpfen, hatte Xiu Li immer Teewasser gekocht und die beiden Pandaren hatten die Keramiktassen in ihren Pfoten gehalten, während sie sich in warme Decken eingewickelt Anekdoten erzählt hatten. Nun schüttete jedoch nicht Xiu Li den Tee ein, sondern ihre Mutter Mei.
„Du bist in letzter Zeit immer so müde, Po“, bemerkte sie.
Chon Po nahm seine Teetasse und stellte sie dann wieder weg. Mei saß an genau dem Platz, an dem Li Li gesessen hatte, als er wegen ihr und Chen einen Wutanfall gehabt hatte. In der darauffolgenden Nacht war Li Li mit der Perle verschwunden. Seitdem hatte er nur Briefe mit unklaren Äußerungen von ihr erhalten. Er vermisste seine Tochter sehr.
„Ich mache mir Sorgen um Li Li“, sagte er. „Und um Chen.“
Mei nippte an ihrem Tee. Das grau melierte Fell an den Seiten ihres Gesichts passte zum silbernen Haar, das sie nach hinten gekämmt und zu einem Zopf geflochten hatte. Als sie Chon Po anschaute, verspürte er einen kurzen Moment lang ein flaues Gefühl im Magen. Sie hatte Xiu Lis Augen. Und auch Li Lis.
„Es ist normal, sich um seine Familie zu sorgen“, sagte Mei.
„Was hab ich denn falsch gemacht?“, platzte es aus Chon Po heraus. Mei hob die Augenbrauen und trank einen weiteren Schluck Tee.
„Erzähl mir ein wenig mehr“, sagte sie.
„Ich habe versagt. Meine Familie ist zerrissen und jetzt bleibt mir nur noch mein Sohn. Meine Tochter verachtet mich.“ Seine Stimme hatte einen wütenden und frustrierten Unterton. Mei schüttelte den Kopf.
„Li Li verachtet dich nicht, Po“, sagte sie. „Du stellst die falsche Frage.“
„Welche Frage sollte ich denn deiner Meinung nach stellen?“
„Du solltest dich fragen, ob du daran glaubst, dass der Tod des Körpers eine größere Tragödie ist als der Tod der Seele.“
Chon Po zwinkerte. „Wie bitte?“
Mei stellte ihre Teetasse ab und faltete die Pfoten.
***
„Als Xiu Li starb, hast du deine Frau verloren. Ich habe eine Tochter verloren. Ich weiß, wovor du dich fürchtest, da ich es selbst erlebt habe.“
Chon Pos Herz pochte ihm bis zum Hals. Mei fuhr fort.
„Meine Tochter liebte die Fischerboote. Sie liebte das Meer; sie liebte es, wie die Arbeit zwischen Freizeit, sorgsamer Geduld und Spannung wechselte. Und ja, sie liebte auch das Risiko.“
Meis Blick driftete von Chon Po weg. Sie schien durch ihn hindurchzuschauen und eine Erinnerung vor ihrem inneren Auge zu betrachten.
„Ich habe mir immer angesehen, wie sich ihr Blick erhellte, als sie sich um ihr Boot kümmerte. Jeden Tag, als sie es vom Ufer auf das offene Meer steuerte, ließ es ihr Herz höher schlagen.“
Mei richtete ihren Blick wieder auf Chon Po.
„Hättest du ihr das nehmen wollen, nur, um sie länger bei dir zu haben?“
Chon Po starrte auf seine Teetasse.
„Strongbo folgte Li Li auf meine Bitte hin und wurde getötet ...“
„Haben dir Li Li oder Chen erzählt, was Bo vor seinem Tod gesagt hat, Po?“
Er schaute überrascht zu Mei hoch und wurde plötzlich nervös.
„Nein“, antwortete er.
„In seinen letzten Worten drückte Bo seine Dankbarkeit dafür aus, mit Li Li gereist zu sein. Für ihn war es wie eine Erleuchtung. Wäre er vor die Wahl gestellt worden, hätte er es exakt genauso gemacht. Er bedauerte nichts.“
Chon Po kämpfte einen Moment lang gegen diese Vorstellung an.
„Stimmt das?“
„Li Li und Chen haben es mir beide erzählt. Ich glaube nicht, dass sie mich angelogen haben. Bos Tod hat ihnen das Herz gebrochen.“
Mei legte eine ihrer knorrigen Tatzen auf Chon Pos Pfote.
„Po, du kannst Li Li nicht nach deinem Willen formen. Das weißt du. Sie hat sich dir schon zweimal widersetzt. Li Li ist das, was sie ist – eine Kämpferin, genau wie du. Die Wanderlust ist Teil unseres Wesens und unser Zuhause auf Shen-zin Su ist der Beweis dafür. Aber sie wird niemals aufhören, deine Tochter zu sein. Selbst, wenn sie nicht mehr nach Hause kommen sollte, hast du Li Li nicht verloren.“
„Ich möchte nur, dass sie in Sicherheit ist“, sagte Chon Po und schloss die Augen.
„Sie wird ihre eigene Sicherheit finden“, antwortete Mei. „Und ihr eigenes Glück.“
Goldene Dünen rasten unter ihr hinweg und jeder Schritt beförderte sie mühelos meterweit durch den Sand. Die untergehende Sonne flammte ein letztes Mal zu ihrer Rechten auf, während Li Li über die zerklüfteten Berge der südwestlichen Grenze von Tanaris jagte. Sie ließ eine kleine Kaktusoase im Vorgebirge hinter sich und sprintete zu einem engen Pass, der so plötzlich und klar vor ihr erschien, als wäre er mit einer kosmischen Axt in den Fels gehauen worden. An der Straße standen vier streng dreinblickende prächtige Statuen. Eine sah aus wie eine normale Menschenfrau, die anderen jedoch hatten Tierköpfe. Als Li Li sich ihnen zuwandte, erwachten Sie zum Leben und streckten ihre Hände einladend aus. Sie wurde langsamer und ging neugierig auf sie zu. Plötzlich änderte sich ihr Verhalten. Sie knurrten und streckten dünne Finger mit sensenartigen Klauen nach ihr aus. Li Li öffnete ihren Mund, um zu schreien. Die Statuen verschmolzen zu einer einzelnen Person – zu ihrem Vater. Doch auch er hatte bösartige Absichten und wollte sie fangen. Sie versuchte wegzulaufen, aber ihr zuvor noch springender und müheloser Schritt war nicht mehr möglich. Sie fiel zu Boden. Sie beobachtete sich dabei, wie sie sich langsam nach vorne lehnte und jede Sekunde ihr wie eine Ewigkeit erschien. Die Steinstraße erhob sich, die Landschaft wurde flüssig und der kupferbraune Fels nahm nun eine saphirblaue Farbe an. Sie stürzte in eine raue See, mitten hinein in einen schrecklichen Sturm. Wellen so groß wie Shen-zin Su hoben sie empor und ließen sie danach wieder heftig nach unten fallen. Sie ruderte mit den Armen, um nicht unterzugehen, und schnappte nach Luft.
Als eine Welle sie auf ihrem Kamm trug, konnte sie einen Blick nach unten werfen. Eine andere Pandaren, ebenfalls gefangen in diesem schrecklichen Ozean, schwamm auf sie zu und rief ihren Namen.
„Mama!“, schrie Li Li.
Xiu Li rief nach ihrer Tochter. Li Li streckte beide Arme nach ihr aus und vergaß dabei zu schwimmen. Die Welle, auf der sie ritt, bewegte sich jedoch nicht weiter, sondern brach unter ihr zusammen. Li Li sauste wie die Speerspitze des Ansturms nach vorne. Das Gesicht ihrer Mutter raste auf sie zu und die Tausende von Tonnen Wasser, die hinter Li Li tosten, bildeten ein Grab, das auch sterbliche Hände nicht besser hätten ausheben können.
***
Etwas Nasses, das gegen ihren Kopf klatschte, weckte Li Li auf. Sie versuchte aufzustehen, verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Boden, wobei sich ein Teil ihrer Ausrüstung löste.
„Li Li?“ Chens besorgte Stimme stabilisierte sie wieder und ließ ihre Panik schwinden. „Ist alles in Ordnung?“
Li Li setzte sich – diesmal etwas behutsamer – auf und rieb sich die Augen. In ihrem Geist löste sich langsam der verwirrende Knoten aus Fantasie und Realität. Sie befand sich im Wagen einer Zwergenkarawane, mit der sie Tanaris in Richtung Uldum durchquerte.
„Ja“, murmelte die von ihrem Schläfchen und dem Albtraum noch benommene Li Li. „Ich habe schlecht geträumt“ Das Bild des verzweifelten Gesichts ihrer Mutter blitzte in ihre Gedanken auf und ließ sie erschaudern.
„Das habe ich mir schon gedacht. Du hast dich im Schlaf umhergewälzt. Dabei hast du einen der Wasserschläuche umgeworfen.“ Chen hielt den Behälter hoch, auf dem das heruntergelaufene Wasser einen dunklen Streifen hinterlassen hatte. Li Li drückte ihre Handfläche gegen die Stirn und versuchte sich einen Witz auszudenken, aber auch ihr Humor war noch nicht wieder ganz da.
„Was hast du denn geträumt?“, fragte Chen. „Möchtest du darüber reden?“
„Es begann wie die Vision, die mir die Perle in Gadgetzan gezeigt hat. Ich habe Tanaris durchquert. Ich habe die Oase und den Pass mit den Statuen gesehen. Und dann ...“ Li Li verstummte. Chen wartete geduldig.
„Dann verwandelte sich alles in einen Albtraum. Ich war ... in einem Sturm auf dem Meer gefangen.“
Chen hakte nicht weiter nach. „Es ist alles in Ordnung, Li Li“, sagte er. Seine Anwesenheit beruhigte Li Li mehr, als sie es zugeben wollte.
Durch die Leinenklappen an der Vorderseite des Wagens stiegen die beiden auf den Holzsitz neben der Fahrerin, einer dunkelhaarigen Zwergenfrau namens Felyae. Der goldene Sand von Tanaris erstreckte sich endlos in alle Richtungen. Die einzige Abwechslung in dieser Einöde bildete die Bergkette im Südwesten, die vor ein paar Tagen nach dem Erklimmern der Dünen am Horizont erschienen war. Zu wissen, dass die Karawane sich dem Wüstenrand näherte, ließ die Herzen aller Mitglieder höherschlagen.
„Wie fühls' du dich, Kleines?“, fragte Felyae sanft. „Es klang nich' so, als hättes' du dich großartig entspannt.“
„Sie hat schlecht geträumt“, antwortete Chen, bevor Li Li etwas sagen konnte.
„Ja, die Wüstensonne is' schlecht für den Geist“, erwiderte Felyae. Um dies zu unterstreichen, schlug sie die Zügel des Kamels leicht gegen die Schenkel. „Hier hat jeder Albträume un' Halluzinationen.“
Li Li hatte die Visionen der Perle nie zuvor als Halluzinationen angesehen, allerdings brachten sie die Erlebnisse der vorangegangenen Wochen zum Nachdenken. Nach dem Eintreffen in Gadgetzan hatte sie erwartet, dank Catelyns Verbindungen ein Schiff chartern zu können, um gemeinsam mit Chen auf der Suche nach Pandaria endlich nach Süden aufzubrechen. Doch selbst die Empfehlung einer berühmten Piratin hatte es nicht ermöglicht, einen Kapitän zu finden, der dazu bereit gewesen wäre. Danach hatte sie erneut Rat bei der Perle gesucht und von ihr einen Weg durch Tanaris, über die Berge und nach Uldum gezeigt bekommen. Und genau dorthin waren sie nun mit einer Gruppe Zwerge aus der Forscherliga unterwegs.
„In ein bis zwei Tagen sin' wir an der Grenze“, bemerkte Felyae und durchbrach damit das Schweigen. „Was habt ihr denn in Uldum vor?“
„Wir wollen in die Stadt“, sagte Chen.
„Ah, nach Ramkahen?“
„Äh, ja, nach Ramkaaa ... hen“, erwiderte Li Li, die Probleme mit der Aussprache hatte. Sie hörte den Namen der Stadt zum ersten Mal. „Das liegt am Seeufer, oder?“
„Am nördlichen Seeufer“, bestätigte Felyae. „Benannt nach den dortigen Einwohnern.“
„Den Tol'vir“, sagte Chen. Felyae nickte und Chen fragte: „Weißt du etwas über sie? Ich nur sehr wenig.“
„Also“, begann Felyae nachdenklich, „die Tol'vir sin' so 'ne Art Zentauren, allerdings haben sie keine Pferdekörper, sondern seh'n aus wie große Katz'n.“
Chen war sichtbar fasziniert und setzte sich aufrecht hin. „Sehr interessant!“
„Ja“, sagte sie. „Ich bin bisher einmal in Ramkahen gewesen un' habe einige getroffen. Die Tol'vir sin' in Stämme unterteilt, die nach den Städten benannt sind, in denen sie leben. Die Ramkahen leben in Ramkahen. Es gab auch mal zwei weitere – die Neferset un' die Orsis –, aber die sin' fast alle verschwunden.“
„Was ist denn geschehen?“, fragte Li Li.
Felyae schüttelte traurig den Kopf. „Krieg. Bürgerkrieg. Nun gibt es eigentlich nur noch die Ramkahen.“
„Das ist schrecklich“, sagte Chen leise.
„Ja, das ist es“, stimmte Felyae ihm zu. „Nach dem Ende des Krieges bin ich nich' mehr in der Stadt gewesen, also weiß ich nich', was Euch erwartet. Aber ich kann mich d'ran erinnern, dass der Ort ganz schön düster war. Schön, aber voller Kummer.“
Für eine Weile saßen die drei still auf dem sanft ruckelnden Wagen und beobachteten, wie das Kamel eine weitere Düne hinauftrottete. Als sie den Kamm erreichten, hörten Sie ein lautes Jubeln und das Rufen des Karawanenführers Dalgin.
„Da unten kann man schon das Disteltal sehen! Bald sin' wir in Uldum!“
Dalgins Aufregung war ansteckend. Li Li, Chen und Felyae grinsten nun trotz des zuvor besprochenen ernsten Themas über das ganze Gesicht. Li Li spürte, wie die Vorfreude ihr einen wohligen Schauer über den Rücken laufen ließ. Chen hatte Uldum zuvor in keinem seiner Briefe beschrieben.
***
Als sie das Tal erreichten, hob sich die Stimmung aller Karawanenmitglieder. Der Sand wich festerem Boden und die Wagen bewegten sich nun schneller voran. Die nackten Berge erhoben sich direkt vor ihnen und eine Unterbrechung am Hang zeigte den weiteren Straßenverlauf an.
Dalgin sorgte dafür, dass nichts ohne Ankündigung geschah. „Wir nähern uns dem Pass“, rief er. „Beim Einbruch der Nacht sin' wir im Lager!“
Die Karawane bewegte sich sachte in die Schatten an der Unterseite der steilen Felswände. Hoch über ihnen flankierten die Wächterstatuen die Reisenden und waren dabei noch größer als in Li Lis Vision. Als sie an ihren Traum dachte, erschauderte sie, doch die riesigen Figuren bewegten sich nicht. Sie waren imposant, aber harmlos.
Die Kamelhufe klackerten leise auf dem Boden und erzeugten sanfte Echos, die wie entfernte Glocken klangen. Li Li drehte den Kopf in alle Richtungen. Sie sehnte sich danach, das Volk kennenzulernen, das dies alles erbaut hatte, sich ihre Geschichten anzuhören und mehr über ihre Kunst zu erfahren. Während sie sich umschaute, erblickte sie kurz Chen, auf dessen Gesicht derselbe ehrfürchtige und faszinierte Ausdruck zu erkennen war. Hatte sich auch Liu Lang so gefühlt? War es das, was ihn und seine Anhänger zu Forschern werden ließ? Als sie an ihren Vater dachte, spürte sie ein Gefühl des Kummers. Er hatte keine Vorstellung davon, was er verpasste.
***
Nach dem Verlassen des Passes wurde die Karawane erneut von Licht durchflutet. Die Straße führte durch eine große Ruine nach Westen. Die gewaltige Statue eines katzenartigen geflügelten Wesens mit einem riesigen Schwert bewachte ein Grab. Li Li war so damit beschäftigt, sie anzustarren, dass es ihr kaum auffiel, als die Wagen abrupt zum Stehen kamen. Dalgins lautes Rufen durchbrach ihr Erstaunen.
„Was im Namen von Branns Bart soll das? Warum richtet ihr diese Dinger auf uns?“
Li Li, Chen und Felyae blickten sich argwöhnisch an. Instinktiv griff Li Li hinter sich, um ihren im Wagen verstauten Stab hervorzuholen, doch Chen hielt sie zurück. Mit seiner anderen Pfote zeigte er in Richtung der Ruinen. Li Li folgte seinem Blick.
Mehrere große, vierbeinige, lohfarbene, braune und onyxschwarze Kreaturen bewegten sich auf die Karawane zu. Ihre Oberkörper glichen denen von Menschen, die Unterkörper und Köpfe waren jedoch katzenartig. Li Li stockte der Atem – das waren Tol'vir! Ihre Freude hielt jedoch nur kurz an. Das waren wütend aussehende und bewaffnete Tol'vir.
„He!“, rief Dalgin und näherte sich den Tol'vir. „Wir haben nichts Unrechtes getan!“
Der Anführer der Tol'vir-Gruppe – leicht erkennbar an seiner über der Brust und dem Widerrist getragenen Kleidung – trat hervor. In einer Hand hielt er ohne Mühe einen wahrhaft riesigen Speer. Dalgin war nur halb so groß wie er. Li Li bewunderte den Mut des Zwergs. Oder seinen Leichtsinn.
„Ihr müsst uns zur Stadt Ramkahen begleiten“, befahl der Anführer der Tol'vir mit dröhnender Stimme. „Um eine Erklärung gegenüber König Phaoris abzugeben.“
„Ach, wir schau'n uns hier doch nur 'n bisschen um!“, erwiderte Dalgin. „Wir dokumentieren 'n paar Sachen un' machen Aufzeichnungen.“
„Wir werden Euch zur Stadt begleiten“, erwiderte der Tol'vir unnachgiebig. Dalgin murmelte etwas auf Zwergisch vor sich hin. Li Li versuchte sich vorzustellen, was er wohl meinte, und kicherte über einige der etwas derberen Übersetzungsmöglichkeiten. Die Karawane setzte sich rumpelnd wieder in Bewegung und die ernst dreinblickenden Tol'vir marschierten wortlos neben den Wagen, um sie nach Ramkahen zu führen.
Über einen großen Fluss und die an seinem Ufer liegende Oase gelangten sie zur Stadt. Li Li war fasziniert von der Landschaft. Sie bestaunte die vielfältige Flora und Fauna am Fluss. Palmen und Farne mit breiten Blättern in großer Anzahl boten am Flussufer Fröschen, Kröten, Eidechsen und dünnbeinigen Vögeln Unterschlupf und Schatten. Sie war erstaunt, dass so etwas Üppiges in der rauen Wüstenumgebung gedeihen konnte.
Plötzlich lichteten sich die Bäume. Vier Steinsäulen ragten aus dem Boden empor und über ihnen bewachten zwei weitere riesige Statuen mit Habichtköpfen den Eingang zur Stadt. Im Süden funkelte der Vir'naalsee in der glühenden Sonne, als bestünde er aus lauter Diamanten.
Sie hatten Ramkahen erreicht. Die Tol'vir befahlen der Gruppe, die Wagen vor den Toren zu verlassen, und führten sie in die Stadt. Li Li schwang argwöhnisch ihren Stab, als sie an den wesentlich größeren Tol'vir vorbeiging, doch niemand würdigte sie auch nur eines Blickes.
Ramkahen selbst wäre unter anderen Umständen für die Pandaren sicherlich faszinierend gewesen. So war Li Li jedoch viel zu verärgert, um die wunderschön gepflasterten Straßen oder die mit bunten Markisen dekorierten Türen zu bemerken. Auch Chen fühlte sich nicht gerade wohl.
Während sie Ramkahen durchquerten, wurde ihnen bewusst, dass etwas Ungewöhnliches geschah. Im Stadtzentrum hatte sich ein wütend schreiender Mob versammelt. Der große Platz war von Wachen umgeben, welche die Menge von irgendwelchen Dummheiten abhalten sollten.
„Was im Namen von Azeroth geht hier vor?“, fragte sich Chen laut.
Am nördlichen Ende des Platzes befand sich ein großes Gebäude mit einer großen Treppe, die zu einer erhöhten Plattform führte. Auf ihr befanden sich fünf in schwere Ketten gelegte Tol'vir. Drei Tol'vir, von denen einer eine spektakuläre Maske trug, die sein gesamtes Gesicht verdeckte, begleiteten sie. Aus der Entfernung konnte es Li Li nur schwer erkennen, aber die Haut der Gefangenen schien sich irgendwie von der Haut der anderen Tol'vir zu unterscheiden. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte genauer hinzusehen.
Einer der Tol'vir an der Oberseite der Treppe rief über den Lärm hinweg.
„König Phaoris spricht zu euch! Seid still und hört zu!“
Der Mob verstummte. Der Tol'vir mit der Maske – König Phaoris – sprach, jedoch nicht zu der versammelten Menge, sondern zu den Gefangenen. Seine volle Stimme dröhnte über den Platz.
„Ihr, die überlebenden Neferset, werdet hiermit beschuldigt, mit dem bösartigen Drachen Todesschwinge gemeinsame Sache gemacht zu haben. Ihr werdet beschuldigt, sein Angebot angenommen zu haben, den Fluch des Fleisches rückgängig zu machen, wenn ihr ihm und seinem Verbündeten, dem Luftelementarfürsten Al'Akir, die Treue schwört. Ihr werdet beschuldigt, die von ihnen verliehene Macht für den Krieg gegen euer eigenes Volk eingesetzt zu haben.“
„Onkel Chen, was ist der Fluch des Fleisches?“, flüsterte Li Li.
„Das weiß ich nicht“, flüsterte er zurück.
„Das is' ein Leiden, dass die Kreationen der Titanen befällt“, antwortete die neben ihnen stehende Felyae mit leiser Stimme. Beide Pandaren blinzelten voller Überraschung. „Die Titanen erschuf'n ihre Kreaturen hauptsächlich aus Stein oder mit and'ren mechanischen Hilfsmitteln“, erklärte sie. „So konnt'n sie die ihnen übertragenen Aufgaben ausführ'n, ohne Schwäche oder Verfall fürcht'n zu müss'n. Doch es gibt äußerst boshafte Wes'n mit starker Magie, die sie aus Hass auf Titanen sabotiert'n, indem sie ihre Körper in Fleisch verwandelt'n, das denen der and'ren Kreaturen auf Azeroth gleicht.“
„Woher weißt du das alles?“, fragte Li Li mit gedämpfter Stimme. Felyae verzog ihr Gesicht zu einem halben Lächeln.
„Wir Zwerge sin' auch davon betroffen“, antwortete sie. „Einst waren wir von den Titanen selbst erschaffene Steinkreaturen.“
Felyaes Gesichtsausdruck verbarg nicht, dass es bei ihr für gemischte Gefühle sorgte, aus Fleisch zu bestehen. Li Li war klug genug, um nichts zu sagen, dachte jedoch an die Zeit zurück, die sie während des Braufests in Eisenschmiede verbracht hatte. Sie konnte sich nur schwer vorstellen, dass es genauso wild und ausgelassen zugegangen wäre, wenn die Zwerge aus Stein bestanden hätten. Sie kam nicht umhin, ein bisschen froh darüber zu sein, dass sie nun bloße Kreaturen aus Fleisch und Blut wie Li Li waren.
„Dann müssen auch die Tol'vir von den Titanen erschaffen worden sein“, merkte Chen an. Felyae nickte.
Der auf der Treppe stehende König Phaoris beendete seine Rede. Li Li hatte den zweiten Teil nicht mitbekommen.
„... Der Hohe Rat wird die Angelegenheit am restlichen heutigen Tage und morgen besprechen. Einen Tag darauf soll dann über euer Schicksal entschieden werden. Sollte einer von euch etwas zu seiner Verteidigung vorzubringen haben, so muss es innerhalb dieses Zeitraums erfolgen!“
„Die Gefangenen müssen sterben!“, rief jemand in der Menge.
„Lasst die Verräter leiden!“, rief eine andere Stimme.
„Die Beratungen werden nun beginnen“, sprach König Phaoris zu dem unruhigen Mob. „Jeder Bürger, der etwas dazu zu sagen hat, hat die Erlaubnis, mit dem Rat zu sprechen.“
Die Neferset-Gefangenen wurden von einer Gruppe Wachen unter Rufen und höhnischen Bemerkungen der Menge abgeführt. König Phaoris und seine Begleiter verschwanden in dem Prachtbau. Langsam begann sich die Menge aufzulösen, wobei immer wieder wütendes Murmeln aufbrauste. Die Li Li, Chen und die Zwerge bewachenden Tol'vir wiesen sie mit Stößen an, sich die große Treppe hinauf in den Palast des Königs zu begeben.
Die Gruppe wurde direkt zu König Phaoris geführt, der sie einige nervenaufreibende Momente lang betrachtete, bevor er seine Stimme erhob.
„Meine Wachen haben Euch aus einem bestimmten Grund zu mir gebracht“, sagte er kühl. „Was macht Ihr hier?“
Dalgin trat hervor. „Wir sin' Archäologen“, sagt er mit stolzgeschwellter Brust. „Von der Forscherliga aus Eisenschmiede. Wir woll'n hier alles über die antik'n Stätten von Uldum erfahr'n.“
Li Li hätte schwören können, dass Phaoris die Augen verdrehte, aber hinter seiner Maske war es unmöglich, das genau zu erkennen. Er stieß einen kleinen Seufzer aus.
„Eine Expedition der Gnome hat in den Ruinen im Süden herumgeschnüffelt und dabei vollkommen den Verstand verloren“, bemerkte er mit einem Hauch von Ungeduld in der Stimme. „Zwar haben Außenstehende wie Ihr uns unschätzbare Dienste im letzten Krieg erwiesen, aber vergesst nicht, dass Ihr Gäste in unserem Land seid. Manche Dinge sollte man lieber unter Verschluss halten. Ihr dürft vorerst in der Stadt bleiben, aber strapaziert unsere Gastfreundschaft nicht zu sehr. Ihr dürft nun gehen.“
Die Zwerge marschierten heraus und murmelten dabei leise vor sich hin. Li Li schnappte Halbsätze mit Dingen wie „Behinderung der Wissenschaft“ und „spießige alte Knacker“ auf. Sie verkniff sich ein Kichern. Chen blieb etwas zurück, wobei er seinen Blick über Architektur und Ausstattung dieses fremdartigen Ortes schweifen ließ. Li Li lächelte und trödelte mit ihrem Onkel noch ein wenig herum.
Kurze Zeit später wollten sie aufbrechen, um die Zwerge zu finden und nach einer Taverne oder etwas Ähnlichem in Ramkahen Ausschau zu halten. Als Chen sich in Richtung Tür aufmachte, wurde er beinahe von einem ins Gebäude stürmenden Tol'vir umgeworfen
„König Phaoris!“, rief dieser. „Bitte, ich muss mit Euch und dem Hohen Rat sprechen.“
Der König schnaubte vernehmbar. „Wir haben bereits gehört, was du zu sagen hast, Menrim.“
„Bitte“, wiederholte Menrim, „bitte hört mir zu. Die gefangenen Neferset verdienen Gnade ...“
„So etwas war von dir natürlich zu erwarten“, schnaubte eines der Ratsmitglieder. König Phaoris hob die Hand, um für Ruhe zu sorgen.
„Menrim, ich weiß, dass du dir über ihr Schicksal Gedanken machst. Der Hohe Rat wird dafür sorgen, dass wir Gerechtigkeit – in welcher Form auch immer – walten lassen.“
„Sie führten Krieg und wurden besiegt“, sagte Menrim flehend. „Reicht das etwa nicht? Müssen wir Blut mit Blut vergelten?“
Ein anderer Tol'vir im Raum murmelte etwas, dass sich wie ein „Ja“ anhörte.
Li Li und Chen eilten aus dem Gebäude, während die Aufmerksamkeit noch voll auf Menrim gerichtet war. Als sie auf dem Platz stehen blieben, da sie nicht sicher waren, wohin sie nun gehen sollten, kam Menrim die Stufen hinunter, wobei er seine sandfarbenen Pfoten bei jedem Schritt traurig schleifen ließ. Sein gesamter Ausdruck war durchdrungen von Müdigkeit und Chen fühlte mit ihm. Spontan entschied er sich, den einsamen Tol'vir anzusprechen.
„Ich habe gehört, was Ihr dem König gesagt habt“, sprach er zu Menrim, während er auf ihn zuging. „Ich finde, dass Ihr sehr mutig seid. Es ist nicht einfach, Gnade bei jenen einzufordern, die Euch Unrecht getan haben.“
Chens Worte schienen Menrim zu verblüffen. Er richtete seinen Blick auf die beiden Pandaren, offensichtliche Fremde in diesem Land. Er sprach nicht, aber sein Gesicht verlor etwas von seinem gehetzten Ausdruck.
„Mein Name ist Chen Sturmbräu. Meine Nichte Li Li und ich sind erst seit Kurzem hier. Wir wünschen Euch alles Gute in Euren schweren Zeiten.“
„Mein Name ist Menrim“, erwiderte der Tol'vir. „Danke für Euer Mitgefühl.“ Er hielt einen Moment lang inne und fügte dann hinzu: „Es wäre mir eine Freude, Euch und Eure Nichte zu einem Abendmahl einzuladen, wenn Ihr möchtet.“
„Wir würden uns sehr geehrt fühlten“, sagte Chen.
Menrim lebte in einem bescheidenen Haus mit Ausblick auf den Vir'naalsee. Als der Himmel sich verdunkelte, konnte man die Lichter der Stadt auf der anderen Seite des Wassers sehen.
„Welche Stadt befindet sich denn dort drüben?“, fragte Li Li, während sie auf die roten und orangefarbenen Lichter zeigte. In der Küche half sie gerade Menrim nach dem Essen beim Abwasch.
„Das ist Mar'at. Es lag in der Nähe von Orsis, als es Orsis noch gab.“
„Wurde Orsis im Krieg zerstört?“, fragte Li Li. Menrim nickte.
„Ja. Al'Akir schickte seine Armeen, um die Stadt unter einem gigantischen Staubsturm zu begraben“, sagte er mit einem Seufzen. „Orsis und Neferset waren wirklich schön. Besonders Neferset.“
„Wart Ihr mal dort?“
„Ich wurde dort geboren“, antwortete Menrim sanft.
„Oh“, sagte Li Li. Peinlich berührt trocknete sie einen Teller ab. „Seid Ihr ein Ramkahen?“
„Jetzt ja“, antwortete Menrim nach einer Weile. „Aber einst gehörte ich zum Neferset-Stamm.“
„Oh“, kam es wieder aus Li Lis Mund. Sie setzte den Abwasch fort.
„Ich ...“ Als Menrim ansetzte, blitzte ein trotziger Stolz in seiner Stimme auf. Er runzelte die Stirn. „Das scheint Euch nicht zu beunruhigen.“
Li Li zwinkerte. „Sollte es das?“
Menrim schaute sie seltsam an und dachte nach. „Ich schätze, dass Ihr meine Abstammung nicht unbedingt absonderlich findet.“
„Menrim“, sagte Li Li, „eigentlich weiß ich nichts über die Tol'vir. Es gab einen Bürgerkrieg und ich habe gehört, dass die Neferset sich mit Todesschwinge verbündet hatten.“ Menrim verzog das Gesicht, als sie den Namen des ehemaligen Drachenaspekts nannte. Li Li fuhr fort: „Aber Ihr scheint mir nichts mit Todesschwinge zu tun zu haben. Da ist nicht genug Tod.“
Li Lis Worte zauberten ein kaum wahrnehmbares Lächeln auf Menrims Gesicht.
„Und auch keine Schwingen“, erwiderte er. Li Li verdrehte freundlich die Augen. Menrim holte tief Luft.
„In diesem Falle sollte ich Euch und Eurem Onkel wohl besser eine Geschichte erzählen.“
„Wir lieben Geschichten“, sagte Li Li. Er verzog das Gesicht.
„Diese vielleicht nicht“, sagte er.
***
Chen und Li Li saßen Menrim im Wohnzimmer seiner kleinen Behausung im Schneidersitz gegenüber. Menrim legte die Beine übereinander und begann.
„Die Stadt Neferset liegt südlich von hier. Sie ist ... war wunderschön und wesentlich größer als Ramkahen. Dort wurden ich und mein Bruder Bathet geboren.
Alle Tol'vir kennen unsere Geschichte. Wir wissen, dass wir von Titanen erschaffen wurden, um Uldum und seine Geheimnisse zu beschützen. Trotzdem sind wir ein eigenständiges Volk. Wir sind keine Automaten. Ursprünglich gaben uns die Titanen Körper aus Stein, damit wir ihnen besser als Wächter dienen konnten.
Als der Fluch des Fleisches die Tol'vir zum ersten Mal befiel, waren wir traurig über unsere geschwächten Körper. Da wir anscheinend jedoch nichts dagegen tun konnten, akzeptierten wir den Fluch und lebten weiter. Trotzdem gab es manche, die nie aufhörten, diesen Verlust zu betrauern.
Wie Ihr wisst, kehrte der große Drache Todesschwinge auf die Welt zurück. Er verbündete sich mit Al'Akir, dem Anführer der Luftelementare, und den Alten Göttern, die den Fluch ursprünglich ausgesprochen hatten.“
„Er verbündete sich mit den Alten Göttern?“, fragte Chen leise. „Das kann ich gar nicht glauben ...“
„Das solltet Ihr aber“, sagte Menrim mit schwerer Stimme. „Als Todesschwinge hierher kam, bot er den Tol'vir einen Handel an: Wenn wir uns ihm anschließen würden, würde er uns unsere ursprünglichen Steinkörper zurückgeben. Der Fluch wäre aufgehoben.“
Li Li und Chen nickten.
„Die vom Dunklen Pharao Tekahn angeführten anderen Neferset ließen sich sofort darauf ein. Ich hatte jedoch kein gutes Gefühl.“
Menrim sammelte sich.
„Ich versuchte andere Neferset davon zu überzeugen, dass das eine schlechte Idee war. Ja, wir würden unsere Steinkörper zurückerhalten, jedoch für immer in Al'Akirs und Todesschwinges Schuld stehen. Mein Volk war arrogant und dachte, wir könnten sie stürzen und unsere Unabhängigkeit zurückerlangen, nachdem wir wieder unsere alte Form angenommen hatten. Immer weniger teilten meine Zweifel. Und selbst Bathet war anderer Meinung. Ich flehte ihn an, noch einmal darüber nachzudenken, aber er hörte mir nicht zu. Er war einer der lautstärksten Verfechter der Allianz in der ganzen Stadt. Schließlich wurde klar, dass Gefahr für mein Leben bestand. Ich floh nach Ramkahen und wollte stattdessen König Phaoris die Treue schwören. Als die restlichen Neferset offen feindselig wurden, half ich dabei, sie zu besiegen.“
„Und Euer Bruder“, fragte Chen sanft. „Was geschah mit ihm?“
Menrim antwortete nicht sofort. Im orangefarbenen Licht der Öllampen wirkte er müde.
„Er hat überlebt“, erwiderte Menrim schließlich. Seine Stimme bebte. „Er ist einer der Gefangenen der Ramkahen. Sie warten darauf, dass der Hohe Rat über ihr Schicksal entscheidet.“
In dieser Nacht lag Chen in seinem Schlafsack wach und starrte an Menrims Wohnzimmerdecke. An Li Lis sanftem Schnarchen erkannte er, dass sie schlief. Allerdings wusste er auch, dass sie nicht gut schlief. Er hatte ihr mindestens eine Stunde beim Herumwälzen zugehört, bevor die Erschöpfung sie schließlich übermannt hatte.
Aber er fand keine Ruhe. Er verstand sehr gut, warum Menrim den Mut hatte, sich den anderen Tol'vir zu widersetzen und um Gnade für die Neferset-Kriegsgefangenen zu bitten. Chen musste sich nur vorstellen, wie er sich fühlen würde, falls Chon Po hingerichtet werden sollte – selbst für Verbrechen wie die von Bathet – und er wusste, dass auch er alles in seiner Macht Stehende tun würde, um das Leben seines Bruders zu retten. Je länger sich Chen mit der Situation befasste, desto mehr zog sich sein Magen zusammen. Er dachte daran, was Menrim durchmachen musste, da er vielleicht der Einzige war, der seinen Bruder noch retten konnte. Schließlich stand Chen auf und setzte sich an den Küchentisch. Er fühlte sich gleichzeitig ruhelos und extrem übermüdet.
„Wie ich sehe, könnt Ihr auch nicht schlafen.“ Menrims ruhige Stimme holte Chen aus seinen Gedanken. Er hatte den Tol'vir nicht hereinkommen hören und wunderte sich darüber, dass Menrim sich selbst bei seiner Größe so leise wie eine Hauskatze bewegen konnte.
„Ich entschuldige mich dafür, dass der Boden nicht bequemer ist“, sagte Menrim und schüttelte entschlossen den Kopf.
„Glaubt mir, da habe ich schon an wesentlich schlimmeren Orten geschlafen. Ich bin wach, weil ich immer wieder daran denke, was Ihr uns nach dem Essen erzählt habt.“
Menrim seufzte. „Ich auch. Jeder hier kennt meine Geschichte. Früher waren die Leute verständnisvoll, aber der Krieg lässt auch das mitfühlendste Herz kalt werden.“
„Ich habe auch einen Bruder“, erwiderte Chen. „Er ist Li Lis Vater. Wir sind nicht immer gut miteinander ausgekommen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass wir in einem Krieg auf zwei Seiten kämpfen würden.“
Menrim starrte vor sich hin. „Ich habe schon lange Gespräche mit dem Hohen Rat geführt. Nur wenige wollen Gnade um der Gnade willen walten lassen, aber eine Reihe der Ratsmitglieder würde die Situation überdenken, wenn die Gefangenen Reue zeigen. Das habe ich Bathet zu vermitteln versucht, aber bisher bereut er nichts.“ Menrims Stimme wurde brüchig und er ließ seinen großen Katzenkopf mit herunterhängenden Ohren auf die Brust fallen.
„Meine Familie ist mir wichtiger als alles andere“, sagte er. „Ich habe immer versucht, mit gutem Beispiel voranzugehen. Ich bin älter als Bathet. Ich wollte ihm zeigen, wie man ein gutes Leben führt, ihm jedoch auch nicht im Weg stehen. Ich versuchte ihm nicht vorzuschreiben, was er machen sollte, sprach aber immer aufrichtig mit ihm, wenn er zu mir kam. Als er zu solch einem überzeugten Verfechter von Todesschwinges Angebot wurde ... Da habe ich mich oft gefragt, was ich falsch gemacht hatte.“
„Ihr seid für seine Entscheidungen nicht verantwortlich“, sagte Chen. „Ihr könnt nur Euer eigenes Leben führen und Euch selbst treu bleiben. Bathet hat wahrscheinlich dasselbe getan, so furchtbar das auch klingen mag. Vielleicht glaubt er wirklich daran, das Richtige zu tun.“
„Vielleicht“, erwiderte Menrim. Er sah Chen nicht an. „Ich glaube, ich sollte wieder ins Bett gehen. Gute Nacht.“
„Gute Nacht“, sagte Chen. Er wusste, dass seine Worte keinen Trost boten. Er fühlte sich minderwertig und entschied, alles zu tun, um Menrim und seinem Bruder zu helfen.
***
Am darauffolgenden Morgen brach Chen bevor Li Li erwachte auf, um herauszufinden, wo die Neferset gefangen gehalten wurden. Als er nachfragte, wurden die Tol'vir feindselig, doch schließlich zeigte ihm eine geschäftige Orc-Frau das Osttor, durch das er mit Li Li die Stadt am Tag zuvor betreten hatte. Die nach unten führende Rampe, die sie passiert hatten, war der Eingang zum Gefängnis. Chen bedankte sich bei ihr und machte sich auf den Weg.
Zwei auf Pfeilern sitzende Schakale bewachten die Oberseite der Rampe. Chen blieb stehen und schaute sie an, wobei er hoffte, dass er die Situation zum Positiven wenden könnte. Allerdings fragte er sich auch, ob eine einzelne Person imstande wäre, so etwas zu leisten. Er erinnerte sich daran, dass Einzelne schon große Taten vollbracht hatten. Er holte tief Luft und ging die Rampe hinunter. Unten versperrte eine Ramkahen-Wache den Zugang.
„Was habt Ihr hier zu suchen?“, fragte er und schwang eine Pike, die so groß wie Chen war.
„Ähm, ich würde gerne mit den Neferset-Gefangenen sprechen“, sagte Chen.
„Warum?“, fragte die Wache.
„Um etwas in Erfahrung zu bringen“, erwiderte Chen. „Ich möchte wissen, warum sie so gehandelt haben.“
Die Wache beäugte Chen von oben bis unten. „Ihr seid ein seltsam aussehendes Wesen“, sagte er. „Und offensichtlich habt Ihr keine Verbindungen zu irgendwelchen Tol'vir. Aber wenn Ihr mit den Inhaftierten reden möchtet, könnt Ihr das tun, wenn Ihr alles, was Ihr mitführt, bei mir lasst. Drinnen wird Euch dann eine andere Wache beaufsichtigen.“
Chen nickte. Er legte seinen Stab und den Rucksack auf den Boden. „Danke“, sagte er, während er die Tür öffnete.
Dieser Bereich unterhalb der Erde war ganz klar nicht als Gefängnis ausgelegt gewesen, sondern in Eile zu diesem Zweck umfunktioniert worden. Wie angekündigt, wartete eine andere Wache darauf sicherzustellen, dass sein Gespräch mit den Neferset nicht zu Problemen führte.
Die Neferset waren in ihren instabilen und offensichtlich nur vorübergehend aufgebauten Käfigen fest an die Steinmauern gekettet. Chen machte sich Gedanken darüber, welche Absicht der Hohe Rat wohl wirklich mit der langfristigen Haft dieser Tol'vir verfolgte.
„Wer von Euch ist Bathet?“, fragte er.
„Der da“, antwortete die Ramkahen-Wache und zeigte auf einen Käfig, der auf der rechten Seite an der Mauer stand.
Chen nickte und ging zu Menrims Bruder.
Nun, da er sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatte, sah sich Chen Bathet und die anderen Gefangenen genau an. Sie waren wirklich zu Steinkreaturen geworden. Sie glichen eher Golems als Wesen aus Fleisch und Blut.
„Ihr seid also Bathet?“, fragte Chen.
„Was interessiert Euch das?“, knurrte ihn der Neferset an. Seine Augen waren das genaue Gegenteil zu Menrims – hart, kalt und wütend.
„Beantworte seine Fragen“, rief die Wache und schlug mit der Pike gegen die Stäbe des Käfigs. Der Klang von Metall auf Metall tönte schrill durch den Untergrund.
Bathet grinste spöttisch und antwortete nicht. Stattdessen lief er ruhelos in seiner winzigen Zelle umher und fletschte die Zähne in Chens Richtung. Erneut schlug die Wache mit der Pike gegen die Stäbe.
„Ich komme im Namen Eures Bruders Menrim“, sagte Chen.
Bathet blinzelte Chen an und lachte verächtlich.
„Tja, das erklärt, warum Ihr Eure Zeit mit uns Besiegten in der Dunkelheit vergeuden wollt! Wahrscheinlich hat der liebe Menrim Euch gebeten, mich zur Vernunft zu bringen.“
„Eigentlich weiß er gar nicht, dass ich hier bin“, sagte Chen. Bathet lachte erneut.
„Noch besser! Er hat Euch so gerührt, dass Ihr nun die Drecksarbeit für ihn erledigt! Wunderbar.“
Chen legte seinen Kopf auf die Seite und betrachtete Bathet. Er wusste, dass ein direkter Konterversuch nur zu weiterem Spott führen würde, und dachte daher über den besten Ansatz nach, Bathet zu einem Gespräch mit ihm zu bewegen.
„Hier ist es wirklich ziemlich dreckig“, sagte Chen. „Ich gehe davon aus, dass seit geraumer Zeit niemand von Euch gebadet hat. Wie gut, dass Ihr nichts weiter als ein Haufen Steine seid.“
Die Ramkahen-Wache an Chens Seite schien durch die Bemerkung leicht gekränkt zu sein, kicherte aber trotzdem. Bathet wirkte überrascht, während Chen imaginären Schmutz von seinem schwarzweißen Fell wischte. Er verschränkte die Arme und schaute so selbstgefällig wie möglich zu Bathet hinüber.
Es funktionierte.
„Ihr Fleischlichen denkt wohl immer, dass Ihr so rechtschaffen seid. Das könnt Ihr auch gerne meinem Bruder erzählen. Und wenn Ihr das macht, solltet Ihr Euch seinen moralistischen, weinerlichen und leidenden Gesichtsausdruck ansehen und hören, wie er seufzt, während seine traurigen Augen sagen ‚Oh, ich bin so enttäuscht von dir, Bathet‘. Dann könnt Ihr ihm sagen, dass er ein ...“
Aus Bathets Mund strömte eine Reihe äußerst übler Worte, die Chen niemals wiederholen würde. Selbst die Wache war verblüfft.
„... Und das halte ich von ihm und seinem frommen Überlegenheitskomplex.“
„Na klar“, log Chen.
„Menrim kann sich die Worte sparen“, fuhr Bathet fort. „Selbst wenn der Rat auf seine ach so innig vorgetragenen Gnadengesuche eingeht, würde ich lieber hier mit meiner richtigen Familie sterben, als auch nur einen Augenblick in seiner Gegenwart zu verbringen.“
Danach wandte Bathet Chen den Rücken zu und blickte zur Mauer. Chen versuchte gar nicht erst, weiterzureden – er wusste, dass er hier fertig war.
„Ich gehe dann mal“, sagte er der Wache, die zur Bestätigung nickte.
Das Sonnenlicht blendete ihn und Chen blinzelte einige Sekunden, während sich seine Augen wieder an die Außenwelt gewöhnten. Eine Gefängniswache schloss die Tür hinter ihm, während eine andere ihn neugierig ansah.
„Ich hoffe, Ihr habt erfahren, was Ihr wolltet“, sagte er. „Aber ich bezweifle, dass Ihr von den Gefangenen nützliche Informationen erhalten könnt. Das sind alles Fanatiker.“
Chen dachte über das Gespräch im Gefängnis nach, während er seine Sachen zusammensuchte, die er an der Tür zurückgelassen hatte. Obwohl die Bezeichnung „Fanatiker“ auf Bathet durchaus zutraf, hatte er nicht ein Mal von Todesschwinge, Reichtümern oder Macht erzählt. Nur ein tief empfundener Hass auf seinen Bruder war zum Ausdruck gekommen.
„Ich habe genug erfahren“, sagte Chen. In beunruhigenden Gedanken versunken ging er die Rampe hinauf.
„Na, wer hat sich denn da weggeschlichen?“, bemerkte Li Li. Im Schatten einer Palme wartete sie vor Menrims Haus auf ihn. Sie hatte eine der Karten aus Shen-zin Su studiert, die Orte eingetragen, an denen sie schon gewesen waren, und die fehlenden Orientierungspunkte wie beispielsweise Uldum hinzugefügt.
„Wie früh bist du überhaupt aufgestanden?“, fuhr sie fort. „Vergiss nicht, dass wir im Urlaub sind!“
Chen versuchte über die Späße seiner Nichte zu lächeln, war dazu jedoch nicht in der Stimmung. Li Li bemerkte seine Schwermut sofort.
„Was ist geschehen?“, fragte sie.
„Ich habe Menrims Bruder im Gefängnis besucht“, sagte er.
„Das war bestimmt ein entspanntes Morgengespräch.“
Chen starrte über den glitzernden Vir'naalsee, ohne zu antworten. Er dachte an Menrims Kummer und Bathets Verbitterung.
„Onkel Chen?“ Li Li legte eine Pfote auf sein Handgelenk. „Warum bist du dorthin gegangen?“ In ihren Augen war aufrichtige Sorge um ihn zu erkennen. Chen umarmte sie fest.
„Ich weiß nicht genau“, gestand er sich ein und ließ Li Li wieder los. „Ich wollte wohl herausfinden, was jemanden dazu bewegen kann, eine Wahl wie Bathet zu treffen.
„Bathet verachtet seinen Bruder“, sagte er. „Als ich Menrim erwähnte, war er ... na ja, nicht glücklich.“
Chen lehnte sich an den Stamm der Palme. „Ich weiß nicht, wie ich daraus schlau werden soll. Bathet nannte die anderen Neferset-Gefangenen seine ‚richtige‘ Familie, will sich also klar von Menrim distanzieren. Aber ich verstehe nicht, warum. Letzte Nacht hat Menrim nur darüber geredet, wie viel ihm sein Bruder bedeutet.“
Li Li runzelte die Stirn und sagte nichts. Chen fuhr fort.
„Wie kann Bathet ihn so sehr hassen? Was könnte zwischen ihnen vorgefallen sein?“
„Er hat ihn verlassen“, sagte Li Li leise.
„Natürlich hat er das“, erwiderte Chen. „Er wollte nicht für Todesschwinge arbeiten.“
„Nein, davor.“ Li Li schüttelte ihren Kopf. „Als du weg warst, habe ich mich mit Menrim unterhalten. Er ist älter als Bathet. Als er alt genug war, arbeitete Menrim bei den Priestern, um die Titanengeräte instand zu halten. Er war immer unterwegs. Er sah Bathet kaum.“
Chen schaute Li Li mit prüfendem Blick an. „Na und?“
„Also ... ärgerte sich Bathet wohl über ihn“, murmelte Li Li. „Er fühlte sich verlassen und herumkommandiert. Bathet ging es überhaupt nicht um Todesschwinge. Es ging ihm um einen Ort, an den er gehörte.“
„Woher solltest du denn wissen, was in Bathets Kopf vor sich geht?“, fragte Chen.
Li Li zupfte frustriert an einigen Haarsträhnen. Chen hatte solch ein Verhalten bei ihr noch nie beobachtet. Sie schien mit sich selbst zu kämpfen.
„Ich weiß es, weil Bo das mal gesagt hat. Über dich.“
„Wie bitte?“
Li Li sah unglücklich aus, redete jedoch weiter. „Als Papa mir Bo hintergeschickt hat. Er hat mir gesagt ...“ Li Li verstummte.
„Was hat er dir gesagt?“, fragte Chen. Sein Herz pochte in seiner Brust.
„Bo hat mir gesagt, dass du weggegangen bist, weil dir dein Bier und deine Abenteuer wichtiger waren als wir.“
„Das stimmt nicht!“, protestierte Chen.
„Das weiß ich doch!“, rief Li Li. „Onkel Chen, ich habe doch jeden Tag deine Briefe gelesen! Aber so hat sich Bo gefühlt. Eine lange Zeit. Er war sehr wütend auf dich.“
Chen beugte seinen Kopf nach vorn. Er erinnerte sich an seinen Streit mit Chon Po in der Nacht, bevor Li Li die Perle genommen hatte. Er konnte den Schmerz in Pos Augen sehen und hörte die Wut und die Qual in seiner Stimme.
„Ich erinnere mich noch daran, was Bo mir am Strand sagte, als er starb. Damals konnte ich das nicht alles begreifen, weil es so schnell ging.“ Chen rieb sich das Gesicht, da er plötzlich müde wurde. „Ich hätte es wissen sollen. Chon Po hat sich genauso gefühlt. Das tut er noch immer.“
Li Li sagte nichts. Über ihnen raschelten die Blätter in der warmen Brise.
„Ich glaube, ich weiß, was getan werden muss“, sagte Chen.
Chen hatte den irrationalen Drang, aus reiner Gewohnheit Tee anzubieten. Stattdessen stand er mit einem mulmigen Gefühl da und wusste nicht, wie er seine Pfoten halten sollte. Er faltete sie vor sich, ließ sie an den Seiten herunterhängen und entschied sich schließlich, sie hinter seinem Rücken zusammenzulegen.
Menrim stand Chen und Li Li im Wohnzimmer seines Hauses mit sanftem und fragendem Blick aus seinen blassbraunen Augen gegenüber.
„Ich habe heute Morgen Euren Bruder besucht“, sagte Chen. „Um mit ihm zu reden.“
Menrim drehte sich um und ging mit peitschendem Schwanz ein paar Schritte durch den Raum. „Was hat er gesagt?“
„Er ist sehr wütend“, sagte Chen. Menrim nickte.
„Ich weiß.“
Chen holte tief Luft und fragte sich, wie gut sein nun folgender Rat ankommen würde.
„Ihr solltet Euch bei ihm entschuldigen.“
Menrim drehte sich um. „Ich sollte mich entschuldigen? Er hat sich doch Todesschwinge angeschlossen!“
„Ja“, sagte Chen. „Aber ... ich denke, dass er glaubt, er hätte Euch nie etwas bedeutet.“
„Wie kann er so etwas glauben? Das ...“
„Menrim“, unterbrach Chen ihn mit selbst für seine Ohren schwer klingender Stimme. „Was richtig und falsch war, könnt Ihr später herausfinden. Aber wenn er eine Chance erhalten soll, Reue zu zeigen und begnadigt zu werden, bin ich mir sehr sicher, dass Ihr Euch entschuldigen müsst.“
„Woher wisst Ihr das?“, hakte Menrim nach.
„Ich weiß es, weil ich selbst Personen verlassen habe. Personen, die ich liebe, wie zum Beispiel meinen Bruder.“ In seinem Kopf schwirrten Erinnerungen an Chon Po und Strongbo umher. „Und ... das hatte Konsequenzen.“
Menrim ging wieder gedankenverloren durch den Raum. Dann blieb er stehen und schaute die beiden Pandaren an.
„In Ordnung“, sagte er. „Ich werde es versuchen. Ich werde mich bei Bathet entschuldigen.“ Er verzog das Gesicht, da ihm die Vorstellung nicht gefiel.
Chen nickte und versuchte fröhlich zu wirken. „Ich glaube, dass das wirklich etwas bewegen wird“, sagte er.
Menrim antwortete nicht und schlich hinaus.
„Das ist doch gut gelaufen“, sagte Chen.
Li Li schaute auf ihre Pfoten. „Klar, Onkel Chen.“
***
Erst lange nach Sonnenuntergang kam Menrim zurück. Da Chen und Li Li nicht ohne ihn in seinem Haus hatten bleiben wollen, hatten sie es sich mit ihren Rucksäcken und Stöcken am Pier bequem gemacht.
Li Li war an Chens Schulter schon eingeschlafen, als Menrim mit langsamem Schritt zurückkehrte. Chen winkte, um Menrims Aufmerksamkeit zu erlangen, doch der Tol'vir reagierte nicht auf seinen Gruß. Menrim drehte seinen Kopf, schaute ihm direkt in die Augen und ging weiter.
Chen nahm seinen Arm herunter. „Davor hatte ich Angst“, sagte er. Sanft schüttelte er Li Li wach.
„Ach, was ist denn los, Chen?“, murmelte sie, während sie sich die Augen rieb.
„Anscheinend sind wir bei Menrim heute Nacht nicht willkommen“, sagte er. „Komm, lass uns ein Gasthaus suchen.“
„Zumindest gibt es da ein Bett und nicht nur einen Boden“, murmelte Li Li vor sich hin, während sie ihre Sachen nahm.
„Das Glas ist halb voll, was?“, sagte Chen. Einen Moment lang wünschte er, dass er den Zwergen nach ihrer Konfrontation mit König Phaoris mit Li Li direkt gefolgt wäre und Menrim niemals getroffen hätte. Dann wären die Pandaren jetzt bei der Karawane – wo auch immer sie sich aufhielt – und würden lachen und Spaß haben.
Nachdem sie schließlich eine Unterkunft gefunden hatten, waren sie so erschöpft, dass sie bis spät in den Morgen schliefen. Als sie erwachten, warf sie der Lärm hunderter Stimmen aus dem Bett. Eilig zogen sie sich an, um herauszufinden, was los war.
Draußen verstopften die Bewohner von Ramkahen die Straßen, während sie sich zum Hauptplatz drängten, wo alle ihren Blick erwartungsvoll auf das Gebäude richteten, in dem sich der König und der Hohe Rat befanden.
„Was ist los?“, fragte Chen. Li Li wusste die Antwort schon.
„Die Zeit ist um“, sagte sie leise. „Der Hohe Rat wird bald seinen Entschluss bekannt geben.“
Chens Herz pochte ihm bis zum Hals. Li Li schaute ihren Onkel an.
„Wir brauchen eine bessere Sicht.“
Chen nickte.
Sie drängten sich durch die Menge, bis sie an der riesigen Sonnenuhr im südwestlichen Abschnitt des Platzes angekommen waren. Ein Stapel Kisten schwankte in der Nähe – zu schmal für Tol'vir, aber gerade richtig als Sitzgelegenheit für Pandaren. Chen und Li Li kletterten bis ganz nach oben, von wo aus sie die Vorderseite der großen Halle gut sehen konnten.
Kurz danach führten Wachen die fünf Neferset-Gefangenen hinaus. Sie waren an den Hälsen, Handgelenken und Knöcheln zusammengekettet, wobei das Geräusch der schweren Fesseln von den donnernden Schreien der Menge übertönt wurde. Chen erkannte Bathet und schluckte nervös.
König Phaoris ging um die Gefangenen herum nach vorne und hob die Arme. Die Menge verstummte.
„Bürger von Ramkahen!“, sprach er mit dröhnender Stimme. „Der Hohe Rat hat eine Entscheidung gefällt. Vor ihrer Ankündigung erhält jeder Gefangene die Möglichkeit, sich selbst an die Öffentlichkeit zu wenden, damit auch ihr verstehen könnt, warum wir unseren Beschluss gefasst haben. Zeigt eure Solidarität mit jenen, die ein gerechtes Urteil nach langen und schwierigen Beratungen gefällt haben.“
Die Menge jubelte, doch Chen nahm einen gewissen wilden Unterton wahr, und nicht alle schienen mit den Worten des Königs vollends zufrieden zu sein. Phaoris trat zur Seite und eine Wache stieß den ersten Gefangenen. Er schaute zu beiden Seiten, um die Menge der versammelten Zuschauer auf sich wirken zu lassen. Dann begann er zu sprechen.
„Mein Namen ist Nanteret“, rief der erste Gefangene, „und ich stehe zu der von meinem Volk eingegangenen Allianz!“
Als Antwort brauste ein ohrenbetäubendes Dröhnen aus Schreien voller Wut und Hass auf. Chen bekam einen trockenen Hals.
„Ich bedauere nur eins“, fuhr Nanteret schreiend fort, „dass ich nicht mehr dreckige Ramkahen getötet habe!“
Um seine Aussage zu unterstreichen, spuckte er die Treppe hinunter. Eine Wache schob ihn schnell wieder zurück. König Phaoris forderte die Menge abermals zur Ruhe auf und die Ramkahen verstummten, um den Rest der Reden zu hören.
Einer nach dem anderen sprachen die Neferset-Gefangenen. Die nächsten beiden wiederholten Nanterets Aussage beinahe Wort für Wort. Schließlich trat Bathet als Vierter in der Reihe nach vorne und Chen machte sich große Sorgen, obwohl ein Funke Hoffnung immer noch vorhanden war.
„Ich bin stolz auf die von mir getroffene Entscheidung!“, rief er, so laut er konnte. „Ich bedauere nichts! Ich stehe an der Seite meiner Brüder!“ Chen verzog das Gesicht, als er die Betonung des letzten Wortes hörte. Li Li legte ihre Pfote auf die ihres Onkels. Die Menge schrie Bathet an und warf einige Gegenstände auf die Treppe. Ein angegessener Granatapfel traf sein Gesicht, woraufhin der dunkelrote Saft an seiner Wange herunterlief.
Nun sprach der letzte Neferset. Chen konnte ihn kaum hören. Was auch immer der Gefangene sagte: Die Worte waren reuelos wie die der anderen Neferset.
König Phaoris trat abermals nach vorne und hob die Arme.
„Die Neferset hatten die Möglichkeit, allen ihre Gedanken mitzuteilen. Sie bereuen ihre blasphemische Allianz mit Todesschwinge und Al'Akir nicht! Sie empfinden kein Bedauern für die Tausenden, die sie im Namen ihrer eigenen Gier nach Macht ermordet haben! Sie haben alles verraten, wofür die Tol'vir stehen!
Die Entscheidung des Hohen Rates ist einstimmig“, fuhr König Phaoris fort. „Sie werden alle hingerichtet.“
Die Menge jubelte.
Li Li stockte der Atem und sie hielt sich den Mund zu. Chen nahm ihren Arm.
„Wir müssen Menrim finden“, sagte er.
Sie nickte. „Gehen wir.“
***
Irgendwann dämmerte es Chen, dass es wahrscheinlich vollkommener Wahnsinn war, eine einzelne Person in den überfüllten Straßen Ramkahens finden zu wollen. Er und Li Li waren jedoch hartnäckig, trafen jemanden, der ihn gesehen hatte, und konnten ihn schließlich finden. Halb verdeckt saß er an einem Brunnen im nördlichen Teil der Stadt. Er sah Chen und Li Li, als sie auf ihn zugingen, beachtete sie aber nicht.
Chen setzte sich neben ihn. „Es tut mir leid, Menrim“, sagte er.
Menrim drehte sich weg und sein Gesicht war nun wie versteinert. „Er hat nichts bereut. Er hat sein eigenes Schicksal besiegelt.“
Li Li und Chen waren beide erstaunt über Menrims Härte, die Chen dem Schock über das Urteil des Hohen Rates zuschrieb.
„Trotzdem weiß ich“, sagte Chen, „dass Euer Bruder Euch etwas bedeutet. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schwer das für Euch sein muss.“
Ohne ein Wort zu sagen und mit dem Plätschern des Brunnens als einzigem Geräusch saßen sie eine Weile da.
„Darf ich fragen“, hakte Chen behutsam nach, „wie Bathet gestern auf Euren Besuch reagiert hat?“
„Er hat wie erwartet reagiert“, fuhr Menrim ihn an. „Wie der verdorbene, egoistische Verräter, der er nun mal ist.“
„Wie hat er reagiert“, fuhr Chen fort, „als Ihr ihm gesagt habt, dass es Euch leidtut?“
Plötzlich stand Menrim auf und ging weg. Nach ein paar Schritten blieb er stehen und drehte sich um.
„Für wen haltet Ihr Euch eigentlich?“, schrie er. „Ihr mischt Euch in mein Leben ein und sagt mir, was ich tun soll? Ich muss mich bei Bathet entschuldigen? Ich muss überhaupt nichts Derartiges tun! Er ist der Kriminelle, der Gotteslästerer, und ich habe unermüdlich alles dafür getan, sein Leben zu retten! Er sollte mich um Verzeihung anflehen und mir einen Dank aus den Tiefen seines Granitherzens zukommen lassen! Verglichen mit ihm bin ich ein Heiliger.
„Es gibt nichts, was mir leidtun müsste, und das habe ich Bathet auch gesagt. Wie könnt Ihr es wagen, mir die Schuld zu geben? Verschwindet aus meinem Leben!“, knurrte Menrim. Er wandte Chen und Li Li den Rücken zu und ging in die Stadt.
Chen schloss die Augen und legte seine Stirn an die Pfoten. Li Li umarmte ihn sanft.
„Du hast dein Bestes getan, Onkel Chen“, sagte sie. „Du kannst nicht alles in Ordnung bringen.“
Chen hatte keine Möglichkeit, die Gefühle von Verantwortung, Pflicht, Versagen und Schuld auszudrücken, die in seinem Herzen jeweils die Oberhand gewinnen wollten. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er sich das letzte Mal so elendig gefühlt hatte.
Da es schwierig war, einen Neferset mit Steinhaut zu töten, entschied der Hohe Rat, die Gefangenen zerquetschen zu lassen. Zu diesem Zweck hatte er eine komplexe Maschine mit Flaschenzügen und Gegengewichten in Auftrag gegeben. Mehrere Wachen würden die Hebel bedienen, um einen Haufen riesiger Steinplatten einige Meter in die Luft zu heben. Nach dem Öffnen der Sperre sollten die Platten hinunterfallen, um die Gefangenen darunter zu Staub zu zermahlen. Li Li fielen nur wenige Apparate ein, die brutaler waren.
Ganz Ramkahen schien sich auf der Fläche am Wasser versammelt zu haben, an der die Maschine aufgestellt wurde. Li Li und Chen kletterten auf eine Markise. Wortlos warteten sie auf den Beginn des Spektakels. Wären beide völlig ehrlich gewesen, hätte keiner von ihren die Hinrichtung mit ansehen wollen, doch Chen dachte, dass er es müsste, und Li Li ließ ihn dabei nicht im Stich.
Am späten Nachmittag führten die Ramkahen-Wachen die Gefangenen durch die Straßen. Die Zuschauer buhten und schrien den verurteilten Neferset Beleidigungen entgegen. Li Li wurde schlecht.
Die Hinrichtung war mit recht wenig Etikette verbunden. Eine Wache führte einen Neferset aus der Reihe an seinen vorgeschriebenen Platz und machte ihn dort fest. Andere Wachen aktivierten die Maschine. Li Li versuchte, aus Respekt hinzusehen, konnte es jedoch nicht ertragen. Sie kniff die Augen fest zusammen und versuchte die Ereignisse anhand der Geräusche einzuschätzen: das Quietschen der Flaschenzüge beim Hochheben der Felsen, das Wehen der verdrängten Luft beim Herunterfallen, das Knirschen des zu Tode gequetschten Gefangenen und das Klappern der Überreste, die weggefegt wurden, um Platz für den Nächsten in der Reihe zu schaffen.
Chen hielt sie an den Schultern fest und versuchte dabei, nicht mit den Pfoten zu zittern. Er sah sich die Hinrichtungen an, beneidete aber Li Li darum, die Augen geschlossen zu haben. Er war wie gefesselt, als ob eine nicht greifbare Macht ihn zum Zusehen zwingen würde. Wie bei den Reden war Bathet auch diesmal als Vierter an der Reihe. Er starb so schnell wie die anderen. Alles war im Nu vorbei, und doch schien es, als wären tausend Jahre vergangen. Chen wusste, dass dieser Tag ihn immer wieder heimsuchen würde.
***
Irgendwie erkannte er, dass seine Lungen noch atmeten und sein Herz noch schlug, doch jedes Geräusch und jedes Gefühl waren weit von ihm entfernt. Er hätte es wahrscheinlich nicht einmal bemerkt, wenn die Markise unter ihm zusammengebrochen wäre. Seine Gedanken schweiften ab und er starrte eine lange Zeit wie in Trance auf den See, ohne wirklich etwas wahrzunehmen.
„Onkel Chen“, rief Li Li leise.
„Ja, Li Li?“, fragte er. Sie sah etwas krank aus.
„Ich ... ich möchte so schnell wie möglich gehen. Ich weiß nicht, warum die Perle uns hierher geführt hat. Dieser Ort ist voller Leid.“
„Oh.“ Als Li Li dies sagte, verspürte auch er den starken Drang, aus Ramkahen zu verschwinden.
„Ich weiß nicht, wohin es als Nächstes geht“, sagte Li Li, „aber so lang wir nicht hierbleiben, ist es mir egal.“
„So sehe ich es auch“, sagte Chen. „Ruhen wir uns einfach ein bisschen aus und verschwinden dann am Morgen.“
Sie kletterten von der Markise hinunter und begaben sich zurück zum Gasthaus. Als sie durch die Tür gingen, trat jemand aus dem Schatten hervor. Es war Menrim.
„Was wollt Ihr?“, fragte Chen ihn direkt.
Menrim zögerte.
„Ich möchte mich entschuldigen“, sagte er.
Chen und Li Li starrten ihn an.
„Ihr hattet recht“, fuhr Menrim fort. „Ihr hattet recht und ich hätte auf Euch hören sollen. Ich hätte tun sollen, was Ihr mir gesagt habt. Ich hätte ...“
„Dafür ist es jetzt ein bisschen zu spät, meint Ihr nicht?“, unterbrach ihn Chen. „Was wollt Ihr damit erreichen?“
„Ich ... Ich habe es versucht. Ich habe versucht, Bathet zu sagen, dass es mir leidtut, aber ... aber er schob mir nur die Schuld zu und ich wurde so wütend ... Und außerdem war ja auch nicht alles mein Fehler.“
„Oh, verschont uns damit“, sagte Li Li.
„Ich wollte ihn retten!“, schrie Menrim. „Ich wollte sie alle retten. Ich habe den Hohen Rat immer wieder um Gnade gebeten ...“
„Natürlich wolltet Ihr ihn retten“, antwortete Chen ausdruckslos, „solang es nicht darum ging, Eurem eigenen Stolz zu schaden.“
Menrim starrte die beiden Pandaren mit großen Augen an. „Ich weiß, dass ich versagt habe. Ich weiß es ... ich wusste es, als die Steine fielen und mein Bruder ... mein einziger Bruder ...“ Menrims Stimme wurde brüchig und er begann zu weinen. „Meine Stadt ... mein Volk ... mein Bruder ... Wie konnte das geschehen?“
Chen war einfach nur müde. Es stimmte, dass Menrim und alle Tol'vir schrecklich gelitten hatten. Es stimmte, dass Bathet und die anderen Neferset schlimme Dinge getan hatten. Es stimmte, dass Bathet sich zu Recht über Menrim geärgert hatte. Und es stimmte wahrscheinlich auch, dass kein Gespräch der beiden Geschwister Bathets Schicksal an jenem Nachmittag hätte verhindern können.
Chen kannte die Brüder kaum, aber trotzdem ...
„Was möchtet Ihr uns sagen?“, fragte Chen mit schwerer Stimme. „Meine Nichte und ich können Euch von nichts freisprechen. Wir können Bathet von nichts freisprechen. Wir können für niemanden irgendetwas ändern. Was geschehen ist, ist geschehen.“
Menrim wischte sich die Augen an seinem Arm ab und schien sich wieder etwas zu sammeln. „Ich weiß“, flüsterte er, „ich weiß. Aber ... danke, dass Ihr es versucht habt.“ Er holte Luft.
„Li Li“, setzte Menrim an, „wir haben uns gestern über Eure Reisen unterhalten, als Euer Onkel unterwegs war. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr nach all dem noch in Ramkahen bleiben möchtet.“
„Absolut richtig“, sagte Li Li.
„Wenn Ihr dem Vir'naal nach Süden folgt, erreicht Ihr an der Mündung die Verlorene Stadt. Sie war einst eine Festung der Neferset, die dort jedoch während des Krieges vertrieben wurden. Meine Familie hatte ein kleines Boot. Soweit ich weiß, befindet es sich noch immer dort.“
Menrim hielt ihnen einen großen Eisenschlüssel hin. „Hiermit könnt Ihr das Schloss der Vertäuung öffnen. Nehmt ihn. So kommt Ihr wesentlich einfacher aus Uldum heraus. Die Strömung im Süden ist nicht so schlimm und der Wind dürfte nach Al'Akirs Niederlage auch schwächer geworden sein. Bitte“, sagte er. „Er gehört Euch.“
Li Li nahm den Schlüssel.
„Danke“, sagte sie leise.
Tränen liefen aus Menrims Augen, als er nickte. „Ich weiß nicht, ob sich mein Volk von den Vorkommnissen jemals erholen wird. Vielleicht sind die Tage der Tol'vir gezählt. Ich werde versuchen, mich zu bessern. Ich wünsche Euch beiden Glück auf Euren Reisen. Ich hoffe, dass Ihr finden werdet, wonach Ihr sucht“, sagte er.
„Ich wünsche Euch Frieden, Menrim“, sagte Chen mit sanfter Stimme.
Menrim drehte sich um und ging nach Hause.
Li Li und Chen kehrten ohne etwas zu sagen auf ihr Zimmer zurück. Schwermütig machten sie sich für die Nacht fertig. Als Chen ihre Rucksäcke überprüfte, um sicherzugehen, dass für die Abreise am Morgen alles bereit war, bemerkte er, dass Li Li ein Blatt Papier vor sich auf den Boden gelegt hatte.
„Was machst du da?“, fragte Chen.
„Ich schreibe einen Brief nach Hause“, antwortete sie. „Ich habe mir gedacht, dass ich das mal tun sollte. Es ist schon eine Weile her.“ Sie schaut zu ihm hoch. Chen kam ein Gedanke.
„Ich möchte auch einen Brief schreiben“, sagte er.
Li Li holte Papier und einen weiteren Stift aus ihrer Tasche. Chen setzte sich an einer anderen Stelle des Zimmers auf den Boden und legt das Blatt vor sich.
Lieber Chon Po, begann er.
Ich muss mich bei dir entschuldigen.
Die Suche nach Pandaria - Teil 4 von Sarah Pine
Vor dem Bug des robusten Tol'vir-Segelboots erstreckte sich das endlose blaue Meer. Die Nachmittagssonne warf einen Streifen auf die Wasseroberfläche, der sie wie Edelsteine funkeln ließ. Li Li lehnte sich in den Wind und der salzige Geruch erinnerte sie an die warmen Tage auf Shen-zin Sus Stränden. Chen saß mit locker auf dem Ruder liegender Pfote am Heck. Nachdem sie Uldum verlassen hatten, waren sie nun auf dem Kurs nach Südosten.
Li Li wandte sich ihrem Onkel zu. „Bist du nicht auch aufgeregt?“, rief sie. „Endlich sind wir wirklich auf dem Weg! Sogar die Perle macht mit. Ich habe dreimal nachgesehen und immer hat sie mich beim Segeln gezeigt.“ Sie lachte und schlug mit einer Faust in die Luft. „Nächster Halt: Pandaria!“
Da keiner dem anderen die gute Stimmung vermiesen wollte, ignorierten beide geflissentlich, dass die Perle ihnen noch zeigen musste, wie man die Nebel durchstoßen konnte, unter denen das sagenumwobene Heimatland ihres Volkes lag. Mit dieser Frage würden sie sich später noch befassen.
Bei Einbruch der Dunkelheit übernahm Li Li die erste Wache. Die Nacht war sternenklar und der samtene Himmel wirkte wie von weißen Stecknadelköpfen überzogen. Azeroths Doppelmonde standen gespenstisch hell über dem östlichen Horizont. Li Li zog die Beine unter sich und legte eine Decke über ihre Schultern, um die kalte Meeresluft abzuhalten. Das gleichmäßige Schaukeln des Bootes und der Klang des gegen den Rumpf schlagenden Wassers ließen ihre Augenlider schwer werden. Sie entschied, dass es keinen Sinn machen würde, gegen die Erschöpfung anzukämpfen, und schlief ein.
Sie wurde unsanft aus dem Schlaf gerissen, als plötzlich ein Ruck durch das Boot ging und sie nach vorne auf ihr Gesicht fiel. Benommen blieb sie mit verdrehten Gliedern liegen.
Chen schüttelte sie. „Li Li, steh auf!“
Das Boot schwankte erneut und er fiel auf die Knie.
***
„Ein Sturm kommt auf“, warnte Chen. „Wir sollten das Segel reffen. Ich habe unsere Sachen schon gesichert.“ In der Dunkelheit konnte Li Li seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, aber in seiner Stimme lag ein Hauch von Sorge. Das robust gebaute Ramkahen-Boot war klein und würde schlechtem Wetter auf dem offenen Meer auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sein.
Erneut schwankte es heftig. Der Seegang hatte mittlerweile eine bedrohliche Stärke erreicht. Li Li verzog das Gesicht und richtete sich auf. Im Südosten konnte sie sehen, wie die heranziehenden Wolken die Sterne verdunkelten und gelegentlich Blitze auf die Meeresoberfläche niedergingen.
„In Ordnung“, antwortete sie Chen. „Los geht's.“
Der Sturm rollte mit starkem Heulen heran und trieb kalten Regen vor sich her. Turmhohe Wellen bauten sich um die Pandaren auf und drohten, ihr Boot zu verschlingen. Chen und Li Li versuchten unermüdlich, den Tol'vir-Kahn wie auf einer tückischen Hindernisstrecke parallel zu den Wellen zu steuern.
Ein Blitz schoss durch den Himmel, verpasste den Mast um Haaresbreite und schlug mit einem lauten Knall neben ihnen ins Wasser ein. Der Donner grollte wie Kanonenfeuer. Li Li zitterte – das war ganz schön knapp.
Das Boot machte einen Satz nach oben. Li Li und Chen hatten den Kurs falsch eingeschätzt und stießen nun seitlich gegen eine Welle. Sie kippten und legten sich wie ein Karren bei einer Wende steil zur Seite. Chen, dessen Füße auf dem glatten Holzdeck wegrutschten, ergriff aus Angst um sein Leben das nächstbeste Seil und hielt sich daran fest. Hinter sich hörte er Li Li aufschreien. Sein Herz pochte ihm bis zum Hals.
„Li Li!“, brüllte er und versuchte, schnell wieder sicheren Halt zu bekommen. Auch sie klammerte sich verzweifelt an ein Seil und Chen betete, dass es ihr nicht die Pfoten ausreißen würde. Er konnte nicht loslassen, bevor das Boot nicht wieder aufgerichtet war. Die Welle rollte endlos weiter und der kleine Tol'vir-Kahn schwankte so stark, dass er zu kentern drohte.
Dann war die Welle endlich vorbeigezogen und das Boot begann, sich allmählich zu stabilisieren. Als die Steuerbordseite sich wieder in die Horizontale legte, erlangte Chen seinen Halt zurück und drehte sich zu seiner Nichte, um ihr zu helfen. Li Li streckte ihre Hand in seine Richtung, aber das Boot machte einen Ruck und sie wurde gegen das Dollbord geschleudert. Chen schrie und streckte seinen Arm aus, so weit er konnte.
„Li Li!“
***
Es war zu spät und er konnte nichts tun. Ihre Augen zuckten, als sie das Bewusstsein verlor. Dann glitt das Seil durch ihre schlaffen Finger und sie stürzte ins Wasser.
„Li Li!“ Chen rief ein drittes Mal, aber die Wellen schlugen zwischen seiner Nichte und dem Boot zusammen. Als die Wogen abebbten, war sie verschwunden.
Am Himmel über Shen-zin Su war von schlechtem Wetter nichts zu sehen. Die Sonne war hinter dem Horizont verschwunden und die letzten Reste ihres Lichts verblassten langsam zu Indigo. In der Mitte der Insel stand Chon Po vor der großen Bibliothek und umklammerte zwei Blätter Papier.
Diese Bibliothek war der Lieblingsort seiner Tochter. Zwischen den Stapeln von Büchern und Briefen hatte Li Li stundenlang gelesen und jedes noch so kleine Wissenshäppchen, das sie finden konnte, verschlungen. Dieser Zeitvertreib hatte eine Träumerin aus ihr gemacht und ihr grandiose Ideen in den Kopf gesetzt, doch er hatte ihr auch Leidenschaft und Antrieb verliehen.
„Keine Sorge, Po.“ Mei legte mit einem ermutigenden Lächeln ihre Pfote auf seinen Arm. „Schick sie einfach ab.“
Chens und Li Lis letzte Briefe waren am Tag zuvor auf einem Magiestrom eingetroffen – ein alter Pandarentrick, an dessen Ursprünge sich schon seit Langem niemand mehr erinnern konnte. Chon Po war die ganze Nacht aufgeblieben, um seine Antwort zu verfassen.
Po holte tief Luft und nickte. Behutsam faltete er die Blätter in Form eines großen Albatros, der die Nachrichten über den Ozean tragen sollte. Dann hielt er die Figur hoch, pustete leicht dagegen und verstreute eine Prise des gleichen verzauberten Pulvers, dass Li Li immer bei sich hatte. In einem gewaltigen Farbenspiel schwang der Papiervogel seine Flügel und erhob sich in die Luft. Es war nicht leicht, ihn loszulassen.
Chon Po schaute ihm hinterher, bis er den Vogel am klaren Himmel nicht mehr sehen konnte, und hoffte, dass die Briefe sicher bei seiner Tochter und seinem Bruder eintreffen würden.
Das Meer hatte sich in ein lebendiges Wesen verwandelt – in eine zielgerichtete Kraft. Wellen umspülten Li Li wie gierige Finger und warfen sie umher. Sie war eine gute Schwimmerin und kämpfte dagegen an. Als sie die Oberfläche durchbrechen konnte, schnappte sie nach Luft, trat und schlug gegen das Wasser und versuchte, oben zu bleiben. Doch die Strömung riss sie fort. Sie strengte sich an, aber alles begann wieder von vorn. Und schon bald begann sie, müde zu werden.
Ihre Muskeln brannten. Ihre Arme und Beine wurden schlaff. Als der erste Energieschub, der sie zunächst angetrieben hatte, nachließ, wich ihre Entschlossenheit der Panik.
Ich werde ertrinken.
Die Erkenntnis traf sie so hart wie die Wellen, gegen die sie ankämpfte. Chen war fort. Wer weiß, wie weit sie vom Schiff schon abgetrieben war? Das Land war noch mehrere Tage entfernt. Der Sturm war unaufhaltsam, und mit Verstand oder Stärke war ihm nicht beizukommen.
Ihr Instinkt zwang sie zu versuchen, die Oberfläche zu erreichen und ums Überleben zu kämpfen, obwohl ihr im Innersten klar war, dass sie nichts tun konnte. Sie wurde von einer Verzweiflung erfasst, die ihr so salzig und bitter wie das Meer selbst erschien.
So war es also. Oder, Mama? Li Lis Augen brannten vor lauter Meerwasser und Tränen. Sie versuchte, tapfer zu sein und ihr Schicksal anzunehmen, aber dieser Schrecken ließ sich nicht unterdrücken.
Mama! Mit ihrer inneren Stimme schrie sie, obwohl sie nicht sprechen konnte. Mama, Mama!
Das Meer spuckte sie gen Himmel und sie bewegte sich auf dem Kamm einer Welle auf und ab. Sie schnappte wieder nach Luft und klammerte sich an jede kostbare Sekunde, bis die Welle zu brechen begann. Aus dem Augenwinkel erblickte sie im endlosen Wasser etwas anderes: eine dunkle, feste Form. Sie drehte den Kopf, um genauer hinzusehen, und schlug gegen etwas Hartes, das noch unnachgiebiger als die See war. Ihr Kopf tat weh und es wurde schwarz um sie herum.
***
„... Hab ich noch nie gesehen. Daran würde ich mich erinnern.“
„Ein Mal, in Eschental, vor vielen Jahren.“
„Vielleicht ist sie eine Spionin der Horde.“
„Gut möglich.“
Li Li versuchte die Augen zu öffnen, die sich anfühlten, als hätte man sie zugeklebt. Unter schmerzhaftem Protestieren ihres Körpers begann sie sich umzudrehen, sank dann jedoch mit einem Stöhnen zurück in eine weiche Masse aus Decken und Kissen.
Sie bemerkte, dass sie anscheinend noch am Leben war.
Sie öffnete die Augen, kniff sie aber, von grellem Licht geblendet, direkt wieder zusammen.
„Atropa – sie ist wach, bei Elune! Der Kapitän ...“
„Schon dabei“, antwortete die andere Stimme.
Li Li blinzelte zögerlich und blickte in ein lilafarbenes Gesicht mit schulterlangem dunkelviolettem Haar. Die Augen der Frau hatten keine Pupillen und leuchteten in einem sanften Silber. Es war eine Nachtelfe.
„Du liebe Güte, wir dachten, Ihr würdet noch mindestens einige Stunden schlafen“, sagte die Nachtelfe. „Hier muss es doch irgendwo Wasser geben.“
Das Gesicht verschwand. Li Li legte die Hände auf eine besonders schmerzende Stelle am Hinterkopf und spürte, dass sich dort Baumwollbandagen befanden. Selbst leichter Druck führte zu einem Schmerz wie tausend Nadelstiche. Sie zuckte zusammen und zog ihre Pfote weg.
„Hier, ich helfe Euch“, sagte die Nachtelfe und legte ihren schlanken Arm um Li Lis Hüfte. Die Frau stellte die Kissen hinter der jungen Pandaren auf und gab ihr einen Becher mit Wasser. Li Li trank ihn voller Dankbarkeit in einem Zug aus und hielt ihn der Frau hin, um noch mehr zu bekommen. Als sie nicht mehr durstig war, blickte Li Li nach links und rechts, wobei sie auf ihren schmerzenden Nacken achtete.
„Wo bin ich?“, fragte sie.
„Ihr seid an Bord des Allianzschiffs Elwynn“, antwortete die Elfe. „Ihr habt wirklich Glück gehabt.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich hatte Wache und sah, wie Ihr während des Sturms gegen den Rumpf geschlagen seid. Ein Schamane bat einen Wasserelementar, euch herauszuholen.“
Li Li lehnte sich mit pochendem Herzen wieder in die Kissen.
„Ich bin nicht tot“, sagte sie.
„Nein, zum Glück nicht“, antwortete die Elfe. „Wie heißt Ihr?“
„Mein Name ist Li Li Sturmbräu. Und wer seid Ihr?“
„Ich heiße Lintharel“, sagte die Nachtelfe. “Ich bin eine Druidin und Kaldorei im Dienst der Allianz.“
Die Kabinentür öffnete sich und ein grauhaariger Menschenmann betrat gefolgt von einer weiteren Nachtelfe den Raum. Mit den tropfenförmigen violetten Tätowierungen auf ihrem Gesicht sah sie fast genauso aus wie Lintharel. Offensichtlich waren es Schwestern.
„Ich bin Marco Heller, der Kapitän dieses Schiffs“, verkündete der Mann direkt nach dem Überqueren der Türschwelle. „Ich habe einige Fragen an Euch.“
„Jetzt schon?“, sagte Lintharel mit ernstem Blick. „Ich dachte, Ihr wolltet nur wissen, wann sie wach ist. Sie ist immer noch verletzt!“
„Warum holt Ihr dann nicht einfach noch ein paar Bandagen?“, fragte der Kapitän, obwohl sein Unterton nach einem Befehl klang. „Ihr könnt sie gerne begleiten, Atropa.“
„Ich werde nirgendwo hingehen“, gab Atropa zurück und verschränkte die Arme. Lintharel warf dem Kapitän einen frustrierten Blick zu, bevor sie ging. Li Li konnte hören, wie ihre Schritte im Gang leiser wurden.
Kapitän Heller zog einen Stuhl neben Li Lis Bett, setzte sich darauf und sah sie sich genau an. Nach einem Moment der Stille begann er damit, sie mit Fragen zu löchern. „Wer seid Ihr? Woher kommt Ihr? Was macht Ihr in diesen Gewässern?“
„Ich heiße Li Li Sturmbräu. Ich bin eine Pandaren von der Wandernden Insel. Ich war mit meinem Onkel auf einem Segelboot, als der Sturm hereinbrach. Ich wurde über Bord gespült!“ Die Fragen zerrten an Li Lis Nerven. „Was ist hier überhaupt los?“
Kapitän Hellers Augen funkelten gefährlich.
„Ich frage mich, ob Ihr eine Spionin der Horde seid.“
„Wie bitte?“ Diese Anschuldigung war eine Beleidigung für Li Li. „Das ist doch lächerlich! Mein Onkel und ich waren sogar mit König Magni Bronzebart befreundet! Habt Ihr einen Kugelfisch oder etwas Ähnliches gegessen, dass Euer Kopf so voller Luft ist?“
Kapitän Heller runzelte die Stirn, sagte aber nichts.
Li Li fuhr fort: „Wenn ich eine Spionin der Horde wäre, hätte ich nicht versucht, auf Euer Schiff zu gelangen, indem ich mich mitten in einem Sturm ins Meer werfe und hoffe, auf Euch zu treffen. Das ist doch total dumm.“
„Auch nicht, wenn ihr zwei Tage lang in Sichtweite von uns gesegelt seid?“
„Ich ... Was?“ Li Li blinzelte überrascht. „Gibt es hier auch ein Schiff der Horde?“
Der Kapitän ignorierte Li Lis Frage. Er wandte sich Atropa zu, die sich in die Ecke des Zimmers gedrängt hatte. „Was meint Ihr dazu?", fragte er sie.
„Ich glaube, dass sie die Wahrheit sagt“, antwortete Atropa mit leicht zusammengekniffenen Augen. „Ihre Unwissenheit ist aufrichtig.“
„Oh, danke“, entgegnete Li Li . „Das ist ja wirklich nett von Euch.“
„Ich stimme Euch zu, Atropa“, antwortete der Kapitän und stand auf. Er schaut zu Li Li herab. „Ihr seid Gast auf diesem Schiff, von meinen und der Allianz Gnaden. Wenn es dazu kommen sollte, müsst Ihr vielleicht an unserer Seite kämpfen. Habt Ihr ein Problem damit?“
„Ich fürchte den Kampf nicht“, sagte Li Li und warf ihm einen trotzigen Blick zu.
„Gut.“ Gefolgt von Atropa verließ Kapitän Heller wortlos die Kabine.
Erschöpft legte sich Li Li wieder hin. Sie vermisste Chen und hoffte sehr, dass er den Sturm unbeschadet überstanden hatte. Doch auch in diesem Fall dachte er wahrscheinlich, dass sie tot wäre. Li Li spürte einen Stich in ihrem Herzen. Sie wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, ihm eine Nachricht zu schicken, aber ihr Beutel mit verzaubertem Pulver befand sich noch auf dem Tol'vir-Boot. Da sie erst einmal nichts weiter unternehmen konnte, schloss sie die Augen und schlief ein.
***
Auf den Sturm folgte ein klarer, windiger Tag und das Meer um das kleine Boot herum war ruhig. Chen konnte nichts davon genießen. Li Li war spurlos verschwunden und die einzigen Erinnerungsstücke waren ihre unter Deck verstauten Besitztümer. Er fühlte sich, als hätte man ein Loch in seine Brust gerissen.
Er starrte in die Ferne, ohne etwas zu sehen. Auf seinem Schoß hielt er die Perle – das Erste, was er gesucht hatte, nachdem der Sturm abgezogen war. Alles, was sie ihm zeigte, waren Li Lis in einer Endlosschleife wiedergegebenen letzten Momente. Er konnte nicht länger hinsehen.
Ohne eine Ruhepause würde ihn die Erschöpfung früher oder später einholen, aber als er die Augen schloss, sah er noch klarer vor sich, wie Li Li ins Meer gespült wurde. In seinen Ohren hallte ihr hilfloses Schreien wider, als könnte er mit dem Meer einen Handel eingehen, der sie wieder zurückbrächte.
Diese für ihn untypische Verzweiflung ermöglichte es dem Kriegsschiff, ihn zu überholen und unbemerkt zu bleiben, bis er das durch den Schiffsrumpf erzeugte Rauschen des Wassers schließlich nicht mehr überhören konnte. Chen dreht sich um. Zu jeder anderen Zeit wäre er nun sofort aufgesprungen, um Verhandlungen zu führen oder zu kämpfen. Nun war es ihm aber egal. Ihm war alles egal.
Das Schiff fuhr auf gleicher Höhe mit ihm. Chen erblickte rote Segel mit schwarzen Markierungen und steckte die Perle schnell in seinen Rucksack.
„Ahoi!“, dröhnte eine Stimme über das Wasser. „An den Passagier des unbekannten Boots: Ihr befindet euch unerlaubterweise in diesen Gewässern. Bereitet Euch darauf vor, von der Horde in Haft genommen und befragt zu werden!“
***
Chen saß in einer Kabine dem Kapitän des Kriegsschiffs, einem bulligen Orc namens Aldrek, gegenüber. Dieser verschränkte seine vernarbten grünen Arme und sah Chen von oben bis unten an.
„Was macht Ihr in diesen Gewässern? Einzelne Schiffer wagen sich normalerweise nicht hierher“, blaffte ihn der Orc an.
Chen rieb sich müde das Gesicht. Er hatte keine Kraft für ein Verhör und wollte diese Qual einfach nur so schnell wie möglich hinter sich bringen.
„Meine Name ist Chen Sturmbräu“, entgegnete er. „Ich bin ein Pandaren von der Wandernden Insel. Ich war mit meiner Nichte unterwegs, als wir gestern Nacht in den Sturm gerieten und vom Kurs abkamen. Meine ...“ Chens Kehle zog sich zusammen und er bemühte sich, die Kontrolle über seine Stimme zu behalten. „Meine Nichte ist auf See geblieben.“
Der Kapitän antwortete nicht.
„Ich weiß, warum Ihr mich befragt. Ich bin kein Spion der Allianz. Ich habe vor vielen Jahren an der Seite von Thrall, Cairne und Vol'jin auf Theramore gegen Großadmiral Prachtmeer gekämpft. Wenn sich irgendjemand an Bord befindet, der an dieser Schlacht teilgenommen hat, könnte er dies bestätigen.“
„Einer unserer Schamanen, Karrig, hat auf Theramore gekämpft“, sagte Aldrek. Er nickte einer seiner Wachen zu. „Holt ihn, damit wir uns anhören können, was er zu sagen hat.“
Aldrek schaute Chen eine Weile an, bevor er weiterredete.
„Eines kann ich Euch sagen: Falls Ihr ein Spion seid, habt ihr großartige Arbeit geleistet, wie ein durch Erschöpfung halb verrückter Seemann zu wirken, der sich einfach ein wenig übernommen hat.“ Sein breites Grinsen gab beeindruckende Stoßzähne preis.
Die Wache kehrte zurück, begleitet von einem buckeligen Orc mittleren Alters, dessen langes schwarzes Haar zu einem Knoten geflochten war.
„Ah, Karrig!“ Aldrek klatschte in die Hände. „Diese Person behauptet, auf Theramore gegen Großadmiral Prachtmeer gekämpft zu haben. Erkennt Ihr ihn?“
„Es gab einen Pandaren, der sich uns im Kampf angeschlossen hat“, sagte Karrig. „Er hieß Sturmtreu oder so ähnlich.“
„Sturmbräu“, korrigierte ihn Chen und warf dem lachenden Kapitän Aldrek einen Blick zu.
„Da habt Ihr wohl noch mal Glück gehabt“, sagte der Kapitän. „Die Horde steht in Eurer Schuld!“ Aldrek schnippte mit den Fingern nach der Wache.
„Lasst Nita kommen“, sagte ihm Aldrek. Er drehte sich wieder zu Chen und fügte hinzu: „Sie ist eine Druidin. Eine große Tauren. Sie wird Euch im Nu wieder auf die Beine bringen. Willkommen an Bord der Faust des Kriegshäuptlings!“ Aldrek klopfte Chen auf den Rücken, doch der Pandaren reagierte kaum. Er konnte nur noch an Li Li denken und sein ganzer Körper war wie taub.
***
Als sie sich gut genug fühlte, um wieder aufzustehen, fragte Li Li jeden an Bord des Allianzschiffs Elwynnnach dem Tol'vir-Boot. Doch niemand hatte es gesehen. Niedergeschlagen lehnte sie sich an eine Reling auf Deck und starrte auf das große Hordenkriegsschiff, das nun an Steuerbord vor ihnen fuhr. Sie fragte sich, ob sie irgendwie mit dem Schiff Kontakt aufnehmen konnte, um herauszufinden, ob jemand Chen gesehen hatte. Allerdings würde der Versuch, mit der Horde zu sprechen, nicht gerade hilfreich dabei sein, Kapitän Hellers ursprünglichen Verdacht zu widerlegen, sie sei eine Spionin der Horde. Sie runzelte die Stirn. Falls sie und Chen nicht sehr weit vom Kurs abgekommen waren, befanden sich die Schiffe in neutralen Gewässern vor der Küste von Tanaris. Sowohl Horde als auch Allianz sollten sie also ohne Zwischenfälle befahren können. Was also ließ den Kapitän so nervös werden?
Li Li zerbrach sich den Kopf und versuchte einen Plan auszuhecken, dem Schiff der Horde eine Nachricht zukommen zu lassen, ohne über Bord geworfen zu werden. Da ihr keine brillanten Einfälle kamen, ließ sie es erst einmal gut sein und ging unter Deck, wo einige Besatzungsmitglieder – darunter auch die Nachtelfenzwillinge Lintharel und Atropa – Karten spielten. Li Li nahm sich einen leeren Stuhl und gesellte sich zu ihnen.
„Ich bin dabei“, kündigte Li Li an. Atropa warf ihr einen kritischen Blick zu, aber Lintharel lachte und kam der Bitte nach.
„Am einfachsten ist es, wenn Ihr es direkt beim Spielen lernt“, sagte sie. Sie nickte den anderen Spielern – zwei Zwergen – zu.
„Das ist Li Li, die neue Passagierin, die neulich unerwartet an Bord gegangen ist.“
„Ja, die Nich'-Spionin!“ Eine Zwergin lächelte. „Ich bin Trialin“, sagte sie, „und das is' mein Bruder Baenan.“
„Dein großer Bruder!“, fügte Baenan hinzu. „Und der führende Paladin des Lichts auf'm Schiff. Zu Euren Diensten!“ Seine Brust war vor lauter Stolz geschwellt.
„Ach, hör auf, du Angeber“, sagte Trialin und verdrehte die Augen.
„Ich sitze hier nur mit Geschwistern“, scherzte Li Li, „und mein Bruder ist nicht da. Jetzt könnte ich ihn wirklich gebrauchen ...“ Als sie an Shisai dachte, spürte sie einen heftigen Stich in ihrem Herzen. Sie fragte sich, wie es ihm wohl zu Hause auf Shen-zin Su erging. Ob er mich wohl vermisst?
„Das stimmt nicht ganz“, sagte Lintharel lächelnd. Sie zeigte auf Atropa und sich. „Wir sind keine Schwestern.“
„Oh.“ Li Li war überrascht.
„Aber ähnlich seh'n sie sich schon“, bestätigte Trialin. „Den Fehler mach'n viele.“
„Allerdings ist Tharel die Einzige, die noch so etwas wie Familie für mich darstellt“, sagte Atropa. Lintharels Lächeln wurde wehmütig.
„Spiel'n wa' jetz' Karten, oder was?“ Baenan schlug mit der Faust auf den Tisch und die Melancholie der beiden Kaldorei war verflogen. Li Li schaute sich ihr Blatt an und tat so, als wüsste sie bereits Bescheid. Lintharel erklärte ihr nebenher die Regeln und obwohl Li Li nicht besonders gut spielte, verlor sie nach ein paar Runden schon nicht mehr jedes Mal.
„Also“, sagte Li Li und versuchte dabei locker zu klingen, „Äh, was ist mit diesem Hordenschiff? Ich dachte, die Gewässer vor Tanaris wären neutral. Warum ist es solch ein Problem, dass es hier ist?“
Li Lis Begleiter warfen sich einige Blicke zu und ihr wurde klar, dass es sich um ein heikles Thema handelte. Sie hatte gehofft, vielleicht eine Möglichkeit zu erhalten, das Hordenschiff zu kontaktieren, um etwas über Chen zu erfahren. Ganz offensichtlich war das eine schlechte Idee. Schließlich durchbrach Atropa das Schweigen.
„Eigentlich habt ihr recht“, sagte sie, während sie eine Karte aus ihrem Blatt ablegte.
„Aber ...?“, hakte Li Li nach.
„Aber einige Ereignisse der letzten Zeit sind Grund für uns, alle Hordenaktivitäten außerhalb ihres eigenen Gebiets verdächtig zu finden“, antwortete Atropa.
„Die sin' einfach zu nah an Theramore“, murmelte Baenan. „Wenn sie woll'n, dass wa' sie in Ruhe lassen, müssen sie dahin zurückgeh'n, woher sie gekommen sind. Denen kann man nich' trau'n.“
„Ich habe am Hyjal Seite an Seite mit vielen Mitgliedern der Horde gekämpft“, sagte Lintharel leise. „Erzdruide Hamuul Runentotem ist Tauren und einer der größten Anführer des Zirkels des Cenarius. Man kann nicht ein ganzes Volk anhand der Taten einiger weniger beurteilen.“
Baenan schüttelte den Kopf. „Ich würd' Euch gern zustimmen. Die Druiden des Zirkels des Cenarius sin' vielleicht 'ne Ausnahme, so wie die Schamanen des Irdenen Rings. Aber schaut Euch doch mal an: Ihr seid vom Hyjal zurückgekommen un' wieder zur Allianz gegangen. Eure Hordenfreunde hab'n dasselbe gemacht. Das sin' jetzt Eure Feinde und Ihr seid ihre Feindin.“
Lintharel hielt ihre Karten nun fester in den Händen. „Ich diene der Allianz, da es der Wille der Hohepriesterin Tyrande und des Erzdruiden Malfurion ist und ich ihnen gegenüber loyal bin.“ Sie runzelte die Stirn. „Aber die Kluft zwischen der Horde und der Allianz ist falsch.“
„'ne falsche Kluft, die mit echten Waffen erzwungen wird!“, schnaubte Baenan. „Kriegshäuptling Höllschrei will kein'n Frieden. Denkt nur mal an Euer Zuhause in Eschental! Er is' 'ne Bedrohung und Eure Druidenfreunde unterstützen seine Herrschaft.“ Er ließ die Karten auf den Tisch knallen, da er diese Runde gewonnen hatte. „In der Horde is' nichts und niemand vertrauenswürdig. Das musste akzeptier'n."
***
Am Winkel des durch das Bullauge der Krankenstation fallenden Sonnenlichts erkannte Chen, dass es später Morgen war. Körperlich fühlte er sich erholt, aber sein Geist blieb müde. In den Jahren zuvor hatte er viele seiner Lieben verloren. Einige Tode sind schwieriger zu verkraften als andere.
Für Chen war Li Li immer die Tochter gewesen, die er nie gehabt hatte, das einzige Familienmitglied, das ihm glich. Er drückte seine Pfoten gegen die Augen, aus denen Tränen liefen und feuchte Rinnsale im Fell seiner Wangen hinterließen.
„Meine Güte, gibt es so wenig Wasser auf See, dass ihr unbedingt noch mehr erzeugen müsst?“
Chen setzte sich abrupt auf. Ein gelangweilt aussehender Blutelf lehnte mit verschränkten Armen an der Wand der Krankenstation.
„Das ist jetzt wohl meine einzige Aufgabe“, klagte der Elf. „Hier den Babysitter zu spielen.“
Wut bot eine sichere Zuflucht vor dem Kummer. Der Chen wie eine Welle durchströmende Zorn ließ ihn aus dem Bett und quer durch den Raum springen. Chen hatte viel Erfahrung damit, Leute einzuschüchtern.
„An Eurer Stelle würde ich meine Zunge hüten“, knurrte er. „Ich bezweifle, dass Ihr je gegen einen meines Volkes gekämpft habt, und glaubt mir: Das wollt Ihr sicherlich nicht.“
Bevor der Elf antworten konnte, betrat jemand das Zimmer. Es war Karrig, der Schamane. Er hatte einen großen Stab dabei, mit dem er wütend auf den Boden schlug.
„Talithar!“, rief er. „Müsst Ihr immer wieder Ärger machen? Verschwindet, verflixter Elf.“
Der Elf Talithar warf Karrig einen Blick voller Abscheu zu, sagte jedoch nichts und verließ hoch erhobenen Hauptes die Krankenstation.
„Dieser arrogante kleine Mistkerl“, murmelte Karrig. „Einen Helden der Horde wie Euch sollte man mit Respekt behandeln!“ Er lächelte Chen freundlich an. „Auf jeden Fall ist es eine Ehre, Euch an Bord zu haben.“
„Äh, danke“, erwiderte Chen, der sich nicht ganz wohl dabei fühlte, dass Karrig ihn einen Helden genannt hatte. In Chens Erinnerungen stellten sich die Ereignisse auf Theramore etwas komplexer dar.
„Ich soll Euch abholen“, sagte Karrig ihm. „Kapitän Aldrek möchte mit Euch reden.“
Chen nickte und folgte ihm zur Kapitänskajüte, in der Aldrek ihm gegenüber mit zusammengelegten Fingern an einem Schreibtisch aus grobem Holz saß.
„Karrig hat einiges über Eure Taten auf Theramore erzählt“, sagte Aldrek. „Ich bin überzeugt, dass es ein Zeichen der Geister ist, Euch an Bord zu haben.“
„Warum?“, fragte Chen. Der Unterton in Aldreks Stimme besorgte ihn.
„Weil ich glaube, dass Ihr uns bei unserer Sache helfen könnt“, antwortete der Orc-Kapitän. „Sobald wir das uns verfolgende Allianzschiff los sind ...“
„Ich verstehe nicht, was ich da tun kann, Kapitän“, antwortete Chen höflich. Aldrek wirkte überrascht.
„Oh, nein! Macht Euch darüber keine Gedanken“, sagte er. „Wir haben beschlossen, erst einmal mit ihnen zu reden.“ Er winkte ab. „Mit Euch habe ich langfristigere Pläne.“
„Wie bitte?“
Aldrek lehnte sich in Chens Richtung.
„Also, wir sind hier auf einer reinen Aufklärungsmission, aber ...“
„Aufklärung für was genau?“, unterbrach Chen ihn. Aldrek und Karrig lächelten.
„Das kann ich Euch nicht sagen. Noch nicht. Aber als Soldat der Horde bei der ersten Schlacht auf Theramore würdet Ihr Euch doch sicherlich geehrt fühlen, auch bei der zweiten mitzukämpfen.“
Aldrek lehnte sich zurück und ließ seine Worte wirken. Chen bemühte sich, einen neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten.
„Das ... Das wäre in der Tat eine außergewöhnliche Erfahrung“, sagte er. „Das ist also Euer Plan?“
Aldrek tippte sich an die Nase und grinste verschmitzt. „Nein. Wir befinden uns ja auf einer reinen Aufklärungsmission, oder?“
„Genau“, antwortete Chen und stellte sich dumm. „Wir ... spähen nur.“
Aldrek nickte. „Spähen, ja. Wir möchten dem Allianzschiff dabei helfen, dies zu verstehen.“
„Wie Ihr vielleicht wisst“, schaltete sich Karrig ein, „ist es für die Horde seit ihrem Eintreffen auf Kalimdor schwierig, Vorräte zu erhalten. Es ist nicht einfach, eine Großstadt mitten in der Wüste zu versorgen.“
„Mir sind einige der Probleme in Orgrimmar bewusst“, sagte Chen.
„Dann versteht Ihr unsere Not!“ Aldrek schlug mit der Faust in die Fläche seiner anderen Hand. „Wir benötigen ausreichend Vorräte für unsere Familien und Kinder. Orgrimmar darf nicht aufs Spiel gesetzt werden!“
Chen entschied, sich dazu nicht weiter zu äußern. Was Aldrek und Karrig ihm sagten, machte ihn genauso nervös wie das wilde Glühen in ihren Augen, als sie von Orgrimmar und seiner Zukunft sprachen.
Da Kapitän Aldrek sein Schweigen als Zustimmung deutete, entspannte er sich in seinem Stuhl. „Es ist mir eine große Ehre, Euch an Bord meines Schiffes zu haben, Chen Sturmbräu“, sagte er. „Ich bin sicher, dass ihr Euch als wertvoller Verbündeter der Horde erweisen werdet. Ihr habt mein Einverständnis, Euch frei auf dem Schiff zu bewegen. Ihr könnt wegtreten.“
„Danke, Kapitän“, gab Chen zurück und salutierte.
***
Auf der Suche nach einem harten Drink und einem heißen warmen Mahl begab sich Chen zur Kombüse. Er war sich äußerst sicher, dass Aldrek und Karrig ihm die Pläne der Horde zur Invasion Theramores offenbart hatten. Aber darüber wollte er nicht nachdenken. Das Essen auf dem Schiff konnte man allerhöchstens als mittelmäßig bezeichnen.
Als sich eine Person auf die Bank gegenüber an den Tisch setzte, blickte er auf. Es war Nita, die Tauren, die sich am Abend zuvor um ihn gekümmert hatte. Sie lächelte und dicke Zöpfe umrahmten ihr Gesicht. Sie faltete ihre großen dreifingerigen Hände vor sich auf dem Tisch.
„Wie fühlt Ihr Euch heute, Chen Sturmbräu?“, fragte sie.
„Dank Eures Könnens ziemlich gut“, antwortete er. „Ihr seid eine sehr fähige Druidin.“
Sie strahlte ihn an. „Danke“, sagte sie. „Es tut mir leid, dass ich heute Morgen nicht für Euch da sein konnte. Leider musste ich mich um andere Dinge kümmern. Hat Talithar Euch zum Essen hierher geschickt?“
„Äh, nein“, sagte Chen. „Er war, ähm, nicht besonders freundlich.“
Nita blickte verdrossen drein. „Ich entschuldige mich für ihn“, sagte sie. „Er ist einer der Schiffsmagier und eine geplagte Seele. Er hat sich fast mit der gesamten Besatzung angelegt.“ Sie seufzte schwer. „Ich habe ihn gebeten, sich um Euch zu kümmern, da ich davon ausgegangen war, dass ihm ein Kontakt mit jemandem, der nicht zum Schiff gehört, guttun würde. Aber da habe ich mich wohl geirrt.“
„Es ist nicht Eure Schuld, dass er sich nicht benehmen kann“, sagte Chen. „Aber es ist nett von Euch, sich Gedanken über ihn zu machen.“
„Es ist meine Pflicht, mir Gedanken über andere zu machen“, sagte sie und lächelte wieder. „Ich bin eine Heilerin und auf die eine oder andere Art sind wir alle Kinder der Erdenmutter. Gemeinsam sind wir stark.“ Sie hielt inne und runzelte die Stirn. „Ich glaube, dass unser Kapitän das manchmal vergisst.“
***
An Bord der Elwynn hatte Kapitän Heller alle Besatzungsmitglieder auf Deck zusammengerufen. Der Kapitän wandte sich von der Brücke an seine Mannschaft.
„Wie viele von Euch wissen“, kündigte er an, „habe ich mich mit dem Kapitän des Hordenschiffs in Verbindung gesetzt.“
Li Lis Herz pochte ihr bis zum Hals. Wenn Heller Kontakt zum Hordenschiff hergestellt hatte, könnte sie ihn nach Chen fragen.
„Ihre Anwesenheit ist besorgniserregend“, fuhr der Kapitän fort, „und wir müssen sie auch weiterhin überwachen. Zu meiner Überraschung haben sie angegeben, dass sie dies verstehen und gemeinsam mit uns an einer friedlichen Lösung arbeiten wollen.“
Die Besatzungsmitglieder murmelten und flüsterten miteinander.
„Ihr Kapitän hat sich bereit erklärt, uns einen diplomatischen Gesandten zu schicken, falls wir ebenfalls einen entsenden. Ich heiße diese Vorgehensweise gut und benötige daher einen Freiwilligen. Diese Person muss tapfer und bereit sein, im Namen der Allianz zu sprechen. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass auch Gefahren auftreten könnten. Wenn wir sie jedoch überzeugen, nach Durotar zurückzukehren, wird dies gewiss ein Sieg für die Allianz sein! Wer wird sich dieser Pflicht annehmen?“
Einige Hände wurden unter schwachen Beifallsrufen gehoben, doch eine Person trat furchtlos vor, stieg halb die Treppe zur Brücke hoch und richtete seine 1,20 Meter stolz auf. Es war der Zwerg Baenan. Li Li hörte, wie Lintharel neben ihr hörbar einatmete.
„Ich werde geh'n! Als Paladin des Lichts biete ich der Allianz mit Freuden meine Dienste an!“
Kapitän Heller nickte. „Sehr gut. Ich werde ihnen mitteilen, dass wir einen Gesandten ausgewählt haben, um den Austausch durchzuführen.“
Der Kapitän gab einem Draenei-Magier neben ihm das Signal, eine Reihe von farbigen Magieblitzen durch Aussprechen von Runen in die Luft zu schicken. Nach einer langen Pause konnte Li Li eine ähnliche Aktion auf dem Deck des Hordenkriegsschiffs erkennen.
„Der Austausch wird in einer halben Stunde stattfinden!“, erklärte Kapitän Heller. Er wandte sich an Baenan. „Kommt mit. Ich werde Euch alles Weitere über Euren Auftrag mitteilen.“
Baenan salutierte voller Entschlossenheit. Li Li drängte sich durch die Menge nach vorne und als Heller sie erblickte, blieb er stehen.
„Ja?“, fragte er schroff.
„Äh, ich habe da eine Frage“, sagte Li Li so höflich sie konnte. „Seit dem Sturm versuche ich herauszufinden, ob irgendjemand meinen Onkel gesehen hat. Ich würde gerne wissen, ob jemand an Bord des Hordenschiffs einen anderen Pandaren oder ein kleines Boot in der Nähe erwähnt hat.“
Kapitän Heller kniff die Augen zusammen, aber Li Li blieb standfest. Ihre Frage war absolut aufrichtig.
„Dazu hat sich niemand geäußert“, antwortete Heller schließlich, „aber Ihr könnt den Hordendiplomaten gerne selbst fragen, sobald er eingetroffen ist.“
„Danke, Kapitän“, sagte Li Li. Sie nickte Baenan zu. „Viel Glück“, sagte sie ihm. Er nickte entschlossen dreinblickend zurück und ging dann mit Heller weiter. Begleitet von einigen Wachen verschwanden sie unter Deck.
Die restliche Besatzung begann sich zu zerstreuen und Li Li konnte Trialin in der Nähe entdecken. Die Zwergin hatte voller Stolz auf ihren Bruder ihr Kinn erhoben, aber ihre Wangen waren blass. Lintharel stand mit zusammengebissenen Zähnen und verhärmten Gesicht neben Li Li. Die Druidin blickte zum Himmel und schloss ihre silbrigen, zarten Augen.
„Könnt Ihr es in der Luft spüren?“, fragte sie. „Heute Nacht wird es wieder stürmen.“
***
„Seid Ihr sicher, dass Ihr das riskieren wollt?“ Aldrek beurteilte seine freiwillige Diplomatin – keine andere als die Druidin Nita.
„Ich habe im Zirkel des Cenarius mit Allianzmitgliedern gearbeitet“, antwortete Nita. „Das wird sie beruhigen.“
Aldrek rieb sich nachdenklich sein Kinn. „Gut. Könnt Ihr hinüberrudern?“
Nita hätte die Form eines Vogels annehmen und hinüberfliegen können, aber da die Allianz ein Boot schickte, war es besser, ebenso vorzugehen.
„Ja“, antwortete sie.
Auf seinem Ehrenplatz neben Karrig und Kapitän Aldrek sah Chen zu, wie Nita ruhig vorgetreten war und sich als Gesandte der Allianz angeboten hatte. Er dachte an ihre Worte: Wir alle sind Kinder der Erdenmutter. Um die Spannungen zwischen den Schiffen aufzulösen, gab es keinen besseren Kandidaten.
Während Nita ihr kleines Boot vorbereitete, lenkte Aldrek das große Kriegsschiff in Richtung des Allianzschiffs. Damit die Gesandten die Entfernung einfach überbrücken konnten, mussten beide Schiffe recht nah aneinander heranfahren – in Feuerreichweite. Chen trat nervös von einem Fuß auf den anderen und versuchte nicht negativ zu denken, erinnerte sich aber daran, was Aldrek hinsichtlich Theramore angedeutet hatte. Was plante die Horde? Wie viel wusste die Allianz? War diese Situation wirklich das Ergebnis eines zufälligen Zusammentreffens auf See oder hatte die Allianz sie aufgespürt?Oder hatte die Horde sie vielleicht irgendwie herbeigelockt?
Die Faust des Kriegshäuptlings fuhr in eine parallele Position zur Elwynn. Zwei Matrosen halfen Nita, ihr Boot zu Wasser zu lassen, und sie fuhr mit stetigem Ruderschlag los.
***
Die Gesandten fuhren ungefähr in der Mitte zwischen den beiden Schiffen aneinander vorbei. Baenan warf dabei einen Blick auf die breitschultrige Tauren und stellte fest, dass sie typische Druidenkleidung trug. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Tauren waren normalerweise vernünftiger als Orcs und Druiden arbeiten häufig für unterschiedliche Fraktionen. Vielleicht bestand ja doch noch Hoffnung für diese Mission.
An seinem Ziel angekommen, wurde er von Matrosen der Horde empfangen. Als sie sein Boot aus dem Wasser hoben, schaute er zurück zur Elwynn, deren eleganter Umriss sich orange-golden vor der untergehenden Nachmittagssonne abzeichnete. Er schickte ein Gebet ans Licht, um sicher wieder zurückzukehren.
***
Li Li wartete vor den anderen Besatzungsmitgliedern, damit sie den Diplomaten als eine der Ersten grüßen und nach ihrem Onkel fragen konnte. Als die große Tauren an Deck stieg, trat Li Li erwartungsvoll einige Schritte vor.
„Willkommen an Bord!“, begrüßte Kapitän Heller sie freudig und streckte seine Hand aus. Nita schüttelte sie herzlich und die versammelten Seeleute neigten als Anerkennung die Köpfe.
„Danke, Kapitän“, erwiderte sie. „Ich hoffe, dass wir eine für beide Seiten zufriedenstellende Übereinkunft erzielen können.“ Sie schaute in die Menge, und als ihr Blick auf Li Li fiel, schossen ihre Augenbrauen nach oben.
Li Li konnte einfach nicht anders. „Ihr erkennt mich!“, schrie sie fröhlich. „Äh, also meine Art! Meinen Onkel Chen – habt Ihr ihn gesehen?“
„Ja, wir haben ihn am Morgen nach dem Sturm aus seinem Boot gefischt“, sagte Nita und lächelte. „Es wird ihn überglücklich machen, zu erfahren, dass Ihr in Sicherheit seid.“
„Danke! Danke vielmals!“, erwiderte Li Li mit vor lauter Emotionen zugeschnürter Kehle. Sie hatte gar nicht mitbekommen, wie besorgt sie gewesen war, bis sie gehört hatte, dass es Chen gut ging. Bald schon würden sie und ihr Onkel wieder vereint sein.
„Hier entlang.“ Kapitän Heller trat vor Li Li und zeigte in Richtung der Kapitänskajüte. „Besprechen wir unsere Ziele, um einen Kompromiss zu erreichen.“
Nita folgte Kapitän Heller, wobei ihre mächtigen Hufe bei jedem Schritt gegen das hölzerne Deck schlugen. Als sie an Li Li vorbeigingen, warf der Kapitän ihr einen unfreundlichen Blick zu. Li Li sah, wie die beiden unter Deck verschwanden, schaute hinüber zum Hordenschiff und bemerkte, dass Baenans Boot schon an Bord gezogen worden war. Nun würden die Gespräche beginnen.
Baenan fürchtete fast, dass jeder in der Kapitänskajüte sein pochendes Herz hören konnte. Um sich zu beruhigen, ließ er den Blick durch den Raum mit Orcs, Trollen, einer Tauren, zwei Goblins (die sich darüber stritten, wer auf dem Schreibtisch des Kapitäns stehen durfte) und einem gammelig-verfaulten Verlassenen schweifen. Auch einer dieser Pandaren fiel im sofort auf – wie das Mädchen auf der Elwynn. Er zog die Augenbrauen zusammen. Sie sagte, sie wäre mit ihrem Onkel gereist. Könnte er das gewesen sein? Und falls ja, warum war er dort bei der Horde?
Baenan schaute Kapitän Aldrek an, der seinen Mund zu einem breiten, raubtierhaften Grinsen verzog.
„Also“, setzte der Kapitän langsam an, „besprechen wir diese Angelegenheit wie vernünftige Leute.“
Baenan schluckte und fand seine Stimme wieder. „Wie Ihr wisst, besorgt uns die Anwesenheit von Hordenkriegsschiffen so weit südlich ...“
„Das hier sind neutrale Gewässer“, konterte Aldrek.
„Das is' wahr“, erwiderte Baenan, „aber Ihr musstet das Gebiet Theramores durchfahren, um hierherzukommen, was ...“
„Woher wisst Ihr, dass wir nicht vom Basislager Grom'gol im Schlingendorntal gekommen sind?“, unterbrach ihn Aldrek.
„Und, seid Ihr?“, fragte Baenan direkt.
Die Frage überraschte Aldrek und er zögerte so lange, dass die Antwort klar war. Sein Lächeln wurde härter. „Wir sind hier auf Befehl des Kriegshäuptlings – auf einer Aufklärungsmission“, sagte er mit warnendem Unterton in der Stimme.
„Also“, antwortete Baenan, „Ich bin 'n Zwerg. Mein Volk is' ziemlich direkt. Ihr sagt, dass Ihr auf 'ner Aufklärungsmission seid. Vielleicht is' das so, aber rausfinden können wir's nich'. Wir woll'n nur, dass unser Besitz in Theramore sicher is'. Lasst uns Euch in die Gewässer von Durotar zurückeskortieren. Das is' das Angebot meines Kapitäns.“
Kapitän Aldrek brach in Gelächter aus und Baenan wurde das Herz schwer.
„Und genau dieses Angebot lehne ich ab“, sagte der Orc. Er schnippte mit dem Finger nach einer Wache.
„Dieser Zwerg ist unser Gefangener.“
Baenan hatte im ersten Moment den Impuls, um seine Freiheit zu kämpfen, was allerdings eine äußerst schlechte Idee gewesen wäre. Er war in der Unterzahl und hatte seine Waffen abgeben müssen, als er an Bord der Faust des Kriegshäuptlings gekommen war.
„Ich wusste, dass Ihr 'n Haufen verlogener Feiglinge seid“, murmelte er, woraufhin er von einem anderen Orc einen Klaps auf den Kopf erhielt.
„Und doch habt Ihr uns vertraut“, sagte Aldrek mit selbstgefälligem Gesichtsausdruck. „Sperrt ihn in der Bilge ein und lasst ihn von jemandem bewachen. Ruft alle Matrosen an Deck. Bereitet die Kanonen vor, solange das Allianzschiff noch davon ausgeht, dass wir verhandeln.“
Als Baenan hinausgeführt wurde, musste Chen seine gesamte Willenskraft aufbringen, um auch weiterhin unbeeindruckt zu wirken. Fast schon wäre er dem Zwerg zu Hilfe geeilt, hatte diesen Gedanken aber schnell verworfen. Er wollte mehr über die Geschehnisse herausfinden. So sehr es ihn auch schmerzte, musste er warten, bis der richtige Zeitpunkt zum Handeln kommen sollte.
***
Nita saß Kapitän Heller in seiner Kajüte gegenüber. Mehrere Offiziere standen mit formell hinter dem Rücken verschränkten Händen neben den Verhandlungsführern.
„Kapitän“, setzte sie an, „ich möchte Euch gerne alles über die Aktivitäten unseres Schiffs erzählen ...“
„Nita“, unterbrach Heller sie, „mich interessieren die Aktionen der Horde und ihre Gründe dafür nicht. Ich will nur, dass Ihr verschwindet.“
„Diese Gewässer sind neutral“, konterte sie. „Wir haben genau so viel Recht, hier zu sein, wie Ihr.“
„Das mag stimmen“, fuhr Heller unbeeindruckt fort, „aber Ihr stellt eine Gefahr dar. Für mich wird sie erst eingedämmt sein, wenn Euer Schiff wieder in Durotar ist, wo es hingehört.“
„Ich kann das gerne an meinen Kapitän weitergeben“, sagte Nita zögerlich.
„Nein, ich glaube, wir werden direkt mit ihm sprechen“, sagte Heller. „Ihr bleibt als Sicherheit hier, damit unsere Botschaft auch wirklich verstanden wird.“
Nita klappte der Kiefer herunter. „Was? Ihr wollt mich gefangen nehmen?“
„Ich tue, was ich tun muss“, sagte Kapitän Heller. „Sperrt sie ein.“
Vier Offiziere ergriffen ihre Arme. „Das ist unerhört!“, schrie sie, als sie sich gegen ihre Gefangennahme wehrte. „Ich bin eine Druidin des Zirkels des Cenarius! Ich habe an Malfurion Sturmgrimms Seite gedient!“
„Schön für Euch“, antwortete Kapitän Heller. „Wenn ich ihn mal treffe, werde ich ihm auf jeden Fall sagen, dass ich Euch kenne.“
***
In seinen unbequemen Fesseln konnte Baenan in der Bilge der Faust des Kriegshäuptlings ein entferntes Grollen hören, das wie Marschieren und das Rollen schwerer Kanonen klang. Der widerliche Orc-Kapitän bereitete einen Angriff auf die Elwynn vor und Baenan konnte nichts dagegen tun. Es gab nichts Schlimmeres als Hilflosigkeit. Er war wütend auf die Horde.
Kapitän Aldrek hatte Baenan nicht allein in seinem Gefängnis gelassen. Talithar, ein überheblicher Blutelf, hielt Wache und sah dabei äußerst gelangweilt aus. Baenan hasste ihn von ganzem Herzen.
„Nichtsnutzige Horde“, knurrte Baenan. „Kapitän Heller wird Euch versenk'n un' dann werden Euch die Naga fress'n.“
„Und wenn er Erfolg hat, werdet Ihr mit uns untergehen“, antwortete Talithar. „Wirklich tragisch. Damit Ihr überleben könnt, müssen Eure Freunde verlieren.“
„Wenn ich weiß, dass Ihr mit mir untergeht, will ich mit Freud'n sterb'n“, entgegnete Baenan.
„Wie edel von Euch, so zu empfinden.“
Baenan spuckte dem Elfen vor die Füße. „Ihr Blutelfen wüsstet nich' mal, was ‚edel‘ bedeutet, wenn man Euch die Erklärung auf die Stirn tätowier'n würde. Ihr jämmerlichen, geifernden Magiesüchtigen habt sogar Euer eig'nes Volk verraten!“
Talithars Gesicht wurde blass und Baenan freute sich, einen wunden Punkt getroffen zu haben. Er wusste, dass es unklug war, seinen Bewacher zu reizen, aber das war ihm in seiner Wut egal.
„Ja“, setzte er nach, „Ich habe schon Hochelfen getroffen. Ich weiß, was Ihr mit ihnen gemacht habt. Ich komm' aus Loch Modan und hab die Geschichten der Weltenwand'rin gehört ...“
In einer beeindruckenden Demonstration reiner Körperkraft sprang Talithar quer durch den Raum, hob Baenan hoch und schlug ihn gegen die Wand. Der fast doppelt so große Blutelf hielt ihn auf Augenhöhe und starrte ihn an.
„Erwähnt sie nie wieder – nie wieder — in meiner Gegenwart.“ Talithars Stimme war ruhig, hatte jedoch einen bedrohlichen Unterton, der Baenan Angst einflößte. Er hatte den Elfen verärgern wollen, aber die Heftigkeit seiner Reaktion überraschte ihn. Aber da die Horde Baenan gefangen genommen und ihm seine Waffen abgenommen hatte, kämpfte er eben mit Worten. Und dieser Magier stand für alles, was er verachtete.
„Oh, Ihr kennt Vyrin Flinkwind also“, sagte Baenan aus reiner Gehässigkeit. „Bedeutet sie Euch etwas? Tja, nun hasst sie Euer Volk und alles, wofür es steht!“
Talithar warf Baenan auf den Boden. Der Zwerg landete schmerzhaft auf der Schulter und bereitete sich auf einen Wutausbruch des Magiers vor. Aber Talithar war überraschend beherrscht und unternahm nichts weiter.
Baenan schaffte es, sich hinzusetzen. Seine Schulter schmerzte, aber das war es wert, da er den Blutelfen hatte provozieren können. Talithar hatte den Kopf gesenkt und seine Fäuste waren so fest geballt, dass die Knöchel weiß wurden. Als er den Kopf hob, konnte es Baenan nicht fassen.
Talithars Gesicht war von Tränen überströmt.
„Normalerweise bedeutet eine Frau ihrem Ehemann etwas.“ In seiner Stimme schwangen Zorn, Demütigung und Verzweiflung. Er griff in die Vorderseite seiner Robe, riss sich eine dünne Goldkette vom Hals und warf sie Baenan vor die Füße. An der Kette befanden sich keine Perlen und kein Anhänger, sondern nur zwei kunstvoll gefertigte Ringe – einer für Männer und einer für Frauen – im Hochelfenstil.
„Glaubt Ihr, ich weiß nicht, was ich bin? Wir Sin'dorei hatten die Wahl: unsere Rechtschaffenheit oder unser Wohlergehen. Als ob das überhaupt eine Wahl gewesen wäre. Ich entschied mich für mein Wohlergehen. Meine Frau für ihre Rechtschaffenheit.“
***
Chen eilte, so schnell er konnte, bis in das unterste Deck der Faust des Kriegshäuptlings. Es war schon schwierig gewesen, dem wachsamen Blick von Kapitän Aldrek zu entgehen, und dann hatte er auch noch seine Waffen finden müssen. Doch er hatte Glück – sein Tol'vir-Segelboot befand sich neben den Rettungsbooten an Bord und die Besatzung hatte seine Sachen nicht angerührt. Selbst die Perle war noch immer sicher in seinem Reisebündel verstaut – wohl einer der Vorteile der Bewunderung, die Aldrek ihm entgegenbrachte.
Der Eingang zur Bilge war verschlossen. Chen holte tief Luft, trat die Tür auf und stürmte herein, während er seinen Stab schwang, der aber nur durch die Luft zischte. Chen hielt inne, um die Situation neu einzuschätzen. Der Zwergengesandte Baenan saß gefesselt und niedergeschlagen auf dem Boden. Genauso niedergeschlagen saß die ihm zugeteilte Wache Talithar an der Wand.
Chen nahm seinen Stab herunter. Während er Talithar im Blick behielt, sprach er Baenan an.
„Ich bin gekommen, um Euch bei der Flucht zu helfen“, sagte er. „Talithar, ich warne Euch ...“
Der Elf überraschte ihn mit einem kurzen, verbitterten Lachen. „Ich werde Euch nicht aufhalten. Verschwindet einfach.“
Talithars Haltung verwirrte Chen, allerdings würde er sie auch nicht infrage stellen. Schnell kniete er sich neben Baenan und holte ein Messer heraus, um ihn von seinen Fesseln zu befreien. Der Zwerg schaute dankbar zu ihm hoch.
„Ihr seid einer von dies'n Pandaren“, sagte er, während er sich die Handgelenke rieb. „Danke, dass Ihr mich gerettet habt.“
„Kennt Ihr mein Volk?“, fragte Chen, während er die Seile an Baenans Beinen durchschnitt.
„Nich' gut“, antwortete der Zwerg. „Aber wir haben neulich 'n Pandarenmädchen während des Sturms an Bord genomm'n ...“
Chen zog Baenan an seinem Hemd, um ihn auf die Füße zu stellen. „Li Li?!“, rief der Pandaren hysterisch. „War ihr Name Li Li?“
„Ja!“, bestätigte Baenan, den es nervös machte, zum zweiten Mal innerhalb einer halben Stunde gewaltsam nach oben befördert worden zu sein. „Ihr Name ist Li Li! Sie sagte, dass sie im Sturm über Bord gegang'n wär.“
„Sie lebt“, sagte Chen leise und ließ Baenan los. Seine Pfoten zitterten. „Meine Nichte lebt.“
„Es geht ihr gut un' sie is' an Bord der Elwynn“, sagte Baenan.
„Dann dürfen wir keine Sekunde vergeuden“, sagte Chen. „Aldrek bereitet sich hier auf den Krieg vor. Gehen wir.“
Chen drehte sich um und wollte gehen, aber der Zwerg zögerte und hob ein glänzendes Objekt vom Boden auf. Zu Chens Überraschung hielt Baenan es Talithar hin.
„Das gehört Euch“, sagte der Zwerg unbeholfen. „Ihr solltet es zurücknehmen. Und ...“ – Baenan hielt inne – „... was ich zu Euch gesagt habe, tut mir leid. Das war gemein von mir.“
Chen blinzelte. Anscheinend hatte er etwas nicht mitbekommen.
„Nein“, sagte Talithar leise. Er streckte die Hand aus, um über die beiden Ringe zu streichen, zog sie dann aber wieder zurück. „Ihr hattet recht. Vyrin verließ mich nicht ohne Grund. Ich traf meine Wahl. Und sie hatte Konsequenzen.“
„Ja, aber ...“ Der Zwerg zögerte erneut. „Da gibt es noch was. Sie hat von Euch erzählt. Also, ich wusste nich', dass genau Ihr gemeint wart, aber sie hat erwähnt, dass sie verheiratet gewesen war. Warum sie ihren Ehemann verlassen hatte, hat sie nie erwähnt.
„Sie hasst Euch nich'“, sagte Baenan. „Ich weiß, dass sie wütend is', aber sie vermisst Euch.“
Talithars Gesichtsausdruck hatte sich mehrmals verändert, während Baenan gesprochen hatte, und wich nun einer wehmütigen Melancholie. Trotzdem nahm er das Halsband nicht.
„Behaltet es“, sagte Talithar. „Aber tut mir bitte einen Gefallen.“
Baenan nickte vorsichtig.
„Bringt ihr die Ringe, wenn ihr nach Loch Modan zurückkehrt. Sagt ihr, dass ich sie vermisse und nie aufgehört habe, sie zu lieben.“
„In Ordnung“, sagte Baenan. „Das werde ich.“
Talithar stand auf. „Ihr werdet nur einen Versuch haben“, sagte er Chen und Baenan. „Wenn man Euch erwischt, wird man Euch auf der Stelle hinrichten. Ich werde alles tun, um die Matrosen abzulenken.“
„Danke“, sagte Chen. „Von ganzem Herzen.“
Talithar lächelte, obwohl in seinen Augen immer noch Traurigkeit lag. „Und nun geht.“
***
Bei Sonnenuntergang war ein Wolkenfeld von Süden herangezogen und die Luft hatte sich abgekühlt. Li Li zitterte, als sie an Deck der Elwynn gespannt den Ausgang des diplomatischen Treffens abwartete. Lintharel war verschwunden und hatte sich aufgelöst, wie es Nachtelfen gerne tun. Neben Li Li kaute Trialin vor lauter Sorge um ihren Bruder an ihrem Finger. Li Li hoffte inbrünstig, dass alles gut gehen würde. Die gesamte Situation könnte friedlich gelöst werden, wenn beide Seiten es schaffen würden, ihren Stolz beiseitezuschieben. Doch das war leichter gesagt als getan.
Schließlich erschienen Kapitän Heller und Nita wieder an Deck. Li Li stellte sich auf die Zehenspitzen, um etwas zu sehen. Ihr Herz wurde schwer. Nitas große Hände waren hinter ihrem Rücken zusammengebunden. Die ernsten Mienen der Wachen deuteten an, dass die Gespräche gescheitert waren.
Kapitän Heller hob sein Schwert.
„Diese Kreatur“, kündigte er an, während er mit der Klinge auf Nita zeigte, „hat mich angegriffen, als ich und meine Offiziere vom Rest der Besatzung getrennt waren! Wir konnten sie bezwingen und müssen sie nun bestrafen!“
„Ihr lügt! Nichts dergleichen habe ich getan!“, konterte Nita wütend, was ihr einen Schlag einer der größeren Offiziere einbrachte.
„Still, Hordenabschaum!“, befahl Heller.
Eine Reihe lauter Knalle und greller Blitze unterbrach den Kapitän. Magische Energie schoss vom Deck des Hordenschiffs und Runen erleuchtenden den sich verdunkelnden Himmel.
Einer der Magier rief: „Sie verlangen, dass wir aufgeben, sonst wird Baenan sterben!“
Heller stieß ein wütendes Knurren aus und fluchte. „Wir werden niemals aufgeben!“, rief er, als ob man ihn auf der Faust des Kriegshäuptlingstatsächlich hätte hören können.
Trialin legte die Hände vor den Mund und unterdrückte ein Schluchzen. Li Li legte ihren Arm um die Schultern der Zwergin.
Heller wandte sich an Nita. „Ihr.“ Er gab ein Signal an seine Männer, die daraufhin die Tauren nach vorne stießen. „Ist Baenans Leben verwirkt, ist es Eures auch. Blut gegen Blut.“ Er erhob das Schwert.
Wie aus dem Nichts trat Lintharel mit weit ausgebreiteten Armen zwischen Nita und den Kapitän.
„Nein“, sagte die Nachtelfe.
Kapitän Hellers Gesicht war wutverzerrt. Er senkte das Schwert nicht.
„Lintharel?“, sagt Nita leise. Li Li legte ihren Kopf auf die Seite. Woher kannte diese Tauren Lintharels Namen?
„Geht mir aus dem Weg, Nachtelfe“, sagte Kapitän Heller.
„Am Hyjal habe ich Seite an Seite mit Nita gekämpft“, sagte Lintharel. „Ich kenne nur wenige Kameraden, die ehrenhafter und mutiger waren. Sie hat nichts Falsches getan. Lasst sie gehen.“
„Ihre Leute haben Baenan gefangen genommen“, sagte Heller mit zusammengebissenen Zähnen.
„So, wie Ihr es mit ihr gemacht habt“, erwiderte Lintharel. „Wenn die Horde von Anfang an beabsichtigt hat, Baenan gefangen zu nehmen, ist sie bereit, sie zu opfern. Sie mussten wissen, wie Ihr auf ihr Ultimatum reagieren würdet. Sie ist nicht weniger Opfer als Baenan.“
„Tretet zurück, Nachtelfe! Das ist ein Befehl!“
„Oder hattet Ihr auch geplant, den Gesandten der Horde einzusperren“, fuhr Lintharel mit erhobenem Kinn fort, „und Baenan damit dem Tode zu weihen?“
„Haltet den Mund!“, brüllte Heller. Die Spitze seines Schwerts befand sich nur wenige Zentimeter vor ihrer Kehle. „Ihr steht im Dienst der Allianz. Sich mir zu widersetzen, ist Verrat.“
„Einen Freund zu verraten ist genauso eine Schandtat“, sagte sie. „Was wiegt mehr, Kapitän? Politische oder persönliche Loyalität?“
Die Frage klang nach wie der Schlag eines Gongs. Li Li pochte das Herz bis zum Hals. Es herrschte Totenstille. Niemand wagte auch nur zu atmen. Jeder Klang wurde verstärkt: die gegen den Rumpf klatschenden Wellen, die vom Wind umhergewehte Takelage. Die Wolken hatten sich verdichtet und verliehen der Dämmerung ein unheimliches Grün.
Das gesamte Fell an Li Lis Hals und Armen stand ihr zu Berge. Die Luft war geladen mit einer fast greifbaren Spannung.
Und Li Li verstand.
Die zwischen Nita und denen, die ihr Leid antun wollten, stehende Lintharel war nicht so verletzlich, wie sie wirkte. Sie hatte alles hinausgezögert, um Zeit zu gewinnen
Sie wirkte einen Zauber.
Die ersten Regentropfen fielen vom Himmel.
„Lintharel“, sagte Kapitän mit absolut ruhiger Stimme, „das ist meine letzte Warnung.“
Li Li ergriff Trialins Handgelenk und trat einen Schritt zurück, fort von der Menge. Die Zwergin spürte Li Lis Drängen, folgte ihr und sagte nichts.
„Ich werde nicht weichen“, sagte Lintharel. Am Himmel war ein Grollen zu vernehmen.
„So sei es! Tötet ...“
Die zweite Hälfte von Hellers Befehl ging in einem dröhnenden Wind unter, der seinen Ursprung hinter Lintharels Rücken hatte und alle nach hinten stolpern ließ. Gleichzeitig schoss ein Blitz wie eine Bombe auf den Hauptmast der Elwynn herab und entzündete das Toppsegel in einem Feuerwerk aus Funken. Dolchgroße Holzsplitter regneten auf das Deck. Li Li und Trialin versteckten sich hinter einer befestigten Kiste und beobachteten, wie die Nacht von Flammen erhellt wurde.
Lintharel trat in den freien Bereich vor ihr, und ihre geöffneten Arme waren nun nicht mehr eine Geste des Opfers, sondern der Macht. Ihre Augen leuchteten – dem beschworenen Blitz gleich – hell wie Sterne. Der Wind umwehte sie, schleuderte ihr Haar umher und zerrte an ihrem Lederkilt, wirkte sich aber ansonsten nicht auf sie aus. Li Li sah voller Ehrfurcht zu. Lintharel wirkte wie eine Göttin.
„Befreit sie“, befahl sie einem auf Deck kauernden Matrosen. Er nickte mit angstgeweiteten Augen und begann, in Nitas Richtung zu kriechen.
Eine weitere Explosion schüttelte das Schiff durch und alle gerieten ins Straucheln. Irgendwo schrien Leute nach Wasser oder einem Heiler.
Die Faust des Kriegshäuptlings hatte das Feuer eröffnet.
Nun brach das Chaos herein. Aus den Wolken schüttete der Regen. Einige Besatzungsmitglieder stürzten herbei, um Lintharel und Nita anzugreifen, andere wollten das Schiff verteidigen. Und Kapitän Heller brüllte Befehle in dem verzweifelten Versuch, die Kontrolle wiederzuerlangen.
Als Erwiderung auf den Angriff des Hordenschiffs folgte eine Kanonensalve, wobei einige Kugeln ihr Ziel trafen. Li Li sprang aus ihrem Versteck hervor und warf einen Blick auf die gegen die Nachtelfe und die Tauren kämpfende kleine Gruppe.
„Wohin wollt Ihr?“, rief Trialin.
„Was sie Nita angetan haben, ist nicht richtig“, sagte Li Li trotzig. „Ich werde ihr und Lintharel helfen.“
Li Li hatte befürchtet, dass Trialin sich aus Wut wegen ihres Bruders mit der anderen Besatzung verbünden würde, aber zu ihrer Erleichterung nickte die Zwergin.
„Ja“, sagte sie. „Diplomaten anzugreifen is' an Feigheit nich' mehr zu überbiet'n.“ Sie zog ein Kurzschwert aus ihrem Gürtel und warf es Li Li zu. „Ihr werdet 'ne Waffe brauch'n.“
„Danke“, gab Li Li zurück und mit einem Schrei stürzten sich die beiden ins Getümmel.
***
Chen und Baenan eilten durch das Unterdeck und versuchten, so wenig Aufsehen wie möglich zu erregen. Baenan steckte seinen Bart ins Hemd und benutzte einen Helm, um mehr schlecht als recht sein Gesicht zu verdecken. Der grob ausgearbeitete Fluchtplan bestand darin, zum Tol'vir-Boot zu gelangen, es ins Wasser zu lassen und hinunterzuspringen. Die Chancen standen schlecht, aber an Bord zu bleiben war keine Alternative.
Das Schiff wurde nach einem Volltreffer der Allianzkanonen durchgeschüttelt. Chen fand die Leiter in der Nähe der Rettungsschiffe, die er gesucht hatte, schob Baenan vor und kletterte hinter ihm hoch.
„Da ist der Gefangene!“, brüllte eine Stimme hinter ihnen, die Chen sofort Karrig zuordnete. „Dreckiger Verräter!“, schrie er Chen an. „Wir haben Euch vertraut! Tötet sie beide!“
Chen riskierte einen Blick nach unten. Er zählte mit Karrig sechs Besatzungsmitglieder. Der Pandaren fluchte. Gegen sie zu kämpfen, würde eine Menge Zeit kosten.
„Los!“, rief eine andere Stimme. Talithar kam herbeigerannt und warf sich vor die Unterseite der Leiter. „Ich werde sie aufhalten!“
Die beiden Entflohenen zögerten keinen Moment. Mit stillen Worten des Dankes auf den Lippen zog Chen sich den Rest der Leiter hoch und rannte gemeinsam mit Baenan los.
„Ihr seid eine Schande für die Horde, Talithar Flinkwind!“, brüllte Karrig. Verräterischer, nichtsnutziger Elf!“
„Ich habe für die Horde auf den Schneefeldern von Eiskrone gekämpft“, erwiderte Talithar ruhig. „Und ich habe es mit Stolz getan. Aber der Horde gehört nicht meine alleinige Loyalität.“
„Geht uns aus dem Weg“, knurrte Karrig, „oder sterbt.“
Talithar hob beide Hände, über denen rote Flammenkugeln schwebten. Im grellen Licht war die Ladung des Frachtraums zu erkennen. An den Wänden standen Fässer mit Schießpulver für die Kanonen.
„Oh“, sagte Talithar friedlich lächelnd. „Ich habe meine Wahl getroffen.“
***
Unbeeinträchtigt vom Regen breitete sich das Feuer auf das Hauptsegel der Elwynn aus. Einige Matrosen versuchten verzweifelt, jedoch ohne Erfolg, den Flammen mit einer Eimerkette Einhalt zu gebieten. Schließlich brannte das gesamte Schiff.
„Nita“, schrie Lintharel, „Ihr müsst hier verschwinden! Nehmt eine Eurer Formen an und flieht!“
„Ihr habt mir das Leben gerettet“, erwiderte die Tauren. „Ich werde Euch nicht allein kämpfen lassen.“
„Sie ist nicht allein!“, rief Li Li, während sie sich zwischen die beiden Druidinnen stellte.
„Ja, wir sin' gekommen, um Euch zu helf'n!“, rief Trialin und schwang dabei meisterhaft zwei Äxte. Lintharel verschoss magische gelbe Blitze und Li Li wehrte die Matrosen ab. Zwergin, Nachtelfe und Pandaren griffen mit aller Gewalt an und konnten sich schließlich ein wenig Platz verschaffen.
„Das ist Eure Chance!“, rief Li Li Nita zu.
„Ich stehe für immer in Eurer Schuld!“, rief Nita zurück. Mit einem einzigen gewaltigen Schritt durchbrach sie die Reihe der Matrosen und sprang über Bord. Wenige Augenblicke später verschwand ein geschmeidiger Seelöwe in den Wellen.
Li Li atmete erleichtert aus. Sie umfasste ihr Schwert mit festem Griff, Schulter an Schulter mit Lintharel und Trialin. Regen prasselte gegen ihr Gesicht und ihren Hals. Nun, da Nita es geschafft hatte, mussten auch sie entkommen.
Trialin hob eine Axt und nickte den anderen beiden zu. Eins, sprach sie leise aus. Zwei ...
Eine gewaltige Explosion schüttelte die Elwynn vom Bugspriet bis zum Heck durch. Das Schiff schwankte stark und der Holzrumpf ächzte unter der Kraft der Detonation. Jede einzelne Person wurde auf das Deck geworfen. Eine schwarze Rauchwolke stieg auf und vom Himmel herabregnende Klumpen aus brennendem Pech fachten das Feuer der brennenden Segel noch weiter an.
„Bei Elune and Ysera!“, fluchte Lintharel. Li Li rollte sich auf die Seite, um zu sehen, was geschehen war. Rauch kam aus einem klaffenden Loch in der Faust des Kriegshäuptlings, wo sich die Explosion ereignet hatte.
„Baenan“, flüsterte die neben Li Li liegende Trialin. „Oh, Licht, lass ihn bitte leben ...“
Lintharel war als Erste wieder auf den Füßen und reichte Li Li die Hand. Während Li Li sie ergreifen wollte, entdeckte sie aus dem Augenwinkel, wie sich etwas bewegte. Kapitän Heller hatte sich mit gezogenem Schwert an Lintharel herangeschlichen.
„Achtung!“, schrie Li Li, doch die Warnung kam zu spät. Lintharels Körper krümmte sich und ihre Augen weiteten sich vor Schreck und Schmerz, als der Kapitän sein Schwert komplett durch sie hindurchstieß.
Lintharel hustete und aus ihren Mundwinkeln lief Blut. Ihre Knie stießen gegen das hölzerne Deck, als sie keuchend zu Boden fiel.
Heller zog sein Schwert heraus, an dessen silberner Klinge das Blut herunterlief.
„Die Strafe für Verrat ist der Tod“, sagte er leise und hob seine Waffe, um ihr den letzten Stoß zu verpassen.
Ein Schatten bewegte sich neben ihn, nahm Form an und eine geschwungene Klinge mit Prägung drückte gegen Hellers Kehle.
Sein Gesicht war voller Zorn. „Verräter!“
„Haltet den Mund.“ In Atropas Augen, die denen von Lintharel so sehr glichen, lag ein mörderischer Glanz. „Die Strafe für Gewalt gegen meine Familie ist ebenfalls der Tod.“
***
Als sie endlich das Hauptdeck erreichten, erwartete Baenan und Chen strömender Regen. Niemand schien sie zu bemerken, da alle viel zu sehr mit dem Kämpfen beschäftigt waren. Gegenüber stand die Elwynn in Flammen.
„Wir müssen irgendwie 'rüber komm'n“, sagte Baenan. Der Pandaren und der Zwerg rannten in Richtung der Rettungsboote, zwischen denen Chen auch seinen Tol'vir-Kahn erkennen konnte.
Chens Füße wurden unter ihm weggerissen. Das Donnern und die Hitze einer gewaltigen Explosion verschlangen ihn und warfen ihn gemeinsam mit Baenan über das Deck, woraufhin sie in die Rettungsboote krachten.
Chen wusste, dass er den Kampf gegen die Bewusstlosigkeit nicht verlieren durfte. Mit schmerzenden Gelenken zwang er sich auf die Knie. Nicht weit entfernt lag Baenan, der seinen Helm bei der Explosion verloren hatte, mit dem Gesicht nach unten. Chen sah, wie sein Stab wegrollte, ignorierte die Schmerzen in seinen Beinen und machte einen Satz nach vorn, um ihn zu ergreifen. Zumindest schien nichts gebrochen zu sein.
„Baenan!“ Er schüttelte den Zwerg durch. „Das ist unsere Chance!“
„Dieser verdammte Dummkopf von Blutelf!“, stöhnte Baenan, als Chen ihm auf die Beine half. „Wir war'n im Munitionslager!“
„Das kann er nicht überlebt haben“, sagte Chen mit schwerer Stimme und war überrascht darüber, dass jemand, den er am Morgen noch bedroht hatte, ihn solch einen Schmerz verspüren ließ.
„Ja“, antwortete Baenan. Er schaut zu Chen hoch. „Das gesamte Schiff wird in 'n paar Minuten sink'n“, sagte der Zwerg. „Es wird Zeit, zu geh'n.“
Flammen züngelten aus dem Loch, das die Explosion in den Rumpf der Faust des Kriegshäuptlings gerissen hatte. Das Schiff lief schnell voll und bekam Schlagseite, was es Chen und Baenan erleichterte, das Tol'vir-Boot zu Wasser zu lassen.
Talithars Explosion hatte jeglichen Anflug von Ordnung in Chaos verwandelt und jeder dachte nur noch daran, wie er das Schiff verlassen konnte. Chen nahm sich ein Ruder und paddelte zur Elwynn, deren brennende Segel ihnen als Leuchtfeuer im Sturm dienten.
Als er neben das Allianzschiff fuhr, fiel eine Person von Deck und klatschte nur knapp neben dem kleinen Boot ins Wasser.
„Das war Kapitän Heller!“, rief Baenan.
Chen schaute sich die Leiche an, die noch einige Augenblicke auf dem Wasser schwamm, bevor sie in den Wellen versank. „Seine Kehle war durchgeschnitten.“
Sie schauten zum Deck an die Stelle, an der Heller heruntergefallen war. Chen befestigte das Tol'vir-Boot behelfsmäßig an der brennenden Elwynn, um später schnell entkommen zu können.
„Seid Ihr bereit?“, fragte er Baenan.
„Ja“, antwortete der Zwerg mit einem Schimmern in den Augen. „Wir hol'n unsere Familien. Un' dann verschwind'n wir.“
Gleichzeitig sprangen die beiden über das Dollbord des Tol'vir-Boots und begaben sich auf die Elwynn.
***
In der rosa-goldenen Dämmerung schwamm an den Stellen, an denen die beiden Schiffe gesunken waren, nur noch Treibgut. Die Rettungsboote der Überlebenden hatten sich in alle Himmelsrichtungen verstreut.
In einem kleinen Boot befanden sich vier Personen, von denen drei sich am Bug und am Heck drängten, um Platz für die vierte zu machen, die zugedeckt auf dem Boden lag.
„Ich hab' alles getan, was ich konnte“, sagte Baenan niedergeschlagen und schüttelte den Kopf. „Aber ich weiß nich' mehr weiter. Tut mir leid.“
Trialin legte die Hand auf den Arm ihres Bruders.
Atropa hielt Lintharels Kopf in ihrem Schoß und strich Haarsträhnen über die langen Ohren der Druidin. Sie beugte ihre Stirn zu Lintharel herunter, während ihr Tränen übers Gesicht liefen.
Lintharel hatte die Augen geschlossen, lächelte aber schwach. Sie sprach nicht, sondern drückte nur Atropas Hand. Alle waren still, da sie wussten, dass es jetzt nur noch eine Frage der Zeit war.
Niemand bemerkte den dunklen, größer werdenden Fleck am Horizont, bis ein lauter Schrei sie aufschreckte. Ein großer brauner Vogel mit einer Flügelspanne, die fast der Länge des Rettungsboots entsprach, kreiste über ihnen. Er flog hinab und landete gekonnt auf dem hölzernen Rand. Danach blickte er sich kurz um und verwandelte sich.
Es war Nita.
Die Tauren kniete sich vorsichtig neben Lintharel, um das Rettungsboot nicht ins Schwanken zu bringen. Sie spreizte die Finger über der Taille der Nachtelfe und bedeckte die Wunde. Ein grünes Glühen kam aus ihren Handflächen und umhüllte Lintharel mit Licht.
Lintharel atmete heftig ein. Unter Keuchen und Husten versuchte sie, sich hinzusetzen. Atropa und Nita hielten sie sanft zurück.
„Ganz ruhig, meine Freundin“, sagte die Tauren. „Bald schon wird es Euch wieder besser gehen. Es gibt keinen Grund zur Eile.“
Lintharel nahm Nitas Hand. „Danke.“
Atropa ergriff Nitas breiten Unterarm. In den Augen der Nachtelfe schimmerten immer noch Tränen. „Und auch ich danke Euch vielmals.“
„Das war doch das Mindeste, was ich tun konnte“, antwortete Nita. „Die ganze Nacht über habe ich das Meer abgesucht. Es gibt viele Überlebende, sowohl aufseiten der Allianz als auch bei der Horde. Ich werde mein Bestes tun, um alle an Land zu führen.“
„Sobald ich meine Kraft zurückerlangt habe, werde ich helfen“, sagte Lintharel. Sie lächelte Atropa beruhigend zu. „Es wird nicht lang dauern.“
Bevor Sie das Boot verließ, wirkte Nita auch kleinere Zauber auf Baenan, Trialin und Atropa. Baenan stieß ein glückliches Seufzen aus, als der Schmerz seiner Verletzungen verschwand.
„Danke, Nita von den Tauren“, sagte er. Er rieb sich seinen Oberkörper, der nun nicht mehr bei jeder Berührung wehtat. Seine Finger strichen über eine Beule unter seiner Jacke.
„Bei Muradins Hammer!“, rief er und holte Talithars Halsband hervor, an dem sich noch die beiden Ringe befanden. „Das hatte ich ganz vergessen.“
„Was ist das?“, fragte Trialin.
„Es gehörte Talithar“, antwortete Baenan leise. „Er war 'n Blutelf auf dem Hordenschiff. Er hat mir das Leben gerettet. Die Ringe gehört'n ihm un' seiner Frau.“
Nita runzelte die Stirn. „Was?“
Baenan drehte sich zu seiner Schwester. „Trialin, erinners' du dich noch an Vyrin Flinkwind von der Jagdhütte der Weltenwanderer?“
„In Loch Modan? Natürlich.“
„Talithar war mit ihr verheiratet“, sagte Baenan.
„Ich ... habe ihn in den anderen Booten nicht gesehen“, sagte Nita. Baenan schüttelte den Kopf.
„Das konntet Ihr auch nich'.“ Er umfasste die beiden Ringe. „Er hat die Explosion auf der Faust des Kriegshäuptlings verursacht, um mir un' dem Pandaren bei der Flucht zu helfen. Er is' tot.“
„Was soll'n wa' Vyrin sagen?“, fragte Trialin.
„Dass ihr Mann als Held gestorben ist.“ Baenan schaute entschlossen hoch. „Wie kommen wir am schnellsten an Land? Ich muss 'ne Nachricht überbringen.“
„Fahrt nach Nordwesten“, sagte Nita. „Ihr seid nicht weit von Tanaris entfernt. Ich werde so schnell wie möglich zurückkehren, um Euch zu helfen, falls Ihr mich braucht. Möge die Erdenmutter mit Euch sein.“
„Und Elune mit Euch“, antwortete Atropa.
Nita breitete ihre Arme aus, verwandelte sich in einen Vogel und erhob sich in die Luft.
***
Wieder einmal bewegte sich das Tol'vir-Segelboot unter einem sternenbedeckten Himmel auf und ab. Chen zog Li Li ganz nah an sich heran. „Ich dachte, ich hätte dich verloren, Li Li“, flüsterte er. „Ich dachte, du wärst tot.“
Li Li legte ihr Gesicht auf die Schulter ihres Onkels. „Das dachte ich auch“, antwortete sie mit dem Anflug eines Lächelns. Chen lachte ein wenig, allerdings hörte es sich eher wie Husten an.
An Bord der Elwynn hatte das flammende Chaos geherrscht. Er und Baenan waren sofort getrennt worden. Chens Erinnerungen waren verschwommen. Völlig außer sich hatte er immer wieder Li Lis Namen gerufen und plötzlich war sie da und versuchte mit blutüberströmtem Gesicht dem Feuer zu entkommen. Sie waren von Bord gesprungen und erreichten in letzter Minute ihr eigenes Segelboot. Während Chen und Li Li fortruderten, erlebten sie die letzten Momente der Faust des Kriegshäuptlings und der Elwynn, deren brennende Wracks das Meer mit einem orangen Leuchten erhellten.
Der Pandaren schlief den Rest der Nacht unruhig. Die ganze Belastung hatte sie eingeholt und ohne Gefühl für die Zeit dämmerten sie weg und wurden immer wieder wach.
***
Li Li wusste nicht, wie viele Tage vergangen waren. Zwei? Drei? Eine dichte Wolkendecke machte es unmöglich, den Morgen vom Abend zu unterscheiden. Nur wenn der Himmel sich für mehrere Stunden verdunkelte, war klar, dass ein weiterer Tag zu Ende gegangen war. Onkel Chen lag schlafend unter dem Segel. Er war bei der Explosion auf dem Hordenschiff verletzt worden und es würde noch Tage dauern, bis er wieder auf den Beinen war.
Li Li legte ihren Kopf an den Mast. Das Segel hing schlaff an der Takelage, aber sie schaffte es nicht, es einzuholen. Alles – aber auch wirklich alles – war vollkommen schiefgelaufen. Immer wieder erinnerte sie sich daran, wie sie über Bord gespült wurde, wie Kapitän Hellers Schwert durch Lintharels Körper stieß oder wie Hellers warmes Blut gegen ihr Gesicht spritzte, als Atropa ihm die Kehle durchschnitt. Li Li erschauderte ob dieser schrecklichen Erinnerungen und grausamen Anblicke.
Ein Papier im Wind zog ihre Aufmerksamkeit auf sich und als sie hinaufblickte, sah sie einen wunderschön gefalteten Albatros über sich flattern. Sie streckte eine Hand aus, der Vogel setzte sich darauf und erstarrte sofort, da die Magie, die ihn hierher befördert hatte, verbraucht war. Neugierig entfaltete sie das Papier und strich es so glatt sie konnte. Der Albatros bestand aus zwei Briefen, die jeweils an sie und ihren Onkel Chen gerichtet waren. Voller Überraschung erkannte sie, dass beide von ihrem Vater stammten.
Da sie sich nicht in die privaten Dinge ihres Onkels einmischen wollte, faltete Li Li seinen Brief wieder zusammen und steckte ihn in seinen Rucksack. Die für sie bestimmten Zeilen las sie jedoch.
Meine liebe Li Li,
Worte waren noch nie meine Stärke. Jedes Mal, wenn ich versuche, mit dir zu reden, kommt anscheinend nichts so heraus, wie ich es mir vorstelle, und nie verstehen wir uns oder finden eine Gemeinsamkeit.
Du bist wie deine Mutter oder mein Bruder und weniger wie ich. Du hast den Sinn fürs Staunen von deinem Onkel und die Furchtlosigkeit von deiner Mutter geerbt. Das war eines der Dinge, die ich am meisten an ihr liebte, obwohl es für mich als jemand, der diesen Charakterzug nicht sein eigen nennt, schrecklich mitanzusehen war, wie sie sich in Situationen begab, die ich unter allen Umständen vermieden hätte. Genauso schrecklich ist es für mich, dich ähnliche Entscheidungen treffen zu sehen. In der Vergangenheit ließ ich zu, dass sich meine Furcht als Wut offenbarte, aber nun habe ich erkannt, dass das falsch war.
Du triffst in deinem Leben andere Entscheidungen als die, die ich getroffen habe. Es ist höchste Zeit, das zu akzeptieren. Was auch geschieht, du wirst immer meine Tochter bleiben und ich werde immer stolz auf dich sein.
In Liebe,
Dein Vater
Li Li las den Brief mehrere Male, um die Worte auf sich wirken zu lassen. Sie dachte daran, wie sie sich in Gadgetzan gefragt hatte, ob sie sich jemals selbst treu sein und gleichzeitig ihrem Vater gerecht werden konnte. Chen hatte ihr versichert, dass sie es könnte, und er hatte recht behalten. Li Li blinzelte mit tränengetrübten Augen, schaffte es aber nicht, klar zu sehen. Plötzlich vermisste sie ihren Vater so sehr, wie sie es nie für möglich gehalten hatte.
„Oh, Onkel Chen“, sagte sie niedergeschlagen, „warum hat mich die Perle auf diese dumme Reise geschickt? Lass uns nach Hause fahren. Ich will einfach nur nach Hause.“
Chen seufzte im Schlaf. Eine Träne lief über Li Lis in der nebligen Luft bereits feuchte Wange. Sie schloss die Augen und zog die Knie an ihren Oberkörper heran.
Ein lautes Rauschen erfüllte ihre Ohren, aber sie spürte keinen Wind. Als sie nach oben sah, erblickte Li Li einen endlosen, sich wie ein Strudel über ihr drehenden Nebel. Sie lehnte sich nach vorn und schüttelte ihren Onkel wach.
„Was ist los?“, fragte er benommen.
„Ich weiß nicht“, antwortete sie. „So etwas habe ich noch nie gesehen.“
Der sich immer schneller drehende Nebel ließ Li Li schwindelig werden. Dann, plötzlich, löste er sich auf und gab den Blick auf einen atemberaubenden blauen Himmel und die hell strahlende Sonne frei.
Vor Li Li und Chen erstreckte sich wie ein Juwel am Horizont ein Land, das keiner von ihnen erkannte.
„Da!“, rief Li Li und zeigte auf die Küste. „Onkel Chen ... Ist das ...?“
„Das ist es!“, sagte Chen. „Das muss es sein!“
Li Li war bereits auf den Beinen und spannte das Segel. Der Wind war wieder stärker geworden und sie würden ohne Probleme an Land gehen können. Chen half ihr und gemeinsam steuerten sie das Boot ans Ufer.
***
Vor ihnen erstreckte sich ein Strand, der es ihnen problemlos ermöglichte, ihr Boot mit vor Aufregung zitternden Pfoten an Land zu ziehen. Sofort machten Chen und Li Li sich auf, die Landschaft zu erkunden, und entdeckten schon bald eine schmale, aber anscheinend oft genutzte Straße. An einem Holzpfahl mit Schnitzereien schwang eine vertraut aussehende Laterne wie ein Willkommensgruß sanft in der Brise.
Chen fiel neben ihr fast auf die Knie. „Das haben Pandaren gemacht“, sagte er leise. „Daran besteht kein Zweifel.“
„Wir sind angekommen“, sagte Li Li. „Wir haben es wirklich geschafft. Pandaria.“
Sie kletterten einen Hügel am Ufer hinauf und starrten aufs Meer. Am klaren Himmel war keine Wolke zu sehen. Der glitzernde Ozean erstreckte sich endlos. Chen legte seinen Arm um die Schulter seiner Nichte und drückte sie liebevoll.
„Heißt das, der Zauber ist gebannt?“, fragte Li Li. „Sind die Nebel nun für immer verschwunden?“
„Ich ... Ich bin mir nicht sicher“, antwortete Chen. „Aber ich glaube schon.“
„Also werden sie kommen“, sagte sie. „Papa, Shisai, Oma Mai und unsere ganzen Freunde. Alle werden kommen.“
Chen sah ein Bild vor seinem geistigen Auge. Zwei Schiffe, Seite an Seite, von Flammen verschlungen, mit feuernden Kanonen, brüllenden Matrosen und gegeneinanderschlagenden Schwertern. Eine Szene, wie sie sich vor mehreren Nächten abgespielt hatte, als er verzweifelt von der Faust des Kriegshäuptlingsentkommen wollte und auch auf der Elwynn nicht fand, was er sich erhofft hatte. Chens Griff um Li Lis Schulter wurde fester.
„Nicht nur unsere Freunde“, sagte er. „Alle.“
Die leere Schriftrolle von Gavin Jurgens-Fyhrie
„Nur, damit ich dich richtig verstehe“, sagte Ziya, während sie ihre Dolche schärfte. „Du willst, dass ich dir eine Geschichte erzähle?“
Sie hockte mit Arko einigermaßen windgeschützt an einer Klippenwand an der Nordküste Pandarias. Ein Feuer wäre zu riskant gewesen; die über den ganzen Kontinent verteilten zehn Plündertrupps der Goblins hatten schon seit Wochen Schatzkammern, Tempel und Waffenlager überfallen. Beliebt waren sie bei der Bevölkerung nicht gerade.
Ziyas Trupp hatte schon bessere Tage gesehen. Luki lag auf der Krankenstation, mit einer Dornzangenwunde an einer ... sensiblen Stelle. Zuzaks Fachkenntnis über Bomben hatte sich nicht auf Zündschnüre erstreckt. Und Strax hatte entgegen Ziyas Befehl versucht, einen einsamen Pandaren-Wanderer auszurauben, der sich als Shado-PanMönch ohne auch nur ein Fünkchen Humor herausstellte.
Arko, der andauernd seine Robe mit den eigenen Zaubersprüchen in Brand steckte, war als Letzter übrig geblieben. Wobei Ziya schleierhaft war, wie er das geschafft hatte.
„Ja!“, sagte der kleine Magier. „Das wird eine lange Nacht. Ihr habt doch schon viel erlebt, oder? Wie wäre es mit einer Geschichte aus dem Krieg?“
„Aus welchem Krieg?“ Ziya schnaubte. Ein kalter Wind wehte vom Meer herüber und traf sie mitten ins Gesicht. Mit tränenden Augen starrte sie auf den in der Ferne schwebenden, leuchtenden und warmen Megazeppelin des Handelsprinzen Gallywix.
Zur Überraschung und zum Schrecken seiner Goblins auf Pandaria hatte Gallywix sich entschlossen, die Plündertruppaktion persönlich zu beaufsichtigen und seinen Truppen einen „Ansporn“ zu geben. Das Einzige, was er bisher angespornt hatte, war jedoch – wie üblich – Verachtung. Selbst aus dieser Entfernung noch konnte man gelegentlich die über das Wasser herbeiwehende Festmusik hören.
Bibbernd rutschte Arko an der Wand näher zu ihr heran, um sich zu wärmen. Ziya steckte wie beiläufig einen Dolch in den Sand zwischen ihnen.
„Was meint Ihr mit aus welchem Krieg?“, fragte Arko, während er traurig auf den Dolch starrte.
Ziya seufzte. Selbst für einen Goblin war er noch ziemlich grün hinter den Ohren.
„Also“, sagte sie, steckte ihren Dolch weg und zählte an ihren Fingern ab. „Ich habe gegen die Allianz gekämpft. Gegen Schattenhammerkultisten. Elementare. Untote. Mantis. Die Sha. Auch schon mal gegen einen Drachen. Oh, und gegen Gallywix, als er uns damals alle versklaven wollte. Hoppla, meine Finger reichen nicht mehr.“ „Das wird eine lange Nacht“, wiederholte sich Arko. „Och, bitte, seid doch so gut.“ Ziya verdrehte die Augen.
„In Ordnung, aber keine Kriegsgeschichten“, sagte sie.
„Warum?“
„Weil“, sagte sie, während sie hinaufgriff, um den um ihren Hals hängenden Ring zwischen den Fingern zu drehen, „die sehr persönlich sind. Hmmm ... Kennt Ihr die Geschichte von Rakalaz?“
„Nein.“
„Ihr kommt von der Oberfläche, was? Ich bin in Pyrix aufgewachsen, in einer dieser Schleusenstädte in Lorenhall, von denen noch nie jemand was gehört hat ...“
„Ich hab schon mal davon gehört!“, sagte Arko zuvorkommend.
„Sehr gut“, erwiderte Ziya. „Dann haltet den Mund und hört zu.
„Vor einhundert Jahren schickte Handelsprinz Leeko die Arbeiter tiefer hinunter in die Kja'minen als je zuvor. Sie mussten eine ganze Wagenladung voller Erz finden, bevor die Aufseher sie nach Hause gehen ließen. Spät eines Nachts, tief unten im Dunkeln, durchbrach ein Minenarbeiter namens Miz etwas, das er für eine Steinwand gehalten hatte und fand ...“
Ziya hielt inne. Arko hatte nichts gesagt. Selbst der Wind wehte nicht mehr. Aber sie glaubte, mit leichter Verzögerung das geflüsterte Echo ihrer Worte zu hören.
„Ein Loch. N-nein“, sagte Ziya und erinnerte sich erst jetzt wieder daran, wie sie diese Geschichte als Kind gehasst hatte. „Eine gähnende Leere. Und an ihrem Grund zwei Monde, blass und rund. Die Augen von Rakalaz, die ihn ansahen.“
Die Brandung schlug gegen das Ufer. Arko schluckte. Ziya leckte sich die Lippen und sagte: „Er donnerte und stieg auf ...“
Ziya war mit beiden an die Unterarme gelegten Dolchen auf die Beine gesprungen, bevor sie überhaupt mitbekommen hatte, warum.
Die Sterne waren verschwunden.
„Was? Was ist los?!“, kreischte Arko.
Ohne es zu wollen, lächelte Ziya. Arko dachte wahrscheinlich, dass Rakalaz angreifen würde.
Es lief ihr kalt den Rücken hinunter.
Das Ufer war verschwunden und die Wellen klangen gedämpft. Die Luft roch abgestanden, ölig und vertraut.
Der Geruch von Lorenhall.
Wie auf ein Stichwort schoss eine riesige, fahle, achtfingrige Hand einige Meter von ihnen entfernt aus dem Boden und griff in den Sand. Rakalaz stieg auf und jedes seiner beiden reptilienartigen, wie Laternen leuchtenden Augen war auf einen der Goblins gerichtet.
Innerlich schrie Ziya auf. Ihr Körper jedoch zog Arko an seiner Robe hoch.
„Gib dem Zeppelin ein Zeichen“, zischte sie in sein Ohr. Rakalaz hatte Probleme, seine Beine zu befreien, schlug nach den beiden, verfehlte sie und heulte auf. Ihnen schlug ein Atem entgegen, der den Gestank von tausend Müllkippen in Lorenhall verströmte.
Arko wimmerte, bewegte sich jedoch nicht.
„Arko!“, rief Ziya. „Signalisier dem Megazeppelin, dass wir hier sind! Vielleicht ist ja jemand nüchtern genug, um Verstärkung zu schicken. Achtung!“
Sie griff sich den winzigen Arko, wirbelte herum und nutzte sein Gewicht, um beide aus dem Weg zu befördern. Krallen gruben sich an der Stelle, an der sie gerade noch gestanden hatten, in den Fels und rissen ein Stück der Klippe heraus.
Arko kam als Erster wieder auf die wackeligen Beine. Er stellte sich breitbeinig hin und begann Formeln zu skandieren, um ein arkanes Leuchtfeuer in seinen gewölbten Händen zu beschwören und Rettung herbeizurufen.
Doch dann machte er den Fehler, zu Rakalaz herüberzuschauen. Er griff nach ihm. Dicker schwarzer Geifer floss in Fäden aus seinen Lefzen.
Arko kreischte, warf das halbfertige Leuchtfeuer in die Luft und rannte über den Strand davon.
Ziya schaute ihm hinterher. Dann sah sie hinauf und konnte gerade noch erkennen, wie der winzige Punkt des Leuchtfeuers erlosch.
„Na toll“, sagte sie.
Rakalazs Pranke schloss sich fast schon sanft um sie und hob die zappelnde Ziya in Richtung seines tropfenden Mauls.
Doch da kam aus der Dunkelheit ein Stein geflogen und traf eines der Mondaugen. Die Pranke, die Ziya gerade noch gehalten hatte, zuckte und sie fiel ...
... in ein pelziges Paar Arme.
„Hallo“, sagte die Pandaren und ließ sie mühelos zu Boden. Sie nickte in Rakalazs Richtung. „Die kenne ich glaube ich noch nicht.“
„Wie bitte?“
„Diese Figur“, antwortete ihre Retterin, die mit in die Hüften gestemmten Pfoten und professionellem Blick diesen Alptraum aus Ziyas Jugend betrachtete. Rakalaz knurrte und schaute mit seinem unverletzten Auge zwischen den beiden hin und her – vielleicht um herauszubekommen, wie er beide gleichzeitig verschlingen könnte. „Ihr habt eine Geschichte erzählt und dann ist dieses Ding aufgetaucht, nicht wahr?Nur aus Neugier: Wie geht denn die Geschichte aus?“
„Meint Ihr das gerade ernst?“ Ziya hielt nach dem Megazeppelin Ausschau, der sich überraschenderweise langsam in ihre Richtung drehte.
„So wie fast immer“, antwortete sie. „Beeilt euch.“
„Miz wirft ihm seine letzte Dynamitstange in den Rachen.“
Das sanfte Lächeln der Pandaren fror ein.
„Oh, eine Goblin-Geschichte“, sagte sie. „Natürlich endet die mit einer Explosion. Nicht fallen lassen!“
Ziya zuckte zusammen. Ihre rechte Hand war plötzlich schwerer. Und zischte.
Eine ruhige Gewissheit überkam sie. Sie war mit dieser Geschichte groß geworden. Sie hatte sich an Mizs Stelle gesehen und diesen Moment mit der lebhaften Vorstellungskraft eines Kindes mit durchlitten.
Ohne weiter nachzudenken, lehnte sie sich zurück und warf das Dynamit aus der Geschichte in Rakalazs riesigen Rachen.
Rakalaz starrte sie erstaunt an und schluckte. Ziyas Blick schoss zwischen der Kreatur und ihrer nun leeren, ausgestreckten Handfläche hin und her.
„Wie?“, sagte sie verdutzt.
Die Pfote der Pandaren schoss aus Ziyas Fußgegend nach oben und zog sie hinunter in den Sand.
Nach einem kurzen, ereignisreichen Moment voller Lärm und umherspritzender Innereien hob Ziya ihren Kopf und sah, wie die brennenden Überreste nach und nach verschwanden. Das Loch im Boden füllte sich mit Sand. Kurz darauf war alles wieder so, als wäre nichts geschehen.
Ihr ging ein Licht auf.
„Das war mein Werk“, sagte sie.
„Das war es“, sagte die Pandaren und putzte sich mit gewissenhafter Anmut sauber. Gallywixs Megazeppelin war jetzt so nah, dass man die Badewannen voller Rum und Pudding auf den unteren Decks des Luftschiffs mit bloßem Auge erkennen konnte. „Ihr habt eine Geschichte begonnen. Ihr habt sie beendet. So ist das beim Erzählen. Der Rest ist nur Ausschmückung.“
„Aber wir haben überlebt.“
„Was ist damit?“, fragte die Pandaren und schaute mit gerunzelter Stirn zum Megazeppelin empor.
„Miz hat die Explosion nicht überlebt. In der Geschichte.“
Die Pandaren lächelte. Ihre Zähne waren spitz und blendend weiß. „Tja. Gut, dass Ihr das nicht vorher gesagt habt.“
***
Irgendetwas stimmte nicht.
Der Megazeppelin schwebte über den Wellen. Scheinwerfer wanderten zwischen Ziya, der Pandaren Shuchun und dem Loch hin und her, das Rakalaz in der Klippe hinterlassen hatte.
Shuchun war eine Lehrensucherin – eine Berufung, von der Ziya kaum etwas verstand. Lehrensucher erzählten Geschichten. Sie suchten nach Artefakten aus Pandarias weit zurückliegender Vergangenheit. Und wenn man Shuchun als Beispiel heranziehen konnte, sprachen sie mit vollem Mund und lächelten oft.
Die Lehrensucherin stand im blendend hellen Lichtkreis, schaute nach oben, biss noch einmal von ihrem Wildgeflügelbrötchen ab und kaute bedächtig darauf herum.
„Ihr solltet hier wirklich verschwinden“, sagte Ziya. „Da oben ist Gallywix. Er könnte auf die Idee kommen, uns aus Spaß mit Bomben zu bewerfen.“
„Ach ja?“, sagte Shuchun beim Herunterschlucken. „Ich habe schon von ihm gehört. Aber ich glaube, ich bleibe.“
„Warum?“
„Wollen wir hoffen, dass Ihr es nicht herausfindet.“
Eine Zeit lang saßen sie in unangenehmer Stille nebeneinander. Dann meinte Ziya schließlich: „Danke für die Rettung. Also, ich sollte Euch vielleicht sagen, dass ...“
„Dass Ihr hier seid, um Schätze und Artefakte zu stehlen?“, fragte Shuchun. „Das weiß ich doch. Ich bin gekommen, um Euch aufzuhalten.“
„Aber Ihr habt mich gerettet!“
„Ich habe gesagt aufzuhalten, nicht zu töten“, sagte Shuchun mit sanfter Stimme.
„Oh. Und wie habe ich Rakalaz erscheinen lassen?“ „Durch Magie“, sagte Shuchun.
„Durch Magie?“
„Ja, durch Magie“, bestätigte die Lehrensucherin. „Ich bin froh, dass wir das geklärt haben.“
„Das erklärt aber rein gar nichts!“
„Erinnert Ihr Euch noch“, fragte Shuchun, „wie ich Euch gesagt habe, dass ich hoffe, Ihr findet nicht heraus, warum ich noch immer hier bin?“
„Ja. Das habt Ihr vor ungefähr zehn Sekunden gesagt.“
„Also, das meinte ich auch wirklich so.“
Auf dem Deck hoch über ihnen wurde ein Seil ausgerollt und erreichte kurz vor ihnen seine volle Länge. Hoch oben sprang eine nur schemenhaft zu erkennende Person über die Reling und glitt an einer Hand mit halsbrecherischer Geschwindigkeit zu ihnen hinunter.
Als sie auf halber Strecke angekommen war, fluchte Ziya. Das war keine Assassine, kein Gauner oder irgendein Auftragsmörder. Das war jemand Schlimmeres.
Druz, Gallywixs Hauptvollstrecker, landete im Sand. Seine Lederrüstung war ihm wie ein Anzug auf den Leib geschneidert. Unter seinem muskulösen Arm trug er einen flachen Kasten.
Man erzählte sich, dass er zusammen mit Gallywix in Kezan aufgewachsen war. Er war nicht für seine Vollstreckungen berüchtigt, weil man ihn nie bei irgendetwas wirklich Schrecklichem erwischt hatte. Aber manchmal widerfuhren Gallywixs Feinden einfach äußerst grausame Dinge und Druz war immer einer der ersten Goblins, der sein Beileid aussprach.
„Feldwebel“, sagte er und nickte Ziya zu. „Lehrensucherin Shuchun. Einen Moment, bitte.“
Er kniete sich in den Sand und öffnete den Kasten von ihnen abgewandt. Unter der Lederverkleidung war ein sanftes Klicken zu hören.
Ziya stöhnte leise auf. Das war auch irgendwie furchteinflößend. Druz schien immer zuviel über jeden zu wissen, dem er begegnete. Namen. Ränge. Stärken. Schwächen. Ihr war nicht klar, ob das mit Nachforschungen, Spionage oder Magie zu tun hatte.
Es überraschte sie nicht, dass der Vollstrecker die Lehrensucherin beim Namen genannt hatte. Wahrscheinlich kannte er die Namen, Schuhgrößen und Lieblingsgetränke aller Einwohner Pandarias.
„Ich habe Rakalaz von der Brücke aus gesehen“, sagte Druz, während er noch mit dem Kasten beschäftigt war. „Das war ja ein Ding. Diese Geschichte habe ich als Kind gehasst.“
Klick. Klack, klick.
„Also“, sagte er schließlich. „Danke, dass Ihr unsere Mitarbeiterin gerettet habt, Lehrensucherin. Ich wünsche eine gute Nacht.“
Er wartete. Shuchuns Lächeln wurde breiter. Druz nickte und griff dann in den Kasten. Instinktiv umfasste Ziya ihre Dolche ...
Dem angenehmen Klimpern nach zu urteilen, warf Druz der Lehrensucherin einen großen Beutel voller Gold vor die Füße.
„Natürlich gibt es dafür eine Belohnung. Grüßt mir die kleine Fen. Wie ich hörte, hat sie bald Geburtstag.“
„Ist das eine Drohung?“, fragte Shuchun mit leiser Stimme und erhob sich langsam.
Druz seufzte.
„Nein. Ich bin nur höflich. Ich biete Euch eine Belohnung an. Ich gebe Euch Grüße für Eure Lieben mit auf den Weg. Noch weniger könnte das mit einer Drohung eigentlich gar nicht zu tun haben.“
In Windeseile nahm Druz ein riesiges Gewehr aus dem Kasten, legte es auf Shuchun an und spannte den Hahn. Die Teile der Waffe fügten sich geschmeidig ineinander.
„Nun“, sagte er, „das ist eine Drohung. Also sage ich es noch einmal: Nehmt die Belohnung. Geht nach Hause.“
„Ihr habt sie gesehen, oder?“, fragte Shuchun.
„Was gesehen?“, fragte Ziya.
„Hinter dem Loch in der Felswand befindet sich eine goldene Tür“, sagte Druz und zeigte auf die Stelle, an der Rakalaz die Klippe getroffen hatte. Die schwere Waffe mit einer Hand zu halten schien ihm keine Probleme zu bereiten. „Und wir werden sie und was auch immer sich dahinter verbirgt mitnehmen.“
„Mir ist egal, welche Waffen Ihr auf mich richtet“, sagte Shuchun und schob einen Fuß elegant nach hinten. „Ich werde nicht zulassen, dass Ihr die Lehrenkammer betretet.“
„Also“, sagte Druz sachlich. „Karten auf den Tisch. Dort scheint eine Waffe verborgen zu sein, mit der man Ungeheuer aus dem Nichts erschaffen kann. Wir wollen sie haben, und Euer Leben ist sie nicht wert.“
„Wenn ich muss, werde ich Euch aufhalten“, erwiderte Shuchun.
„In Ordnung. Gehen wir mal davon aus, dass Ihr mich bezwingt.“ Ein Scheinwerfer des Luftschiffs strahlte ihn an und er hielt sich die Hand über die Augen. „Der Megazeppelin wird das ganze Gebiet mit Kanonenfeuer eindecken, bis die Kammer freiliegt. Dann habt Ihr trotzdem verloren.“
Plötzlich hatte er einen Dolch an seiner Kehle.
„Ich habe dieses seltsame Gefühl“, sagte die hinter ihm stehende Ziya, „dass Ihr sie erschießen werdet, wenn sie sich umdreht.“
„Wahrscheinlich nicht“, sagte Druz. Er nahm sein Gewehr nicht herunter.
„Mit dem wahrscheinlich habe ich noch ein Problem. Ich mag sie irgendwie. Außerdem habe ich noch so ein seltsames Gefühl, dass Ihr vorhabt, die Kammer allein zu betreten.“
„Ja. Und?“
„Da wäre noch eine kleine Nebensache: mein Finderlohn.“
„Euer Trupp hat bisher noch nichts gefunden.“
„Eben.“
Shuchun sah den beiden Goblins neugierig dabei zu, wie sie sich über vertragliche Pflichten und Risikozuschläge zankten. Sie setzte sich wieder, aß ein paar Currybällchen aus ihrem Rucksack, wartete und schenkte der auf sie gerichteten Waffe keinerlei Beachtung.
Schließlich sagte sie: „Das ist keine Kammer.“
Ihre feste und volle Stimme schnitt sich wie eine glühende Klinge durch das Streitgespräch. Beide Goblins schauten zu ihr hinüber.
Druz beäugte sie mit unverhohlenem Misstrauen. „Ihr habt doch gesagt ...“
„Ich habe gesagt, dass es sich um eine Lehrenkammer handelt. In ihr kommen Pandarengeschichten als Fallen zum Einsatz, um gefährliche Artefakte zu schützen. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was mit jemandem geschehen würde, der sich ohne sachkundige Führung dort hinein begibt. Currybällchen?“, fragte sie und hielt eines hoch.
„Ihr bietet Eure Dienste an?“, fragte Druz.
„Gegen Bezahlung? Auf keinen Fall“, entgegnete Shuchun. „Aber ohne mich würdet Ihr beide gefressen werden. Oder noch Schlimmeres erleben. Also werde ich Euch hineinführen und mein Bestes geben, um Euch davon zu überzeugen, dass Ihr einen Fehler macht.“
Sie starrte auf das Gewehr und auf den Dolch, bis die Goblins sie wegsteckten. Danach stand sie lächelnd auf und rief mit der Stimme einer Geschichtenerzählerin, die sich über die grollenden Wellen erhob:
Die Lehrensucherin hatte ihre Entscheidung getroffen, rezitierte sie. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit der Lehrenkammer zu. Die Kammer erkannte ihre Funktion und öffnete sich.
Mit einem dröhnenden Krachen entstand eine Öffnung in der Klippe, während Sand und Felsbrocken herabfielen.
In der Dunkelheit dahinter befand sich eine runde goldene Tür, die so groß war, dass ein Drache hätte hindurchfliegen können. Gestalten waren in jeden Zentimeter ihrer Oberfläche eingraviert – Tausende Figuren aus Tausenden Geschichten aneinandergereiht. Die über die Tür zuckenden Scheinwerfer erweckten den Eindruck, als bewegten sich die Schnitzereien ...
Die Tür öffnete sich und eine nach unten führende Treppe kam zum Vorschein.
***
Lehrensucherin Shuchun stieg vor den beiden Goblins den sanft gewundenen steinernen Gang hinab. Als klar war, dass keiner den anderen betrügen würde – jedenfalls nicht unmittelbar –, entspannten sich die Goblins. Die Luft war kühl und es herrschte eine erwartungsvolle Stille.
Ziya durchbrach das Schweigen. „Ich verstehe das nicht.“ „Was?“, fragte Druz.
„Euch. Ihr seid so zurückhaltend und kompetent. Wie seid Ihr in den Diensten von ‚Ich bin der Größte‘ Gallywix gelandet?“
„Von Herrn Gallywix“, berichtigte sie Druz. „Oder Handelsprinz Gallywix. Niemals einfach nur Gallywix. Und vielleicht kennt Ihr ihn nicht so gut wie ich.“
„Da gibt es nichts zu kennen“, sagte Ziya. „Er ist ein Ungeheuer. Ich bin schon in tiefgründigere Pfützen getreten.“
„Genau“, sagte Druz. „Und irgendwie hat er trotzdem das Sagen, obwohl die meisten anderen Handelsprinzen und Goblins ihn lieber tot sähen. Tja, sogar seine eigene Mutter hat zweimal versucht, ihn umzubringen. Da kommt man schon ins Grübeln.“
Der Gang machte plötzlich eine Biegung nach rechts. Nach und nach wichen die bislang glatten Wände uralten, zerklüfteten Ziegeln. Stinkender Schlamm floss aus den Rissen. Keiner der Goblins bemerkte es. Shuchun grinste in Richtung Decke.
„Nein, kommt man nicht“, blaffte Ziya ihn an. „Er hat uns versklavt, als wir Kezan verlassen haben! Sein eigenes Volk!“
„Es ist ja nicht seine Schuld, dass Ihr kein eigenes Boot hattet“, sagte Druz. „Aber Ihr habt Euch doch freigekämpft. Schön für Euch. Und ich wette, dass Ihr jetzt nicht mehr jedem so schnell vertraut.“
Aus der sanften Biegung wurde eine Kreuzung, die in vier Richtungen abzweigte. Shuchun ging ohne Pause weiter und die Goblins folgten ihr.
„Lassen wir das mal außen vor“, knurrte Ziya (da er recht hatte). „Wollt Ihr Gallywix diese Waffe – was immer sie auch sein mag – wirklich geben? Ihr wisst doch, wie er sich bei unserem durchgedrehten Kriegshäuptling anbiedert.“
„Herr Gallywix“, sagte Druz zurechtweisend. „Aber mal ganz unter uns: Wir wollen Einfluss, keine Macht. Ursprünglich wollten wir Frieden zwischen der Horde und der Allianz, aber nach Theramore ...“
„Frieden“, sagte Ziya. „Gallywix möchte, dass die Horde Frieden schließt. Mit der Allianz.“
„Ja“, sagte Druz und hob die Augenbrauen aufgrund des Zorns in ihrer Stimme.
„Aber die sind noch schlimmer als er! Wenn wir jetzt klein beigeben, war alles für die ...“
„Wartet mal“, sagte Druz. Sie hatten einige weitere Kreuzungen passiert, ohne anzuhalten. „Lehrensucherin, wo sind wir?“
„In einer Geschichte“, erwiderte Shuchun. Sie konzentrierte sich auf den Boden.
„In welcher?“
„In keiner fröhlichen, wenn ich mich nicht irre“, antwortete sie und verlangsamte ihren Schritt, damit die Goblins aufholen konnten. „Aber ich möchte mir sicher sein, bevor ich ... Ach, egal.“ Sie zeigte auf etwas. „Ich bin mir sicher.“
Vor ihnen befanden sich ihre Fußabdrücke. Anscheinend waren sie im Kreis gelaufen, aber irgendetwas stimmte nicht.
Andere Fußabdrücke, schief und bedrohlich wirkend, jagten ihren hinterher. Und wenn sie im Kreis gelaufen waren ...
„Nicht umdrehen“, sagte Shuchun.
„Aber ...“, sagte Ziya, während das Grauen in ihr aufstieg. Hinter ihnen näherten sich schnell auf den Stein patschende Schritte.
„Nicht umdrehen“, wiederholte sie. „Das hier ist nämlich das Labyrinth des wahnsinnigen Kaisers Ku“.
„Kaiser Ku“, sprach Lehrensucherin Shuchun, „wurde von seinen Ängsten beherrscht. Er glaubte, die Mogu würden zurückkehren. Durch den Schleier seines Verfolgungswahns sah er Verrat hinter jedem Lächeln, Verschwörung hinter jedem Schwur der Ergebenheit und raffinierte Fallen in den ruhigen Prophezeiungen der Jinyu-Wassersprecher.
„Daher ließ er sich unter seinem Palast ein Labyrinth mit einem sicheren Raum in der Mitte erbauen. Als die Furcht wieder Besitz von ihm ergriff, floh Ku dorthin, verschloss die Tür und wartete darauf, dass der Schrecken nachließ. Was jedoch nicht geschah. Das Labyrinth war so raffiniert konstruiert, dass der Kaiser den Weg nach draußen vergessen hatte.“
Druz biss sich auf die Lippen, ließ seinen Blick umherschweifen und griff nach seinem ...
Ohne ihre Augen vom vor ihnen liegenden Tunnel abzuwenden, schnippte Shuchun gegen sein Ohr.
„Aua. Lasst das.“
„Das kann Euch doch egal sein“, sagte Shuchun ruhig, während das leise, knurrende Stöhnen des Wesens immer näher kam. „Zum Hören benutzt Ihr sie ja offensichtlich nicht. Also: Nicht. Hinsehen.“
„Warum?“
„Ich glaube, das versucht sie uns gerade mitzuteilen“, sagte Ziya mit vor Furcht – oder im Gebet – geschlossenen Augen.
„Suchtrupps haben ihn manchmal rufen gehört“, fuhr Shuchun fort. „Aber die Jahre verstrichen. Gelegentlich betrat ein Forscher das Labyrinth und kam schreiend und wahnsinnig vor Schrecken wieder herausgerannt, da Kus Zeit in der Finsternis ihn in eine abscheuliche Bestie verwandelt hatte.“
„Und was machen wir jetzt?“, flüsterte Ziya. Klauen kratzten die Wände hinter ihnen entlang. Druz hatte den Mund zu einem Strich gepresst und seine Hand schwebte über dem im Halfter steckenden Gewehr.
„Wir spielen die Geschichte nach“, antwortete die Lehrensucherin. „Ein Junge namens Li Tao jagte seinen kleinen Beuteldachs in das Labyrinth. Doch schon bald bemerkte er, dass er verfolgt wurde.“
Außerhalb ihres Blickfelds hing ein riesiger Kopf. Tiefe Atemzüge wehten in einem bitteren Schluchzen heiß über ihre Gesichter.
„Obwohl er zu verängstigt war, hinzusehen, wusste der kleine Li Tao, dass hier jemand noch mehr Angst hatte als er. Also streckte er seinen Arm nach hinten aus ...“
Sie streckte ihren Arm nach hinten aus. Eine riesige, unförmige Pfote umfasste die ihre.
„... und führte den armen Kaiser Ku aus dem Labyrinth.“
Vor ihnen erschien gleißend weißes Sonnenlicht. Ziya und Druz, die sich beide bemühten, gelassen zu bleiben, gingen schnell in seine Richtung.
Sie betraten das Licht. Die beiden Goblins blickten zurück und zuckten gleichzeitig zusammen.
Der Kaiser war verschwunden. Und das Labyrinth ebenfalls. Lehrensucherin Shuchun starrte traurig auf ihre leere Pfote.
„Furcht und Verfolgungswahn lassen unsere Feinde zu Ungeheuern werden“, sagte sie mit sanfter Stimme. „Einer muss als Erster die Hand ausstrecken.“
***
Sie folgten der Lehrensucherin weiter durch das Licht.
„Wo sind wir?“, fragte Druz.
„In der Lehrenkammer“, antwortete Shuchun.
„Eine sehr nützliche Auskunft“, sagte Ziya. „Und wie heißt die Geschichte? Das Licht der immerwährenden Langeweile?“
„Ich mag Langeweile“, erwiderte Druz. „Die versucht einen nur äußerst selten umzubringen.“
„Ja, Ihr lebt bestimmt gefährlich“, meinte Ziya.
Druz hob eine Augenbraue. „Möchtet Ihr Euch etwas von der Seele reden?“
„Jetzt, da Ihr fragt – ja“, sagte Ziya und drehte sich zu ihm um. „Für Euch ist es einfach, von Frieden zu reden. Ihr lebt seit Jahren bei Gallywix im Luxus, während ich auf den Schlachtfeldern bin. Alle, an deren Seite ich gekämpft habe, sind tot. Es kann keinen Frieden geben, Druz. Wenn Ihr mal an der Front gewesen wärt, wüsstest Ihr das!“
Das Licht pulsierte einmal sanft. Lehrensucherin Shuchun blieb stehen und schnupperte.
Ziya hielt den Ring an ihrem Hals so fest, dass es wehtat und erwartete, dass Druz sie anschreien würde. Sie wollte es sogar. Stattdessen seufzte er.
„Erinnert Ihr Euch an die Handelskriege, Feldwebel?“, fragte er.
„K-kaum“, sagte Ziya. „Da war ich noch zu jung.“
„Ich nicht. Ein Kartell kämpfte gegen das andere. Bruder gegen Schwester. Wie Ihr wisst, stand ich bereits damals im Dienste von Herrn Gallywix.
„Und Ihr habt recht. Ich war nie an der Front, da es so etwas in den Handelskriegen nicht gab. Wir haben um Tunnel und Lagerräume in ganz Lorenhall gekämpft. Hinterhalte lauerten nicht in Form von ausgeklügelten Zangenmanövern im offenen Feld, sondern von Mistkerlen, die einen durch die Wand traten, von der man dachte, sie sei eigentlich massiv. Natürlich war der Friedenskrieg noch schlimmer.“
Das Licht pulsierte nun schneller. Druz schaute sich um und zog sein Gewehr, während er weitersprach.
„Den Krieg kann man nicht aufhalten, Feldwebel. Jedenfalls nicht lang. Er kommt immer wieder. Und Herr Gallywix gewinnt ihn immer wieder. Manchmal mit der richtigen Bombe zur richtigen Zeit. Manchmal durch ein Bündnis mit einem mächtigen Narren. Und manchmal mit einer furchteinflößenden Waffe, die er zur Abschreckung nutzen kann.“
„Und nun glaubt Euer Meisterstratege, dass Frieden die beste Vorgehensweise ist“, sagte Ziya, während sie die Augen verdrehte.
„Genau“, sagte Druz mit ruhiger Stimme.
„Unmöglich“, sagte Ziya. „Wenn die Allianz die Horde nicht Stück für Stück auslöscht, wird sie uns versklaven, wie sie es mit den Orcs getan hat.“
„Rein zufällig“, sagte Druz, „stimme ich mit Euch überein.“
„Wirklich?“
„Ja. Ich hätte nie gedacht, dass Herr Gallywix mal falsch liegen würde, aber ich schätze die Chance auf nicht mehr als ein Prozent, dass er einen Frieden zustande bringt. Er mag andere Handelsprinzen und -prinzessinnen gegeneinander aufbringen und dabei wirken, als könnte er kein Wässerchen trüben – aber gegen die Rosahäute und ihre Verbündeten? Ich glaube, wir müssen weiterkämpfen.“
„Hört auf“, sagte Lehrensucherin Shuchun – zwar äußerst sanft, aber trotzdem mit der Bestimmtheit eines Befehls. Das Licht um sie herum flackerte nun wie ein Waldbrand aus weißem Feuer. Hitze legte sich wie eine trockene, kratzige Decke über sie. Das Weiß löste sich zu Dünen auf, die sich in alle Richtungen erstreckten. Eine unendliche Wüste.
Ein Panzerhandschuh aus Sand schoss aus der nächstgelegenen Düne. Dann ein weiterer. Danach nochmals sieben.
„Habe ich es mir doch gedacht“, sagte Lehrensucherin Shuchun erfreut. „Das ist eine meiner Lieblingsgeschichten Di Chen und die Wüste.“
„Der stolze Di Chen war der beste Kämpfer seiner Zeit“, erklärte sie. „Kein Mönch konnte ihn besiegen. Er schlug Pfeile problemlos aus der Luft. Berge waren kleine Unannehmlichkeiten, die man überspringen oder durch die man hindurchtreten konnte.
„Er langweilte sich zu Tode. Verzweifelt bat Di Chen die Wüstenhexe Lui Ka um eine wahre Herausforderung.“
„Amüsiert von seiner Arroganz, gewährte die Hexe ihm seinen Wunsch und ließ ihn gegen die Wüste selbst kämpfen. Jedes Sandkorn wurde ein wilder Krieger, der Di Chens Tod wollte.“
Die Krieger kamen näher. Sie sahen aus wie Mogu in Plattenrüstung und spannten ihre Hände in den Panzerhandschuhen.
„Die wollen also unseren Tod?“, fragte Druz und rümpfte die Nase.
„Aber ja“, bestätigte Shuchun.
„Gut“, sagte Druz und feuerte. Drei Köpfe aus Sand explodierten. „Ich dachte schon, ich hätte das Gewehr umsonst mitgebracht. Feldwebel?“
„Bin schon dabei“, sagte Ziya. Druz stützte sich zum Nachladen auf dem Knie ab und Ziya sprang über seinen breiten Rücken, um dem nächsten Krieger beide Dolche in die Brust zu stoßen. Er stolperte und fiel zu einem Berg aus Sand zusammen. Sie warf eine Klinge in das knurrende Gesicht hinter ihm, sprang durch den sich auflösenden Feind, um ihre Waffe zu fangen, ging in die Hocke und stürzte sich zwischen die verbleibenden drei Krieger. Stahl wirbelte herum und die Soldaten fielen Glied für Glied auseinander.
Eine heiße Brise fegte über die leere Wüste. Grinsend kam Ziya zurück und steckte ihre Dolche weg ...
Dreißig weitere Krieger kamen brüllend vor Zorn und Hass aus den Dünen geschossen.
„Zurück zu mir, Feldwebel“, rief Druz, während er das Patronenlager seines Gewehrs zuschnappen ließ. Ziya biss die Zähne zusammen, ging an seine Seite und wartete mit gezückten Dolchen.
„Ich habe Euch den Rest der Geschichte noch gar nicht erzählt“, sagte Lehrensucherin Shuchun.
„Bei allem Respekt, Lehrensucherin“, sagte Druz, während er einen weiteren Schuss abgab. Zwei Krieger fielen. Drei weitere erhoben sich. „Das ist jetzt nicht gerade der richtige Zeitpunkt.“
Shuchun zuckte mit den Schultern und setzte sich auf eine Düne in der Nähe. Summend griff sie in ihren Rucksack, holte einen Apfel heraus, nahm einen großen Bissen und verfolgte den Kampf interessiert. Ein einzelner Krieger sprang knurrend in ihre Richtung. Sie zeigte ihm ihre fast leeren Pfoten, woraufhin er stehen blieb und zu Sand zerfiel. Danach belästigten sie keine weiteren Kreaturen mehr.
Schließlich ließ sie das Kerngehäuse des Apfels fallen und runzelte die Stirn.
„Irgendetwas stimmt nicht“, rief sie.
„Ach, wirklich?“ Ziyas Dolche stießen in schneller Folge in den Sand. „Stirb, du hässlicher Lakratz! Stirb!“
Shuchun kratzte sich ratlos am Kinn und schnippte dann mit den Fingern.
„Genau“, stellte sie zufrieden fest. „In der Geschichte hatten die Wüstenkrieger Waffen.“
„Was? Druz! Runter!“, rief Ziya. Die schwere Eisenkeule eines Kriegers summte durch die Luft und schlug knirschend im Sand auf.
„Das trifft es schon eher“, sagte Shuchun. Nun kämpften alle Krieger mit einer unglaublichen Vielfalt an Schwertern, Streitkolben und Stangenwaffen. Sie legte ihr Kinn in die Pfoten und schaute zu.
„Habt Ihr das gemacht?!“, brüllte Druz zwischen zwei Gewehrschüssen.
„Nein“, sagte Shuchun. „Die Geschichte.“
„Und Ihr! Und Ihr!“
„Stimmt wahrscheinlich“, sagte Shuchun. „Ich hätte aber auch erwähnen können, dass ihre Waffen noch brannten ...“ WUSCH!
„Aah!“
„In Ordnung, das war unvorsichtig“, gab Shuchun zu, deren erhobene Pfoten im Schein des Feuers orange glimmten. „Ich bin still. Macht weiter.“
Von Ächzen, Knurren und waghalsiger Akrobatik durchzogene Minuten vergingen. Schließlich stand Shuchun auf und ging über die Düne ins Kampfgetümmel.
„Jedes Sandkorn wurde ein wilder Krieger, der Di Chens Tod wollte“, wiederholte sie, während sie die Soldaten wie beiläufig zur Seite schob, die verwirrt innehielten, als könnten sie sie nicht sehen. „Der Kampf endete, als Di Chen zugab, dass selbst für ihn einige Herausforderungen zu groß waren.“
Sie befand sich nun inmitten Hunderter von Soldaten. Druz und Ziya standen, komplett umzingelt, Rücken an Rücken. Brennende Waffen versperrten die Sicht auf den Himmel.
„Wollt ihr damit sagen“, keuchte Ziya, „dass wir aufgeben müssen?“ „Das ist eine Option“, sagte Shuchun.
„Ich bin dabei“, sagte Druz und ließ seine Waffe fallen. Ziya tat es ihm hastig gleich.
Von oben heulte ein vom Lachen der Wüstenhexe erfüllter Wind und trug die Soldaten Korn für Korn fort. Die Goblins sahen zu, wie sie verschwanden.
„Das hättet Ihr auch vorher sagen können“, knurrte Ziya.
„Sie hat versucht, uns den Rest der Geschichte zu erzählen“, sagte Druz grinsend, während er sich bückte, um sein Gewehr aufzuheben. „Aber wir wollten ja kämpfen ...“
Er hielt inne und warf Shuchun einen misstrauischen Blick zu. „Wartet mal. Gerade eben haben wir uns darüber unterhalten, dass wir kämpfen müssen. Und dann gab es eine nicht zu gewinnende Schlacht.“
Ziyas Mund stand offen. „Vorher haben wir uns über Ungeheuer unterhalten und darüber, dass es keinen Weg zurück gibt, und schließlich hat uns ein Ungeheuer in einem Labyrinth verfolgt!“
„Lehrensucherin“, sagte Druz mit fester Stimme. „Stellen wir etwa Fallen auf, wenn wir uns streiten?“
„Natürlich“, sagte Shuchun mit versteinertem Gesicht. „Ich dachte, das wüsstet Ihr.“
„Woher sollten wir das denn wissen?“
„Wenn sich Mitglieder meines Volkes streiten, rufen sie einen Lehrensucher“, sagte Shuchun. „Ich höre mir beide Seiten an und erzähle ihnen eine Geschichte, die ihre Meinungen infrage stellt. Habt Ihr das etwa nicht getan?“
„Nein!“
„Oh“, sagte Shuchun.
„Wir hätten sterben können!“
„Auf keinen Fall“, sagte die Lehrensucherin. „Immerhin hat Di Chen nicht mal einen Kratzer abbekommen. In der Geschichte.“
„Was ist überhaupt mit ihm geschehen“, fragte Ziya. „Hat er auch aufgegeben?“
Der Wind erhob sich wieder und der Kreis der Sonne am Himmel wurde zu einer großen Decke aus weißem Licht. Shuchun schüttelte den Kopf und zeigte zu einer Gestalt auf einer weit entfernten Düne. Sie sahen dabei zu, wie der Kämpfer müde die Faust schwang und einen Krieger zu Staub zerschlug.
„Er kämpft bis zum heutigen Tag“, sagte sie. „Es gibt immer Gründe für einen Kampf. Aber man sollte wissen, wann man aufhören sollte.“
***
Schulter an Schulter standen die Goblins schweigend in der Mitte eines kleinen weißen Raums.
„Was ist los?“, fragte Druz aus dem Mundwinkel.
„Die Lehrenkammer wartet darauf, dass Ihr sprecht, damit sie die letzte Herausforderung erschaffen kann“, sagte die an eine Wand gelehnte Shuchun.
Druz nickte.
„Das habe ich mir gedacht“, sagte er und schwieg wieder. Die Zeit verging.
Schließlich erbarmte sich Shuchun.
„Ihr könntet darüber reden, wie sehr Ihr Sonnenuntergänge mögt“, schlug sie vor.
„Gibt es darüber irgendwelche Geschichten?“ Shuchun dachte nach.
„Einige“, antwortete sie.
Schweigen.
„Ich verstehe das nicht“, sagte Ziya. Druz stieß sie an, sie beachtete ihn jedoch nicht. „Warum benutzen die Pandaren ihre Geschichten, um Probleme zu lösen?“
„Das machen nicht nur wir so“, sagte Shuchun. „Jedes Volk hat Geschichten, die erzählt und nacherzählt werden. Wir mögen sie, weil sie einfache Antworten bieten, die uns dabei helfen, die schwierigen zu finden. Aber Geschichten sind gefährlich.“
„Was Ihr nicht sagt“, bemerkte Druz. Die Lehrensucherin lächelte.
„Manchmal vergessen wir, dass Geschichten Regeln brechen“, sagte Shuchun. „Den einfachen Antworten sind die Konsequenzen egal – und von denen gibt es viele.“
„Ich verstehe“, sagte Druz. „Euer Artefakt ist eine einfache Antwort. Aber Ihr seid neutral, Lehrensucherin. Wir besitzen nicht diesen Luxus ... Wir müssen schwierige Entsch... oh, verdammt.“
Tief unter ihren Füßen, unter dem zuvor undurchsichtigen weißen Boden, bewegte sich etwas Dunkles und Schreckliches.
„Ihr wusstet, dass das geschehen würde“, sagte er.
Shuchun zuckte mit den Schultern.
„Ich habe Euch nicht gezwungen, die Lehrenkammer zu betreten“, sagte sie.
„Welche ist es?“
Shuchun schaute kurz auf den Schrecken, der sich unter ihnen anbahnte.
„Wenn ich raten müsste, dann Die Spinnen von Te Zhuo“, antwortete sie.
Druz und Ziya schlossen die Augen. Die schwarze Wolke unter ihnen wurde größer, während tausend winzige Körper – die sie jedoch liebend gern noch winziger gehabt hätten – in Richtung des Lichts über ihnen huschten.
„Mögt Ihr Spinnen?“, fragte Ziya.
„Nicht besonders. Lehrensucherin? Gibt es eine Möglichkeit, vielleicht direkt zur Moral dieser Geschichte zu springen? Irgendetwas mit Handlungen und Konsequenzen. Wir haben es schon verstanden.“
„Wirklich?“, sagte Shuchun freundlich. „Sie kommen aber immer noch.“
Die weißen Wände wirbelten wie graue Wolken in einem starken Wind fort. Die Goblins und die Lehrensucherin standen auf nacktem Stein, auf einer Plattform inmitten eines riesigen, lärmerfüllten Raumes. Tausende Beine huschten von unten herauf und riesige, schwere Schatten wirbelten um die Plattform in der Dunkelheit.
„Nun, dann erzählt uns, wie die Geschichte ausgeht“, sagte Druz mit zusammengebissenen Zähnen. „Lasst es aufhören.“
„Das wird ein Problem“, sagte Shuchun. „Kein Entdecker, der den verlorenen Tempel von Te Zhuo betreten hat, wurde jemals wiedergesehen. Es ist also eher eine Warnung als eine Geschichte.“
„Eine Warnung, den Tempel nicht zu betreten, in dem wir uns bereits befinden?“, fragte Ziya müde.
Shuchun strahlte.
„Wartet mal“, sagte Druz. „Niemand ist je zurückgekehrt, oder? Also wurden niemals Leichen gefunden.“
Shuchun legte den Kopf auf die Seite. „Ja?“
„Woher wissen wir dann, dass das hier ein böser Ort ist?“, fragte Druz. „Könnte es nicht sein, dass es hier so wundervoll ist, dass niemand wieder hinaus wollte?“
„Das ist durchaus möglich“, gestand Shuchun ein, während Ziya ihre Hände über das Gesicht legte. „Außer dass die Geschichte aus einem bestimmten Grund nach den Spinnen benannt wurde.“
„Wirklich?“, sagte Druz. Er und Ziya rückten in stillschweigendem Einvernehmen aneinander, sodass sie Schulter an Schulter standen.
„Nun“, fuhr Shuchun fort. „Ich habe nicht gesagt, dass man von den Entdeckern nie mehr etwas gehörthat. Sie schreien.“
„Lasst mich raten. Sie schreien wegen den Spinnen“, sagte Ziya.
„Aber ja.“
Eine tödliche Welle aus Unmengen behaarter Beine schoss aus der Grube unter ihnen. Und blieb stehen. Glitzernde Augen brannten vor Hunger.
„Wenn wir also dieses Te Zhuo betreten“, sagte Druz nach einem bewusst ruhigen Atemzug, „könnten wir alles vorfinden. Fallen. Äußerst beeindruckende Spinnen.“
„Vielleicht auch Diener der Alten Götter“, sagte Ziya. „Die sind überall.“
„Eine Handlung“, sagte Druz langsam. „Ein Ergebnis: Wir kommen hier niemals raus.“
„Es gibt keinen Ausweg, oder?“, fragte Ziya. „Unsere Handlungen haben uns hierher gebracht. Nun müssen wir mit den Konsequenzen klarkommen.“
„Ja“, sagte Shuchun lächelnd. „Sehr gut.“
Finsternis überflutete die Plattform und spülte die Goblins fort.
***
Ziya öffnete die Augen. An ihrer Wange spürte sie die Kälte eines langen, hellen Marmorbodens, der sich weithin erstreckte ...
... bis zu einer Schriftrolle, die an der gegenüberliegenden Wand einer engen, türlosen Kammer hing. Geister von Worten rasten wie vergängliche Gedanken über ihre Oberfläche. Das strahlende Weiß eines Auges ohne Pupille starrte sie wartend an.
Shuchun machte einen Schritt über ihren Kopf und versperrte so bedächtig und genau mit dem Fuß ihre Sicht auf die Rolle, als wäre dies vorhergesagt gewesen.
Stöhnend erhob sich Ziya.
„Das ist es?“, ächzte Druz. Er nahm die Wand zur Hilfe, um auf die Beine zu kommen, und sah noch schlimmer aus, als sie sich fühlte.
„Ja“, sagte Shuchun.
„Was genau ist es?“
„Für manche ist es eine Waffe“, sagte Shuchun. „Für andere eine Lektion oder Strafe. Ich weiß nur, dass die Lehrensucher es vor langer Zeit erschufen und die Last tragen müssen, die Welt vor den Konsequenzen zu beschützen.“
„Was ist so gefährlich daran?“, fragte Ziya.
„Eine leere Schriftrolle – jede leere Schriftrolle – birgt Möglichkeiten in sich. Sie könnte zur Geschichte von Rakalaz werden“, erwiderte Shuchun. Ziya richtete den Blick nach oben. In der Decke befand sich ein Riss, aus dem Sand rieselte. Irgendwo dort oben hatte sie eine Geschichte erzählt. Hatte die Schriftrolle sie gehört?
„Sie könnte auch die Legende einer unendlichen Armee aus Sand oder einer Legion von Spinnen aufzeichnen“, sagte Shuchun. „Oder Schlimmeres.“
„Ihr sagt also, dass sie Figuren zum Leben erweckt, wie es die Lehrensucher tun?“, fragte Druz.
„Nein“, sagte Shuchun. „Ihr versteht es nicht. Ich kann Di Chen herbeirufen, damit er sich mit der Wüstenhexe streitet und gegen die legendäre Armee kämpft. Ich könnte ihn nicht auf meine Feinde hetzen.“
Druz hob eine Augenbraue. „Kann dieses Ding das?“
Ziya hörte die Gier in seiner Stimme. Ob Shuchun dies wohl auch tat?
„Vielleicht“, sprach sie leise. „Unseren Legenden nach kann es Worte zu Fleisch werden lassen. Hoffnung zu Realität.“
„Tut mir leid, aber für mich hört sich das einfach nach Beschwörungen an“, sagte Druz. „Hexenmeister machen so etwas andauernd. Wenn man mal von ein paar
Dämoneninvasionen absieht, ist das nichts Schlimmes.“
„Nicht?“, fragte Shuchun.
Der Hahn einer Waffe wurde gespannt.
„Nein. Ich streite nicht ab, dass es gefährlich ist“, sagte Druz entschuldigend, während er sein Gewehr auf Shuchun richtete. „Aber eine Waffe ist eine Waffe. Sie schießt erst, wenn man den Abzug drückt. Sozusagen. Ziya, nehmt die Schriftrolle.“
Shuchun schaut Druz so bekümmert an, dass Ziya sich fragte, wie er das ertragen könne.
„Ich habe Euch doch gesagt“, erwiderte Shuchun, „dass ich nicht zulassen werde, dass Ihr sie bekommt.“
„Das hier ist keine Diskussion“, sagte Druz. „Ziya. Die Schriftrolle.“
„Glaubt Ihr, sie beherrschen zu können, obwohl wir es nicht geschafft haben?“
„Ich?“, fragte Druz. „Nein. Herr Gallywix wollte haben, was immer hier auch drin ist. Er wird sie bekommen.“
Und so entschlossen sich die Goblins, die Schriftrolle zu nehmen, sprach Shuchun sanft.
Ihre Worte rasten über die Rolle, die wie eine einzige elfenbeinerne Flamme pulsierte. Die Wände des Raums rissen auf und weißes Licht strömte durch die Lücken.
Instinktiv drückte Druz den Abzug.
Instinktiv drückte Druz den Abzug und ...
***
... die Kugel flog.
Mit der Schriftrolle unter dem Arm verließen die Goblins die Lehrenkammer und betraten die Privatgemächer des Handelsprinzen Gallywix.
Ziya geriet ins Stolpern und kämpfte gegen ihre Übelkeit an. Druz stieß schwankend gegen sie und hielt sich an ihrer Schulter fest.
Wie waren sie hierher gekommen? Ihre letzte Erinnerung war das Abfeuern des Gewehrs auf Lehrensucherin Shuchuns ernstes Gesicht – scheinbar vor nur wenigen Sekunden.
Nun waren sie an einem anderen Ort. Das gedämpfte Geräusch der Motoren des Megazeppelins dröhnte hinter den Wänden. Ziya und Druz standen in einem dunklen, engen Raum. Das Arbeitszimmer eines Tüftlers mit einem einfachen Holzschemel. Eine Werkbank. Sorgfältig aufgereihtes Werkzeug.
Jastor Gallywix saß an der Werkbank, zeichnete freihändig einen Bauplan und Ziyas Orientierungslosigkeit verflüchtigte sich. Es war einfach nur ein langer Tag gewesen.
Gallywix war dünner, als sie ihn in Erinnerung hatte, aber nicht wesentlich. Sein Bauch quoll aus einer einfachen, offenen Weste. Früher hatte er auch einen extrem übergroßen Zylinder, glitzernde Ringe und ein schrecklich breites Grinsen getragen.
Dieser Gallywix trug keine Klunker und grinste nicht. „Vielleicht kennt Ihr ihn nicht so gut wie ich“, hatte Druz gesagt ...
Druz richtete sich neben ihr auf.
„Das ist es, Boss“, sagte er mit heiserer Stimme und warf die Schriftrolle auf die Werkbank. Gallywix rührte sie nicht an.
„Die Lehrensucherin?“, fragte er.
Ziya wurde von einer Welle von Schuldgefühlen erfasst. Sie hatte gesehen, wie die Kugel flog. Shuchun war tot. Ganz bestimmt.
„Tot“, sagte Druz, klang jedoch unsicher.
„Wie schade“, sagte Gallywix und nickte in Richtung der Schriftrolle. „Was ist das?“ „Anscheinend eine Art Portal, das Geschichten Wirklichkeit werden lässt“, sagte Druz. „Alles ist außer Kontrolle geraten, bevor die Lehrensucherin noch mehr erklären konnte.“
Der Handelsprinz betrachtete die Schriftrolle. Ziya machte sich auf etwas Schreckliches gefasst ...
„Hört sich nicht gut an“, sagte Gallywix. „Ich lege sie in die untere Kammer, wenn wir wieder in Azshara sind.“
Ziyas Mund stand offen.
„Boss“, sagte Druz fast flehend. „Wenn Ihr sie nicht benutzt, wird jemand anderes es tun.“
„Ihr kennt meine Antwort“, sagte Gallywix und schaute ihn kurz an.
„Ja“, sagte Druz mit einem Seufzen.
„Gut. Das Letzte, was wir brauchen, ist noch eine riesige Waffe“, sagte Gallywix. „Bringt sie raus.“
„Und das war es jetzt?“ Die Worte standen im Raum, bevor Ziya erkannte, dass sie sie gesprochen hatte.
Gallywix schaute sie an. Sie konnte geradezu sehen, wie es in seinem Kopf ratterte.
„Was habt Ihr erwartet, Feldwebel?“, fragte er.
„Ich habe erwartet, dass Ihr sie benutzt!“, knurrte Ziya. „Das macht Ihr doch. Ihr benutzt Dinge. Ihr seid ein Ungeheuer!“
Zu ihrer Überraschung nickte Gallywix.
„Ja, das bin ich“, sagte er. „Aber nicht so eins.“
„Ihr seid genau so eins!“
„Nein“, sagte Gallywix. „Da wir uns noch nie von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden haben, Feldwebel, möchte ich etwas klarstellen. Ich habe kein Problem damit, Euch zu verkaufen, wenn Ihr unachtsam werdet. Ich würde Euch sogar in den Tod schicken, wenn es den Finanzen des Kartells hilft. Aber ich lasse nicht zu, dass Ihr für nichts und wieder nichts aus Dummheit oder durch eine große dämliche Waffe getötet werdet. Das ist nicht mein Stil.“
Er warf einen kurzen Blick auf den Ring an ihrem Hals. Schützend legte sie ihre Hände darum. Ein undefinierbarer Ausdruck huschte über sein Gesicht.
„Wie auch immer“, sagte er. „Mir tut leid, was mit Eurem Mann auf dem Hyjal geschehen ist. Aber mir tut nichts leid, was ich getan habe. Also ja, ich bin ein Ungeheuer. Aber ich passe auf meinen Besitz auf. Wenn es mir möglich ist.
„Und momentan bedeutet das, diese große Waffe zu verstecken, bevor jemand davon erfährt.“
Aber natürlich war das schon geschehen, flüsterte Lehrensucherin Shuchuns Stimme und der Raum um Ziya herum kristallisierte sich allmählich, so als ob die Zeit verlangsamt würde. Die Gerüchte verbreiteten sich in der ganzen Welt: Gallywix hatte eine mächtige Waffe in Pandaria gefunden und behielt sie für sich.
Garrosh Höllschrei, der Kriegshäuptling der Horde, konnte sich nur einen einzigen Reim auf solch einen Verrat machen: Rebellion. Garrosh führte die zersplitterte Horde nach Bilgewasserhafen.
Der Megazeppelin schmolz dahin. Unter Ziyas Füßen erhob sich fester Boden.
Aus der kalten Höhe von Gallywixs Palast sah sie, wie ihr Zuhause brannte. Druz stand wankend an ihrer Seite und in seinen Augen lag Erschöpfung.
„Legt Eure Rüstung an“, sagte ein Vollstrecker hinter ihr. „Sie werden bald da sein.“
Garroshs Truppen griffen den Palast an. Die Goblins zogen sich durch die unterirdischen Gänge zurück, um die Kammer und die darin verborgenen Geheimnisse zu schützen, sprach Lehrensucherin Shuchun.
Mit gezückten Dolchen zog Ziya sich zurück. Ein Blutelf hob eine Armbrust. Druz stieß Ziya zur Seite und bekam den Bolzen in die Schulter. Mit einem Ächzen stolperte er gegen sie und Ziya zog ihn mit sich.
Schon bald hatten die wenigen überlebenden Goblins keine Rückzugsmöglichkeit mehr, sprach Lehrensucherin Shuchun ruhig und bestimmt.
Ziya wurde von einem Pfeil getroffen und setzte sich. Druz lehnte gegen sie und schnappte nach Luft. Das Vorzimmer der Kammer war ein großer Raum mit Stahlwänden, in dem unzählige gefallene Goblins lagen. Die Angreifer der Horde kamen näher, bewegten sich widerwilliger angesichts des bevorstehenden Gemetzels. Sie kannte einige vom Hyjal und aus anderen Schlachten. Wenn sie nur zu Atem käme, könnte sie sie bestimmt davon überzeugen, dass sie einen Fehler machten ...
Hinter ihr öffnete sich die Tür zur Kammer ...
Das Bein eines Spinnenpanzers machte einen Schritt über die Goblins hinweg. Dann ein weiteres. Handelsprinz Gallywix stürmte mit brüllendem Lachen auf die Massen der Angreifer zu. Garrosh schob sich mit der Axt in der riesigen roten Faust durch seine Truppen.
„Zurück“, knurrte der Kriegshäuptling. „Der Verräter gehört mir.“
Das Duell war nur kurz, lief jedoch auch nicht wie erwartet, sprach Shuchun.
„Helft mir“, keuchte Druz und hantierte mit seinem Gewehr. Ziya hob ihren Arm vom Boden und richtete den Lauf auf ...
Das Duell. Der Mechanopanzer stolperte nach einem Axthieb zur Seite und Funken sprühten zischend aus seinen gesprungenen Gelenken. Gallywix verlor. Natürlich verlor er.
Aber warum lachte er dann noch?
Gallywix sprang aus dem Wrack des Mechanopanzers, hielt sich an den Stoßzähnen des muskulösen Orcs fest und rammte wie der Straßenkämpfer, der er in früheren Zeiten einmal gewesen war, dem Kriegshäuptling seine Stirn ins Gesicht. Garrosh fiel auf ein Knie.
Mit hängendem Kopf und benebelt von Schmerzen gab Druz einen Schuss aus seinem Gewehr ab, der jedoch daneben ging.
Gallywix zitterte und fiel zu Boden.
Und Garrosh nahm den Schatz der Kammer an sich, sprach Lehrensucherin Shuchun.
Ziya lag in einer stetig größer werdenden Lache aus Blut, von dem sie nicht wusste, ob es ihr eigenes war. Sie sah, wie Garrosh niederkniete, um die Schriftrolle an sich zu nehmen.
Monate vergingen, flüsterte Lehrensucherin Shuchun über ihr. Und die Welt veränderte sich.
Ziya gab sich der Geschichte hin, schloss ihre Augen und ...
***
... mühte sich, sie wieder zu öffnen. Blut rann in ihr unverletztes Auge. Der Helm hatte den Schlag des Orcs zum Großteil abgefangen. Ziya knurrte, schüttelte ihre Orientierungslosigkeit ab und rollte nach links.
Das Schwert des Orcs schlug knirschend an der Stelle in den Boden, an der sie gerade noch gelegen hatte. Sie sprang auf und stieß in einem raffinierten Bogen mit beiden Dolchen zu.
Der Orc starrte sie mit Klingen in seiner Kehle leblos an und fiel.
Doch schon bald erhob er sich wieder.
Garrosh glaubte an eine von den Orcs beherrschte Welt und die Schriftrolle hatte sie Realität werden lassen. Die Orcs überrannten Kalimdor, diesmal versklavt von einem anderen Meister als dem Dämonenblut, das sie einst beherrscht hatte. Nichts konnte sie töten, und die blasse Leere des Artefakts, von dem sie angetrieben wurden, leuchtete in ihren stumpfen Augen.
Teldrassil war brennend ins Meer gestürzt. Eine verkohlte Grube war alles, was noch von der Exodar übrig blieb. Die Tauren und Trolle waren entsetzt über die Verwüstung über das Große Meer geflohen und hofften, dass Garrosh sich mit seinen Erfolgen zufriedengeben würde.
Doch das tat er nicht.
Ziya stand in der Nähe des Hafens von Sturmwind. Ein letztes Gefecht an der Seite ihrer Verbündeten und ehemaligen Feinde. Ein Kampf, den sie nicht gewinnen konnten.
Der Klang von Schritten ließ sie mit gezogenen Dolchen herumfahren.
„Ihr“, sagte sie.
„Ich“, sagte Druz, während er eine ausgefranste Bandage über eine lange Schnittwunde an seinem Arm wickelte. „Schön, Euch zu sehen, Feldwebel.“
Er trug keine Waffe. Vielleicht war sie verloren gegangen. Vielleicht hatte er aufgegeben und sie abgelegt. So oder so konnte sie ihm keine Schuld geben.
Sie standen Schulter an Schulter. Die Orc-Flotte strömte in die überfüllte Bucht und spuckte Hunderte heulende Krieger auf den Anleger. Tauren starben an der Seite von Menschen, Zwergen und Blutelfen, doch es war alles zu spät.
Der Orc zu Ziyas Füßen zuckte und seine klaffenden Wunden verschwanden.
„Gute Absichten, was?“, sagte Druz.
„Das ist alles unsere Schuld“, sagte Ziya leise.
Druz kicherte. „Zumindest werden wir keine Gelegenheit mehr haben, es zu bedauern.“
Ziya stürzte sich in die Schlacht. Druz folgte ihr.
***
Sturmwind fiel. Die Orcs herrschten über alles. Zumindest eine Zeit lang.
Das schutzlos zurückgelassene Dunkle Portal wurde von der Brennenden Legion zurückerobert. Schrecken erhoben sich aus der See und es gab keine Kämpfer mehr, die sie hätten aufhalten können.
Azeroths Berge brannten und schmolzen dahin. Seine Ozeane kochten, bis nichts mehr von ihnen übrig blieb. Dann wurde alles dunkel.
***
Alles war Licht.
Die nun dunkler werdende Schriftrolle warf noch einen langen Schatten vor Lehrensucherin Shuchun und verwandelte die Spuren aus Wassertropfen an den Wänden der Lehrenkammer in ein Netz aus schimmernden Perlen.
Die Kugel hing wie eingefroren vor Shuchun – das letzte Bindeglied zwischen den beiden Goblins und ihrer schrecklichen Zukunft.
Lehrensucherin Shuchun streckte den Arm aus, nahm die Kugel aus der Luft und legte sie bedächtig auf den Boden.
Lehrensucherin Shuchun wandte sich der Schriftrolle zu, sprach sie. In gewisser Weise hatte Druz recht. Die Schriftrolle war so einfach wie eine Waffe. Aber mit Waffen kann man unbeabsichtigt schießen. Kugeln können die falschen Ziele treffen. Also zielte Lehrensucherin Shuchun genau und sagte ...
Die Bilder, welche die beiden Goblins gesehen hatten, waren nicht wirklich.
Der Raum drehte sich und warf die Goblins zu Boden. Shuchun bewegte sich keinen Zentimeter.
Keiner dieser Schrecken hatte sich wirklich zugetragen.
Ziya senkte ihren Kopf unter den entsetzlichen, nachlassenden Wellen der Erinnerung an die Verluste und alten Wunden, die nicht mehr existierten.
Sie hörte: Und alles war wieder wie zuvor.
Plötzlich wurde es still und Ziya schaute nach oben. Shuchun verstaute die fest umwickelte Schriftrolle hinter ihrer Schulter.
„War das wirklich?“, fragte Ziya. „Irgendetwas davon?“ Shuchun dachte über die Frage nach.
„Ihr werdet besser schlafen“, sagte sie, „wenn ich Euch darauf keine Antwort gebe.“
Sie streckte ihre Pfoten aus, um ihnen hochzuhelfen. Ziya nahm eine. Druz nicht.
„Ihr hättet die Schriftrolle jederzeit so einsetzen können?“, fragte er. Es klang wie eine Anschuldigung.
„Ja.“
„Und mich dazu bringen können, Dinge zu tun, die ich ...“
„Euch dazu bringen können?“, fragte Shuchun, in deren Stimme keine Sanftheit mehr lag. „Ihr glaubt, dass Frieden unmöglich zu erreichen sei, weil Ihr es noch nicht versucht habt. Ihr glaubt, der Krieg würde weitergehen, weil er noch nie geendet hat, und Ihr trefft schwierige Entscheidungen ohne Furcht vor deren Konsequenzen.
„Ihr wählt Euren Weg“, sagte Lehrensucherin Shuchun und holte Luft. „Ich habe Euch davor gerettet.“
Druz spannte den Kiefer. „Warum habt Ihr uns dann überhaupt durch die Lehrenkammer geführt?Warum habt Ihr uns nicht vergessen lassen, dass wir etwas gefunden haben?“ Ziya bemerkte seinen flehenden Ton.
Shuchuns Lächeln war ebenso freundlich wie zermürbend scharf.
„Vielleicht musstet Ihr herausfinden, mit welchen Kosten einfache Antworten verbunden sind“, antwortete sie.
***
Sie verabschiedeten sich in der frischen, salzigen Luft am Strand.
„Habt Ihr einen sicheren Ort für dieses Ding?“, fragte Druz und nickte in Richtung der Schriftrolle. In ihm war irgendetwas zerbrochen – so viel war klar. Aber daraus war etwas Neues geschmiedet worden. Etwas Stärkeres.
„Ja“, sagte Shuchun.
„Gut. Feldwebel, nehmt Euch ein wenig Urlaub. Bezahlten, natürlich“, fügte er hinzu, als Ziya ihren Mund öffnete. „Sorgt dafür, dass die Lehrensucherin dorthin gelangt, wohin sie gehen muss.“
Danach hangelte er sich ohne ein weiteres Wort am Seil zum Megazeppelin hinauf.
Ziya und Shuchun entfernten sich über einen aufsteigenden Pfad von der Küste. Der Megazeppelin verschwand taumelnd in der Ferne, als wäre der Pilot betrunken. Vermutlich war er es auch.
„Wohin?“, fragte Ziya.
„Hier entlang“, antwortete Shuchun und wies in eine Richtung. „Wir haben eine längere Reise vor uns.“
Ziya drehte den an ihrem Hals hängenden Ring. Zu ihrer Überraschung lächelte sie. Es würde schön sein, zur Abwechslung mal zu beschützen, statt anzugreifen. Daran zu glauben, dass der Krieg und all die Schrecken, die er mit sich brachte, enden könnte.
Schweigend gingen sie nebeneinander her.
„Wollt Ihr eine Geschichte hören?“, fragte Shuchun.
Die Jadejäger von Matt Burns
Königin-Regentin Moira Thaurissan erbittet Eure Anwesenheit. Umgehend.
Fenella Dunkelader wartete vor der riesigen zu den königlichen Gemächern führenden Eichentür und wiederholte die Worte in ihren Gedanken. Sie leckte sich über die trockenen Lippen und wischte die schweißnassen, mit Ruß verschmierten Hände an ihrer Arbeitskleidung ab. Sie hatte auf einen Amboss im Herzen von Eisenschmiede gehämmert, als ein königlicher Berater ihr die Nachricht überbracht hatte. Sie wünschte, sie hätte Zeit gehabt, etwas Vorzeigbareres anzuziehen.
Aber Moira ließ man nicht warten.
Fenella klopfte an.
„Herein“, erklang eine gedämpfte Stimme von innen.
„Bleib hier, Koveth.“ Fenella drehte den Kopf so weit, dass sie den riesigen, sich hinter ihr auftürmenden Golem sehen konnte – einen Berg aus Metall, Magie und Genialität der Dunkeleisenzwerge.
„Bestätigt“, grollte das Konstrukt.
Die Tür knarrte, als Fenella sie aufdrückte. Sie hatte noch nie einen Fuß in die königlichen Gemächer gesetzt. Nur wenige hatten das. Edle Zwergenteppiche mit Abbildungen historischer Ereignisse bedeckten die Wände. Moira saß mit geradem Rücken hinter einem Holztisch, der groß genug war, um als Handelsschiff durchzugehen. Darauf lagen zerbrochene Federkiele und Schriftrollen – Opfer in einem mit Versprechungen, Drohungen und Halbwahrheiten geführten Krieg. Im Krieg der Politik.
Fenella schluckte und fragte sich, ob sie zuerst sprechen sollte. Sie hatte Moira bereits bei verschiedenen Anlässen getroffen, einmal nachdem sie den Bau der mittlerweile berühmten Rubinausstellung in Schattenschmiede abgeschlossen hatte. Trotzdem machte sie die Anwesenheit der Königin nervös.
„Fenella“, sagte Moira schließlich mit einem entspannten Lächeln. Sie hielt ein kleines Objekt in ihren Händen: eine Statuette in Form einer sich spiralförmig windenden Schlange aus dunkler Jade.
„Eure Hoheit.“
„Danke, dass Ihr gekommen seid. Ich schätze, diese Knaben kennt ihr.“ Moira deutete zu einer Seite des Gemachs.
Fenella war so auf die Königin konzentriert, dass sie die anderen Zwerge im Raum gar nicht bemerkt hatte. Einer war ein Bronzebart – und zwar ein absurd großer, der den Rest seiner Art um zwei Köpfe überragte. Der zweite war ein kräftiger Wildhammer mit lohfarbener, von Dutzenden blauen Tätowierungen verunstalteter Haut. In einer Schlaufe auf seinem Rücken hing ein riesiger Hammer. Als er Fenella sah, verzog er das Gesicht.
„Nicht unbedingt, Eure Hoheit“, log Fenella, jedoch eher, um die anderen Zwerge zu ärgern, und nicht, um ihre Königin zu täuschen. Natürlich waren sie ihr bekannt. Seit der Wiedervereinigung der Klans Wildhammer, Dunkeleisen und Bronzebart war Eisenschmiede übervoll von Steinmetzen und Schmieden. Die meisten von ihnen waren Größenwahnsinnige, die glaubten, für Ruhm und Ehre bestimmt zu sein. Jeden Tag sah sie, wie die beiden durch die Große Schmiede streiften, als ob sie ihnen gehörte, und die Arbeit der anderen schlechtmachten.
„Dann ist wohl eine Vorstellung angebracht“, sagte Moira.
Fenella wurde von Unbehagen ergriffen. Warum hatte man sie hierher gerufen? Und warum waren die beiden hier?
„Das ist Carrick Eisengrien.“ Moira deutete zum Wildhammer. „Ein Schmied und Bergarbeiter von legendärer Stärke. Wie ich hörte, kann er auch mit den Steinen sprechen. Stimmt das, Carrick?“
„Aber natürlich.“
„Und hier haben wir Fendrig Rotbart, die ‚Hand von Khaz‘.“ Moira wandte sich dem Bronzebart zu. „Ein Mitglied der Forscherliga. Er hat in den Tiefen von Uldaman, in der Boreanischen Tundra, in Bael Modan und an vielen anderen gefährlichen Orten im Berg gearbeitet. Nach allem, was man weiß, ist seine Tapferkeit ohnegleichen.“
Fendrig stieß einen langen Seufzer aus, als wäre seine Anwesenheit absolute Zeitverschwendung.
„Und schließlich Fenella Dunkelader, aus meinem eigenen Dunkeleisenklan ...“ Moira hielt inne. „Steinmetzin, Schmiedin, Ingenieurin und versierte Architektin.“
Und die Tochter eines Verräters. Diesen Teil ließ sie aus. Nicht, dass es von Belang gewesen wäre. Jeder wusste, dass Fenella die Nachfahrin von Fineous Dunkelader war, dem verstorbenen Chefarchitekten des Dunkeleisenklans. Ein Zwerg, der dafür verunglimpft worden war, wie er sich in diese begehrte Position gemogelt hatte. So erzählte man es sich zumindest.
Carrick murmelte sich irgendetwas zusammen. Fenella beachtete ihn nicht. Als Mitglied des Dunkeleisenklans und Tochter von Fineous war sie Verachtung gewöhnt. Es störte sie nicht. Sie hatte schon lange zuvor gelernt, dass sie allein besser arbeiten konnte. Das machte es für sie und alle anderen einfacher.
„Ihr fragt Euch, warum ich Euch hierher bestellt habe.“ Moira drehte die Statuette in den Händen. „Ich habe Euch als Mitglieder einer Sondereinsatztruppe ausgewählt – für einen Auftrag, der die besten Steinmetze in ganz Eisenschmiede erfordert.“
„Eine Truppe?“, platzte es aus Carrick heraus. „Mit diesen beiden?“
„Soll ich die etwa anführen?“, fragte Fendrig unter schallendem Gelächter.
„Nein.“ Moira nickte in Fenellas Richtung. „Ich möchte, dass sie das übernimmt.“
Fenellas Magen zog sich zusammen. Sie wollte schon fast dagegen protestieren, biss sich dann aber auf die Zunge und hielt sich zurück. Sich der Königin offen zu widersetzen, wäre keine gute Idee gewesen.
„Eine vom Dunkeleisenklan? Das steht außer Frage!“, brüllte der Wildhammer.
„Da stimme ich zu.“ Fendrig schüttelte angewidert den Kopf und ging zur Tür. „Ich hab Besseres zu tun, als meine Zeit bei so 'nem Wahnsinn zu vergeuden.“
„Muradin wird sicherlich daran interessiert sein, zu wissen, was Ihr von dieser Idee haltet – einer Idee, die er voll und ganz unterstützt“, sagte Moira.
Der Name des Bronzebart-Klananführers ließ Fendrig innehalten. Langsam drehte er sich um.
„Der Rat der drei Hämmer unterstützt dieses Projekt einstimmig“, fuhr Moira fort. „Ich habe die Aufgabe, die Einzelheiten zu beaufsichtigen.“ Die Königin stellte die Schlangenstatuette vorsichtig zur Seite und entrollte ein langes Pergament. Sie winkte die Steinmetze herbei.
Fenella und die anderen versammelten sich am Tisch und versuchten, sich an die besten Positionen zu drängeln. Die Siegel von Muradin, Moira und dem WildhammerKlananführer Falstad waren auf der Unterseite deutlich zu erkennen, genau so wie die mit dicken, schwarzen Linien niedergeschriebenen Namen der drei Steinmetze.
„Mein Name ... Ich hab nix zugestimmt.“ Carrick blickte mürrisch drein. „Was is' das für ein Unsinn?“
„Das ist eine Chance, der Allianz unsere Größe unter Beweis zu stellen – zu zeigen, dass wir nicht mehr eine Nation sich bekriegender Rivalen, sondern ein vereintes Volk sind. Und wenn Ihr Euch weigert ...“ Moira lehnte sich nach vorn. „Dieser Beschluss wird belegen, dass ihr Euch den Anstrengungen des Rates zum Schmieden einer neuen Zukunft für alle Zwerge widersetzt habt.“
Fendrig verschränkte die Arme und zog die Augenbrauen zusammen. „Für mich riecht das nach Erpressung.“
„Erpressung ist ein riskantes Spiel. Ein Werkzeug, das Verzweifelte nutzen.“ Moiras Lächeln wurde breiter, doch ihre Augen waren eiskalte Dolche. „Für mich gibt es nur alles oder nichts, alter Knabe. Ich habe Eure Namen hinzugefügt, weil ich wusste, dass Ihr nicht so dumm sein würdet, Eure eigenen kleinen Feindseligkeiten über das Gemeinwohl unseres Volkes zu stellen.“
Der Blick der Königin wanderte zwischen Carrick und Fendrig hin und her. Sie forderte sie auf, ihr das Gegenteil zu beweisen. Der Wildhammer trat von einem Fuß auf den anderen, sagte jedoch nichts, genau wie der Bronzebart. Dann schaute Moira Fenella an. So sehr sie die Vorstellung – und allein der Gedanke daran –, mit einem Bronzebart und einem Wildhammer zu arbeiten, auch abstieß, was konnte sie schon tun? Moira war ihre Königin, die Wächterin ihres Klans.
Fenella zwang sich zu nicken und hoffte insgeheim, dass dieser „Auftrag“ schnell vorüber sein würde.
„Gut. Nun, da wir das geklärt haben, können wir uns mit den Einzelheiten beschäftigen.“ Moira nahm die Jadestatuette vom Tisch, als sie sich in ihrem Stuhl zurücklehnte. „Was wisst Ihr über Pandaria?“
Eine Pandaren-Akolythin der Himmlischen Erhabenen fragte einst: „Hat das Land die Erhabenen geboren oder haben sie dem Land Leben eingehaucht?“
Ihr Meister kicherte wissend, da auch er schon über genau diese Frage nachgedacht hatte. Doch die Zeit hatte ihm Weisheit verliehen. „Ich habe eine wesentlich simplere Frage – eine Frage, deren Antwort Euer Rätsel lösen wird“, antwortete er. „Was kam zuerst, Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang?“
– Die Schriftrollen der Erhabenen
Die Aufgabe war einfach: Die Schlangenherzstatue musste wiederaufgebaut werden. Jeder Steinmetzlehrling mit ein bisschen Talent hätte das in kürzester Zeit geschafft. Fenella war jetzt schon drei Wochen im Jadewald gewesen, ohne Ergebnisse vorweisen zu können. Die Pandaren-Steinmetze, mit denen sie arbeitete, bewegten sich im Schneckentempo, doch die Dunkeleisenzwergin zögerte, sie anzutreiben. Laut Moira war sie eine „Botschafterin“.
„Erfüllt mich mit Stolz“, hatte die Königin vor Fenellas Abreise aus Eisenschmiede befohlen.
Fenella dachte über die Worte nach, während sie zur Baustelle unterwegs war, einer Lichtung an der östlichen Seite des Waldes. Vorarbeiter Raiki, der leitende Pandaren-Steinmetz, hatte ein Treffen anberaumt. Worum es dabei ging, wusste die Dunkeleisenzwergin nicht. Sie hoffte nur, dass die Dinge in Gang kommen würden.
Als sie eintraf, hatten sich schon Massen von Pandaren versammelt. Vielversprechend. Fenella blinzelte im grellen Sonnenlicht, als sie sich an einen Felsblock setzte. In der Ferne ragte der Jadetempel in den Himmel hinauf und Hitze ließ die Luft über dem mit grünen Ziegeln gedeckten Dach flimmern.
Raiki ging langsam in die Mitte der Versammlung. „Ihr alle kennt die vor uns liegende Aufgabe!“, rief er und zeigte zu einem nahe gelegenen Trümmerfeld.
Hinter ihm stand eine große, runde Steinsäule. Um sie herum lagen die abgebrochenen Stücke des Schlangenherzens. Die Statue war nach dem Bild der Jadeschlange, einem der vier legendären Himmlischen Erhabenen, erbaut worden. Nach dem, was Fenella wusste, waren sie gottähnliche Wesen aus Pandaria, allerdings hatte sie noch keinen von ihnen zu Gesicht bekommen. Das Schlangenherz war zerstört worden, als Horde und Allianz in dieser Region miteinander im Krieg lagen. Laut der Geschichte, die Moira ihr erzählt hatte, sollte die Jadeschlange nach dem Wiederaufbau durch die Steinmetze ihre Lebensessenz in die Statue übertragen und „wiedergeboren“ werden, allerdings war sich Fenella nicht ganz im Klaren darüber, was das bedeutete.
„Für den Wiederaufbau benötigen wir mehr Jade“, fuhr Raiki fort. „Daher schlage ich eine große Jadejagd vor!“
Ein Raunen ging durch die Menge, doch Fenella verstand die Aufregung nicht. Ihre Augen wanderten über die Steinmetze, bis sie Fendrig entdeckte, der wie Blut auf Neuschnee aus den Anwesenden herausstach. Der Bronzebart starrte zurück, selbstgefällig und herablassend wie immer. Auf der anderen Seite der Baustelle fand Fenella Carrick, der sie mit vor Ärger verzogenem Gesicht ansah.
Das letzte Mal hatten sie auf der Überfahrt nach Pandaria miteinander geredet. Diese Mistkerle kamen einfach nicht damit zurecht, dass Fenella das Sagen hatte. Trotz all des Geredes in Eisenschmiede über Gleichheit war es nicht so leicht, den alten Hass ruhen zu lassen. Von einem Mitglied des Dunkeleisenklans angeführt zu werden, war ein Berg, den sie nicht erklimmen konnten.
So ist's einfacher, dachte sich Fenella. Erledige den Auftrag und dann geht das Leben weiter.
„Die Jagd beginnt bei Sonnenaufgang und endet bei Sonnenuntergang. Wagen sind nicht erlaubt, Taschen und Beutel schon. Viel Glück!“ Raiki legte eine Pause für eine Runde Applaus ein.
„Fenella!“ Der Vorarbeiter stapfte zur Dunkeleisenzwergin, während die Pandaren-Steinmetze Gruppen bildeten. „Habt Ihr noch Fragen zur Jagd?“
„Nein“, antwortete sie. „Alles verstanden.“
„Ich würde das nicht zu ernst nehmen. Das ist eine Art Tradition, um die Stimmung zu heben.“
„Ein Dunkeleisenzwerg nimmt eine Bergbauherausforderung nie auf die leichte Schulter, alter Knabe“, sagte sie nüchtern.
Raiki kicherte wohlwollend. „Das habe ich schon gehört. Daher freue ich mich schon darauf, dieses berühmte Können der Zwerge in Aktion zu erleben.“ Er warf einen Blick zurück zu Fendrig, dann zu Carrick. Keiner von beiden hatte sich bewegt. „Braucht Ihr und Eure Gruppe Ratschläge für Abbaustellen?“
Fenella nahm einen Hauch von Zweifel beim Wort „Gruppe“ wahr. Die Spannungen zwischen den Zwergen waren den Pandaren nicht entgangen. Sie waren einfach nur zu höflich, sie mit diesem Problem zu belästigen.
„Das bekomme ich hin.“
„Na dann, gute Jagd. Möge die Jadeschlange über Euch wachen.“ Raiki verbeugte sich tief und ging.
Bevor sie in ihr Lager zurückkehrte, warf Fenella Fendrig und Carrick einen Blick zu. Sie waren Zwerge. Förmlichkeit hin oder her, diese große Jadejagd hatte das Feuer des Wettkampfes in ihrem Blut geschürt. Die Dunkeleisenzwergin schaute beide von ihnen mit schmalen Augen lang an. Sie bewegte ihren Kopf von einer Seite zur anderen, sodass ihr Hals knackte.
Fendrig gähnte. Carrick spuckte auf den Boden, trat Gras in ihre Richtung und stürmte dann los.
Die Jagd hatte begonnen.
Koveth wartete mit initiierten Wachprotokollen im Lager auf sie. Fenella stöberte in ihren Sachen, bis sie einige Karten mit bekannten Abbaustellen fand. Raiki hatte sie ihr beim ersten Eintreffen in Pandaria gegeben. Sie sah die Schriftrollen durch, kreiste vielversprechende Stellen mit einem Stück Holzkohle ein, berechnete die Zeit dorthin, dachte über den benötigten Proviant nach und ...
„Hallo.“
Ein Pandaren-Junges in einem blauen Kleid und mit zu zwei Knoten gebundenem obsidianfarbenem Haar stand am Rand des Lagers.
„Hoppla.“ Die Dunkeleisenzwergin lachte nervös. „Hast du mich erschreckt.“
„Du gehörst zu den Zwergen. Aus Eisenschmiede“, sagte das Junge neugierig.
„Ja.“
„Ihr drei scheint ziemlich wütend aufeinander zu sein.“
„Du musst noch viel über Zwerge lernen, Kleines.“ Fenella beließ es dabei. Sie wandte sich wieder ihren Karten zu und hoffte, das Kind würde sie allein lassen.
„Erzähl mir was.“
„Was?“
„Erzähl mir was über Zwerge.“
Fenella seufzte. Was sollte man da erzählen? „Vor langer Zeit lebten wir alle in Eisenschmiede. Dann bekamen wir Probleme miteinander und gingen getrennte Wege. Jetzt sind wir alle wieder in Eisenschmiede.“ Sie beschloss, die eher „umstrittenen“ Dinge auszulassen, wie zum Beispiel die Tatsache, dass die Dunkeleisenzwerge bis kurz zuvor von Ragnaros, dem Elementarfeuerfürsten, versklavt und unerbittlich auf einen Pfad des Bösen geführt worden waren.
„Aber ihr seid nicht richtig zusammen.“
„Wir sind unterschiedlich“, antwortete die Dunkeleisenzwergin und wurde von Wut übermannt. „Und werden es auch immer sein.“
„Du wirst also nicht mit ihnen auf die Jagd gehen?“
Wie viele Fragen wollte das Mädchen denn noch stellen? „Sie können mitkommen, wenn sie wollen. Mir egal. Ich werd' mehr Jade finden, als die beiden in 'ner ganzen Woche abbauen können.“
Das Mädchen runzelte die Stirn. „Ich verstehe.“ Vorsichtig ging sie auf die Zwergin zu und zeigte auf die Karte in ihrer Hand. „Dann solltest du diese ganzen Stellen meiden. Da wird es von Pandaren nur so wimmeln. Und die Jade dort wurde schon größtenteils abgebaut. Aber ich kenne einen guten Ort, den niemand anrührt ...“
„Ach, wirklich?“
„Dort.“ Das Mädchen zeigte auf der Karte auf eine nordwestlich vom Schlangenherz gelegene Stelle. „Der Eingang ist mit Unkraut und Steinen bedeckt, aber wenn du danach suchst, wirst du ihn finden. Das ist eine uralte Mine voller Jade, die schöner und reiner ist als alles, was die anderen abbauen.“
Fenella markierte die Stelle. „Wenn die so besonders ist, warum gehen dann die anderen nicht dahin?“
„Du musst noch viel über Pandaren lernen.“ Das Mädchen grinste. „Sie gehen an Orte, die sie kennen. Routine wirkt beruhigend.“
Fenella nickte. „Halt' bei Sonnenuntergang nach mir Ausschau, Kleines. Vielleicht ...“
Sie brach ab, als sie nach oben blickte und zum ersten Mal die Augen des Mädchens bemerkte. Sie waren seltsam und rot – so uralt wie Elementium. Fehl am Platze bei diesem kleinen, harmlosen Mädchen.
Die Dunkeleisenzwergin fing sich wieder und sagte: „Vielleicht heb' ich ein bisschen Jade für dich auf.“
„Das hoffe ich doch.“ Nach einer höflichen Verbeugung flitzte das Mädchen davon.
Fenella blätterte die nächste Stunde in den Karten, kam aber immer wieder zu der zurück, die sie auf den Rat des Mädchens hin markiert hatte. Jade, die schöner und reiner ist als alles, was die anderen abbauen. Es gefiel ihr nicht, wenn andere – besonders Kinder – ihr sagten, was sie beim Abbauen zu tun und zu lassen hatte, aber sie war fremd in diesem Land. Das könnte der Vorteil sein, den sie brauchte. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.
„Koveth“, rief Fenella. „Bist du bereit, 'n bisschen zu graben, alter Knabe?“
Die Augen des Golems leuchteten violett auf. „Bestätigt.“
***
Fenella brach noch in der Dunkelheit auf. Die Regeln besagten, dass die Jagd bei Sonnenaufgang beginnen würde. Ob das die Vorbereitungen und den Weg oder nur das eigentliche Abbauen umfasste, ließ sie einfach offen. Kurz vor Sonnenaufgang fand sie die Mine. Der Eingang war von Steinen und einem Geflecht aus dicken, dornigen Ranken halb bedeckt. Ein kleines grünes Ding schwirrte an einer Seite der Öffnung umher.
Eine Schieferspinne.
Fenella verzog das Gesicht. Die Pandaren hatten einen passenden Spitznamen für diese ekligen kleinen Viecher: „Beißer“. Sie konnten sich durch festen Stein kauen und die Stücke runterschlucken. Die Kreatur blieb stehen und bäumte sich vor Koveth auf. Ihre Kiefer klickten wie wild zusammen.
„Analyse: Sie will Koveth verschlingen.“ Der Golem brachte es wie immer auf den Punkt.
„Ja. Aber das wollen wir nich' zulassen, oder?“
Koveth antwortete, indem er einen Ausfallschritt nach vorn machte und die Spinne mit einem präzisen Hieb zu Brei schlug.
„Geh voran.“ Fenella war froh, Koveth an ihrer Seite zu haben. Der Golem war das einzige „Gruppenmitglied“, das sie brauchte. Er war verlässlich, folgte ihr blind und konnte mehr abbauen, als es zehn Steinmetze je schaffen würden.
Der Golem beseitigte den Rest der Ranken und Steine mit einem Schwung seiner Eisenhand und verschwand dann in der gähnenden Dunkelheit. Als auch sie im Innern war, zog sie einen kleinen violetten Kristall aus einer Tasche an ihrem Gürtel und schlug damit einige Male gegen die Wand. Der von einer Zauberin in Eisenschmiede gefertigte Edelstein rappelte und begann, den Durchgang zu erleuchten. Auf ihrem Weg durch den Tunnel fand sie nichts Besonderes und ihre Gedanken schweiften ab.
Warum war sie hier?
Die Dunkeleisenzwerge hatten kurz zuvor Respekt in Eisenschmiede erlangt, indem sie eine wichtige Rolle beim Zurückschlagen einer brutalen Troll-Invasion gespielt und viele Leben gerettet hatten – darunter auch Zwerge anderer Klans. Fenella war verblüfft, dass Moira sie – ausgerechnet eine Dunkelader – nach solch einem Sieg als Anführerin der Expedition ausgewählt hatte.
Entging ihr vielleicht etwas?
„Jade.“ Koveth zeigte auf den Boden.
Ein Dutzend kleiner, mit einer Staubschicht bedeckter Objekte lagen auf dem Boden verstreut. Eines war eine Figurine der Jadeschlange, die anderen stellten die restlichen Himmlischen Erhabenen dar: Xuen den Weißen Tiger, Niuzao den Schwarzen Ochsen und Chi-Ji den Roten Kranich. Sie hob die Jadeschlangenstatue auf und spürte, dass sie Hitze ausstrahlte. Eine seltsame Hitze, warm genug, dass Fenella sie durch ihre Lederhandschuhe spüren konnte.
Zauberei. Ein Teil von ihr schrie sie an, zu gehen. Warnte sie, dass sie nicht hierher gehörte.
„Wie ein richtiger Dunkeleisenzwerg ...“
Fenella machte einen Satz nach hinten. Koveth ging in Verteidigungsstellung in die Hocke.
Vor ihnen trat Carrick mit einer auf seinem Stahlhelm brennenden Flamme aus den Schatten.
„Was macht Ihr hier?“, fragte Fenella.
„Ich würd' Euch ja dieselbe Frage stellen, nur dass ich die Antwort schon kenne. Ihr seid mir gefolgt!“
„Feindliche Absichten entdeckt“, knurrte Koveth. „Soll ich ihn auslöschen?“
„Wenn Euer kleiner Freund auch nur einmal nach mir schlägt, mach ich ihn zu Altmetall.“ Carrick zog seinen Hammer hervor, um der Drohung Nachdruck zu verleihen. Eine schwachblaue Energie umströmte ihn knisternd. Die meisten Bergleute benutzten für ihre Arbeit Spitzhacken oder Geologenhämmer. Fenella wusste, dass Carrick anders war. Er hatte einen spitzen Sturmhammer, versehen mit der Kraft der Blitze. Eine Waffe, die viele Mitglieder seines Klans trugen.
„Zurück, Koveth“, befahl Fenella und sagte zu dem Wildhammer: „Ich hab diesen Ort selbst gefunden, sturköpfiger Mistkerl.“
„Ach ja? Nun, das Wort der Tochter des Schwindler-Fineous is' für mich ungefähr so viel wert wie Stroh am Hintern eines Greifs.“
„Hört auf mit der Quasselei. Keiner von Euch hat diesen Ort hier selbst gefunden.“ Fendrigs raue Stimme hallte von dort wieder, woher Fenella gekommen war.
Der gewaltige Bronzebart kam langsam näher, bis er die anderen Zwerge überragte. „Wir drei hatten wohl alle Besuch von diesem Pandaren-Mädchen.“
„Das Mädchen ...“ Carrick schlug mit seinem Hammer gegen die Wand. „Was hat sie vor?“
„Sie hat versucht, uns zu helfen“, sagte Fenella. „Sie versteht das böse Blut zwischen uns nicht.“
Die drei Zwerge standen still da und warfen sich mit vor lauter Nachdenken zerknautschten Gesichtern zornige Blicke zu. Fenella wusste, dass sie alle mit demselben Dilemma zu kämpfen hatten. Jade, die schöner und reiner ist als alles, was die anderen abbauen. Zu gehen, hieße nachzugeben – sich geschlagen zu geben. Keiner bewegte sich.
„Und?“ Carrick grinste spöttisch. „Ihr könnt jetzt beide gehen.“
„Wir alle sind Fremde in diesem Land“, erwiderte Fendrig. „Ihr habt auch nich' mehr Anspruch auf diese Mine als wir.“
Die Venen auf Carricks schweißglänzender Hand traten hervor. „Eure Entscheidung, wenn ihr beide mir folgen wollt. Kommt mir nur nich' in die Quere!“, brüllte er und stampfte den Tunnel entlang.
Fenella bemerkte einen Hauch Unbehagen – Furcht – auf Fendrigs Gesicht, wie dunkler Boden, der durch den Schnee des späten Winters zum Vorschein kommt. Als er sah, wie die Dunkeleisenzwergin ihn beobachtete, verhärteten sich seine Gesichtszüge wieder. „Es könnt' den Spaß wert sein, zu sehen, wie ihr beide Euch abmüht.“ Er stapfte weiter.
Die Dunkeleisenzwergin stand allein mit Koveth und kaute auf ihrer Unterlippe. Sie schätzte, dass die Sonne schon aufgegangen sein musste. Es könnte einige Stunden dauern, überhaupt eine andere passende Mine zu finden. Wenn sie Glück hätte.
„Komm.“ Sie gab Koveth einen Wink.
Der Golem folgte ihr tiefer in den Schlund des Berges hinein.
Die Geschichte der Pandaren enthält ein dunkles Kapitel – das Reich der Mogu. Für uns ist es schwierig, sich vorzustellen, wie sehr unsere Vorfahren während dieser Zeit gelitten haben. Die schrecklichen Mogu trampelten die Kultur der Pandaren nieder. Sie verbannten jegliche Anbetung der Erhabenen. Allein schon ihren Namen auszusprechen, wurde mit Folter und Tod bestraft. Mit der Zeit lernten selbst jene, die sie gekannt hatten, ihre weisen Lehren zu vergessen.
– Die Schriftrollen der Erhabenen
Ich hätte den Rat des Mädchens nicht beachten und 'ne eigene Mine suchen sollen, dachte sich der vor Wut schäumende Carrick.
Die bleischwere Stille um ihn herum fachte seinen Zorn nur noch weiter an. In seiner Jugend hatten seine Eltern die Gabe bei ihm bemerkt – die Gabe, mit den Steinen zu sprechen. Ein Wildhammer-Ältester hatte ihn für eine schamanische Ausbildung vorgesehen, aber das war nicht das Richtige für Carrick. Er war von ganzem Herzen Bergarbeiter und seine angeborene Verbindung mit den Elementen machte ihn zu einem der Besten im ganzen Klan. Einem der Besten auf der ganzen Welt.
Zumindest, als er die Steine noch hören konnte. Nun war ihre Stille wie ein scharfes Objekt, das man ihm zwischen die Rippen gestoßen hatte, eine ständige und schmerzhafte Erinnerung daran, wie tief er gefallen war.
Carrick dachte darüber nach, als er weiterging und schließlich einen großen runden Raum erreichte. Die Flamme auf seinem Helm ließ schwaches Licht auf die gegenüberliegende Seite der Kammer fallen. Er erkannte mit Rissen durchzogene und verblasste Wandbilder, die alle Xuen, den Weißen Tiger, darstellten. Auf einem Bild kämpfte Xuen gegen einen riesigen Mogu in Rüstung, aus dessen Körper Blitze zuckten. Auf einem anderen lag der Weiße Tiger in Ketten auf einem Berggipfel. Die Kreatur kämpfte brüllend und mit vor unkontrollierter Wut verzerrtem Gesicht gegen die Fesseln an. Die Mogu-Bestie schaute mit siegreich erhobenen Armen aus der Ferne zu.
„Was ist das hier für ein Ort?“, fragte Fenella, als sie mit ihrem Golem den Raum betrat. Die Dunkeleisenzwergin schwenkte ihren Edelstein, der die Kammer in ein blasses Violett tauchte.
Fendrig kam kurz danach. „Hat keiner von Euch dran gedacht, sich vorher mal 'n bisschen schlau zu machen? War ja klar.“ Der Bronzebartzwerg seufzte und ging zu einer Reihe von in die Wand geritzten Pandaren-Runen. Er zog eine lange Schriftrolle aus seinem Gürtel, auf deren abgenutztem Papier sich ähnlich aussehende Symbole befanden. Daneben standen Zwergenbuchstaben.
Carrick beäugte den Code. „Was steht denn da?“
„Wenn Ihr das wissen wollt, macht die Lauferei doch selbst.“ Fendrig drehte dem Wildhammerzwerg den Rücken zu und beschäftigte sich wieder mit den Runen.
Carrick öffnete und schloss seine Hände schnell mehrmals nacheinander. Ein schönes Bild kam ihm in den Sinn: Seine Faust, die gegen Fendrigs übergroßes Maul knallte und ihm das selbstgefällige Grinsen vom Gesicht fegte.
Fenella fluchte und schnalzte mit der Zunge. Sie stand auf der anderen Seite des Raums. Ein monströser, zu einem Gesicht eines knurrenden Mogu gemeißelter Stein versperrte den einzigen Durchgang, der tiefer in die Mine hinein führte. „Davon hat das Mädchen nichts erzählt.“
„Hier war seit Generationen niemand mehr. Wahrscheinlich sollte hier nich' jeder rumschnüffeln“, erwiderte Fendrig. „Wir müssen durchbrechen.“
Carrick untersuchte den Stein. Fest. Stabil. Er ging näher heran und legte seine Hand darauf, um ihn probehalber zu verschieben. Als seine Haut den Stein berührte, schoss ein schmerzhafter Energieblitz seinen Rücken hinauf. Die Luft im Raum wurde plötzlich wärmer und knisterte mit einer Kraft, die Magie glich.
Vor seinen Augen veränderte sich das Mogu-Gesicht langsam zu etwas anderem.
Zu einer scheußlichen, vernarbten Visage. Zu einem Drachenmal-Orc.
Carrick stolperte nach hinten und schüttelte den Kopf.
Der Orc bewegte sich nicht. Seinen Feind dort zu sehen, wie er ihn aus steinernen Knopfaugen anstarrte und herausforderte, ließ Carricks Herz rasen. Er drehte seinen Hals und streckte die Arme. Die Muskeln schwollen an. Er nahm seinen großen Hammer in die Hände und schwang ihn mit aller Kraft nach vorn.
Mit Donnerschlag und blendendem Lichtblitz traf das Metall auf den Stein. Der Hammer rutschte Carrick aus den Händen und flog davon.
Fendrig kicherte. „Ich weiß nich', ob Ihr den Stein getroffen habt oder er Euch.“ Der Bronzebart hob lässig seine Spitzhacke. „So, alter Knabe, jetzt zeig ich Euch mal, wie so was geht.“
„Ihr schafft das auch nich'. Ich kümmer mich drum.“ Fenella winkte ihren infernalischen Golem herbei.
Carrick nahm sich seinen Hammer und wirbelte zu den anderen Zwergen herum. „Zurück!“
Er wartete nicht auf ihre Antwort, bevor er dem Drachenmal-Orc einen weiteren Schlag verpasste.
Dann noch einen.
Und noch einen.
Carrick bekam gar nicht mit, dass er dem Orc keinen einzigen Kratzer verpasste. Seine Wut kochte glühend heiß in ihm hoch und veränderte alles um ihn herum. Schon bald befand er sich wieder auf den grünen Hügeln. Damals in Norderon.
Der Geruch von Rauch lag ihm in der Nase, die Klänge des Kampfes in den Ohren. Zwergen-Greifenreiter glitten durch den von Asche erfüllten Himmel und tauschten Schläge mit Orcs auf ihren schrecklichen versklavten roten Drachen aus. Carrick sah, wie ein Schwarm Drachenmal-Orcs sich auf ein rauchendes Dorf unten am Hügel stürzte.
Auf sein Dorf.
Er hatte diese Erinnerungen in seinem Kopf schon Tausende Male durchlebt: Wie er aus der Mine stürmte, als er von dem Angriff erfuhr, und den Hügel zu seinem hell in Flammen stehenden Haus hinunterlief. Aber wie schnell er auch lief und welche Abkürzungen er auch nahm, er konnte es niemals schnell genug schaffen. Diesmal schien es jedoch anders zu sein. Die Erinnerung ging tiefer als die vorherigen und erfüllte ihn mit Zuversicht.
„Hallo“, sagte eine kleine Stimme.
Eine junge Wildhammerzwergin in einer weißen Robe mit einem Busch brauner Greifenfedern in ihrem roten Haar kam auf Carrick zu.
Das kann nich' sein, dachte er. Er rieb sich die Augen, aber das Mädchen war immer noch da.
„Rhona!“ Carrick hob seine Tochter hoch und drückte sie fest an sich. In einem entfernten Teil seines Geistes wusste er, dass dies eine Illusion war. In seinen anderen Träumen oder Erinnerungen an diesen Tag war sie niemals erschienen. Aber jetzt konnte er sie spüren. Er konnte die Pollen der auf dem Hügel wachsenden Gänseblümchen in ihrem Haar riechen.
„Was machst du hier?“, fragte das Mädchen, nachdem er sie wieder hinuntergelassen hatte.
Carrick blickte hinunter zum Fuß des Hügels, auf das brennende Dorf.
„Ich versuch's zu schaffen“, sagte er.
„Es ist zu spät.“ Rhona nahm eine Feder aus ihrem Haar und drehte sie zwischen den Fingern.
„Nein. Diesmal ist's anders. Ich kann's spüren.“
„Es ist wie immer.“ Rhona lachte naiv, als wäre das eine Art Spiel für sie.
Etwas in Carrick brach entzwei – etwas so tief liegendes, dass er keine Kontrolle darüber hatte.
„Sag das nicht!“, brüllte er. Der Zorn ebbte schnell wieder ab und schlechtes Gewissen trat an seinen Platz.
Rhona ging langsam nach hinten und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
„Es ... es tut mir leid.“ Carrick kniete sich hin und streckte seine Hände aus. „Bitte, Kleines. Verzeih mir.“
„Wenn du mir was versprichst.“
„Alles.“
Rhona kam näher und legte ihre Arme um den Hals ihres Vaters. Der Geruch von Gänseblümchenpollen verschwand. Der stechende Hauch des Todes, von brennendem Fleisch und einem zu Asche zerfallenden Traum umhüllte Carrick. Mit winziger Stimme flüsterte seine Tochter: „Komm nicht mehr. Hier gibt's nichts mehr für dich.“
Rhona gab ihm einen Kuss auf die Wange und tänzelte hinfort. Der Wind wurde plötzlich stärker und blies ihr die Feder aus den Fingern. Sie lachte und jagte ihr den Hügel hinunter nach.
„Warte!“, rief Carrick.
Er begann ihr hinterherzulaufen, wurde jedoch von Händen ergriffen und weggezogen. Er zwinkerte und Norderon verschwand. Er war wieder in diesem verdammten Loch unterhalb von Pandaria und wand sich auf dem Boden. Schmerz schoss seine Arme hinauf. Blut tropfte aus seinen Fingerknöcheln. Sein Hammer lag einen Meter neben ihm.
„Hey!“, sagte Fenella. „Seid Ihr verrückt geworden, euch durch den Stein schlagen zu wollen?“
Carrick schaffte es durch den Nebel aus Verwirrung, der sich über ihm gebildet hatte, gerade noch „Was?“ zu sagen.
„Was war mit den Drachenmal-Orcs?“, fragte Fendrig.
„Ihr habt sie angeschrien, als wär'n sie hier im selben Raum“, fügte Fenella hinzu.
Carrick dachte daran, abzuwinken oder eine Erwiderung zu brüllen. Aber als er an sich heruntersah, wie er blutig und mit blauen Flecken auf dem staubigen Boden saß, erlosch alles Feuer in ihm. Der mächtige Carrick Eisengrien. Es war nicht mehr zu verbergen, wie jämmerlich und nutzlos er geworden war.
Er hatte seit Jahren niemandem vom Angriff der Drachenmal-Orcs erzählt, aber als er seinen Mund öffnete, drangen die Worte hinaus und er war zu erschöpft, um sie aufzuhalten. Er erkannte, dass er sie schon viel zu lang verborgen hatte. Wie Wasser an einem Damm wollten sie frei fließen. Also ließ er es zu.
„Seit dem Tag kann ich die Steine nich' mehr hören“, sagte er am Ende der Geschichte.
Er konnte die anderen Zwerge nicht einschätzen, allerdings machten sie ihn nicht schlecht, wie er es erwartet hatte.
„Wartet einfach hier“, seufzte Fendrig. „Ich kümmer' mich um den Stein.“
„Halt.“ Carrick wischte sich den Staub ab und ging auf den Felsblock zu. Der knurrende Orc war immer noch da. Er blickte ihm in die steinernen Augen und fragte sich, wie lange er sich noch von seiner Wut verzehren lassen sollte – wie viele Freunde er noch mit seiner Reizbarkeit vertreiben würde. Trotz all seines Redens hatte er seit den Tagen in Norderon nichts mehr von Bedeutung geschaffen. Er hatte keine Geduld mehr dafür.
Er hätte den Drachenmal-Orcs alle Schuld dafür geben können, letztendlich hätte es aber nichts geändert.
Carrick holte tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen. Er legte seine Handfläche auf den Stein und starrte den Orc an. Das spöttische Grinsen des Drachenmal-Orcs wurde breiter. Die Wut kehrte zurück und der Rauch zog Carrick in die Nase. Der Drang, diese Erinnerungen zu bekämpfen, sie zu etwas Besserem zu machen, wie Stein, der abgebaut und für die Formung vorbereitet wird, überwältigte ihn. Er schloss die Augen, kämpfte dagegen an und ließ den Erinnerungen ihren Lauf.
Ich bin fertig mit euch.
Er spürte eine Bewegung an seiner Haut. Der Stein vibrierte. Es war das alte, vertraute Gefühl der Steine, deren Singen er hörte. Der Rausch der Freude und Erleichterung ließ Carrick die Hand schon fast wegziehen, aber er hielt sie an Ort und Stelle. Er öffnete sich den Elementen und ließ sich von ihnen wie einstmals leiten. Jeder Fels, jeder Berg hat einen Schwachpunkt. Das vermittelten sie ihm.
Als Carrick seine Augen öffnete, starrte der Mogu ihn an. Seine Hand berührte eine Stelle rechts neben der Nase der Figur. Na also. Der Wildhammerzwerg schwang seinen Hammer und biss sich vor lauter Schmerz in den Händen auf die Lippe.
KNACK.
Statt zu zerbröckeln, rollte der riesige Stein zur Seite und gab den Blick auf einen dahinter liegenden düsteren Durchgang frei.
Carrick ließ die anderen Zwerge zuerst durch die Öffnung gehen. Als sie verschwunden waren, lehnte er eine lange Zeit an der Wand und jeder Muskel in seinem Körper zitterte heftig. Es fühlte sich an, als hätte er einen Sack mit Eisen getragen und endlich einen Platz gefunden, an dem er ihn abstellen konnte.
Manche Pandaren waren auf Rache aus. Sie verstärkten ihre Kampfkraft für den Tag, an dem sie die Mogu angreifen konnten. Wut war der Antrieb hinter allem. Aber was bedeutet Stärke ohne Kontrolle? Schon bald wurden diese armen Sklaven Marionetten ihres Zorns, die den Hass gegen alles und jeden wandten. Sie hatten Xuens grundlegendste Lektion vergessen: „Der einzige Feind seid Ihr selbst.“
– Die Schriftrollen der Erhabenen
Schweißperlen liefen langsam an Fendrigs Nacken herunter. Die Furcht kam zurückgekrochen, wütete in seinen Eingeweiden und grollte wie ferner Donner. In den Tiefen dieses vom Licht verlassenen Bergs fragte er sich, ob der Sturm ihn irgendwann überwältigen würde. Er konnte ihn nicht ewig in Schach halten.
Düstere Gedanken jagten durch seinen Kopf. Wer wusste schon, wie stabil dieser Ort war? Welche Sicherheitsvorkehrungen trafen die Pandaren überhaupt in ihren Minen? Vielleicht keine beim Bau dieser Tunnel. Vielleicht mieden ihre Steinmetze sie genau aus diesem Grund.
Fendrig machte sich Vorwürfe, nicht im Lager geblieben zu sein, aber was hätte das schon gebracht? Die Dunkeleisen- und Wildhammerzwerge wären zurückgekehrt und hätten gesehen, dass er nichts abgebaut hätte. Dann wäre ihnen vielleicht aufgefallen, dass die „Hand von Khaz“ schon seit mehr als einem Jahr keine Mine mehr betreten hatte.
„Noch 'ne Kammer“, rief die Dunkeleisenzwergin.
Erleichterung durchströmte Fendrig. Die unebenen Wände waren schmaler geworden und hatten sich enger um ihn gelegt. Er hatte Probleme mit dem Atmen bekommen. Er nahm sich einen Moment, um sich wieder zu fangen und die Maske der Fassung anzulegen, die er meisterhaft tagein, tagaus tragen konnte.
Der langgezogene, rechteckige Raum war wesentlich größer als der letzte. Zum Glück gab es auf der anderen Seite einen offenen Durchgang. Decke und Wände waren unnatürlich eben – kunstvoll gefertigt.
Trotz seiner Nachforschungen war Fendrig nicht auf den Zweck dieser Kammern gestoßen. Offensichtlich hatten die Pandaren sie zu Ehren der Erhabenen erbaut. Aber warum? Die in die Wände gemeißelten Runen gaben keine Antworten. Sie waren kryptisch und unklar. Hauptsächlich alte Pandaren-Sprichwörter.
In der Mitte des Raums war ein flaches Relief von Niuzaos Kopf in der Größe eines Rundschilds in den Boden eingelassen. Das Licht der offenen Flamme auf Fendrigs Helm ließ die saphirfarbenen Augen des Ochsen funkeln.
Fenella trat auf die Scheibe, als sie mit dem hinter ihr herstampfenden Golem den Raum durchquerte. Carrick betrat die Kammer und folgte der unkeleisenzwergin, nachdem er die Umgebung kurz untersucht hatte.
Fendrig bemerkte sie kaum. Seine Aufmerksamkeit war auf die in die Wände kunstvoll eingearbeiteten Bilder gerichtet. Zu sehen war Niuzao, der Schwarze Ochse. Fendrig hatte sich auf der Überfahrt nach Pandaria mit dieser Kreatur beschäftigt. Sie war ein mächtiges Wesen, das sich ganzen Armeen entgegenstellen konnte. Kein Wunder, dass die Pandaren den Ochsen verehrten und hofften, seiner Stärke gleichzukommen.
Doch auf diesem Wandbild war Niuzao alles andere als furchtlos. Der Schwarze Ochse kauerte auf einem Hügel, umzingelt von Scharen von Mogu-Kriegern. Bei näherer Betrachtung erkannte Fendrig, dass die Soldaten nicht echt waren, sondern nur aus Ton bestanden. Die echten Mogu sahen sich die Szene von den Rändern des Wandbildes aus vergnügt an.
Plötzlich knisterte die Luft vor Energie, die sich in Fendrigs Magen wandte. Das war ein seltsamer Ort. Er fragte sich, ob er bei seinen Nachforschungen irgendwelche Einzelheiten übersehen hatte. Vielleicht hatten die Mogu diese Tunnel gefunden. Vielleicht hatten sie sie mit einem Fluch belegt.
Als Fendrig bemerkte, dass er allein war, lief ihm ein Schauer über den Rücken. „He! Wo seid Ihr?“
„Im Tunnel!“, schallte Fenellas Stimme aus dem Durchgang.
Der Bronzebartzwerg eilte zu der Öffnung. Mit seinem Fuß trat er in eine Rille auf dem Boden. Er blickte nach unten und bemerkte, dass er auf Niuzaos Emblem stand. Der zuvor stoisch dreinblickende Schwarze Ochse hatte nun den gleichen erschrockenen Gesichtsausdruck wie auf dem Wandbild angenommen.
Fendrig sprang nach hinten, als die Scheibe sich einmal komplett drehte und dann anhielt. Das Grollen von Stein, der über Stein kratzte, erschütterte den Raum. Hinter den Wänden hörte Fendrig etwas, das wie Räder und Flaschenzüge klang – das Knarren von altem Holz und der Zug auf einem starken Seil, das gespannt wurde.
„Was war das?“, brüllte Fenella aus dem Tunnel.
„Dassss ...“ Fendrig bekam die Worte nicht heraus.
Das Grollen wurde ohrenbetäubend. Dicke Steinplatten senkten sich mit erschreckender Geschwindigkeit über die beiden Öffnungen der Kammer. Er ging einen Schritt, doch seine Beine waren schwer wie Ambosse. Er stolperte und fiel hin. Sein Bergarbeiterhelm krachte auf den Boden und der Aufprall ließ die auf ihm brennende Flamme erlöschen.
„Bronzebart!“, rief Fenella.
Fendrig hob seinen Kopf und sah das violette Licht des Edelsteins der Dunkeleisenzwergin. Die Steinplatte rutschte immer noch hinab. Fenella, Carrick und der Golem, deren Gesichter in der Entfernung kaum zu sehen waren, duckten sich. Alle drei versuchten zu verhindern, dass sich der Durchgang schloss, jedoch vergebens.
Er hätte die Beine in die Hand nehmen können. Stattdessen sah er wie ein hilfloses neugeborenes Lamm zu, wie die Tür sich schloss. Dunkelheit verschlang ihn. Doch in seinem Geist hielt der Lärm des schleifenden Steins an. Das Geräusch veränderte sich. Es wurde zum Geräusch der auseinanderfallenden Welt, eines Berges und seines auf ihn herunterkrachenden uralten Zorns.
„Fendrig! Wo seid Ihr, alter Knabe?“, rief eine Person, die er nicht sah.
Er erkannte sie. Er hatte die Stimme seit mehr als einem Jahr nicht mehr gehört. Seit ...
„EINSTURZ!“, schrie jemand anders.
Fendrig versuchte aufzustehen, doch seine Beine versagten. In der Dunkelheit verlor er jeglichen Orientierungssinn. Eine Welle von Übelkeit führte dazu, dass sich alles in seinem Kopf drehte. Seine Lungen füllten sich mit einer eisigen Kälte und er wusste genau, wo er war.
Eisklamm.
„Nein. Nich' hier ... Nich' hier ...“, stammelte Fendrig, als er sich umschaute. Es war immer noch dunkel, aber er spürte etwas Neues, Riesiges in der Kammer. Er war nicht mehr in Pandaria – er war in diesem höhlenartigen Bergtunnel tief im Gebiet der Zwerge. Dort hatte er mit zwölf anderen Bergleuten gearbeitet, als der Kataklysmus hereinbrach und Erdbeben die Welt zerschmetterten.
Fackellicht flackerte aus unbekannter Quelle durch den Raum. In den kurzen Momenten, in denen er etwas erkennen konnte, sah er, wie riesige Schatten fielen und Steine von der Größe eines Wagens vom Dach regneten.
„Wo is' Fendrig?“
Wieder diese Stimme. Noch lauter. Ein Chor anderer vertrauter Sprecher folgte.
„Noch da drin! Ich geh' zurück!“
„Ich komme mit!“
„Nein.“ Fendrig würgte das Wort heraus. „Bringt Euch in Sicherheit!“
Sie hörten nicht zu. Ihre Fackeln wurden heller. Kamen näher.
„Hier entlang!“, schrie einer. „Er ist ...“
Ein scharfes, entsetzliches Krachen brachte die Stimme für immer zum Schweigen.
Doch die anderen gingen weiter und riefen Fendrigs Namen. Er hörte, wie die riesigen Steine einer nach dem anderen hinabfielen. Er hörte die Bergleute schreien und sah zu, wie ihr Fackelschein langsam dunkler wurde und verschwand.
Währenddessen blieb Fendrig wie angewurzelt sitzen und hatte viel zu viel Angst, um aufzustehen oder die Toten und Sterbenden ausfindig zu machen. Zitternd, aber sicher in einem aus den herabfallenden Steinen gebildeten Hohlraum. Pures, schmachvolles Glück.
So plötzlich wie es begonnen hatte, hörte das Erdbeben auch wieder auf. Alles war still.
Fendrig blinzelte und sagte sich, dass es nur ein Traum wäre. Aber nichts um ihn herum hatte sich verändert. Die Luft war immer noch bitterkalt und trocken in seinem Hals, der Staub zermahlener Steine lag dick auf seiner Zunge.
„He.“ Ein Stiefel trat ihm fest in die Rippen.
Fendrig sah nach oben und erwartete, die Rettungsmannschaft zu sehen, die ihn im Geröll des Passes gefunden hatte. Von den dreizehn Bergleuten, die ihn an diesem Tag betreten hatten, kam nur einer lebend wieder heraus, und zwar noch nicht mal auf eigenen Füßen. Die Retter hatten ihn in Sicherheit getragen, da ihm die Kraft zum Gehen fehlte.
Das war allerdings nicht die Rettungsmannschaft, an die er sich erinnerte.
Eine Gruppe aus nebelhaften, schwach und in verschiedenen Farben leuchtenden Gestalten stand um ihn herum. Es waren insgesamt zwölf und alle trugen Bergarbeiterausrüstung. Die zwölf tapfersten Zwerge, die Fendrig jemals gekannt hatte.
***
„Genug, Koveth." Fenella lehnte sich gegen die Tunnelwand und Schweiß lief ihr über die Stirn.
Ihr Golem trat von der in die verschlossene Kammer führenden Steintür zurück. Er hatte eine Zeit lang auf sie eingehämmert, jedoch ohne Erfolg. Währenddessen hatten Fenella und Carrick den Tunnel nach einer Möglichkeit abgesucht, die Tür zu öffnen, jedoch nichts gefunden.
„Dummkopf ...“, murmelte der in der Nähe stehende Carrick. „Warum is' er nich' losgelaufen, als er die Möglichkeit dazu hatte?“
Fenella schüttelte den Kopf. Sie und Carrick waren losgestürmt, als die Tür sich zu schließen begann. Als sie wieder zurückgekommen waren, hatte sich die Steinplatte schon halb gesenkt und selbst mit Koveths ungeheurer Kraft hatten sie nicht verhindern können, dass sie sich schloss.
Fenella erkannte, dass sie für Fendrig erst einmal nichts tun konnten. Sie mussten mit Sprengpulver zurückkehren oder sich Hilfe von den Pandaren holen, bevor die Luft in der Kammer zur Neige gehen würde.
Die Dunkeleisenzwergin winkte Koveth herbei und machte sich auf den Weg durch den Tunnel.
„Wollt Ihr ihn einfach da drin lassen?“, fragte Carrick.
„Wir brauchen Hilfe, um ihn zu befreien, und die kriegen wir erst, wenn wir selbst einen Ausgang finden.“
Carrick blieb einen Moment lang mit gesenktem Kopf vor der Tür stehen und folgte dann Fenella.
***
Fendrig starrte die Geister der Bergleute an und fragte sich, ob sie gekommen waren, um sich an ihm zu rächen. Was hatte er auch schon getan, um ihre Opfer zu ehren? Bis zu seinem Eintreffen in Pandaria hatte er sich in keine Mine mehr gewagt und gelogen, um aus solchen Aufträgen herauszukommen. Er hatte seine Zeit damit verbracht, Geschichten seiner vergangenen Bergbautaten zu erzählen und sich bemüht, seine Fassade der Furchtlosigkeit aufrechtzuerhalten. Das war das Einzige, was er noch gut konnte.
„Was wollt Ihr von mir?“, zischte Fendrig.
Die Phantome antworteten nicht. Sie kamen näher. Der Bronzebartzwerg griff sie mit einem heftigen Schwung an.
„Wir werden Euch nich' wehtun, alter Knabe“, sagten die Geister im Chor. „Wir sind hier, um Euch auf die Beine zu helfen. Ihr wart schon viel zu lang unten.“
Fendrig holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Er ließ sich von den schemenhaften Gestalten berühren und es fühlte sich an, als würden Luftwirbel gegen seinen Körper drücken. Sie hoben ihn hoch, bis er auf den Beinen stand.
„Geschafft.“
„Es tut mir leid, Leute.“ Fendrig senkte den Blick, da er sich zu sehr schämte, um die Geister anzusehen. „Ich hätt' in dem Pass zu Euch kommen sollen. Ich hätt' was tun sollen. Irgendwas. Ich ... ich hatte Angst.“
„Wir auch. Aber wir haben uns nich' davon aufhalten lassen. Es wird Zeit, dass Ihr's jetzt genauso macht. Wir lassen jetzt los.“ Die Phantome lockerten ihren Griff und ein Gefühl des Schreckens durchzuckte Fendrig.
„Nein!“ Das Wort kam aus seinem Mund gesprungen. „Ich bin hier drin gefangen. Ich kenn' den Weg hinaus nich'.“
„Wir können Euch nur auf die Beine stellen, alter Knabe. Ob Ihr Euch wieder hinlegt oder stehen bleibt, liegt an Euch.“
Fendrig schluckte und sein Hals schmerzte von der kühlen Bergluft des Passes. „Ich ...“ Er versuchte, etwas zu sagen, wusste aber, dass das nur eine Ausrede sein würde, damit die Geister nicht von seiner Seite wichen.
„Es wird Zeit, wieder zu leben“, fuhren sie fort. „Seid Ihr bereit?“
Fendrigs Herz pochte wie wild in seiner Brust. Sein Atem wurde schneller. Wenn seine Zeit kommen und er die Welt jenseits von dieser betreten würde, was sollte er den Geistern der zwölf Bergleute sagen? Oft hatte er über diese Frage nachgedacht. Würde er ihnen sagen, dass er den Rest seiner Tage in Furcht verbracht oder mit Zielen, offenen Augen und heiß in seinem Blut brennendem Feuer gelebt hatte?
Und da waren sie nun.
Er räusperte sich. „Tut es.“
Die Geister ließen los.
Fendrig sackte leicht hinab, stolperte nach hinten und versuchte, im Gleichgewicht zu bleiben. Er fand Halt und merkte, dass ein Teil von ihm noch immer unter den Steinen in Eisklamm feststeckte. Er war müde und die Muskeln in seinen Beinen brannten und schmerzten vor lauter Anstrengung. Doch der Schmerz fühlte sich gut an. Er fühlte sich echt an.
Irgendwo im Raum begann ein schwaches blaues Licht zu scheinen. Fendrig sah das Relief mit Niuzao in der Nähe. Die saphirblauen Augen des Ochsen glühten intensiv – heller und immer heller.
Ohne zurückzublicken ging er einen Schritt nach vorn und setzte einen Fuß entschlossen auf die Scheibe.
***
Fenella war schon weit in den Tunnel vorgedrungen, als sie hinter sich das Schleifen von Steinen hörte. Sie stürmte mit Koveth und Carrick zurück und sah gerade noch, wie sich der Durchgang zum Niuzao-Raum öffnete. Vorsichtig schlich sich die Dunkeleisenzwergin mit dem Leuchtedelstein in der Hand in die Kammer und entdeckte Fendrig.
Ein seltsames Grinsen ging über das ganze Gesicht des Bronzebarts.
„Was ist passiert?“ Carrick eilte in den Raum.
Fendrig lachte von ganzem Herzen. „Das würd' ich zu gern wissen, alter Knabe.“ Er deutete hinab auf Niuzaos Gravur, auf der er stand. „Das is' 'ne Art Schalter. Da muss ich beim Reinkommen drüber gestolpert sein.“
Fenella beäugte die Scheibe argwöhnisch. Auch sie war daraufgetreten, aber nichts war geschehen. Die Gravur sah noch genau so aus wie zuvor. Es handelte sich um nichts weiter als ein Bildnis des Schwarzen Ochsen – stoisch, unnachgiebig und furchtlos.
„Dann is' alles in Ordnung?“, fragte sie. „Ihr habt hier drin festgesteckt.“
„Ja. Ich hab mich ... nur 'n bisschen verlaufen.“ Fendrig blickte der Dunkeleisenzwergin in die Augen. Seine zuvor an den Tag gelegte Kälte war verschwunden und nun hatte etwas anderes ihren Platz eingenommen. Etwas Echtes. „An diesem Ort gibt's Magie. So viel steht fest.“
Der Bronzebart blickte zu Carrick, der kurz nickte.
„Aber jetz' is' alles in Ordnung“, sagte Fendrig. Der riesige Zwerg zündete mit einem Feuerstein die Flamme auf seinem Helm wieder an und ging mit hoch erhobenem Kopf voraus, tiefer in den Berg hinein.
Andere Pandaren waren in Angst und Schrecken versetzt. Allein den Namen ihrer Peiniger zu hören, lähmte sie vollends. Diese Furcht drang in alle Aspekte des Lebens ein. Sie bekamen Angst vor jedem Schatten und jedem Geräusch. Sie bekamen sogar Angst vor dem Leben und gaben sich damit zufrieden, in einem selbst geschaffenen Gefängnis dahinzuvegetieren. Hätten sie sich doch nur an das Mantra von Niuzao erinnert: „Furcht trachtet danach, Euch klein zu machen. Lasst sie stattdessen Euer Selbst zum Vorschein bringen.“
– Die Schriftrollen der Erhabenen
Der Tunnel wandte sich endlos. Bilder von Chi-Ji, dem Roten Kranich, schimmerten auf beiden Seiten an den Wänden. Der Erhabene – ein Symbol der Hoffnung, wie Fendrig unterwegs erklärte – flog auf den ersten Wandbildern über Scharen jubelnder Pandaren-Sklaven hinweg. Doch als Fenella tiefer in den Tunnel vorstieß, wurden die Darstellungen düsterer: Mogu-Krieger fingen Chi-Ji, legten seine Flügel in Ketten und präsentierten den Roten Kranich den Pandaren, die ihre Blicke senkten und weinten.
Die Mosaike wurden immer weniger an der Zahl und schließlich ersetzt durch ein Meer aus funkelnden Edelsteinen. Rubinrote, die Beleuchtung der Zwerge widerspiegelnde Kristalle bedeckten die Wände und die Decke.
„Wundervoll“, sagte Fenella leise. Das war echte Schönheit, nicht die an der Oberfläche wachsenden Wälder und Blumen. Diese Kristalle, diese Steine – das waren Dinge, welche die Zeit überdauerten.
Sie bemerkte einen dunkelgrünen Fleck an der Wand und trat näher heran. Ein großer Stein war zwischen zwei Kristallen verkeilt. Fenella leuchtete mit ihrem glühenden Edelstein an der Decke entlang und fand weitere dieser seltsamen, nahezu perfekt geformten Steine. Irgendwo hatte sie die schon einmal gesehen ...
Neugierig streckte sie die Hand aus, um einen von ihnen zu berühren.
Er kreischte.
Fenella machte einen Satz nach hinten, als dünne Beine sich unter dem Körper der Schieferspinne ausstreckten. Ihr Panzer rappelte. Eine Ansammlung grüner Augen leuchtete in der Dunkelheit. Die Störung versetzte auch die anderen Kreaturen in Aufruhr. Dutzende von ihnen erwachten mit klickenden und klappernden Beinen an den Decken und Wänden zum Leben.
„Koveth!“, rief Fenella. „Angriff!“
„Bestätigt.“ Der Golem versetzte der nahe gelegensten Spinnengruppe einen Hieb und ließ sie gegen die Wand spritzen.
Aber es gab noch mehr. Sie regneten auf die Zwerge herab und stießen ihre rasiermesserscharfen Beine in ihre Haut. Ein Teil der Decke brach ein und eine Gruppe riesiger Spinnen, die fast halb so groß wie Fenella waren, fiel auf den Boden.
„Zu viele!“ Carrick schwang seinen Hammer und zerschmetterte den Panzer einer der größeren Spinnen. „Lauft weg!“
Er und Fendrig flüchteten zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Fenella versuchte, ihnen zu folgen, doch die wimmelnde Masse von Spinnen versperrte ihr den Weg. Ein Teil von ihnen löste sich, um dem Bronzebart und Wildhammer nachzujagen. Fenella blickte in die andere Richtung. Der Weg vor ihr war frei.
„Koveth“, zischte sie. „Defensiver Rückzug!“
Fenella sprintete, und hinter ihr erklangen die donnernden Schritte des Golems. Sie legte keine Pause ein, um darüber nachzudenken, wohin sie lief oder wie lang sie schon unterwegs war. Sie rannte weiter, bis sie eine Gabelung erreichte. Hoch oben in den kristallenen Wänden befand sich eine Statue von Chi-Ji. Die Flügel des Roten Kranichs waren gefesselt und der Kopf des Erhabenen zeigte mit tränenerfüllten Augen zum rechten Tunnel.
Fenella hielt an, um zu Atem zu kommen. Außer Koveth, dessen Eisenkörper von gezackten Rillen gezeichnet war, folgte ihr nichts.
Ein gellender Schrei erklang aus der Richtung, aus der sie gekommen waren. Der Schrei eines Zwergs. Fenella standen die Haare zu Berge. Die Luft in der Höhle wurde plötzlich wärmer und verströmte einen Hauch von Zauberei.
Ich kann nichts für sie tun. Der Gedanke kam aus einem dunklen Teil von ihr gekrochen und stieg in Fenella empor. Wenn ich zurückgehe und wir drei sterben, bringe ich Schande über meinen Klan. Moira hat mir die Verantwortung übertragen. In Eisenschmiede wird man darüber flüstern, wie ich den Auftrag verpfuscht, wie ich einem Bronzebart und Wildhammer den Tod gebracht hab. Aber wenn ich weitermache und überlebe, wird eine Dunkeleisenzwergin dort erfolgreich sein, wo andere versagt haben.
Je mehr sie darüber nachdachte, desto logischer erschien ihr dieser Gedankengang. Carrick und Fendrig würden sich ihr gegenüber genauso verhalten, wenn sie die Gelegenheit dazu hätten. Sie hassten sie. Das war in sie eingebrannt – etwas, das weder Zeit noch Erfahrung jemals auslöschen könnten.
Fenella schaute hinüber zur Gabelung.
„Erfüllt mich mit Stolz“, hatte Moira gesagt, und zwar vor allem zu Fenella. Das hatte sie doch damit gemeint, oder? Warum sonst hätte sie die Tochter von Fineous Dunkelader bitten sollen, die Gruppe anzuführen?
Fenella nahm eine Bewegung war. An den Wänden, reflektiert auf jeder Facette der Kristalle, befanden sich Bilder von ihr. Sie winkten ihr zu, riefen sie, drängten sie dazu, den rechten Tunnelabzweig zu nehmen.
Fenella folgte den Reflexionen, wobei ihr kaum bewusst war, ob Koveth Schritt hielt. Der Tunnel verlief spiralförmig nach unten und die Luft wurde kälter. Sie stolperte beinahe über etwas auf dem Boden Verstreutes – Knochen. Der Form des Schädels nach zu urteilen handelte es sich um das Skelett eines Pandaren.
„Hier gibt's nichts für dich, Kleines. Hier unten läufst du nur im Kreis.“
Das zarte Flüstern war kaum wahrnehmbar.
Fenella wirbelte mit pochendem Herzen herum. „Wer is' da?“
„He. Erinnerst du dich nicht an deinen eigenen Papa?“
Dann sah sie ihn. Fineous Dunkelader, der sich auf einem Dutzend Kristalle spiegelte. Der berüchtigte Steinmetz trug seinen Lieblingsmonokel und einen protzigen Anzug – wie immer. Er zündete seine Pfeife an und nahm einen tiefen Zug. Der süße Geruch des Rauchs zog aus ihrer Erinnerung hoch. Das letzte Mal hatte sie ihn Jahre zuvor gesehen, kurz bevor eine Gruppe Fremder das Gebiet der Dunkeleisenzwerge überfallen und die ruchloseren Mitglieder ihres Klans abgeschlachtet hatte. Darunter auch ihren Vater.
Das ist nicht echt. Fenella schüttelte den Kopf, doch Fineous war immer noch da.
„Willst du die beiden sterben lassen, Kleines?“, hakte er nach.
Fenella beachtete ihn nicht. Sie ging weiter. Ihre Reflexionen winkten immer noch, aber die Bewegungen waren nun hektischer und drängender – fast schon manisch. Beeilung.
„Ich hab dir 'ne zweite Chance gegeben und was machst du daraus?“
Fenella drehte sich wütend um und öffnete ihren Mund, um Fineous für seine Heuchelei zu verfluchen.
Aber er war fort. In den Kristallen, in denen er gestanden hatte, sah sie eine jüngere Ausgabe von sich selbst, mit leuchtend orangefarbenen Zöpfen bis zur Taille. Diese andere Fenella kroch durch die Gänge von Schattenschmiede und trug ein Bündel Baupläne unter dem Arm. Sie hatte sie einer Reihe bekannter Architekten gestohlen und mit dem falschen Siegel ihres Vaters versehen. Fenella sah, wie ihre Reflexion durch die Hauptstadt der Dunkeleisenzwerge huschte und die Baupläne ihrem Kaiser Thaurissan vorlegte.
Der Herrscher des Klans war so angetan von der Arbeit, dass er Fineous schon bald in den Rang des Chefarchitekten erhob. Gerüchte kamen auf, dass Fineous die Baupläne nicht selbst erstellt hätte. Thaurissan leitete Nachforschungen ein, doch nie hatte irgendjemand etwas beweisen können. Zumindest war sich Fenella da sicher. Ihr Verbrechen war so solide und bis ins kleinste Detail geplant wie ein tausendfach geschliffener Diamant.
Und die Entscheidung, es auszuführen, hatte sie ganz allein getroffen.
Fineous war nicht wütend, als er es herausgefunden hatte, doch sie erinnerte sich daran, wie etwas in seinen Augen aufgeblitzt war. Es war weder Bedauern, noch ein Schuldgefühl, noch Traurigkeit. Es war eine Verbindung aus allem, eine Mischung aus Emotionen, die sich ihren Weg durch die Dunkelheit in seinem Herzen gebahnt hatte.
„Ich hab nie jemandem erzählt, was du gemacht hast.“ Fineous' Bild erschien wieder. „Ich hab die Schuld und den Zorn auf mich genommen. Schließlich bin ich als Schurke gestorben. Ich beschwer' mich nicht. Ich war kein guter Zwerg, das weißt du. Aber ein Teil von mir war's, für kurze Zeit. Ich hatte die Chance, was Gutes zu tun. Dir 'ne Zukunft zu verschaffen.“
Fenella konnte Fineous nicht in die Augen sehen, obwohl er nur eine Reflexion oder ein Produkt der Magie war. In Wahrheit gab es nämlich nie einen Tag, an dem sie nicht darüber nachdachte, was sie getan hatte – und was er für sie getan hatte. Immer, als sie hörte, wie die Leute über ihren Vater sprachen und seinen Namen in den Dreck zogen, trafen sie die Schuldgefühle mit voller Wucht. Sie erkannte dann wieder einmal, dass sie nichts getan hatte, um sich zu ändern und seine noble Tat zu ehren.
Aber welche Alternative gab es schon? Ein Versuch birgt immer die Gefahr des Scheiterns in sich. Ein Versuch hätte bedeutet, sich anderen anzuvertrauen und daran zu glauben, dass auch andere ihr vertrauen. Das wäre sinnlos, da sie in ihrem tiefsten Inneren wusste, dass sie immer diese Diebin bleiben würde, die durch Schattenschmiede schleicht und bereit ist, Betrug an einer ganzen Nation zu begehen.
„Ich bin eine Dunkelader“, sagte sie.
„Der Name ist keine Entschuldigung. Die Sache ist, dass ich niemals eine echte Wahl hatte, mich zu ändern. Du schon. Es braucht nur einen Schritt, Kleines. Seltsam, dass du so etwas Simples nicht schaffst, wo du schon so viele andere Dinge erreicht hast.“
Fineous stellte seine Pfeife hochkant und leerte sie. Geisterhafte Glut verschwand zwischen den Kristallen. „Tja, mehr hab ich nich' zu sagen, Kleines. War schön, dich wiederzusehen.“
Langsam verblasste er. Als er verschwunden war, konnte Fenella noch immer den Rauch in der Luft riechen.
***
Eine Sackgasse.
Fendrig stellte sich mit dem Rücken an die Kristallwand. Heißes Blut schoss aus den Wunden an seinen Armen und durchtränkte seine Lederhandschuhe.
Carrick stand mit gefletschten Zähnen in der Nähe. Fendrig hatte nie viel für Wildhammerzwerge übrig gehabt, aber der Knabe an seiner Seite war ein Guter. Tapfer und leidenschaftlich.
„Da kommen sie wieder!“ Fendrig umklammerte seine Spitzhacke jetzt noch fester.
Vor ihnen rollte eine Welle Schieferspinnen auf sie zu. Carrick schleuderte seinen Hammer auf die Kreaturen. Gezackte Blitze schossen aus der Waffe, als sie gegen eine besonders große Spinne krachte und in einer Explosion aus Licht und Lärm nur noch eine schwelende Hülle zurückließ. Als die Sterne, die Fendrig sah, wieder verschwunden waren, sah er, wie der Hammer in einem Bogen durch die Luft flog und zu Carricks Hand zurückkehrte.
Doch die Spinnen hörten mit ihrem blinden Angriff nicht auf. Ganz gleich, wie viele die Zwerge töteten, aus den Nischen und Ritzen kamen immer mehr dieser Viecher gekrochen.
Da bemerkte Fendrig ein kurzes violettes Aufblitzen. Eine monströse Form tauchte aus der Dunkelheit auf.
Der Dunkeleisengolem stürmte durch die Spinnen, wobei er Unmengen von ihnen unter seinen Füßen zerquetschte und auf weitere mit seinen gigantischen Händen einschlug. Die Kreaturen stürzten sich auf die neue Bedrohung. Sie kletterten an den Beinen des Golems hoch und bissen sich mit ohrenbetäubendem Kreischen durch seine Eisenhaut.
Hinter dem Konstrukt wedelte Fenella mit ihrem Leuchtedelstein und rief: „Bewegung, Leute!“
Fendrig und Carrick traten sofort in Aktion, sprangen über die Spinnen hinweg und liefen Fenella nach. Sie folgten ihr durch den Gang, bis sie sich schließlich an einer Tunnelgabelung ausruhten. Über ihnen erhob sich ein riesiges Relief des Roten Kranichs mit ausgestreckten Flügeln über den vor ihnen liegenden beiden Abzweigungen. Chi-Jis Kopf war nach links gedreht und sein schlanker Schnabel war weit geöffnet, als würde er singen.
„Was ist mit dem Golem?“, fragte Carrick besorgt.
„Wir können nich' riskieren, auf ihn zu warten oder zurückzugehen.“ Fenellas Stimme war fest wie Stahl, doch Fendrig bemerkte ein feuchtes Glitzern in ihren Augen. „Das is' unsere einzige Chance.“
Carrick senkte seinen Kopf. Er ballte die Faust und legte sie ehrfurchtsvoll auf seine Brust, was für Fendrig wie eine Art Wildhammergruß aussah.
„Ich hätt' nicht gedacht, dass Ihr unseretwegen zurückkommen würdet“, sagte der schwer atmende Fendrig zu Fenella.
Sie schaute ihn einen langen Moment an. „Ich auch nicht.“
Die Dunkeleisenzwergin erklärte nicht weiter, was das bedeutete, doch Fendrig brauchte keine Erklärungen. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass er froh war, sie zu sehen. „Aber jetzt seid Ihr hier. Nur das ist von Bedeutung.“
„Wir sind noch nicht in Sicherheit“, sagte Carrick. „Wir wissen nicht, welchen Abzweig wir nehmen sollen.“
„Ich aber.“ Fenella starrte auf das Relief von Chi-Ji und dann in den rechten Tunnel. Fendrig folgte ihrem Blick, sah jedoch nichts Ungewöhnliches – nur das an den Kristallwänden flackernde violette Licht ihres Edelsteins.
„Hier lang“, sagte sie, als sie den linken Weg nahm.
Doch andere Pandaren sahen die Mogu als unbezwingbaren Feind an. Sie verloren jeglichen Ehrgeiz. Sie stumpften gegenüber jeglicher Emotion ab, wie Puppen fest eingewickelt in Selbstverachtung. Man sagt, diese Sklaven hätten sogar die Fähigkeit verloren, zu träumen. Denn welchen Zweck hätten Träume schon haben können, wenn ihr Schicksal bereits feststand? Doch sie mussten nur ihre Herzen öffnen – an ihre eigene Kraft glauben –, um zu erkennen, dass dem nicht so war. Chi-Ji drückte es immer folgendermaßen aus: „Hoffnung ist die Sonne hinter einem Gewitterhimmel – stets im Herzen, doch dem Auge verborgen.“
– Die Schriftrollen der Erhabenen
Der enge Gang führte mit steilem, aber gleichmäßigen Anstieg immer weiter hinauf. Es gab nur wenige Kurven und der Weg war relativ gerade. Schon bald erreichen die drei Zwerge einen Eingang. Eine in den Stein gehauene zusammengerollte Jadeschlange rahmte die Passage ein.
Fenella ging zuerst hindurch und betrat eine riesige Höhle. Ihr stockte der Atem.
Überall aus den Böden und Wänden sprossen Jadevorkommen. Selbst der unbearbeitete Stein war glänzend und tiefgrün. Er glitzerte in der schweren Dunkelheit, als ob eine eigene Lebensenergie in ihm pulsieren würde. Eine bogenförmige Spur aus leuchtenden Saphiren zog sich wie ein Blitz an der Decke entlang.
Carrick pfiff. „Die Kleine hat nich' gelogen, was?“
Die drei Zwerge schritten voller Ehrfurcht durch die Höhle. In der Mitte stand eine große Steinsäule, in die Pandaren-Symbole eingraviert waren. Daran gelehnt stand ein langes Stück Bambus, so dick wie Fenellas Arm.
Fendrig nahm den Bambus und beäugte ihn neugierig. Er griff hinein und zog mehrere Schriftrollen heraus. Der Bronzebartzwerg setzte sich auf einen Stein in der Nähe und öffnete vorsichtig das Pergament, auf dem elegante Pandaren-Schrift zum Vorschein kam. Fendrig holte seinen Code heraus und studierte die Runen.
„Was is' das?“, fragte Fenella.
„Das sind die Schriftrollen der Erhabenen“, antwortete Fendrig. „Soll ich sie vorlesen?“
„Ja“, sagte Fenella. Carrick nickte, während er sich in der Nähe des Bronzebartzwergs auf den Boden setzte.
Fendrig las mit stockender Stimme vor und schaute zwischendurch immer wieder auf seinen Code. Auf den Schriftrollen wurde die Geschichte der Erhabenen erzählt und vom Aufstieg des Mogu-Reichs berichtet. Auch zu lesen war, wie die Pandaren in dieser schrecklichen Zeit zerbrachen und Zorn, Furcht, Verzweiflung und Ungewissheit zum Opfer fielen.
„Die Erhabenen, jeder einzelne von ihnen, versuchten den Sklaven zu helfen“, sagte Fendrig. „Doch das erregte den Zorn des Donnerkönigs. Einen nach dem anderen bezwang der Mogu-Kaiser die sich einmischenden Erhabenen, bis nur noch Yu'lon, die Jadeschlange, übrig blieb. Sie hatte damit begonnen, den Bergleuten im Jadewald ihre Weisheit zu vermitteln, woraufhin einige von ihnen ihren Pflichten nicht mehr nachgingen, um Wissen zu erlangen. Auf einer ihrer Reisen zu einem Sklavenlager schleuderte der Donnerkönig einen Blitz durch den Himmel, der ihre Seite durchbohrte. Yu'lon stürzte in das Dickicht des Waldes und wusste nicht, wie ihr geschehen war.
„Als sie erwachte, fand sie sich tief unter der Erde wieder. Pandaren-Bergleute hatten sie schnell an ihren heiligsten Ort gebracht – vor den Mogu-Anführern versteckte Kammern. Ermutigt durch Yu'lons Lehren, hatten diese Pandaren heimlich eine Zuflucht zur Anbetung der Erhabenen gebaut. Da die Jadeschlange so bewegt von dem war, was sie sah, erfüllte sie den Ort mit ihrer Magie, um den Bergleuten dabei zu helfen, die Weisheit, Hoffnung und Stärke wiederzufinden, die sie in ihrem Leben verloren hatten. Dann sprach sie einen Wunsch aus ...“
„Es sollte eine Statue für sie errichtet werden ...“, unterbrach Fenella ihn. Mit ihrer Hand fuhr sie über die Steinsäule. Sie war wunderschön und fast identisch mit der Säule auf der Baustelle beim Schlangenherz.
„Ja“, sagte Fendrig. „Einhundert Jahre lang mühten sich Generationen von Bergleuten dran ab. Währenddessen rückte der Tod der immer noch vom Angriff des Donnerkönigs verletzten Jadeschlange näher. Im Augenblick der Vollendung des Werks tat sie ihren letzten Atemzug. Die Bergleute weinten. Sie dachten, sie hätten es nicht geschafft, sie zu retten. Doch dann bewegte sich die Statue. Ihre Augen öffneten sich. Ihr Schwanz rollte sich zusammen. Sie war zu einer neuen Jadeschlange geworden. Die wiedergeborene Yu'lon blickte auf die weinenden Bergleute und sagte: ‚Es gibt nur eine Gewissheit – dass jedes Ende ein neuer Anfang ist.‘“
„Die Bergleute verbreiteten die Weisheit von Yu'lon weiter und vermittelten anderen Pandaren die großartigen Eigenschaften der Himmlischen Erhabenen – genug zumindest, um zu überleben, bis der Tag kam, an dem der legendäre Sklave Kang, die Faust der Morgendämmerung, sich erhob und sein Volk in die Freiheit führte. Viele Jahre später, als Kaiser Shaohao alle Pandaren lehrte, wie sie Furcht, Ungewissheit, Verzweiflung und Wut überwinden konnten, erbauten die Nachkommen der Bergleute gigantische Tempel zu Ehren der Erhabenen und gründeten einen Orden, der sich der Aufrechterhaltung ihrer Lehren widmete – den Orden der Himmlischen Erhabenen.“
Fenella schloss ihre Augen und ließ alles in ihr Bewusstsein dringen, ließ sich von der Atmosphäre dieses uralten Ortes umhüllen.
Die Stille hielt an, bis Carrick kicherte. „Wisst Ihr was? Ich hatte erwartet, hierherzukommen und Euch vorzuführen. Stattdessen hab ich mich nur zum Narren gemacht.“
„Wir alle haben uns zum Narren gemacht“, erwiderte Fenella. „Wir sind nichts weiter als drei Steinmetze, die ihren Zenit überschritten haben. Ich versteh' nur nicht, warum der Rat gerade uns für den Auftrag ausgewählt hat.“
Ja, warum? Fenella war sich nicht sicher. Ein Teil von ihr fragte sich, ob dies alles ein politischer Schachzug von Moira und dem Rat war. Wir lassen die abgehalftertsten Steinmetze in ganz Eisenschmiede zusammen losziehen und hoffen, dass sie in einem Stück zurückkommen. Wenn sie versagen, ist das nur ein weiteres Beispiel für bedauerliche Spannungen zwischen den Klans. Wenn sie es schaffen, ist der Sieg unbezahlbar.
Dann kam ihr ein anderer Gedanke. Tatsächlich hatten alle drei in der Vergangenheit Großes geleistet. Vielleicht, aber auch nur vielleicht, glaubten die Leute deshalb immer noch, dass sie es wieder tun würden.
Alle außer ihnen selbst.
„Wer weiß schon, was denen durch den Kopf geht?“, sagte Fenella. „Aber hier sind wir nun.“
„Die Sonne geht wahrscheinlich bald unter“, fügte Carrick hinzu. „Zum Abbauen bleibt nicht genug Zeit.“
„Das interessiert mich nicht mehr.“ Fenella reichte den beiden sitzenden Zwergen ihre Hände. „Wir müssen 'ne Statue bauen, wenn ihr Jungs dazu bereit seid.“
Carrick und Fendrig starrten kurz auf Fenellas offene Handflächen und warfen sich einen Blick zu. Mit einem leichten Achselzucken nahm der Wildhammerzwerg ihre Hand und zog sich hoch. Der Bronzebartzwerg tat es ihm gleich.
„Dann mal frisch ans Werk“, sagte Carrick.
Fenella ging zu einem Jadeauswuchs und schätzte ihn ab. Sie schwang ihren Hammer und brach gekonnt ein Stück ab, das so groß wie ihre Faust war. „Damit können wir anfangen.“ Sie warf Carrick den Brocken zu.
Der Wildhammerzwerg steckte die Jade in einen an seinem Gürtel befestigten Beutel. „Hoffen wir, das Rauskommen wird einfacher als das Reinkommen.“
„Ich glaub nich', dass das ein Problem sein wird, alter Knabe.“ Fendrig hielt immer noch die Schriftrollen der Erhabenen in der Hand und untersuchte etwas. „Hier steht, dass ein weiterer, bis direkt zu diesem Raum führender Gang angelegt wurde.“
Schnell verteilten sich die drei Zwerge und suchten die Wände nach einer Öffnung ab.
„Hier!“, rief Carrick von einem Ende der Höhle.
Fenella und Fendrig eilten zu ihm. Eine runde Steinplatte, zweimal so groß wie die Dunkeleisenzwergin, war in den Fels eingelassen. Fenella zog einen ihrer Handschuhe aus und hielt die Hand in die Nähe der Kante. Ein sanfter Lufthauch wehte gegen ihre Haut. Der Stein selbst wies bis auf eine kleine Gravur von Yu'lon in der Mitte keine Besonderheiten auf.
Carrick seufzte. „Wär' nett gewesen, wenn das Mädel es uns gesagt hätte.“
„Ich hab's nur auf den Schriftrollen gelesen.“ Fendrig zuckte mit den Achseln.
„Los, Leute.“ Fenella stemmte sich gegen den Stein.
Carrick spuckte in die verletzten Hände und legte seine Handflächen auf die Platte. Fendrig ging in die Hocke und drückte seinen massigen Oberkörper dagegen.
„Drei ... zwei ... eins ...“, sagte Fenella. „Hauruck!“
Die Steinplatte gab leicht nach.
„Hauruck!“
Der Stein rutschte mit einem Ächzen zurück in den Tunnel. Ein Luftschwall strömte in den Raum und über Fenella hinweg. Ganz oben in dem pechschwarzen Durchgang schimmerte das Tageslicht.
***
Als die Zwerge zurückkehrten, war der Wettbewerb schon längst vorbei und die Nacht war hereingebrochen. Eine von einem Pandaren namens Hao Mann angeführte Truppe hatte gewonnen und fünf prall gefüllte Taschen Jade mitgebracht. So, wie die Steinmetze feierten, konnte man jedoch unmöglich sagen, ob es Gewinner oder Verlierer gegeben hatte.
Vorarbeiter Raiki war sprachlos, als er den Stein der Zwerge sah. Er versammelte die anderen Pandaren und sofort hörte die ausgelassene Feier auf. Die Steinmetze starrten die glänzende Jade mit offenem Mund an. Keiner von ihnen hatte jemals einen solch wunderschönen Stein gesehen.
Zwischen all den Glückwünschen, die danach folgten, entdeckte Fenella das Pandaren-Mädchen auf der anderen Seite des Lagers.
„Leute.“ Fenella stieß Fendrig und Carrick an. „Da is' die Kleine. Meint ihr, wir sollten ihr danken?“
„Ja“, antworteten die beiden anderen Zwerge.
Als sie auf sie zugingen, flitzte sie in Richtung Norden davon.
„He“, rief Fenella. „Warte!“
Die Zwerge bahnten sich ihren Weg durch die Pandaren-Steinmetze, aber als sie den Rand der Baustelle erreichten, war das Mädchen verschwunden. Vor ihnen erstreckte sich nur ein leerer Hügel.
„Wo is' sie hin?“, fragte Fendrig.
Fenella öffnete den Mund, um zu sprechen, als sie über ihnen etwas durch die Luft huschen sah. Die Jadeschlange schaute hinab auf die Zwerge. Ihre Blicke trafen sich kurz und Fenella verlor sich in Yu'lons seltsamen Augen – Augen so uralt wie Elementium.
Die Dunkeleisenzwergin stand noch eine lange Zeit neben den anderen beiden. Schweigend beobachtete sie, wie die Himmlische Erhabene gleich einer Jadeader vor einem Himmel aus Diamanten immer höher hinaufstieg.
Die Stärke des Stahls von Raphael Ahad
Koak fiel. Er stürzte endlos hinab durch Regen und unzählige Wolken und der Boden unter ihm schien stets außer Sicht zu bleiben. Um ihn herum flogen die Drachen, mit Schuppen so rot wie Blut und Augen aus geschmolzenem Gold, purpurfarbene Phantome in einem immerwährenden Sturm. Koak konnte spüren, wie ihr brennender Hass gegen seinen Orc-Körper schlug.
Er erhob eine Faust und rief mit der Autorität des Drachenmalklans. „Gehorcht mir!“, befahl er ihnen, aber seine Stimme war befleckt von Furcht und Zweifel.
„NEIN!“, brüllten sie gemeinsam. Ihre unzähligen Schatten verbanden sich zu einem, größer als der Himmel selbst. Blitze zuckten und Koak erhaschte einen kurzen Blick auf das in der Ferne liegende Grim Batol, eine rauchende Ruine, die einstmals sein Zuhause gewesen war.
„Koak!“, rief jemand.
Der Drachenatem gebar ein Feuer und der Himmel brannte. Koak heulte vor Schmerz auf, als die Gewitterwolken und seine Welt von Flammen verschlungen wurden. Plötzlich und ohne Vorwarnung fiel er schneller hinab. Der harte Boden kam rasend schnell auf ihn zu ...
„KOAK!“
Beim Aufprall erwachte er abrupt und eine Explosion hallte immer noch in seinen Ohren nach. Unter ihm befand sich ein Deck aus abgeschliffenem und poliertem Holz, über ihm die massige Hülle eines Goblin-Zeppelins. Das Schiff war ein flammendes Inferno und die Besatzung versuchte mit aller Kraft, es in der Luft zu halten.
„Verlasst das Schiff!“, schrie der Kapitän.
Koak stellte sich auf seine wackeligen Beine und Blut tropfte aus einer offenen Wunde über seiner Braue hinab. „Die Allianz ...“, sagte er benommen. Über der Hülle sah er, wie ein sich zurückziehendes Kriegsschiff in den Wolken hoch über dem Jadewald verschwand.
Mit dem Kreischen sich verbiegenden Metalls legte sich der Zeppelin schwerfällig auf die Seite. Koak versuchte sich schnell an irgendetwas festzuhalten, als er das Wasser der Nebelschleiersee am Steuerbord-Bug erblickte. Dann schlug ihn eine weitere Explosion nieder und warf ihn über die Kante in die Luft. Die Hilfeschreie des Kapitäns erstarben in der Meeresbrise.
***
Als Koak an Land gespült wurde, fiel ein leichter Regen auf ihn herab und der Küstenwind flüsterte ihm ins Ohr. In seinem Bein pochte ein unaufhörlicher Schmerz, da es einen Großteil der Wucht abbekommen hatte, als er von der Strömung gegen die Felsen geschlagen worden war. Während er vollkommen erschöpft und blutend im Sand lag, fragte er sich, ob Höllschrei mit seinem Befehl, den Kontinent rot zu färben, das im Sinn gehabt hatte.
Er befand sich auf einer kleinen Insel mit einer einzelnen, in die Wolken hoch über ihm aufragenden Steinspitze. Um ihn herum lagen Teile des brennenden Zeppelinwracks von der Küste bis zur Spitze verteilt, die während des letzten Abstiegs des Schiffs heruntergefallen waren. Der Rest schwamm mit den verkohlten Leichen seiner ehemaligen Besatzung auf dem Meer.
Für die Horde, dachte er voller Verbitterung. Diese Worte hatten Koak einst etwas bedeutet. Der Schmerz in seinem Bein flammte auf, als er sich hinstellte.
Auf eine behelfsmäßige Krücke gestützt humpelte Koak an den verstreuten Überresten des Schiffs entlang landeinwärts, um nach Überlebenden zu suchen. Beißender Rauch aus den gerissenen Treibstofftanks stach in seinen Augen und brannte in den Lungen. Als er um ein Teil der zerstörten Zeppelinhülle ging, ließen ihn die Dämpfe fast ersticken.
Vor ihm türmte sich eine monströse Wolkenschlange auf, deren scharlachrote, mit Blut bedeckte Schuppen feucht glänzten.
Koak keuchte und stolperte nach hinten, wobei sein verletztes Bein ihm wegknickte. Die Schlange lag in einem Nest aus flachen Steinen an der Unterseite der Steinspitze und ihr Körper war übersät mit Verbrennungen und Blutergüssen. Sie hob ihren riesigen Kopf und schaute Koak direkt in die Augen.
„Ruhig ...“, flüsterte Koak so beschwichtigend wie möglich. Die Schlange bestand aus zehn Metern reiner Muskelmasse und hatte Klauen, die sich mühelos um Koaks Oberkörper hätten legen und seine Rippen brechen können, während die gigantischen Kiefer der Kreatur ihn in Stücke rissen. Aber sie machte keine Anstalten eines Angriffs und Koak erkannte, dass sie im Sterben lag. Er sah sich das verbogene Metall und das versengte Holz um das Nest herum an.
Das war unser Werk, dachte er. Plötzlich wurde ihm schlecht.
Langsam, als ob sie ihm etwas zeigen wollte, rollte sich die Schlange auf. Inmitten des Nests lag ein einzelnes Ei, das die Größe von Koaks Brustkorb hatte – makellos und unbeschädigt, mit einer Hülle, die wie polierter Granat glänzte. Die Schlange tätschelte es sanft, wobei ihre Zartheit im Widerspruch zu ihrem schrecklichen Erscheinungsbild stand. Sie hätte ihrem Schicksal entrinnen können, war aber stattdessen geblieben, um ihr Ei zu beschützen. Aus irgendeinem Grund erfüllte Koak dies mit Wut.
„Du hast dich vergebens geopfert“, knurrte er leise vor sich hin. „Dein Junges wird trotzdem einsam und verlassen sterben.“ Er verzog das Gesicht, als weiterer Schmerz gnadenlos durch sein Bein zuckte. Das Blut floss wie ein Sturzbach heraus und befleckte den Boden unter seinen Füßen. „Und ich wahrscheinlich mit ihm.“
Die Schlange hob ihren Schwanz, schlang ihn um Koaks Handgelenk und zog ihn zum Nest. Sie kroch neben ihn und stieß ihn von hinten an, bis er vor dem Ei stand.
Sie will, dass ich mich darum kümmere? Ich?
„Nein“, protestierte Koak, doch konnte er seinen Blick nicht abwenden.
Er streckte seine Hand in Richtung des Eis aus. Der Raum zwischen ihnen fühlte sich dick und schwer an, wie die Ruhe vor einem Sturm. Als er es berührte, kroch ein stechender Schmerz seinen Arm hinauf. Koak konnte spüren, wie das Ei unter seiner Handfläche zuerst leicht erzitterte, doch schon bald wurde es so heftig durchgeschüttelt, dass er voller Furcht einen Schritt zurücktrat.
Plötzlich platzte die Oberseite des Eis auf und Stücke der zerbrochenen Hülle fielen auf Koak hinab. Ein heller Ring aus rotem Rauch stieg aus dem Riss in die Luft und legte sich wie eine Nebelbank über den Boden. Aus dem Inneren stieg eine glitzernde neugeborene Wolkenschlange mit rubinroten Schuppen. Sie hatte Augen wie Saphire, so tief und sanft, dass der Blick in sie dem Versuch gleichgekommen wäre, bis auf den Grund des Meeres zu schauen.
Das ausgeschlüpfte Jungtier schaute Koak in die Augen und wandte seinen Blick nicht ab. Koak streckte die Hand aus und das Junge kroch nach vorne, um mit seinen winzigen Kiefern in das Fleisch der Handfläche zu beißen. Koak zuckte nicht zurück und hielt den Schmerz aus, bis die junge Schlange sich beruhigte und ihren Körper um seinen Arm legte.
Koak sah, wie seine Mutter sie mit kummervollem Blick betrachtete. Sie warf Koak einen letzten, starrenden Blick zu, der ihn erschaudern ließ. Sie schloss ihre Augen und ihr Körper erhob sich. Dann fiel er mit einem letzten schweren Atemzug zu Boden und blieb regungslos liegen. Das Jungtier sah seine Mutter und an seinen gequälten Schreien erkannte Koak, dass es wusste, was geschehen war. Mit stoischer Ruhe beobachtete er, wie die Schlange zu ihrer verstorbenen Mutter kroch, sie sehnsüchtig mit der Schnauze berührte und sich in ihrem Schatten aufrollte.
In den darauffolgenden Tagen mühte sich Koak ab, das Jungtier und sich selbst am Leben zu halten, während er auf eine Rettungsmannschaft wartete, die General Nazgrim wohl sowieso nicht schicken würde. Warum sollte er auch? Das Leben eines einzelnen Orcs interessierte Höllschrei nicht, genauso wie das Leben eines einzelnen Drachen den Drachenmalklan nicht interessiert hätte. Koak war auf sich allein gestellt.
Der Regen versorgte sie nur mit einer begrenzten Menge Süßwasser und ganz gleich, wie viele Zuckerelritzen er fing, den unbändigen Appetit der Schlange konnte er damit nicht stillen. Sein Bein quälte ihn unablässig – genau wie die Frage, was er mit dem Jungtier machen sollte.
Am fünften Tag hörte der Regen auf. Als Koaks Hoffnungen, gerettet zu werden, sich in Luft auflösten und die Schlange zitternd in der Kälte saß, entdeckten sie Umrisse am aufklarenden Himmel. Zwei voll ausgewachsene Wolkenschlangen mit jeweils einem Pandaren-Reiter huschten mühelos zwischen den anderen Felsspitzen über dem Ozean umher. Geschickt umkreisten sie die Berggipfel und kehrten mit atemberaubender Geschwindigkeit zu den Klippen des Jadewalds zurück. Koak erinnerte sich an eine Geschichte, die er Wochen zuvor von einem der Einheimischen gehört hatte.
Der Orden der Wolkenschlange.
***
Die windgepeitschten Klippen des Jadewalds ragten hoch und steil über der Nebelschleiersee auf. Koak und das Jungtier waren auf einem Floß übergesetzt, das er aus der zerstörten Zeppelinhülle zusammengezimmert hatte. Sie gingen über einen steilen, schmalen und beschwerlichen Weg hinauf zum Wald. Koaks Bein meldete sich unablässig mit dumpfen Schmerzen und heftigen Stichen. Es half nicht gerade, dass die Schlange bei jedem qualvollen Schritt an dem ausgefransten Stück Seil zog, das Koak ihr als Leine umgelegt hatte.
„Beruhig dich“, schnaubte Koak und Erschöpfung legte sich über seine Stimme. „Wir werden schon bald da sein und dann soll sich der Orden mit dir herumschlagen.“
Die Voraustrupps der Horde waren erst kurz zuvor an der Küste Pandarias eingetroffen, doch Koak hatte schon viel über den Orden der Wolkenschlange gehört – über mächtige Krieger, die auf dem Rücken der wilden Bestien ritten. Man sagte den Schlangenreitern nach, sich schnell wie der Wind in die Schlacht zu stürzen und mit der Macht des Sturms und des Himmels zuzuschlagen. Insgeheim hatte Koak den Wunsch gehegt, sie kennenzulernen, ihre Macht zu erleben und sie mit der Stärke des Drachenmalklans zu vergleichen.
Natürlich wusste Koak nicht viel über den Drachenmalklan. Er war noch ein Kind, als der Rote Drachenschwarm Grim Batol zerstört hatte und er sich als einer der wenigen der Gefangennahme durch die Allianz nicht entziehen konnte, als der Rest des Klans ins Schattenhochland flüchtete. Was er von seinem Klan wusste, hatte er aus Geschichten von Veteranen des Zweiten Krieges und Träumen, die ihn in ruhelosen Nächten plagten, gelernt. Er hatte noch nie einen Drachen seinem Willen unterworfen und mit dem sturen Schlangenjungtier hatte er schon alle Hände voll zu tun.
Der Orden der Wolkenschlange muss wirklich furchteinflößend sein, dachte Koak, wenn er solch starrsinnige Bestien zähmt.
Als sie oben ankamen, dachte Koak kurz, sie hätten die falsche Klippe bestiegen. Er hatte eine Festung aus Stahl und Eisen erwartet, eine mächtige Zitadelle, umkreist von patrouillierenden, mit Rüstungen geschmückten Schlangen, die bereit sind für den Krieg. Stattdessen sah er ein bescheidenes Landhaus und einen großen Pavillon aus einfachem Holz und Stein inmitten von Schlammpfützen und Heuballen.
„Das kann nicht der richtige Ort sein“, murmelte er. Doch als er das Jungtier am Landhaus vorbei zum dahinter liegenden Gebiet führte, bot sich Koak der Anblick von Wolkenschlangen aller Größen und Farben dar. Einige lagen in offenen Ställen, wo sie gebürstet wurden und Futter erhielten. Andere flogen ruhig neben ihren Begleitern, die auf dem Gelände einen Nachmittagsspaziergang machten. Ein paar Jungtiere lagen zusammengerollt und friedlich im Schoß von Pandaren, die still an einem kleinen Bach meditierten.
Koak war äußerst verwirrt. Wo waren die legendären Krieger?
„Ah, wir haben einen Besucher!“, rief eine sanfte Stimme hinter ihm.
Koak drehte sich um und sah, wie eine ältere Pandaren aus dem Pavillon kam. Ihre Haare und ihr Fell wurden schon langsam grau, doch in ihren Augen glänzte die Jugend. Begleitet wurde sie von anderen Pandaren, die jeweils eine Wolkenschlange unterschiedlicher Farbe führten. Sie trat hervor und verbeugte sich.
„Willkommen in unserem Zuhause, Reisender“, sagte sie mit einem Lächeln. „Ich bin die Älteste Anli und wir sind der Orden der Wolkenschlange.“
„Ist alles in Ordnung?“, fragte einer der anderen Pandaren. „Ihr seht nicht besonders gut aus.“
„Oh und wer ist denn dieser Kleine?“, trällerte ein anderer mit fröhlicher Stimme.
Das Jungtier versteckte sich vor den Blicken der Umstehenden hinter Koaks Bein. Koak trat einen Schritt zur Seite, um ihnen die Schlange zu zeigen. Er schüttelte seine Verwirrung ab, während die Pandaren mit sanften Stimmen und ehrerbietig über das Junge sprachen.
„Er gehört Euch“, antwortete er und hielt Anli das Ende des Seils hin. „Und mir geht es nicht gut. Ich bin verletzt und benötige einen Transport zum nächstgelegenen Außenposten der Horde. Wenn Ihr dafür sorgen könntet, stünde ich in Eurer Schuld.“
Anli schaute ihn nachdenklich an, bevor sie den Kopf schüttelte. „Ich fürchte, das wird nicht möglich sein.“
„Ihr möchtet Euch nicht in unseren Konflikt einmischen.“ Koak bemühte sich, keinen Hauch von Verachtung in seine Stimme zu legen und das Bild der verstümmelten Mutter des Jungtiers aus seinem Kopf zu bekommen. „Wenn Ihr mich stattdessen nach Morgenblüte bringen würdet ...“
„Nein“, unterbrach Anli ihn. „Ich meinte damit, dass Ihr diese Schlange nicht bei uns lassen und gehen könnt.“
Koak runzelte die Stirn. „Was genau möchtet Ihr mir sagen, Pandaren?“
„Das Tier scheint sehr an Euch zu hängen“, erwiderte sie mit ruhiger Stimme. „Ihr wart bestimmt beim Schlüpfen dabei. Und aus diesem Grunde müsst ihr es auch aufziehen.“
Sie ging einen Schritt auf ihn zu, schloss seine Hand um das Seil und drückte es wieder an seine Brust. Die Mitglieder des Ordens beobachteten ihn und streichelten die Schuppen ihrer Schlangen, als wären sie Haustiere. Koak warf ihnen einen unverhohlen enttäuschten Blick zu. Angeblich sollten das große Krieger sein, aber hier sah er nichts weiter als einen Kindergarten. Da würde er nicht mitmachen.
„Ich sehe das anders“, sagte er abweisend.
Koak ließ das Seil auf den Boden fallen, drehte sich um und wollte gehen, doch schon nach wenigen Schritten schoss ein plötzlicher Schmerz durch sein Bein. Er stützte sich auf seine Krücke, fiel auf ein Knie und fluchte über seine Verletzungen. Er spürte, wie jemand an seinem Handgelenk zog.
„Wenn Ihr mich nicht nach Morgenblüte bringt ...“ Koak verstummte, als er seinen Kopf umdrehte und sah, dass sich kein Pandaren, sondern das Jungtier neben ihm befand. Es hatte seinen winzigen Schwanz um sein Handgelenk gerollt und zog ihn mit flehendem Blick zurück zu den anderen.
Auch das Tier wollte nicht, dass er ging.
Koak sah, wie zwei Reiter durch die Wolken über ihnen flitzten, verschlungene Drehungen machten und wie beiläufig todesmutige Manöver ausführten, während sie gegeneinander in einem Rennen antraten. Der Orden der Wolkenschlange bestand nicht aus den Kämpfern, die Koak erwartet hatte, aber es war nicht zu verleugnen, dass seine Mitglieder fliegen konnten.
In Koak bewegte sich etwas. Als er das Jungtier betrachtete, sah er plötzlich keine Belastung mehr, sondern eine Gelegenheit – eine Chance, endlich ein wahrer Drachenmal-Orc zu werden, sein eigenes Streitreittier zu trainieren, es in die Schlacht zu führen und den Himmel zu erobern. Sollten die anderen doch ihre Schlangen auf ein Leben voller Frieden und Spielereien vorbereiten. Er würde sie fit für den Krieg machen.
„Nun gut“, sagte er zu seinem Jungtier und Anli. Er nahm die Schlange in die Hände und hob sie über seinen Kopf. Die Sonne wurde von ihren purpurfarbenen Schuppen reflektiert, die so rot waren wie die Drachen, die sein Klan befehligt hatte.
Ich werde den Drachenmalklan stolz machen, schwor Koak.
Ich werde meiner Schlange Gehorsam lehren.
***
Die erste Trainingswoche lief nicht ganz so, wie Koak es sich erhofft hatte. Die Schlange erwies sich als starrsinniger und sturer als alle anderen Jungtiere, um die sich der Orden kümmerte. Sie schien alles zerkauen und verschlingen zu wollen – bis auf das, was Koak ihr zu fressen gab. Und wann immer er das Tier herbeizurufen versuchte, verfolgte es stattdessen lieber die anderen Jungtiere mit schnappendem Maul. Die Schlange war schnell und wendig und Koaks verletztes Bein behinderte ihn immer noch, sodass er keine andere Möglichkeit hatte, als dem Jungtier so lang hinterherzubrüllen, bis sein Gesicht rot anlief und die Schüler des Ordens ihn mit einer Mischung aus Sorge und Belustigung ansahen. Dank der liebevollen Fürsorge der Pandaren heilte sein Bein jedoch langsam und Koak wurde bewusst, dass jeder Orden, der solch wilde Bestien reiten wollte, auch gut in der Behandlung von Knochenbrüchen sein musste.
Als am achten Tag beim Orden die Sonne über den Gipfeln der Steinspitzen auf dem Meer aufging, fand Koak den Pferch seines Jungtiers verlassen vor. Anli stand mit einem warmen Lächeln am Zaunpfahl.
„Mein Jungtier scheint heute besonders früh seine Streiche spielen zu wollen“, grummelte Koak.
„Oh, nein“, erklärte Anli. „Jenova wird sich heute um die Pflege Eurer Schlange kümmern. Begleitet mich doch bitte.“
Ihr stiller Spaziergang führte sie an verschiedene Orte. Anli ging mit Koak durch die ruhige Pracht des von Sonnenlicht gesprenkelten und einer sanften Brise gestreichelten Arboretums, bis sie die Windspitzenbrücke erreichten. Wie der Name schon vermuten ließ, erstreckte sie sich zwischen mehreren der natürlichen, aus dem Meer herausragenden Spitzen. Jeder ihrer Bögen war ein architektonisches Juwel, ein Monument des Maurerhandwerks, das sich der Schwerkraft zu widersetzen schien und unerschütterlich den heftigen Küstenwinden trotzte. Die Brücke ähnelte einer Wolkenschlange – sie war wie eine riesige Kreatur aus Holz und Stein, die sich über die Nebelschleiersee nach oben schlängelte und einen Blick auf den Jadewald gewährte.
Anli wartete, bis sie einen Großteil der Brücke überquert hatten, bevor Sie sich an Koak wandte.
„Habt Ihr Eurer Schlange schon einen Namen gegeben, Koak?“, fragte sie.
„Nein“, antwortete er. „Und das werde ich erst tun, wenn sie ihn sich verdient hat. So ist es beim Drachenmalklan üblich.“
„Wir sind aber nicht der Drachenmalklan“, erwiderte Anli. „Und bei uns sind andere Dinge üblich.“
Koak war empört. „Ich werde es so machen, wie es beim Drachenmalklan Sitte ist. Einen anderen Weg gibt es nicht.“
„Das scheint Euch ziemlich wichtig zu sein“, merkte sie an.
Koak hielt einen Moment lang inne und suchte nach den richtigen Worten, bevor er weiterging. „Als die Allianz mich gefangen nahm, wurde ich von meinem Klan getrennt. Nach dem Kataklysmus hatte ich die Gelegenheit, mich ihm wieder anzuschließen, nahm sie allerdings nicht wahr.“
„Und warum nicht?“, fragte Anli.
„Ich erwarte nicht, dass Ihr es versteht“, antwortete Koak, „aber ich habe mich und den Drachenmalklan dadurch entehrt, dass ich in Ketten lag. Wie könnte ich ihnen gegenübertreten, ohne mich zuvor als würdig zu erweisen?“
Koak drehte sich von Anli weg und schaute nach Norden über das Meer, in Richtung der Östlichen Königreiche. „Dem Namen nach bin ich ein Orc des Drachenmals, dem Handeln nach jedoch nicht. Indem ich meine Schlange auf unsere Art zähme, kann ich das ändern und mich wieder meinem Volk anschließen.“
„Ich verstehe“, murmelte Anli. Sie hatten das Ende der Brücke und den verzierten Schrein auf der höchsten und abgelegensten Spitze erreicht. Hinter ihnen lag ein atemberaubendes Panorama der Küste Pandarias sowie der verschlungenen Brücke über dem Himmel und dem Wasser. Die goldenen Pagoden des Tempels der Jadeschlange waren verschwommen in der Ferne auszumachen.
Koak strengte sich an, seinen Blick von der Kante der Spitze und dem langen Abhang bis zur Meeresoberfläche fernzuhalten. Zwar reichte diese Anstrengung nicht ganz aus, aber er konnte die in ihm aufsteigende Furcht verbergen.
„Der Orden der Wolkenschlange“, setze Anli an, während sie auf das Meer hinausblickte, „wurde vor Tausenden von Jahren von Jiang gegründet, einem jungen Mädchen aus Morgenblüte. Sie fand ein verletztes Jungtier, nannte es Lo und pflegte es gesund.“
„Zu dieser Zeit fürchteten die Bewohner Pandarias die Wolkenschlangen. Man sah sie als gewalttätige und aggressive Bestien an. Sich einer von ihr zu nähern, galt schon als Spiel mit dem Tod. Alle glaubten, dass Jiangs Aktionen im Unheil enden würden.“
„Ein Monster zu zähmen, ist keine Aufgabe für ein junges Mädchen“, knurrte Koak.
„Aber sie hatten unrecht“, fuhr Anli fort. „Als die Zandalari das Pandaren-Reich angriffen und unsere Armeen kurz davor standen, eine Schlacht auf einer Brücke wie dieser zu verlieren, kam Jiang auf Los Rücken herbeigeflogen und wendete das Blatt im gesamten Krieg. Gemeinsam holten Jiang und Lo die Fledermausreiter vom Himmel und warfen die Trolle von der Brücke. Kurz danach gründete Jiang den Orden und seitdem erfüllt der Anblick einer Wolkenschlange die Pandaren stets mit Hoffnung.“
Koak lachte. „Und nun folgt Ihr also alle ihrem Beispiel? Diese Schlangen sind zum Jagen und Töten geboren. Man kann das Wesen einer Bestie nicht durch Mitgefühl ändern, genauso wenig, wie man das Wesen des Krieges ändern kann.“
„Es geht nicht darum, etwas zu ändern, Koak, sondern sich zu entscheiden.“ Anli dreht sich zu ihm um. „Wolkenschlangen sind in der Tat von Natur aus wild und stürmisch und wenn man sie falsch behandelt, können sie auch im ausgewachsenen Alter so sein. Aber eine Wolkenschlange ist nicht mehr an ihr Wesen gebunden als Ihr oder ich. Jiang zwang Lo nicht zum Kämpfen – Lo entschied sich dazu, weil Jiang sich entschied, ihm zu vertrauen und ihm Mitgefühl zuteil werden zu lassen. Daher folgen wir ihrem Beispiel. Wir alle entscheiden uns für das, was wir sein möchten.“
Koak schwieg lange. Konnte so etwas wirklich stimmen? Konnte ein Reiter, dessen Gesundheit und Leben auf dem Spiel standen, die Zügel locker lassen und seinem Tier vertrauen? Für ihn war das Wahnsinn.
„Eine interessante Sichtweise“, sagte er schließlich, „aber ich finde trotzdem, dass Ketten effektiver als Entscheidungen sind.“
„Ach, wirklich?“, dachte Anli insgeheim.
Sie trat einen Schritt zurück und fiel von der Kante der Spitze hinab.
„NEIN!“, brüllte Koak. Er machte einen Satz nach vorn und vergaß einen Moment lang den Schmerz in seinem Bein. Aber er kam zu spät. Anli war verschwunden und übrig blieb nur noch der Klang ihres Lachens im Wind. Das verwirrte Koak, denn Anli hatte nicht gelacht, als sie hinunterfiel.
Doch nun lachte sie. Unter dem nächsten Bogen der Brücke tauchte sie auf dem Rücken ihrer onyxfarbenen Wolkenschlange wieder auf. Sie erhob sich wiegend und wogend wie flüssiger Rauch vor Koak.
„Seid Ihr verrückt?!“, rief Koak. „Was, wenn Eure Schlange Euch hätte herunterfallen lassen?“
„Kennt Ihr den Unterschied zwischen Stahl und Eisen?“, fragte sie mit ruhiger Stimme.
Koak zögerte. Sie ist wirklich verrückt, dachte er.
„Stahl ist widerstandsfähiger“, antwortete er. „Jeder erfahrene Krieger weiß das.“
Anlis Mundwinkel verzogen sich zu einem geheimnisvollen Lächeln. „So ist es.“
Sie berührte die Seite des Nackens ihrer Schlange, die sich daraufhin in Richtung der entfernten Küste drehte. „Ich glaube, Ihr findet den Weg, Koak!“, rief sie ihm über die Schulter zu, während sie so schnell in Richtung des Jadewaldes schoss, wie sie erschienen war. „Möge die Jadeschlange Euch leiten!“
Koak sah zu, wie sie verschwanden. Er stützte sich auf seiner Krücke ab, der Wind wehte ihm durchs Haar und viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf.
***
„Ich habe dem nicht zugestimmt!“, rief Koak. „Ihr habt mich absichtlich in die Irre geführt!“
„Wovon redet Ihr?“, fragte Flitze. „Anli sagte, Ihr hättet zugestimmt, Euch auf unsere Weise trainieren zu lassen!“
Flitze Langpranke war anders als die restlichen Anhänger des Ordens. Während jene Bescheidenheit durch einfache Kleidung und sportliches Verhalten zum Ausdruck brachten, trug Flitze feine Seidenhemden und extravaganten Schmuck. Sein Schnurrbart war immer gewachst, sein Haar meisterhaft frisiert und er ließ sich nie eine Gelegenheit entgehen, über seine Erfolge am Himmel und beim schönen Geschlecht zu prahlen. Koak fand sein übermütiges Wesen mehr als nur ein bisschen nervig – besonders, da der Orden scheinbar dachte, sie würden sich sehr ähneln. Aber Anli hatte ihn als Koaks persönlichen Tutor auserwählt und nach den Wochen, in denen er das Kindermädchen des Jungtiers gespielt hatte, war er nun begierig darauf, das echte Training beginnen zu lassen.
Das hier hatte er allerdings nicht im Sinn.
„Ich habe dem Training zugestimmt“, sagte Koak. Er griff in die Tasche, die Flitze ihm mitgebracht hatte und holte ein Dutzend Lederbälle hervor. „Aber so etwas spielen Kinder!“
„Dann müsste es doch perfekt für Euch beide sein“, kam Flitzes scharfe Erwiderung, unterlegt mit einem unerträglichen Grinsen. „Alle Reiter des Ordens spielen Fangen mit ihren Tieren“, erklärte er. „Es lehrt einen, die Bewegungen des anderen vorauszuahnen und baut zwischen Schlange und Reiter eine enge Beziehung des Austauschs auf. Eine sehr wichtige Lektion!“
„Das ist dumm“, spottete Koak. „In der Hitze der Schlacht kann ein einziger Moment des Überlegens zum Tode führen. Es muss einen Herrn und einen Diener geben. Für ‚Austausch‘ ist da kein Platz.“
„Ach, Koak“, seufzte Flitze. „Versucht es doch einfach mal, ja?“
Koak blickte mürrisch drein und schaute vom Ball zu seinem Jungtier. Er hatte nichts zu verlieren, nachdem Flitze ihn hierher gebracht hatte – auf ein offenes Feld, das eine Stunde Fußweg vom restlichen Orden entfernt war. Er pfiff, um die Aufmerksamkeit der Schlange zu erhalten und warf den Ball in ihre Richtung. Sie sah ihn und stieß ihn mit ihrem Kopf zurück zu Koak.
„Seht Ihr?“, sagte Flitze, als Koak den Ball fing. „War doch gar nicht so schlimm, oder?“ Er drehte sich in Richtung des Ordensgeländes. „Jetzt macht das fünfundzwanzig Mal – aber hintereinander – und dann sehen wir uns zu Hause.“
„Fünfundzwanzig Mal?“, zischte Koak. Aber Flitze war schon auf dem Heimweg und ließ Koak mit einer Tasche voller Lederbälle sowie einem Jungtier zurück, das ein Talent dafür hatte, Koak das Leben schwer zu machen.
„Bringen wir es hinter uns“, murrte Koak. Er warf dem Jungtier noch einmal den Ball zu. Die Schlange drehte sich in einem engen Kreis herum und schlug den Ball mit der Seite ihres Schwanzes. Er kam in einem so hohen Bogen zurück, dass Koak ihn nicht erreichen konnte und sein schmerzendes Bein knickte unter seinem Gewicht weg, als er es doch versuchte. Er zog sich an seiner Krücke hoch, schaute über das Feld zu seinem Jungtier und hätte schwören können, dass er es grinsen sah.
Die kleine ..., dachte Koak. Das hat sie absichtlich gemacht!
„Du hast einen schweren Fehler gemacht“, sagte er bedrohlich. Er holte einen weiteren Ball aus der Tasche, während das Jungtier ihn genau beobachtete. Er hielt den Ball niedrig und versteckte ihn hinter seiner Hüfte.
„Also“, sagte er mit einem Knurren, „dann wollen wir mal spielen.“
Koak spannte den Arm an und warf den Ball mit großer Kraft und Geschwindigkeit zum Jungtier. Es riss die Augen auf und flitzte aus dem Weg, sodass der Ball mit einem dumpfen Knall hinter ihm aufschlug und Erde nach oben spritzen ließ. Das Jungtier kreischte ihn an und Koak lachte.
„Hatte ich es mir doch gedacht!“, rief Koak. „Vielleicht solltest du nächstes Mal besser nachdenken ...“
Das Jungtier legte seinen Schwanz um den Ball und schoss ihn mit der Geschwindigkeit einer Kugel direkt auf Koaks Brust. Er traf ihn mit einem dumpfen Knall, haute ihn von den Beinen und ließ ihn bunte Lichtblitze sehen, als die Luft aus seinen Lungen entwich.
Wie in aller Welt, dachte Koak, als er nach Luft schnappte, kann etwas so Kleines so stark sein?
Als er mit dem Ball in der Hand wieder aufstand und die Sterne verschwanden, warf Koak einen wütenden Blick über das Feld. Die Schlange tat es ihm gleich und Koak wusste, dass sie es verstanden hatte. Die Schlacht sollte beginnen.
Koak warf den Ball mit aller Kraft. Das Jungtier schlug herum, nahm den Volley ebenfalls kraftvoll an und schickte den Ball raketenschnell zu ihm zurück. Koak fing ihn kurz vor dem Aufprall und das Klatschen des Leders gegen seine Handfläche hallte über das Gras. Dann schleuderte er ihn zurück zum Jungtier und alles begann aufs Neue.
Mit der Zeit wurden Koak und das Jungtier müde und die Wildheit wich der Erschöpfung. Ihre Vergeltungsschläge wurden nach und nach zu halbherzigen und schwachen Würfen. Als die Sonne schließlich untergegangen war und die Monde ihren Platz eingenommen hatten, fingen die beiden einfach nur noch die Bälle und warfen sie zurück. Trotzdem schien es dem Jungtier zu gefallen und es wirkte vollkommen enttäuscht, als sich Koak schließlich entschloss, den Ball nicht mehr zu werfen.
„Jetzt reicht es“, sagte Koak. Er ging zu dem Ball, den das Jungtier zu weit geworfen und das Scharmützel dadurch erst ausgelöst hatte. „Es wird Zeit, dass wir etwas essen.“
Als er sich hinkniete, um den Ball aufzuheben, hörte er hinter sich ein schlurfendes Geräusch. Er blickte über seine Schulter und sah, wie das Jungtier gegen die Erschöpfung ankämpfend die Tasche an den Zähnen hinter sich herzog. Als es ihn erreichte, zog es die Oberseite zurück und hielt sie offen.
Das überraschte Koak. „Danke“, sagte er leise.
Koak legte den Ball in die Tasche und verschloss sie. Das Jungtier legte seinen Körper um seinen Arm und ließ die Augen zufallen. Kurz darauf war es eingeschlafen und sein Atem strömte friedlich in kleinen Stößen aus seinen Nasenlöchern. Koak schaute es sich kurz an, bevor er die Tasche über seine Schulter legte und den Rückweg zum Orden antrat.
***
Aus Tagen wurden Wochen, aus Wochen Monate. Die Jahreszeiten in Pandaria glichen sich sehr und Koak konnte nicht mehr sagen, wie lange er schon beim Orden war. Seine Schlange war schnell gewachsen und hatte mittlerweile bestimmt das Zehnfache ihrer Größe beim Ausschlüpfen erreicht. Eine Krone aus langen und scharfen elfenbeinfarbenen Hörnern zierte nun ihren Kopf. Ihr einstmals glattes und rundes Gesicht war mittlerweile äußerst konturiert und kantig und knapp über ihren gefährlichen Zähnen hingen lange Schnurrhaare herab. Ihre winzigen Klauen hatten sich zu rasiermesserscharfen Krallen entwickelt, mit der sie eine komplette Rüstung in Stücke reißen konnte. Eine helle und stachelige Flosse schmückte ihren langen Hals, der mit einer vollen, dichten Mähne bedeckt war. Ihre rubinartigen Schuppen hatten nun ein dunkles Scharlachrot angenommen.
Koak hatte seinem Tier täglich beim Aufwachsen zugesehen und sich mit der Zeit an das idyllische Leben im Arboretum gewöhnt. Doch seine Wunden waren schon seit Langem verheilt und er wurde immer unruhiger. Der Krieg tobte ohne ihn weiter und Nachrichten von Schlachten waren durch ganz Pandaria bis zu ihm vorgedrungen. Die Horde hatte ihre Position an der Küste der Krasarangwildnis gefestigt und Höllschreis Leute durchsuchten den Kontinent nach vergrabenen uralten Relikten voller Macht, wobei sie sogar ein Loch in das Tal der Ewigen Blüten gerissen hatten. Vol'jin und die Dunkelspeere hatten sich in offener Rebellion gegen den Kriegshäuptling aufgelehnt und die Horde brach auseinander, als sich ihre Krieger auf verschiedene Seiten schlugen.
Koak wusste, wo der Drachenmalklan stehen würde. Kriegsfürstin Zaela machte aus ihrer Bewunderung für Garroshs Führungsstil keinen Hehl, da der Drachenmalklan Ungehorsam genauso wenig duldete. Sie würden sich für Höllschrei entscheiden und Koak bot sich die perfekte Gelegenheit, seine Stärke unter Beweis zu stellen. Er konnte nicht mehr länger warten – die Zeit des Aufbruchs war gekommen, selbst wenn das bedeuten sollte, gegen die Orcs zu kämpfen, die im Lager über ihn gewacht und ihm Geschichten über seinen verlorenen Klan erzählt hatten, als er ganz allein war. Der Drachenmalklan verzeiht keinen Ungehorsam, sagte sich Koak, und ich sollte es auch nicht tun.
„Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist“, warnte ihn Flitze. „Wenn Ihr mich fragt, seid weder Ihr noch Eure Schlange bereit.“
„Ein wahrer Drachenmal-Orc würde schon längst mit seinen Kameraden bei einem Rennen durch den Himmel reiten“, erwiderte Koak. Er hielt einen Sattel in der Hand und ging in großen Schritten auf den Hügel zu, der das Ende der Rennstrecke markierte.
„Oh, hoppla!“, kicherte Flitze. „Ich wusste nicht, dass die Drachenmal-Orcs Rennen mögen! Passt mal auf: Wenn Ihr es schafft, Eure Schlange zu reiten, schulde ich Euch ein Rennen.“
„Abgemacht“, antwortete Koak. Er musste zugeben, dass Flitze trotz seiner Poltereien und seines Draufgängertums gelegentlich recht angenehme Gesellschaft bot.
Mit einiger Mühe stieg Koak den Hügel hinauf. Sein Bein schmerzte immer noch, wenn sein gesamtes Gewicht darauf lag und der Hang war nicht einfach zu erklimmen. Mürrisch fragte er sich, wie Ka Salzkoch es jeden Tag schaffte, seine Wagen bis zur Spitze zu ziehen.
Koak sah, wie seine Schlange ruhig im Schatten eines Baumes lag. In den überfüllten Rängen an der Ziellinie und rund um den Hügel herum standen alle Schüler und Reiter des Ordens.
Koak schaute zu Flitze herüber, der gespielt unschuldig mit den Schultern zuckte. „Vielleicht habe ich ein paar Leuten gesagt, dass Ihr versuchen werdet, Eure Schlange zu satteln“, gab er kleinlaut zu.
„Egal“, murmelte Koak. So viele waren gekommen, um ihn zu sehen und zu beurteilen. „Das wird kurz und schmerzlos.“
Ohne die Zuschauer zu beachten, ging Koak zu seiner Schlange. Sie hob ihren Kopf, als sie ihn bemerkte und kniff beim Anblick des Sattels die Augen argwöhnisch zusammen. Die Schlange war in jeder Hinsicht gewachsen, doch das tiefe Blau ihrer Augen hatte sich nicht verändert.
Koak setzte an, den Sattel auf den Rücken der Schlange zu schwingen, die jedoch zur Seite wich. „Halt still“, sagte Koak. Er versuchte es noch einmal, aber die Schlange erwischte den Sattel mit ihrem Schwanz und schleuderte ihn fort. Das Tier schnalzte mit der Zunge und Koak wurde langsam wütend. Er glaubte zu hören, wie die zuschauenden Pandaren flüsterten und sich auf Kosten seines Stolzes über ihn lustig machten.
„Keine Spielchen mehr“, knurrte Koak. „Dafür haben wir trainiert!“
Er hob den Sattel auf, warf ihn der Schlange erneut über den Rücken und hielt sie mit seinem Arm fest. Sie heulte laut auf und rutschte zur Seite, woraufhin Koak das Gleichgewicht verlor. Er verdoppelte seine Anstrengungen und legte seinen Arm halb um die Schlange, während er versuchte, die Riemen des Sattels zuzuschnallen.
Aber die Schlange machte nicht mit. Sie schlug mit aller Kraft und aufgeregt um sich, wobei sie mit ihrem Schwanz fast einen Baum in der Nähe entwurzelte. Koak versuchte die Kontrolle zu erlangen, doch die Schlange war gelenkig und stark.
„Halt still!“, befahl er und schlug fest mit seiner Hand auf ihren Rücken. „Ich sagte: Halt still!“
Als die Situation zu eskalieren drohte, schnappte die gesamte Zuschauermenge nach Luft. „Koak, vielleicht solltet Ihr es etwas lockerer angehen!“, hörte er Flitze über den Lärm hinweg schreien.
Doch Koak und die Schlange rangen weiter miteinander, schlugen sich gegen den Baum und taumelten in die Ränge. Schnell zogen sich die Zuschauer auf die andere Seite des Hügels zurück. So sehr er sich auch anstrengte, er konnte den Rücken der Schlange nicht erreichen und wurde mit einem letzten wilden Schlag gegen einen der Pfosten geschmettert, an dem das karierte Banner der Ziellinie angebracht war. Der Pfosten splitterte und krachte beim Aufprall, woraufhin er mit flatternden Seilen und Flaggen zusammenbrach. Doch Koak dachte nur an sein erst kürzlich verheiltes Bein, das beim Fallen unter ihm lag.
Schmerz durchzuckte seinen Körper und Koak spürte, wie ihm heißes Blut in die Wangen schoss und einen roten Schleier über seinen Blick legte. Wie konnte die Kreatur es wagen, sich ihm zu widersetzen?Nach allem, was er für sie getan hatte, nach all dem Training und der Hingabe! Er nahm sich ein Stück Seil, zielte damit, schwang es über seinem Kopf und ließ es nur wenige Zentimeter vom Gesicht der Schlange entfernt knallen.
„GEHORCHE MIR!“, brüllte er.
Seine Worte hallten in der erstaunten Stille wider. Die von diesem Ausbruch schockierte Schlange kauerte sich geräuschlos vor ihn. Gut!, dachte Koak. Lerne, mich zu fürchten! Lerne, wo dein Platz ist! LERNE, ZU GEHORCHEN! Koak schlug erneut mit dem Seil in die Luft und die Schlange kroch von ihm fort, als er sich näherte. Koak war wütend und er spürte seinen Puls laut und heftig in den Ohren.
Er hob den Sattel über den Rücken der Schlange und wollte die Riemen befestigen. Das Tier jaulte protestierend auf und wehrte sich.
„Du wirst gehorchen!“, knurrte Koak. Wieder schlug er mit dem Seil zu und traf diesmal die Schuppen der Schlange. Der angstvolle Schmerzensschrei der Kreatur hallte durch das Arboretum.
Sie wird mich hassen.
Koak schob den Gedanken beiseite. Natürlich würde die Schlange ihn hassen. So war das eben und Koak interessierte es nicht. Sie würde ihn hassen, wie die Drachen den Drachenmalklan und er Höllschrei gehasst hatte. Sie würde ihn hassen, wie jeder Sklave seinen Herrn hasst. Koak ergriff die Schlange bei den Hörnern und riss ihren Kopf herum, bereit, ihren Hass zu erleben und mit einem verhärteten Herz abzuwehren.
Doch als er der Schlange in die Augen blickte, sah Koak keinen Hass. Er sah Enttäuschung, Verwirrung und Kummer, der so tief war, dass er darin hätte ertrinken können. Er sah kein schreckliches Monster, das gezähmt werden musste, sondern das verängstigte und verwaiste Jungtier, dessen Stimme in der Nacht, in der seine Mutter ihr Leben für seine Rettung geopfert hatte, vor lauter Schreien heiser geworden war. Er glaubte auch, Tränen in den Augen der Schlange zu sehen, erkannte dann jedoch schnell, dass es seine eigenen waren. Das Seil glitt ihm aus den Fingern, als sein Zorn in ihm erstarb.
Bei den Ahnen, was hatte er getan?
„Ich wollte nicht ...“, stammelte er. „Das war nicht ...“
Die Schlange unterbrach ihn mit einem schrecklichen Brüllen, das Koak bis ins Mark erschütterte. Sie holte tief Luft, Brust und Hals blähten sich auf, dann stieß sie den Schrei mit der Gewalt eines Sturms aus. Koak ging in Deckung, als der Blitz über seinen Kopf hinweg zuckte und die ihm zu Berge stehenden Haare versengte. Die Schlange wand sich hinauf in die Luft und blickte auf ihn herab.
Koak wusste nicht, was er sagen oder denken sollte. Schweigend sah er, wie der Sattel vom Rücken der Schlange rutschte, auf den Boden krachte und in hundert Teile zerbrach.
Die Schlange drehte sich weg und verschwand über dem Meer. Koak stellte sich zitternd auf die Beine. Die Zuschauer hatten alles miterlebt. Seine plötzliche und vollkommene Schmach wurde nur noch von seiner Wut verborgen.
„Was habt Ihr erwartet?“, fragte er sie. „Was habt Ihr erwartet?! Ich bin ein Drachenmal-Orc! So machen wir das! So bin ich!“
Als er in die Menge schaute, entdeckte er eine Person mit grau werdendem Haar und jugendlichen Augen. Anli stand schweigend zwischen den Zuschauern und ihr vormals strahlender Blick war nun voller Traurigkeit.
Wir alle entscheiden uns für das, was wir sein möchten.
Die Pandaren gingen, ohne ein Wort zu sagen. Sie trotteten schweigend den Hügel hinab und Koaks Versagen lag wie ein Sargtuch über der Ziellinie. Flitze blieb noch einen Moment länger, aber Anli legte ihre Hand auf seine Schulter und schüttelte den Kopf. Dann waren auch sie verschwunden und Koak blieb allein zurück.
Er dreht sich zum Meer, in die Richtung, in welche die Schlange geflüchtet war. Er wusste, wohin es für sie ging, da er aus eigener leidvoller Erfahrung wusste, dass es nur einen Ort gab, an den alle Kreaturen zurückkehrten, wenn ihre Welt zerbrochen und ihr Herz in tausend Stücke zersprungen war.
Seine Schlange war auf dem Weg nach Hause.
***
Urplötzlich hatten sich dunkle Wolken am Himmel über dem Jadewald zusammengebraut, aus denen heftiger Regen auf das Meer prasselte. In den Stunden, seit die Schlange ihn verlassen hatte, war die Nacht hereingebrochen und Koak bemühte sich, die Kontrolle über seinen Körper zu behalten, während der Regen seine Kleidung durchnässte. Er hatte das Floß an derselben Stelle gefunden, an der er es Monate zuvor versteckt hatte und wie durch ein Wunder hatten ihm weder umherziehende Diebe noch die Elemente etwas anhaben können. Koak hatte diesen Elementen niemals sonderlich gehuldigt und als das Floß die Küste der Insel erreichte, fragte er sich, ob sie nur auf die richtige Gelegenheit gewartet hatten, ihn für diese Frechheit zu bestrafen.
Geplagt von den Kräften des Windes und Wassers nahm Koak seine alte Krücke in die Hand und trottete über den schlammigen Strand in Richtung des festen Bodens, entlang seiner eigenen Fußabdrücke aus jener schicksalhaften Nacht, in der er das Ei gefunden hatte. Kurze Zeit später erreichte er die Stelle, von der er wusste, dass er dort die Schlange finden würde.
Das Nest aus Stein war vollkommen zerstört – so, wie Koak es damals vorgefunden hatte. Von der Mutter war allerdings nichts zu sehen. Koaks Schlange saß zusammengerollt in der Mitte des Nests und ihre Mähne hing vom Regenwasser schwer herunter. Als sie sah, wie Koak sich näherte, zischte sie und zog sich in den hinteren Teil des Nests zurück. Der Anblick tat Koak in der Seele weh und erfüllte ihn erneut mit Scham.
„Ich bin nicht gekommen, um dir etwas anzutun!“, rief Koak über das Geräusch des strömenden Regens hinweg und genau so meinte er es auch. Er streckte seine Arme zur Seite, als er langsam auf das Nest zuging.
Die Schlange heulte ihn an und stieg in die Luft auf. Sie zischte an ihm vorbei, landete auf einer Felsnase hoch über ihm und beobachtete ihn weiter mit offensichtlichem Argwohn. Koak warf seine Arme verzweifelt hoch, wobei er Regentropfen in alle Richtungen schleuderte.
„Selbst jetzt?“, fragte er eingeschnappt. „Selbst, wenn ich zu dir komme, um dich mit zerbrochenem Stolz um Verzeihung zu bitten? Selbst jetzt widersetzt du dich?“ Er platschte auf die gegenüberliegende Seite des Nests und seine Krücke fiel klappernd auf die Felsen. „Warum musst du immer so starrsinnig sein?Auf jeden Befehl reagierst du mit Aufsässigkeit – einfach nur so. Selbst jetzt, nachdem ich diesem verflixten Sturm auf der Suche nach dir getrotzt habe! Ein wahrer Drachenmal-Orc würde so etwas niemals durchgehen lassen! Ein wahrer Drachenmal-Orc ...“ Aber er verstummte, da seine Wut durch den Regenguss und seine eigenen unüberwindlichen Zweifel gelindert wurde.
„Ein wahrer Drachenmal-Orc“, krächzte er. „Als ob ich darüber etwas wüsste. Ich bin kein Drachenmal-Orc. Und ich werde niemals einer sein.“
Er sprach diese Worte, die schwer im strömenden Regen zwischen ihnen hingen, fast flüsternd. Plötzlich überkam Koak eine große Müdigkeit. Die Haut an seinen durchnässten Händen war verschrumpelt und seine Haare klebten an seinem Kopf. Er stieß einen lauten Seufzer aus, ließ ein Leben voller Qual in die kalte Nacht fahren und schloss seine Augen, während ihm der Regen über Brauen und Bart lief.
„Ich bin in einem Internierungslager aufgewachsen“, sprach Koak in die Stille, „doch geboren wurde ich in Grim Batol. Mein Vater hat mir immer erzählt, dass ich eines Tages auf dem Rücken eines großen Drachen reiten würde, dass der Drachenmalklan den Himmel und danach auch die restliche Welt beherrschen würde.“
Er schluckte den Frosch herunter, den er im Hals hatte. „Das war, bevor genau diese Drachen sich erhoben und den Klan bei lebendigem Leibe verbrannten. Wir verloren die Kontrolle und waren zu schwach, sie zurückzuerlangen.“
„Danach fanden mich die Menschen und legten mich in Ketten, weil mir die Kraft fehlte, mit dem Rest meines Klans zu fliehen. Mein Leben als Sklave endete erst, als Thrall die Mauern des Lagers einriss, so wie es der rote Drachenschwarm mit den Drachenmal-Orcs getan hatte. Nun ja, so ist die Welt eben. Stärke bringt Freiheit, Schwäche bringt Knechtschaft.“
„Nun gehört der Drachenmalklan zu Höllschrei“, sagte er und die Erkenntnis schnürte ihm die Kehle zu. „Sie sind abhängig von seinen lebenswichtigen Lieferungen und seiner militärischen Unterstützung. Sich ihm zu widersetzen, würde die Vernichtung bedeuten. Man kann die Ketten zwar nicht sehen, aber trotzdem gibt es sie. Solang sie nicht zerbrochen sind, stehen wir unter Höllschreis Befehl. Und nach all diesen Jahren suche ich immer noch eines – die Kraft, die Kontrolle zurückzuerlangen.“
Koak atmete langsam und tief ein und danach wieder aus, bis seine Lungen nach Luft schrien. Er schaute in den Himmel, zu den Gewitterwolken und auf den herabfallenden Regen. Er weinte und die Tränen liefen so frei wie in der Nacht, als sein Klan vernichtet worden war. Ein Teil von ihm wollte glauben, dass ihre Geister sich seinem Wehklagen anschlossen.
Er hört ein kratzendes Geräusch über sich und sah, wie die Schlange die Felsenspitze zu ihm hinunterkroch und sich zum Schutz gegen Wind und Regen zusammenrollte. Koak streckte vorsichtig die Hand aus, legte sie auf ihren Kopf und streichelte sanft ihre Mähne. Einen kurzen Augenblick lang spürte er in ihr eine Anspannung, die jedoch schnell wieder verflogen war.
Still saßen sie nebeneinander und warteten auf das Ende des Gewitters – so, wie sie es in den ersten fünf Lebenstagen der Schlange getan hatten. Als der Regen aufhörte, der Wind verstummte und Koak die Reflexionen der Monde auf dem Meer sehen konnte, schlummerte die Schlange friedlich und kleine Rauchfahnen strömten aus ihren Nasenlöchern.
Koak legte seinen Arm um die Schlange, schloss die Augen und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
***
Koak hatte den Morgen nach einer Nacht mit heftigem Regen schon immer gemocht. Die klare Luft und das glitzernde Blätterwerk nach einem Regenguss, die Art und Weise, wie alles frisch und neu war, munterten ihn auf. Er erwachte unter grauem Himmel, roch den Duft des Regens und sah einen Nebel, der so dicht war, als läge die gesamte Welt unter einer Wolke verborgen. Koak war überrascht, jedoch nicht erschrocken, als die Älteste Anli wie ein Geist in einem Traum aus dem Nebel trat.
„Es war recht einfach, Euch zu finden“, erklärte die alte Pandaren. Sie betrat einen engen, gewundenen Pfad an der Seite der Spitze und winkte sie herbei. Beide folgten ihr, wobei Koak allerdings davon ausging, dass die Schlange es nur wegen Anli tat.
„Die meisten Schlangen finden ihr Zuhause auf der Windwärtsinsel“, fuhr Anli fort, „aber manche – die eigensinnigen, die die Unabhängigkeit und das Alleinsein schätzen – rasten auf den verlassenen Spitzen um die Insel herum.“
„Und Ihr habt geglaubt, meine Schlange käme nach ihrer Mutter“, sagte Koak.
Anli lächelte. „Oder vielleicht nach ihrem Reiter.“
Sofort stieg Kummer in Koak auf. „Ich bin nicht ihr Reiter. Das ist wohl unmissverständlich klar.“
„Warum seid Ihr dem Tier dann den ganzen Weg gefolgt?“, fragte sie.
Koak schaute hinauf in den Himmel und dachte an das Kriegsschiff der Allianz, das ihn abgeschossen hatte und den Suchtrupp, der nie gekommen war. „Höllschrei hat mich auf dieser Insel zurückgelassen“, antwortete er. „Das werde ich meiner Schlange nicht antun.“
„Ihr scheint diesen Höllschrei nicht zu mögen“, bemerkte Anli.
Koak dachte lange über seine Antwort nach. „Die Horde ist seine Armee“, sagte er schließlich, „aber wir sind nicht sein Volk.“ Diese Worte kamen einem Verrat gleich, aber nur Anli konnte sie hören. „Garrosh verlangt Loyalität, was für ihn allerdings nur bedeutet, auf seinen Befehl hin zu sterben. Er weiß überhaupt nicht, was Loyalität ist. Thrall hat Loyalität hervorgebracht. Was Garrosh will, ist Gehorsam.“
Anli nickte verständnisvoll. „Das ist nicht immer das Gleiche.“
Koak warf seiner Schlange einen Blick zu. „Nein“, räumte er ein, „wohl nicht.“
Sie gingen schweigend weiter und erreichten schließlich den Gipfel der Spitze. Die Gebirge und die sattgrüne Küste, die er vor langer Zeit von der Windspitzenbrücke aus erblickt hatte, lagen unter dem Nebelschleier des Meeres. Ein leichter Nieselregen ließ kalte Tropfen auf Koaks Schultern und Brust fallen.
„Ihr seid zu uns gekommen“, sagte Anli, „weil Ihr glaubtet, wir wären große Krieger. Und als ihr saht, wie liebevoll wir unsere Schlangen behandeln, dachtet ihr, dass die Geschichten nicht stimmen.“
„Aber als ich Euch nach dem Unterschied zwischen Stahl und Eisen fragte“, fuhr sie fort, „habt ihr mir gesagt, dass Stahl widerstandsfähiger sei.“
„Ja, ich erinnere mich“, antwortete Koak leicht verwirrt. „Worauf wollt Ihr hinaus?“
Anli schlenderte zur Kante der Spitze und blickte in den undurchdringlichen Nebel. „Ihr schreckt vor Fürsorglichkeit zurück, aber den widerstandsfähigsten Stahl erhält man durch Liebe. Ein Schmied faltet ihn mit äußerster Sorgfalt, hunderte und aberhunderte Male. Und so macht es auch der Orden der Wolkenschlange. Wir sind die Schmiede und die Schlangen sind unser Stahl.“
Anli winkte ihn herbei. Als er neben ihr stand, legte sie eine Pfote auf seine Brust und sah ihm in die Augen.
„Bei Eisen ist es anders“, sagte sie. „Der Schmied erhitzt das Metall und bearbeitet es mit dem Hammer, um es in die gewünschte Form zu bringen. Wenn es abkühlt, wird es schwarz und brüchig. Und obwohl es eine Zeit lang widerstandsfähig erscheinen mag, wird es doch genau dann brechen, wenn man es am meisten braucht. Versteht Ihr, Koak?“
Es schmerzte ihn, das zu hören, aber Koak wusste, dass es die Wahrheit war. So war der Drachenmalklan und so war auch seine grausame Verbindung zwischen Orcs und Drachen. „Ich verstehe“, sagte er, während er die still hinter ihnen sitzende Schlange anschaute, „aber was geschieht, wenn der Schmied einen Fehler macht?“
„Dann muss er ihn beheben“, antwortete sie, „solange das Metall noch heiß ist.“
Anli tat einen Schritt von der Kante der Spitze. Koak blieb stehen und war nicht überrascht, als sie auf dem Rücken ihrer Schlange wieder auftauchte. „Ihr habt mir einmal gesagt, dass Ketten effektiver als Entscheidungen sind. Nun, Ihr habt versucht, Eure Schlange in Ketten zu legen. Vielleicht solltet Ihr einmal versuchen, sie eine Entscheidung treffen zu lassen.“
Koak sah zu, wie Anli fortflog. Er fragte sich, ob er jemals das Gleiche tun würde. Sie verschwand im Nebel und Koak blieb allein mit seiner Schlange zurück. Der Schleier war überall und verbarg den Rest der Welt, doch er wusste, dass einen Schritt weiter ein gefährlicher Abgrund lag – so wie der, der ihn in seinen Träumen verfolgte. Er fühlte sich, als wäre er sein ganzen Leben lang gefallen. Und er war es leid. Anli wollte, dass er seine Schlange eine Entscheidung treffen ließ? Dann sollte es auch eine richtig schwerewerden.
„Schlange“, rief Koak. Er bemerkte, dass er ihr immer noch keinen Namen gegeben hatte. Die Schlange schaute zu ihm hinauf und blickte ihm in die Augen. Sie sah, was er vorhatte und öffnete protestierend das Maul. Aber er gab ihr keine Gelegenheit dazu.
Koak machte einen Schritt von der Spitze und in die Leere.
Sofort stürzte er kopfüber durch Wolken und Nebel auf den unsichtbaren Strand unter ihm zu und sein Alptraum wurde zu einer schrecklichen Realität. Meine Schlange wird mich nicht retten, dachte Koak plötzlich. So werde ich also sterben.
Er hörte einen vertrauten Schrei von oben, schaute hinauf und sah einen langen, gewundenen Schatten, der zu ihm hinunterflog. Seine Schlange tauchte aus dem Nebel auf und flitzte ihm zur Seite. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen.
Koak war noch nie glücklicher darüber gewesen, Unrecht zu haben. Aber als sich die Schlange näherte, dachte er mit einem unheilvollen Gefühl daran, dass es keinen Sattel und keine Zügel gab, die ihm auf ihren Schuppen Halt bieten könnten. Panik bohrte sich tief in Koaks Herz. Verzweifelt und mit den Armen fuchtelnd griff er nach der Schlange.
Die Schlange brüllte, reckte den Hals und schaute ihm in die Augen. Koak erwartete, Furcht, Zweifel oder Trübsinn zu sehen. Aber auch hier lag er falsch.
Was er sah, war Stärke.
Koak lockerte seinen Griff und gab die Kontrolle ab. Schnell stürzte sich die Schlange unter ihn und fing ihn mit einer Krümmung ihres Rückens auf. Koak erkannte ihre Bewegungen instinktiv und legte seine Arme im Moment des Aufpralls um ihren Körper, so wie sie ihren Körper als Jungtier viele Male um seinen Arm geschlungen hatte.
Mit einem Brüllen, das den Himmel erschütterte und über dem Meer widerhallte, zog die Schlange mit aller Kraft nach oben. Koak spürte, wie das Wasser gegen sein Gesicht spritzte, als sie die Wellen streiften. Dann stiegen sie hinauf und der Nebel lichtete sich wie ein Vorhang aus Samt. Das Meer, die Küste, die Spitzen, die Brücke und schließlich der gesamte Jadewald wurden unter ihnen immer kleiner. Koak lachte, halb vor Erleichterung, halb vor ungläubigem Staunen.
Seine Schlange hatte ihn nicht fallen lassen.
„Danke“, rief Koak und lächelte sie an. Die Schlange schaute zu ihm nach hinten und Koak hätte schwören können, dass er ein Grinsen sah.
Sie brachen durch die Wolken ins gleißende Licht der Sonne. Die Schlange flog einen Überschlag und selbst ohne Zügel oder Sattel blieb Koak sicher. Er hielt sich fest, als sie durch den Himmel glitten – frei, stark und schnell wie der Blitz. Im Sonnenlicht glänzten die Schuppen der Schlange hell wie poliertes Metall.
„Stahl“, sagte Koak, ohne nachzudenken. Die Schlange reckte wieder ihren Hals, um ihn anzuschauen. „Dein Name ist ‚Stahl‘.“
Die Schlange brüllte voller Zustimmung. Mit atemberaubender Geschwindigkeit schossen sie hinab unter die Wolken und Koak brüllte jubelnd in den Wind. Koak flog – nein, sie flogen. Gemeinsam, zusammengeschmiedet. Es war anders, als Koak es sich je vorgestellt hatte, aber es war so, wie er es sich erhofft hatte.
Stahl trug ihn fort von der östlichen Küste und als sie über das Arboretum flogen, sah Koak, wie die Mitglieder des Ordens der Wolkenschlange an ihren offenen Ställen versammelt waren und ihm mit breitem Lächeln zuwinkten. Flitze hob seine Pfote hoch in die Luft, als wäre Koaks Triumph sein eigener gewesen und Anli ließ der Stolz der Lehrerin erstrahlen.
„Ihr schuldet mir ein Rennen, Koak!“, rief Flitze ihm zu.
Koak lachte. „Das sollt Ihr bekommen!“, brüllte er. „Aber zuerst gibt es noch etwas anderes zu tun!“
Stahl flog weiter, über die Baumwipfel des Arboretums und die Dächer von Morgenblüte, zum Tal der Ewigen Blüten und zum Schrein der Zwei Monde. Koak hatte ebenfalls eine Entscheidung getroffen. Sein Volk brauchte ihn – nicht der Drachenmalklan, sondern die Horde.
Der Orden der Wolkenschlange hatte Koak etwas Wichtiges gelehrt. Wahre Loyalität kann man nicht erzwingen – man kann sie sich nur verdienen. Er hatte seine Schlange großgezogen, für sie gesorgt und sich ihr anvertraut und als Gegenleistung hatte sie sein Leben gerettet. Die Horde hatte das Gleiche für ihn getan: Sie hatte ihn aufgenommen und ihm eine Familie gegeben, als er ein Waisenkind war. Nun würde Koak sich an ihrer Seite Höllschrei und dem Drachenmalklan entgegenstellen.
Dies würde ihn für immer zu einem Ausgestoßenen seines Klans machen. Aber die Horde war gegründet worden von Ausgestoßenen und Rebellen, heimatlosen Flüchtlingen, die sich auf niemand sonst verlassen konnten. Gemeinsam hatten sie sich ein eigenes Zuhause aufgebaut: Orgrimmar.
Und gemeinsam würden sie es zurückerobern.
„Für die Horde!“, rief Koak. Nun erinnerte er sich wieder an die Bedeutung dieser Worte. Für die Horde zu kämpfen hieß, für seine Brüder und Schwestern zu kämpfen, die Stärke des Einzelnen mit der Stärke vieler zu vereinen, um eine unverbrüchliche Verbindung zu erhalten.
Das war die wahre Stärke der Horde – die Stärke des Stahls.
Die Prüfung der Roten Blüten von Cameron Dayton
Zehn war den Fremden den ganzen Nachmittag über gefolgt. Er war sich sicher, dass sie Geld besaßen. Er merkte es an ihrer Haltung, ihrer Kleidung und der selbstbewussten Art, wie sie über den Markt schlenderten. Zehn hatte es sich angewöhnt, den Wohlstand möglicher Zielpersonen einzuschätzen. Es hielt ihn in diesen schweren Zeiten am Leben.
Die Reisenden waren zu viert und ihren dicken Umhängen nach zu urteilen, kamen sie aus dem Norden. Wenn es jedoch trotz der für die Jahreszeit unpassenden Kluft noch eines weiteren Beweises bedurfte, dass es sich bei ihnen nicht um Einheimische handelte, so brauchte man sich nur ihren Führer ansehen: Es war Jogu, der alte, ständig betrunkene Jinyu, der sein halbes Leben am Ufer des kleinen Teiches unweit des Marktes verschlief. Jogu war ziemlich schlank für einen Jinyu. Er hatte die Angewohnheit, undeutlich vor sich hin zu brabbeln, und es fehlten ihm einige Schuppen. Warum diese Männer ausgerechnet ihn zu ihrem Führer auserkoren hatten, war Zehn ein vollkommenes Rätsel. Aber wie dem auch sei, sie mussten Jogu einiges geboten haben, denn der alte Jinyu wirkte so munter und wach wie seit vielen Jahren nicht mehr. Er gestikulierte und deutete auf den eigentlich nur mäßig interessanten Halbhügelmarkt, als wäre dieser eines der Monumente im Jadetempel.
Die vier Reisenden selbst sagten kein Wort und zeigten auch keine Reaktion auf die Gebärden des Fischmanns. Es war offensichtlich, dass sich diese Pandaren einen etwas direkteren und ruhigeren Führer gewünscht hatten und ihre Entscheidung für Jogu bereits bereuten.
Zehn lehnte sich gegen die Wand in der Gasse und dachte nach. Nachdenken war anstrengend, wenn der Magen so knurrte wie der seine, aber daran würde sich nichts ändern, wenn er sich nicht auf seine Arbeit konzentrierte. Die letzte Ernte war dürftig ausgefallen, selbst hier im Tal der Vier Winde. Die Bauern hatten ein schärferes Auge auf ihre Waren als sonst gehabt und die Handelsstraßen waren stärker bewacht denn je. Seine letzte Mahlzeit war bereits einen Tag her – es war ein Pfirsich gewesen, der von einem Obstkarren gefallen war, als dessen Besitzer den Markt verlassen hatte. Zumindest hatte es so ausgesehen, als der Karren dort vorbeigerumpelt war, wo Zehn in den Schatten verborgen gekauert hatte. Schon einige Male hatte der Junge von Kim Won Gis „Sorglosigkeit“ profitiert. Er war dem großzügigen Händler dankbar ... aber dass er aufhören würde, ihn zu bestehlen, so weit ging seine Dankbarkeit dann doch nicht. Wovon sollte ein Dieb denn sonst leben?
Ein Dieb. Zehn war nicht stolz auf das, was er tat, was er tun musste. Wenn sein Vater noch am Leben wäre, hätte er sein Gesicht vor lauter Gram in seinen Pfoten vergraben.
Die Jahreszeiten sind unabänderlich.
Die Gruppe hatte sich inzwischen in Bewegung gesetzt, nachdem Jogu einen ellenlangen Monolog über den Schrein des Ehrlichen Händlers in epischer Breite und mit einem höchst emotionalen Vortrag unter wilder Gestikulation beendet hatte. Als seine Zuhörer jedoch auf seine Darbietung weder eingegangen waren noch ihm ein Trinkgeld dafür gegeben hatten, als er mit ausgestreckten Armen wie ein großer Taolunbaum dastand, hatte er mit den Schultern gezuckt und war weitergegangen. Die Fremden folgten ihm und einer von ihnen schüttelte den Kopf.
Zehn war sich sicher, dass sie zum Ratsgebäude der Ackerbauern gehen würden. Es war das einzige Gebäude in der Richtung, in die sie marschierten. Natürlich wollten diese wohlhabenden Besucher sich mit dem mächtigen Bund der Ackerbauern treffen, vermutlich um über Geschäfte oder Verträge zu verhandeln. Waren es vielleicht Händler? Das würde ihre großen Umhänge erklären, die nicht nur ihre breiten, gut genährten Bäuche verbargen, sondern auch – wenn Zehn sich nicht irrte – tiefe Taschen und so manchen Geldbeutel bis obenhin mit Gold gefüllt. Er beobachtete sie konzentriert und sah, wie der dunkle Stoff um die Hüften der Reisenden gewickelt war. Ja. Darunter musste es Gold geben. Ihm begannen die Finger zu jucken.
Die Gruppe überquerte gerade die Fo-Brücke, als das Schicksal seinen Lauf nahm. Gerade hatte Vorratsmeister Nam Eisentatz mit einem Karren voller Lachse den höchsten Punkt der Brücke erreicht, da löste sich auf einmal ein Rad an der Seite des Karrens und als Nam den sich nähernden Reisenden zuwinkte, begann der Karren sich mitsamt der schweren Ladung gefährlich zu neigen. Der kräftige Händler fuhr erschrocken herum, konnte aber nicht mehr verhindern, dass der Karren umkippte und seinen Inhalt – den kompletten Fang einer ganzen Nacht – auf die Brücke ergoss.
„Nein! Nein!“, rief er entsetzt, während seine Barthaare vor Verzweiflung bebten.
Ein silberfarbener, feuchter Schwall schwappte über die Brücke, deren hohe Seiten die ganze Ladung direkt in Richtung des vor Schreck erstarrten Jogu und seiner Auftraggeber schickten. Auch der arme Jinyu – offensichtlich noch immer betrunken – rief „Nein! Nein!“, als wolle er Nams Rufe imitieren, und versuchte, die Fische mit verzweifelten Gesten zum Stillstand zu bringen. Aber die toten Lachse schenkten ihm keinerlei Beachtung.
Unter einem feuchten Schmatzen wurde die Gruppe unter den Lachsen begraben. Zehn konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er sich vorstellte, wie es sich wohl anfühlte, von den kalten, glitschigen Fischen begraben zu werden. Einen Augenblick später war die Welle vorbei und die übrigen Lachse glitten über den Rand der Brücke und fielen in den Fluss. Die vier Pandarenhändler waren in die Hocke gegangen und hatten ihre Krallen in die Planken gegraben, um nicht zu Boden zu gehen, und halfen sich jetzt gegenseitig wieder auf die Beine. Jogu dagegen war mit den Fischen zusammen ins Wasser gefallen und tauchte nicht wieder auf. Das war eher lustig als alarmierend, denn als Jinyu war der betrunkene Jogu im Wasser mehr zu Hause als an Land. In der Ferne waren Rufe und Gelächter aus der Richtung des Marktes zu hören, als Nams Familie und andere Dorfbewohner zur Brücke gerannt kamen.
Zehn wusste, dass jetzt der ideale Zeitpunkt gekommen war, um zuzuschlagen.
Er glitt aus den Schatten und mischte sich unter die Leute, die sich auf den umgekippten Karren zubewegten. Für seine vierzehn Jahre war Zehn leicht gebaut und schlank und sein Fell war an den Stellen grau, wo die meisten andere Pandaren weißes Fell besaßen. Es war ihm ein Leichtes, in dem heillosen Durcheinander unentdeckt zu bleiben, so wie meistens. Unentdeckt zu bleiben, war eine der Spezialitäten des jüngsten Sohnes eines mittellosen Rübenbauern. Seinen Namen verdankte er seinen neun Geschwistern, die vor ihm das Licht der Welt erblickt hatten.
Seine fünf älteren Brüder hatten den Besitz seines Vaters nach dessen Tod untereinander aufgeteilt, aber schon bald gemerkt, dass fünf einzelne Teile eines daniederliegenden Bauernhofs sie wohl kaum ernähren würden. Warum also sollten Sie den Hof aufteilen, wenn dadurch alle verhungern würden?Darum konnten die fünf jüngeren Brüder entscheiden, ob sie bleiben und helfen wollten oder den Hof verlassen. Zehn hatte sich zur großen Erleichterung seiner Geschwister dazu entschlossen, dem Hof den Rücken zu kehren. Ein Bauernhof hatte für einen jungen Pandaren sowieso nichts zu bieten und er bezweifelte, dass sie seine Abwesenheit überhaupt bemerkten.
Unmittelbar vor ihm erkannte er einige Mitglieder der Familie Eisentatz, die den Karren wieder aufzurichten versuchten, während andere damit beschäftigt waren, die Fische einzusammeln und in Körbe, Töpfe und Schürzen steckten. Unterdessen hatte sich Nam den vier Fremden mit gesenktem Kopf genähert und entschuldigte sich überschwänglich für das Missgeschick. Zehn hatte erwartet, dass die wohlhabenden Händler über das glitschige Willkommen in Halbhügel erbost wären, umso überraschter war er, dass sie lachten. Es war ein sanftes, rollendes Lachen, unter dem die Brücke zu wackeln begann, während sie Fischschuppen von ihren Hüten wischten und einander auf die Schultern klopften. Einer der Reisenden zog sogar einen großen Fisch aus seinem Kragen und reichte ihn Nam mit einem Nicken und der Vorratsmeister, sichtlich erleichtert über den Humor der Fremden, kehrte wieder an den Ort des Unglücks zurück, um die Aufräumarbeiten zu dirigieren. Lachs war sehr teuer und es waren viele Monate vergangen, seit sein Karren das letzte Mal so voll gewesen war.
Zehn bewegte sich langsam vorwärts, während er gemeinsam mit den anderen Mitgliedern der Familie Eisentatz die Fische einsammelte. Als er dicht genug an den Reisenden heran war, tat er auf einmal so, als würde er ausrutschen, und stolperte gegen den größten unter ihnen. Als der Händler sich umdrehte, stockte Zehn der Atem. Sein Gegenüber besaß nur ein Auge. Über dem anderen trug er eine schwarze Augenklappe und eine lange Narbe verlief von der dazugehörigen Augenbraue bis zum Kinn quer über das Gesicht. Der Händler war allem Anschein nach bereits an diese Art von Reaktion gewöhnt, denn er lächelte Zehn an, half ihm auf und sagte ihm, er solle aufpassen, wenn er auf den nassen Holzplanken lief.
Aber warme Gedanken können einen knurrenden Magen nicht besänftigen.
Schüchtern verbeugte sich Zehn, so wie es ein einfacher Dorfjunge tun würde, und ging weiter. Der Lederbeutel, den er unter dem Umhang des Händlers zu fassen bekommen hatte, war gut unter Zehns schmutziger Tunika verstaut und er freute sich schon darauf, seine Beute näher in Augenschein zu nehmen. War es Gold? Nicht schwer genug. Edelsteine? Schon möglich. Hoffentlich reicht es für ein paar warme Mahlzeiten und eine weitere Decke, dachte er bei sich. Schon bald würde es Winter sein und Zehn machte sich Sorgen wegen der Kälte. Der kleine Pandaren hatte auch ein paar der kleineren Fische stibitzt, aber er wollte sein Glück lieber nicht herausfordern. Mit einem Knurren meldete sein Magen sich wieder zu Wort.
Er erreichte den Rand des Marktes und tat so, als würde er Fischschuppen von seinen Ärmeln wischen, während er im Auge behielt, was hinter ihm geschah. Es war niemandem aufgefallen, dass Zehn verschwunden war, und alle waren noch immer damit beschäftigt, die Fische aufzusammeln, bevor sie vom Fluss verschluckt werden konnten. Er zog den gestohlenen Beutel unter seiner Tunika hervor, entwirrte im Handumdrehen die Lederschlaufe, die ihn zusammenhielt, und leerte den Inhalt in seine Pfote.
Doch statt Gold oder Edelsteinen kam lediglich eine Schriftrolle zum Vorschein. Zehn rutschte das Herz in die Hose. Eine dumme Schriftrolle, die um einen einfachen Messingstab mit Enden aus Elfenbein gewickelt war. Er hob den zarten Gegenstand hoch und zerbrach das Wachssiegel, um zu sehen, ober er den Stab auseinanderziehen konnte. Vielleicht konnte er wenigstens das Elfenbein verkaufen.
Seine Augen flogen über die Seite, lasen die Wörter, ohne es eigentlich zu wollen. Vor Jahren hatte Sieben seinem jüngeren Bruder das Lesen beigebracht, damit er dabei helfen konnte, die Ernte in Zahlen zu fassen. Zehn hatte es schnell gelernt und profitierte von dieser Fähigkeit, wenn er zum Beispiel wissen wollte, welchen der unbeaufsichtigten Säcke er dem Gemüsehändler stehlen sollte. Die Botschaft auf der Schriftrolle war mit dicken, eindringlich wirkenden Buchstaben verfasst, und als er las, spürte er Panik in sich aufsteigen.
Ehrenwerter Haohan Lehmkrall, Anführer der Ackerbauern im Tal der Vier Winde
Mit dieser Botschaft möchte ich Euch einen Gruß senden, Eure Felder segnen und nicht zuletzt eine Warnung aussprechen. Unsere Späher berichten uns von mehreren Yaungolstämmen, die sich zurzeit von der Tonlongsteppe nach Osten bewegen und ihr Verhalten könnte auf eine nahende Bedrohung hindeuten. In den vergangenen Jahrhunderten war dies immer dann der Fall, wenn die Mantis expandierten und ihre Schwärme so groß wurden, dass selbst die mächtigen Behuften die Flucht vor ihnen ergriffen. Unsere Kräfte sind verstreut, Haohan, und wir müssen damit beginnen, Vorräte für einen möglichen Konflikt anzulegen. Wir wissen um die schlechte Ernte in diesem Jahr und ebenso wissen wir um Eure Pflicht, die Bevölkerung des Tals und darüber hinaus zu ernähren. Aber unsere Not ist groß. Bitte gebt diesen hochgeschätzten Wächtern alles mit, was Ihr entbehren könnt. Sie werden dafür Sorge tragen, dass Eure großzügigen Gaben sicher ans Ziel gelangen.
Die Shado-Pan!
Das waren nicht die Worte eines Händlers.
Hochgeschätzte Wächter. Diese Reisenden waren nicht gekommen, um Handel zu treiben. Als Zehn das Zeichen am Ende der Schriftrolle sah, musste er nach Luft schnappen. Es war ein einfacher Kreis mit gekrümmten Streifen an den Seiten, der Kopf eines fauchenden weißen Tigers.
Auf einmal vernahm er einen Tumult an der Brücke. Zehn wirbelte herum und stopfte die Schriftrolle hastig in seine Tunika. Jogu war aus dem Wasser aufgetaucht. Er rief etwas und deutete dabei in seine Richtung. Er deutete auf Zehn!
„Ein Dieb! Meine guten Meister wurden bestohlen! Ein Dieb! Ein Dieb!“
Zunächst wusste keiner, was der hysterische Jinyu da überhaupt meinte. Manche warfen Zehn einen misstrauischen Blick zu und andere lachten Jogu aus, während sie ob seines besoffenen Gefasels mit den Augen rollten. Der große Pandaren aber, mit dem Zehn zusammengestoßen war, fasste in seine Tasche und machte dann eine schnelle Geste zu seinen Kameraden. Sie ließen ihre Umhänge zu Boden fallen, woraufhin Waffen zum Vorschein kamen – Schwerter, Speere und Klingen, die gefährlich im Sonnenlicht glitzerten. Ja, sie hatten tatsächlich etwas verborgen. Zumindest darin hatte Zehn recht gehabt.
Er musste verschwinden.
Während er einen unterdrückten Fluch ausstieß, wandte Zehn sich blitzschnell um und lief quer über den Markt, so schnell er konnte.
Ein ganzer Markt voller Bauern, Fischer und Obstverkäufer und wen bestehle ich? Ausgerechnet einen Haufen schwer bewaffneter Krieger.
Er dachte angestrengt nach, versuchte sich an das Wenige zu erinnern, was er über die Shado-Pan wusste. Für Geschichte hatte er noch nie etwas übrig gehabt. Die Shado-Pan waren eine militärische Elitetruppe, die man so gut wie nie in diesem friedlichen Tal zu Gesicht bekam. Zehn wusste, dass die Shado-Pan die Mauer im Westen bewachten, die das Land der Pandaren vor üblen Kreaturen wie den Mantis schützte. Er hatte Geschichten von anderen Dieben und Taugenichtsen gehört, die gemeinsam mit ihm in den Gassen der Stadt lebten. Es waren Geschichten über die Shado-Pan und ihre Fähigkeit, auf einer Schwertklinge zu balancieren, einen Pfeil aus dem Flug zu fangen und einen Feind so zu treffen, dass ihm sein Herz in der Brust zersprang. Er hatte gehört, dass die Shado-Pan niemandem vergaben, der sie hintergangen hatte, und dass sie es niemals vergaßen, wenn ihnen unrecht getan wurde.
Zehn griff sich im Rennen an die Brust und fühlte, wie sein Herz hämmerte. Bei jedem Schritt hüpfte die Schriftrolle auf und ab, sodass die Enden aus Elfenbein gegen seine flache Brust trommelten. Es war beinahe, als würde sie Zehns Verfolger um Hilfe rufen.
Schon hörte er schwere Schritte hinter sich. Diese Krieger waren verflucht schnell. Er vernahm ein pfeifendes Geräusch und duckte sich, als ein Speer den Pfosten eines der Verkaufsstände vor ihm traf. Der Verkäufer schrie auf und ein voller Suppentopf flog in hohem Bogen durch die Luft. Die heiße Bouillon klatschte einem leicht reizbaren Ho-zen, der am nächsten Stand Kochutensilien verkaufte, mitten ins Gesicht. Blind vor Wut sprang der Affe auf und nieder und schleuderte eine Schöpfkelle nach Zehn, der dem sich drehenden Wurfgeschoss ausweichen konnte, während er verzweifelt nach einem Fluchtweg suchte.
Er sah sein Spiegelbild in einem der Töpfe, die am Stand des Suppenkochs baumelten. Zwei der Shado-Pan kamen von beiden Seiten schnell näher ... und es gab keinen Ausweg.
Also hörte er auf zu suchen. Stattdessen machte er einen Satz und landete mit einem Fuß auf dem Schaft des Shado-Pan-Speers, der in dem Pfosten vor ihm steckte. Er betete, dass der stabile Bambusstab sein Gewicht halten würde. Zehn ging in die Hocke, als der Speer sich zu biegen begann, dann aber wieder nach oben schnellte und ihn über den Stand katapultierte. Die beiden Shado-Pan blieben verdutzt zurück und blickten mit zusammengekniffenen Augen in die grelle Nachmittagssonne.
Dieser Speer war gut gefertigt. Wenigstens lag ich in einem Punkt richtig: Die Reisenden sind wohlhabend.
Er landete und rollte sich auf dem Gras hinter dem Markt ab. Von allen Seiten hallte Geschrei wider. Noch hatte Zehn seine Verfolger nicht abgeschüttelt, denn schon kamen die beiden Shado-Pan um die Marktbuden gerannt. Offensichtlich waren sie von Zehns Akrobatikeinlage nicht sonderlich beeindruckt. Der Dieb wusste, dass er den ebenso stärkeren wie schnelleren Pandaren im offenen Gelände hoffnungslos ausgeliefert wäre. Er musste also versuchen, sie im Dorf abzuschütteln. Zehn stieß einen weiteren Fluch aus und begab sich vom Rand des Marktes in Richtung der Häuser. Über ihm ertönte der Ruf eines Falken.
Das Dorf lag nur den Hügel hinauf und die Shado-Pan hatten ihn fast eingeholt, als er das Gasthaus Zur Faulen Rübe erreichte. Gastwirtin Lei Lan stieß ein erschrecktes Jaulen aus, als Zehn auf einmal durch die Tür stürmte, und ihr dabei das Tablett mit Getränken aus den Händen riss. Zehn kamen beinahe die Tränen, als das gute Sturmbräu durch seine Hast verschüttet wurde, aber er konnte nichts daran ändern. Der erste Shado-Pan hinter ihm rutschte prompt auf dem mit Bier besudelten Boden aus und stürzte über die Gastwirtin, die gerade erst dabei war, wieder auf die Beine zu kommen. Der zweite Verfolger sprang über seinen Kameraden hinweg und rannte Zehn mit einem hörbaren Knurren in Richtung Küche hinterher. Scheinbar hatte dieser Bauerntölpel von einem Taschendieb den Shado-Pan bereits mehr Schwierigkeiten bereitet, als sie es erwartet hätten.
Zehn sprintete in die Küche und erschreckte Gewürzmeister Jin Jao so sehr, dass dieser seine Lieferung unter einem lauten Fluch in die Luft schleuderte. Zehn rannte weiter und schlitterte unter Jin Jaos Beinen hindurch, bevor er die Treppe hochwetzte. Kurz darauf hörte er den Shado-Pan durch die Küche poltern und vernahm die wütenden Proteste des Gewürzmeisters wegen der ruinierten Waren und weil er von diesen „ungehobelten Schurken“ zur Seite gestoßen worden war. Zehn erreichte das obere Ende der Treppe und rannte den Gang hinunter, wobei er jede der Türen zu öffnen versuchte. Hier wohnten die Mitarbeiter des Gasthauses und natürlich hatten sie ihre Zimmer abgeschlossen. Zehn fluchte, weil er wusste, dass ihm nicht genügend Zeit blieb, um die Schlösser zu knacken.
Die letzte Tür war nicht abgeschlossen und der Geruch verriet Zehn, dass dies Den Dens Zuhause sein musste. Den Den war ein Ho-zen und der Schankwirt des Gasthauses. Er war kein schlechter Kerl für einen Vertreter des Affenvolks und bestimmt um einiges angenehmer als sein Schöpfkellen werfender Cousin. Einmal hatte Den Den mit ihm einen Krug mit Sturmbräu gegen einen Granatapfel getauscht – den hatte Zehn natürlich von Gis Karren gestohlen – und er hatte Den Dens Großzügigkeit immer geschätzt. Aber das Zimmer roch unangenehm und ähnelte mehr einer Müllhalde als einem Zuhause. Dreckiges Bettzeug, Säcke mit Saatgut, ein Fass voller Obstschalen und ein ... Ding, das aussah wie eine Ho-zen-Puppe aus verfilztem Haar. Zehn rümpfte die Nase und begann damit, sich durch den Müll zu wühlen, um das Fenster auf der anderen Seite des Zimmers zu erreichen. Als schließlich ein Lichtstrahl zwischen seinen Fingern hindurchfiel, wusste er, dass er es geschafft hatte.
„Weg von der Wand, Dieb!“
Die Stimme klang zornig, aber gefasst. Zehn konnte den auf ihn gerichteten Speer in seinem Rücken beinahe spüren. Langsam drehte er sich mit erhobenen Pfoten um, wobei er versuchte, ein Lächeln aufzusetzen. In der Tür standen zwei Shado-Pan und kurz darauf kam noch ein dritter hinzu, dem Bier aus dem Fell tropfte.
„Guten Tag, meine Herren. Willkommen in Halbhügel. Ich wollte gerade nach Medizin für meine kranke Mutter suchen und ...“
„Sei still, du Wurm!“, brüllte der dritte Krieger wutentbrannt, während er wild mit seinem Schwert herumfuchtelte. Er war offensichtlich ziemlich wütend – zum einen wegen des Biers und zum anderen, weil er auf so höchst unritterliche Weise mit der liebreizenden Gastwirtin zusammengestoßen war.
Einer der anderen Shado-Pan – es war derjenige, der unten auf dem Markt seinen Speer nach Zehn geworfen hatte – legte seinem Kameraden eine Pfote auf die Schulter. Er trug einen roten Schal um den Hals. Die anderen beiden traten zur Seite, um ihn vorbeizulassen. Obgleich er seinen Speer wieder an sich genommen hatte, war Zehn sich im Klaren darüber, dass dieser Krieger keine Waffe benötigte, um zu töten. Er sah es an seinen perfekten Bewegungen, den Narben an den Pfoten und am eindringlichen Blick seiner goldfarbenen Augen.
„Du wandelst auf dünnem Eis, kleiner Dieb. Mein Freund hier glaubt, dass du ein Spion bist, der unsere Botschaft abfangen und unseren Feinden übergeben soll. Ich denke jedoch, dass du nur ein Narr bist und dass dich deine unbedachte Tat in größere Gefahr gebracht hat, als du es eigentlich wolltest.“
Der Shado-Pan trat nach vorn und streckte ihm eine Pfote entgegen.
„Mach schnell. Mein Meister wartet unten. Gib mir die Schriftrolle, die du uns gestohlen hast. Und keine plötzlichen Bewegungen, sonst wird Tao-Long hier dich mit seinem Speer aufspießen. Wenn du sie uns jetzt gibst, dann bringen wird dich zum Rat der Ackerbauern, der dich vermutlich zu Strafarbeit in der Kornkammer verdonnern wird.“ Zehn atmete tief durch. Langsam griff er in seine Tunika und holte die Schriftrolle hervor. Er reichte sie dem Shado-Pan, der ihm stumm zunickte, hielt dann aber inne.
„Gibt es ... keine andere Möglichkeit?“
Der Krieger mit dem roten Schal runzelte die Stirn und sein Gesichtsausdruck wurde kühl.
„Du kannst natürlich auch das Angebot ablehnen, das ich dir gemacht habe, und damit Tao-Longs Verdacht bestätigen. Dann werden wir uns die Rolle einfach nehmen und du wirst dabei dein Leben verlieren. Aber glaub ja nicht, dass wir dich einfach nur töten werden, Dieb, denn wenn die Shado-Pan ein Leben nehmen, geht es in unseren Besitz über. Wir werden dich fesseln, dir die Augen ausstechen, die Füße abschneiden und alle Finger abhacken bis auf zwei, damit du noch essen kannst. Dann werden wir dich zu unserem Kloster auf dem Kun-Lai-Gipfel mitnehmen, wo du auf einem eisbedeckten Vorsprung auf unsere Wahrheitsfinder warten wirst.“
An dieser Stelle grinste der biertriefende Shado-Pan namens Tao-Long und machte eine leichte Bewegung mit seinem Schwert. Es war offensichtlich, welche der beiden Möglichkeiten er bevorzugte.
„Die Wahrheitsfinder der Shado-Pan werden dir zeigen, dass das Ausstechen deiner Augen nur das erste und gütigste unserer Geschenke war. Sie werden herausfinden, wie du vom Sha korrumpiert wurdest, was du über es weißt und ob wir dich in den Abgrund stoßen und dem Wind die Entscheidung über dein Schicksal überlassen sollen.“
Während der Shado-Pan gesprochen hatte, waren Zehns Augen immer größer geworden und er hatte die Schriftrolle vor sein Gesicht gehoben, als wollte er seine Angst verbergen.
„Das ... das will ich auch nicht.“
Der Pandaren im roten Schal lächelte ernst und streckte ein weiteres Mal seine Pfote aus.
„Aber es gibt noch eine dritte Möglichkeit.“
Und dann blies Zehn durch die Schriftrolle. Wie eine rote Wolke hüllte das Glühmagenpfefferpulver, das er Jin Jao gestohlen hatte, die Gesichter der in der Tür stehenden Pandaren ein und im nächsten Augenblick erfüllten überraschte und schmerzerfüllte Schreie den kleinen Raum. Es gab ein dumpfes Geräusch, dann einen Schlag und mit einem Mal schien das Sonnenlicht durchs Fenster. Zehn war verschwunden.
Die Shado-Pan gerieten nicht in Panik. Schon nach wenigen Sekunden, in denen sie lauthals fluchten und sich durch die beißende Pulverwolke kämpften, versammelten sie sich schnell vor dem Zimmer im Gang. Der Shado-Pan mit dem roten Schal hatte den Großteil des Pulvers abbekommen und er verbarg seine geschwollenen Augen hinter zornig zusammengekniffenen Lidern. Er bat Tao-Long darum, ihn zu dem zerbrochenen Fenster zu führen und zu beschreiben, was er sah.
Tao-Long, der sich wegen seines zornigen Auftritts von vorhin schämte, führte seinen Kameraden ans Fenster. Mit blinzelnden tränenfeuchten Augen beschrieb er die beschädigten Bambusstangen entlang der Dachleiste unterhalb der Öffnung. Er beschrieb die gebogenen Äste des Taolunbaums neben dem Haus, einige niedergedrückte Büsche am Boden und dann ... einen Fluss, der sich gemächlich durchs Dorf und in die Feuchtgebiete jenseits davon schlängelte. Es gab zahllose Orte, an denen man sich verstecken konnte. Der Dieb war ihnen entwischt.
„Vorerst“, brummte der Shado-Pan mit dem roten Schal. „Er ist nur so lange verschwunden, bis wir ihn gefunden haben. Und dann wird dieser arrogante Dieb die
Grenzen unserer Gnade erfahren.“
Er trat zurück und wandte sich an seine Kameraden.
„Unser Ziel ist in das Flachland hinter diesem jämmerlichen Hügel von einem Berg geflohen. Ein Agent des Sha hat sich unserem Griff entzogen, Brüder. Wer sind wir?“
„Wir sind das Schwert in den Schatten.“
„Und werden wir ruhen?“
„Wir werden nicht wanken!“
Sie sprachen das Mantra leise und mit kalter Inbrunst, die keinen Zweifel daran ließ, dass sie Ihre Bestimmung erfüllen würden. Dann, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, eilten die Shado-Pan die Treppe hinunter, verließen das Gasthaus und verschwanden im Marktgewimmel.
Vom Dach oberhalb des Fensters aus beobachtete Zehn, wie die Shado-Pan verschwanden. Er lehnte sich gegen das Reetdach und zitterte. Sie hatten sich von der Spur des Fasses täuschen lassen, das er durch das Fenster gestoßen hatte. Sie waren nicht auf den Gedanken gekommen, oberhalb des Fensters nachzusehen. Warum auch? Welcher Narr würde sich selbst auf einem Dach in die Falle begeben, wenn er stattdessen in jede denkbare Richtung entkommen konnte?
Ein Narr, der zu klein war, um weit weg zu laufen.
Er war ihnen zwar fürs Erste entwischt, aber nun würde er von diesen Kriegern unerbittlich gejagt werden und sie würden niemals Ruhe geben. Die Überzeugung in ihren Worten hatte ihm Angst eingejagt. Die Intensität. Noch nie hatte Zehn Worte von solcher Bestimmtheit vernommen. Doch hinter seiner Furcht verbarg sich noch etwas anderes.
Bewunderung?
Im Himmel über ihm erklang der Schrei eines weiteren Falken. Zehn schüttelte den Kopf und antwortete mit flüsternder Stimme:
„Du kannst dich glücklich schätzen, mein Freund. Du bist ein Jäger. Du kannst wählen, welchen Weg du einschlägst und du weißt, dass du ihn bis zum Ende gehst ...“
Er ließ den Satz offen, erfüllt von Sehnsucht. Diese Form des Lebens würde einem Dieb wie ihm auf immer verwehrt bleiben.
„Sie heißt Weißfeder", erklang eine tiefe, seltsam vertraute Stimme. „Und es ist in der Tat angenehmer, der Jäger zu sein als die Beute, kleiner Dieb. Aber nur ein Jäger, der weiß, was es heißt, Beute zu sein, wird am Ende Erfolg haben.“
Zehn wirbelte herum, wobei er fast sein Gleichgewicht verlor. Es war der einäugige Händler – nein, der einäugige Shado-Pan. Er saß auf der Spitze des Daches oberhalb von ihm, den langen Speer über die Knie gelegt. Der Falke rief erneut. Dann glitt er hinunter und ließ sich auf der Schulter des großen Pandaren nieder. Zehn versuchte etwas zu sagen, aber ihm stockte der Atem. Dieser Speer ... Er war groß genug, um ihn in zwei Hälften zu teilen, geführt von einem grauhaarigen Krieger, der sich auf dem Dach des Gasthauses mit der Schnelligkeit und Gewandtheit des Abendwindes bewegte. Hatte der Shado-Pan mit dem roten Schal nicht von einem Meister gesprochen?
Ich werde sterben.
Der Shado-Pan-Meister runzelte die Stirn.
„Du hast etwas, das mir gehört. Ich hätte es gerne zurück.“
Den Mund weit geöffnet, fummelte Zehn unter seiner Tunika herum und zog die Schriftrolle hervor. Er schüttelte sie leicht, damit der Rest des Pulvers hinausfiel, und tatsächlich löste sich eine kleine Prise des roten Staubs, die sofort vom Wind erfasst und ihm direkt ins Gesicht geweht wurde. Er stieß ein mitleiderregendes, kurzes Jaulen aus und begann zu husten, während ihm die Tränen in die Augen schossen.
Der Fremde beugte sich nach vorn, nahm die Schriftrolle an sich und verstaute sie wieder unter seiner weiten Robe.
„Wie heißt du, kleiner Dieb?“
Zehn blinzelte, bis er wieder etwas sehen konnte, und musste dann erneut husten.
„Mein Name ist Zehn, Herr.“
„Zehn, wie die Zahl Zehn?“
„Ja, Herr. Meinem Vater waren nach dem fünften Sohn keine interessanten Namen mehr eingefallen.“
„Nun, Zehn. Die Strafe für das Bestehlen eines Boten der Shado-Pan hat dir mein Stellvertreter ja schon in allen Einzelheiten geschildert. Aber er hat dir auch eine gnadenvolle Alternative angeboten, die du ihm im wahrsten Sinne des Wortes ins Gesicht geblasen hast.“
Zehn war sich nicht sicher, ob seine Augen ihn täuschten, aber er meinte, im Mundwinkel des Shado-Pan-Meisters die Andeutung eines Lächelns zu sehen.
„Ich bin nicht so weichherzig wie Feng, was vermutlich daran liegt, dass ich so viele Jahre auf der Mauer verbracht habe. Ich habe gegen das Sha gekämpft, war ständig in seiner Nähe ... Da stumpft man ein wenig ab, was andere Aspekte des Lebens angeht, selbst wenn es sich dabei um die Dinge dreht, für deren Erhalt man kämpft.“
Zehn wusste nicht genau, wovon dieser große Krieger mit dem Speer da sprach – was er mit Sha meinte – aber er hielt es für das Beste, einfach stumm sitzen zu bleiben und mit dem Kopf zu nicken. Er spürte, dass sein Leben in diesem Augenblick auf des Messers Schneide stand.
Der Shado-Pan-Meister blickte mit seinem einen Auge auf Zehn hinunter und schien zu überlegen. Zehn verließ jeglicher Mut unter dem starren Blick. Er sah flüchtig auf den Speer. Es war ein schwerer Speer mit einer breiten Spitze, den der Shado-Pan mühelos führte. Zehn durchlief ein Schaudern, als der Krieger den Speer noch fester packte. Er schloss die Augen und senkte den Kopf.
„Ich schlage dir eine dritte Möglichkeit vor, Zehn von der Pfefferrolle. Und eine vierte.“
Zehn blickte auf. Er war nicht sicher, was der Shado-Pan vorhatte. Er war aufgestanden und berührte Zehns Brust mit einem Finger.
„Ich kann dich entweder auf der Stelle töten, als gnadenvolle Alternative zu der Strafe, die der getreue Feng dir beschrieben hat. Es wäre kurz und schmerzlos. Meine Klinge würde deinen Hals durchtrennen, noch bevor du mit den Augen zwinkern kannst.“
Und auf einmal, so schnell wie ein Gedanke, spürte Zehn kaltes, silbernes Metall unter seinem Kinn. Einen Augenblick später folgte ein leiser Windhauch der Bewegung des Speers. Zehn zitterte und als er durch diese Bewegung versehentlich die Speerspitze berührte, spürte er einen leichten Schmerz und ein Blutstropfen rann die Klinge herab. Der Shado-Pan fuhr fort.
„Die andere Möglichkeit, die grausamere, würde bedeuten, dass du dich der Prüfung der Roten Blüten unterziehst.“
Zehn hob fragend die Augenbrauen und mit einem Seufzen senkte der Shado-Pan seinen Speer.
„Lass dich von dem Namen nicht in die Irre leiten. Alle sieben Jahreszeiten wachsen an den heiligen Bäumen unseres Klosters feuerrote Blüten. Das ist das Zeichen für uns, dass wir mit den Prüfungen beginnen sollen. Wer sich unserem Orden anschließen will, der muss diesen ebenso schmerzvollen wie harten Test bestehen. Die meisten, die sich ihm unterziehen, sterben dabei. Doch wer ein Shado-Pan werden will, der muss alle Qualen überstehen, die der Test bereithält.“
Mit einer schnellen Bewegung zog der Krieger den Speer zurück und verbarg ihn hinter seinem Umhang.
„Aber“, fuhr er fort, während er seinen Blick über das Tal schweifen ließ, „wenn du die Prüfungen bestehst und ein Akolyth der Shado-Pan wirst, wird die Strafe für deinen Diebstahl verfallen.“
Zehn konnte nicht glauben, was er da gerade hörte. Ich ein Shado-Pan? Er war ein Niemand. Ein Dieb. Ein Wurm. Der zehnte Sohn eines verstorbenen Bauern. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
„Aber wie kommt Ihr darauf, dass ich so werden könnte wie Feng? Wie ... wie Ihr?“
Der Krieger blickte ihn schweigend an.
„Du bist schnell, Zehn. Schnell auf den Beinen, mit deinen Pfoten und im Kopf. Ein Shado-Pan muss zwar stark sein, aber das lässt sich antrainieren. Unser Feind ist schnell und wir brauchen Krieger, die das Sha in seiner Erbarmungslosigkeit in nichts nachstehen, aber genauso brauchen wir Krieger, die seinen Angriffen ausweichen, ihm Pfeffer ins Gesicht pusten und es in die Irre führen können.“
Zehn nickte. Ihm fehlten die Worte. In der Brust des jungen Diebes regte sich ein kleiner Funken Hoffnung.
Könnte ...?
Der große Pandaren griff in seinen Gürtel und zog einen Ring hervor. Er sah einfach aus, war kunstvoll aus Elfenbein gefertigt und erinnerte Zehn an die beiden Endstücke der Schriftrolle. Das Tigersymbol des Ordens aus Silber war in die Oberseite des Ringes eingelassen und glitzerte wie Eis.
„Wie ich sehe, hast du deine Entscheidung bereits getroffen. Nimm diesen Ring. In drei Monaten wirst du dich damit am Eingangstor des Shado-Pan-Klosters zeigen. Der Ring wurde aus dem Zahn eines Tigers gefertigt. Mit ihm hast du freies Geleit durch unser Tor. Um das Kloster zu erreichen, musst du all dein Geschick aufbringen. Der Kun-Lai-Gipfel hat seine Tücken, besonders in der kalten Jahreszeit.
Du wirst allein kommen und weder Waffen noch Rüstung tragen, denn sie werden dir keine Hilfe sein.“ Prüfend griff er nach Zehns schäbiger Tunika und runzelte die Stirn. „Aber du solltest dir etwas Wärmeres zum Anziehen besorgen.“
Zehn nickte stumm und der Shado-Pan ließ die Tunika wieder los. Dann fuhr er mit harter Stimme fort.
„Wenn die Prüfungen beginnen und du bist nicht erschienen, werde ich davon ausgehen, dass du mein Angebot ausgeschlagen hast. In diesem Fall werden die Shado-Pan dich töten. Und ich versichere dir, dass Feng bei der Beschreibung unserer Methoden untertrieben hat. Hast du alles verstanden, was ich dir gesagt habe, Zehn?“
Zehn war sich zwar nicht ganz sicher, aber er konnte kaum mehr nicken. Seine Muskeln fühlten sich vor Kälte taub und starr an. Der Krieger wertete sein Schweigen als Zustimmung.
„Ich bin Nurong, Meister der Wukao. Wir sehen uns in drei Monaten, kleiner Dieb.“
Meister Nurong flüsterte Weißfeder etwas zu und ließ den Vogel dann wieder in den Abendhimmel aufsteigen. Zehn wandte sich um und blickte dem Falken nach, wie er über das Sumpfland nach Nordosten hinter den anderen Kriegern herflog. Dann hatte er endlich seine Stimme wiedergefunden.
„Drei Monate. Wie soll ich denn in drei Monaten den höchsten Berg der Welt besteigen – geschweige denn erklimmen?“
Zehn erhielt keine Antwort. Er blickte über die Schulter zurück und stellte fest, dass er allein auf dem Dach war. Der Shado-Pan war fort.
Ein weiterer Gongschlag hallte durch den Innenhof. Zehn versuchte auf den schwankenden Planken der Brücke nicht das Gleichgewicht zu verlieren und den anderen Bewerbern gegenüber so imposant wie möglich auszusehen. Es klappte nicht.
Er war natürlich der Kleinste unter dem Dutzend hoffnungsvoller junger Anwärter, die sich unter den roten Blüten versammelt hatten, deren kräftige Farbe sich leuchtend vom Weiß des Schnees abhob. Selbst der bescheidene Wu aus Binan, der mindestens drei Jahre jünger war als er, überragte ihn um anderthalb Köpfe und trug einen Brustpanzer wie ein echter Krieger. Zehn blickte zu Wu hinauf, der seinen Blick kurz erwiderte. Keiner der Anwärter war glücklich, gegen einen schäbigen Wurm wie Zehn antreten zu müssen, als wäre schon seine reine Anwesenheit bei den Prüfungen eine Beleidigung.
Zehn warf einen mürrischen Blick auf seine Füße. Allein der Weg hierher war bereits eine Prüfung gewesen und er bezweifelte, ob irgendeiner dieser übergroßen Dreikäsehochs die Reise, die er unternommen hatte, auch nur im Ansatz überlebt hätte. Er war den Pfad der hundert Schritte gegangen, in der Uralten Passage an hungrigen Saurok vorbeigeschlichen und schließlich den mörderisch steilen Weg den Kun-Lai hochgestiegen. Schon die kleinste Windbö konnte einen von diesem schmalen Steig pusten, sodass man auf die Felsen viele Meilen tiefer stürzte – wenn man vorher nicht bereits erfroren war.
Sein Umhang flatterte im Wind und er zog ihn enger um die Schultern. Im Tal der Vier Winde brachte ein kalter Tag meist etwas Regen und eisige Winde mit sich, die einen davon abhielten, auf die Felder hinaus zu gehen. Hier dagegen, konnte die Kälte den Tod bedeuten. Zehn hatte versucht, Meister Nurongs Rat zu befolgen. Er hatte seine schäbige Decke zusammen mit ein paar Münzen gegen einen dicken Reiseumhang getauscht. Das erbärmlich zusammengeflickte Stück hatte ihm das Leben gerettet, ihm Schutz und Wärme geboten und sogar als Tarnung gedient, als ihm in den dunklen Schluchten der Berge riesenhafte Yetis begegnet waren. Bevor er Halbhügel verließ, hatte Den Den ihm seinen Hut mit der breiten Krempe, der nach fauligem Obst roch, zum Dank dafür geschenkt, dass er den Zustand seines Zimmers – und die Haarpuppe – niemandem gegenüber erwähnt hatte. Der Hut schützte ihn vor Regen und Schnee, diente ihm als Teller und ließ ihn laut Chan dem Schweren wie einen runzeligen Pilz aussehen.
Chan der Schwere war der Anwärter aus der Handelsstadt Einfass. Er war der Sohn eines wohlhabenden Alchemisten, eitel wie ein Pfau und zehnmal so groß wie Zehn. Er war mit einer ganzen Armee Grummeldiener angerückt, von denen jedoch keiner das Kloster betreten durfte. Zehn erinnerte sich, wie er auf dem Weg zum Gipfel an der kleinen Ansammlung von Seidenzelten vorbeigekommen war. Der Duft von brutzelndem Fleisch hatte ihm dabei das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen.
Wäre ich nicht so erschöpft gewesen und hätte ich keine Erfrierungen gehabt, hätte ich das Lager wohl um das überzählige Essen erleichtert. Chan braucht es jedenfalls nicht.
Auf einmal verstummten die Anwärter und als Zehn sich umdrehte, sah er, dass die Meister erschienen waren. Sie standen gegenüber der Brücke, wo der Meditationshain bis zum Ufer des zugefrorenen Sees hinabreichte. Reglos wie Statuen betrachteten die drei Meister das Dutzend hoffnungsvoller Initianden. Die Morgensonne schien hell auf den Nebel, der über dem Kloster lag, sodass Zehn nicht erkennen konnte, ob Meister Nurong unter den dreien war. Er wollte sichergehen, dass seine Anwesenheit bemerkt wurde und niemand ihm mehr nach dem Leben trachtete. Er hatte das Kloster am letzten Tag der dreimonatigen Frist erreicht. Vollkommen erschöpft hatte er das Tor passiert und war an dem Torwächter der Shado-Pan vorbeigelaufen, der Zehn stumm zugenickt hatte, als dieser ihm im Vorbeilaufen seinen Ring hinhielt.
Über ihnen erschallte der Ruf eines Falken und Zehn blickte mit zusammengekniffenen Augen nach oben.
„Macht schon“, murmelte Wu leise. „Noch roter werden die Blüten nicht.“ Zehn deutete Wus mürrischen Kommentar als Zeichen der Nervosität. Auch den anderen Bewerbern war das Unbehagen deutlich anzumerken: Sie traten von einem Fuß auf den anderen, kneteten Ihre Pfoten oder bissen sich auf die Lippen. Sogar Chan der Schwere drehte gedankenverloren den goldenen Armreif, den er um das Handgelenk trug, ein ziemlich protzig anmutendes Schmuckstück, das bei Pandaren von normaler Größe auch als Halsreif durchgegangen wäre.
Hübsches Ding.
Einer der Meister trat vor und Zehn runzelte die Stirn. Es war nicht Meister Nurong, sondern eine finster dreinblickende Pandaren, die ihr graues Haar hinter den Ohren zusammengebunden hatte. Die Shado-Pan-Meisterin hob eine Pfote und ergriff das Wort und ihre Stimme wurde über das zugefrorene Wasser getragen.
„Initianden, ich heiße Euch zur Prüfung der Roten Blüten willkommen. Ihr seid aus dem ganzen Land zu uns gekommen und jeder von Euch wurde von unseren Agenten als würdiger Kandidat erachtet. So will es der Brauch seit unzähligen Jahren und so wird es immer sein.
„Ich bin Meisterin Yalia Weisenwisper von der Disziplin Omnia, den Shado-Pan, die in unserem Orden für die Bewahrung von Weisheit, Wissen und heiligen Traditionen verantwortlich sind. Es ist mir eine Ehre, Euch hier bei uns willkommen zu heißen und ich bewundere Euren Mut, dass Ihr tatsächlich am verabredeten Tag hier erschienen seid. Die Prüfung der Roten Blüten besteht aus drei einzelnen Prüfungen: der Prüfung der Entschlossenheit, der Prüfung der Stärke und der Prüfung des Geistes. Jede dieser Prüfungen wird für all jene unter Euch, die sich als ungeeignet erweisen, unter dem Banner der Shado-Pan zu dienen, einen tödlichen Ausgang nehmen.“
Die letzten Worte wurden von einer kühlen Brise begleitet, die zu einer Böe anschwoll, einem kalten Wind, der von den umgebenden Bergspitzen wie eine Raubkatze ins Tal schoss und durch das Kloster fegte. Rote Blätter wirbelten wie Blutstropfen durch die Luft und die Brücke begann zu schwanken. Zehn umfasste die Balustradenkette fester. Wu bemerkte seine Panik und kicherte, während Meisterin Weisenwisper fortfuhr.
„Dies ist Eure letzte Chance, den Pfad zu verlassen, der Euch hierher geführt hat. Wenn Ihr Zweifel an Eurer Teilnahme an den Prüfungen hegt oder wenn Ihr Bedenken habt, so tretet jetzt von der Brücke der Initiation und kehrt nach Hause zurück. Wer diese Entscheidung trifft, wird seine Ehre nicht verlieren, aber er wird niemals wieder einen Fuß hinter diese Mauern setzen dürfen.“
Für einen Moment wurde es still. Dann war ein Räuspern zu hören. Man hörte ein paar leise Entschuldigungen und schlurfende Schritte, als einer, nein, zwei Pandaren die Brücke verließen. Es waren der groß gewachsene Holzfäller von den Südlichen Inseln und eine klug aussehende Pandaren aus Steinpflug. Beide hatten ihren Kopf gesenkt, als sie gingen. Zehn wünschte, er hätte die Freiheit, Ihnen zu folgen.
Nein. Nein, eigentlich wünsche ich mir das gar nicht.
Er war überrascht von dem Gedanken, der ihm auf einmal in den Sinn kam. War er denn glücklich, hier in der beißenden Kälte zu stehen und über einem halb zugefrorenen See herumzuschaukeln?
Nun, vielleicht bin ich nicht glücklich, aber ... aber wenigstens habe ich das Gefühl, etwas tun zu können. Jemand zu sein. Natürlich, die Jahreszeiten sind unabänderlich, aber ich werde einen glücklichen Wind nicht einfach vorbeiziehen lassen.
Die kalte Brise kroch unter seinen Umhang und Zehn begann zu zittern.
Mehr oder weniger.
Meisterin Weisenwisper wartete, bis die beiden Pandaren von den Wachen im Hof fortgebracht worden waren, und fuhr dann mit ihrer Ansprache fort.
„Hiermit beginnt die Prüfung der Roten Blüten. Es sind Shado-Pan unter Euch, Initianden. Wenigstens hoffen wir das. In den vergangenen Jahrhunderten ist unsere Zahl immer kleiner geworden, während unsere Feinde an Stärke gewonnen haben. Der Tempel des Weißen Tigers prophezeit das Erscheinen unheilvoller Vorzeichen, sowie sich die Nebel um Pandaria lichten. In den letzten Monaten wurden neue schreckliche Bedrohungen an unsere Ufer gespült und unsere heiligsten Stätten wurden eingenommen, korrumpiert oder zerstört. Die Weisen singen, dass uns dunkle Tage bevorstehen.“
Zehn wundert sich, was Meisterin Weisenwisper mit den Worten „neue schreckliche Bedrohungen“ meinte. Anscheinend war etwas von Bedeutung … und Beängstigendes geschehen, seitdem er das Tal der Vier Winde verlassen hatte. Er erinnerte sich daran, halb geflüsterte Gespräche auf dem Weg hierher belauscht zu haben, Gerüchte von seltsamen Bestien und Besuchern aus fernen Ländern. Er war allerdings auf seiner Reise in Richtung Norden so auf sein Überleben bedacht gewesen, dass er diese Unterhaltungen als albernes Geschwätz nervöser Reisender abgetan hatte. Jetzt wünschte sich Zehn, er hätte besser hingehört.
Meisterin Weisenwisper macht einen Schritt nach vorne und erhebt ihre geballte Pfote.
„Doch wir sind keine untrainierte Armee aus eilig rekrutierten Bauern, die das Kämpfen nicht gelernt haben. Wir sind die Shado-Pan. Unsere Zahl war schon immer geringer als die unserer Feinde, doch jede Shado-Pan-Klinge ist so viel wert wie ein Dutzend gewöhnlicher Soldaten. Darum konnten wir die Mantis in die Schranken weisen. Darum konnten wir die Yaungol zurückschlagen. Darum konnten wir uns das Sha vom Leibe halten. Und so wird es immer sein.“
Sie deutete über den See hinüber zur anderen Seite des Klosters, wo zwei ShadoPan-Akolythen mit weißen Schals ein Kohlenbecken in Tigerform aufstellten.
„Der feurige Tiger wird Eure Entschlossenheit auf die Probe stellen. In seinem Inneren, unter den Kohlen, liegen sechs Silbermünzen mit dem Symbol unseres Ordens verborgen. Ihr werdet in das Maul des Tigers greifen, eine der glühend heißen Münzen hervorholen und sie mir im Hain übergeben.“
Die zehn verbliebenen Bewerber warfen sich aufgeregte Blicke zu. Das schlanke Mädchen aus Krasarang versuchte, sich auf der Brücke nach vorne zu drängeln und sich einen Vorsprung zu verschaffen. Aber nur wenige Augenblicke später fand sie sich in einem Gewirr von Armen wieder, da einige der anderen nun ihrerseits versuchten, an ihr vorbei als Erste zum Ufer zu gelangen. Die Brücke begann wild zu schaukeln und Zehn umfasste die Kette noch fester.
Ein Wettlauf soll unsere Entschlossenheit zeigen? Sie muss uns etwas verschwiegen haben.
Meister Weisenwisper wandte sich zum Gehen, während die beiden anderen Meister bereits auf dem Rückweg zum Hain waren. Über ihre Schulter rief sie: „Es gibt nur sechs Münzen, aber ihr seid zu zehnt. Ihr solltet besser schnell schwimmen.“
Schwimmen?
Mit einem Rasseln löste sich die Kette, die eine Seite der Brücke hielt, aus der Verankerung, die Brücke kippte und die Bewerber fielen hinab auf den zugefrorenen See, durchbrachen die Eisdecke und klatschten ins Wasser. Einen Augenblick später tauchten sie planschend und schreiend wieder auf. Einer der Pandaren schrie um Hilfe, weil er nicht schwimmen konnte. Ein paar Sekunden lang herrschte völliges Chaos, da einige der Prüflinge sich vor lauter Panik an den anderen festhielten, die wiederum um sich schlugen und lauthals fluchten, um nicht in die eisige Tiefe gezogen zu werden. Diejenigen, die aufwendige Rüstungen trugen, kamen gar nicht erst wieder an die Oberfläche. Die Schnellsten unter ihnen konnten sich ihrer schweren Ausrüstung entledigen und schwammen mit schnellen Zügen zur anderen Seite des Sees. Ihnen war klar, dass sie mit jeder Sekunde, die sie länger in dem eiskalten Wasser verbrachten, dem Tod bedrohlich nahekamen.
Zehn baumelte an der verbliebenen Kette über ihren Köpfen. Weil er sich festgehalten hatte, war er nicht mit den anderen Initianden ins Wasser geworfen worden. Aber jetzt blieb er zurück. Er zog sich hoch, um sich auf die Kette zu setzen und überlegte, ob er auf ihr bis zur Verankerung entlangkriechen und dann einfach um den See herum zum Kohlenbecken laufen konnte.
So leicht werden sie es mir bestimmt nicht machen.
Seine Befürchtungen sollten sich schon bald bewahrheiten, als ein weiterer Akolyth mit weißem Schal zu der zweiten Verankerung hinüberging und damit begann, die Kette zu lösen. Scheinbar musste man Bekanntschaft mit dem Wasser machen, um ein Shado-Pan zu werden, aber ihm war eines klar: Wenn ihn das Wasser nicht umbringen würde, würde es der eisige Wind tun, der durch seinen nassen Umhang wehte, selbst wenn er diese dumme Prüfung überstand. Er hatte weder die Größe noch die Hilfsmittel der anderen Initianden. Er musste einfach trocken bleiben.
Er setzte eine Hand vor die andere und hangelte sich zu der Stelle, an der die Kette am tiefsten hing. Dort angekommen ließ er sich nach unten auf die Planken hinunter. Die Brücke war so gebaut, dass sie auf einer Seite heruntergeklappt und nach den Prüfungen problemlos wieder eingehängt werden konnte. Nicht dumm, dachte Zehn. So müssen sie nicht alle sieben Jahreszeiten eine neue Brücke bauen.
Zu seinem Glück – oder Unglück – fiel die siebte Jahreszeit mitten in den Winter, weswegen das Eis auf großen Teilen des Sees ziemlich dick sein musste. Vielleicht dick genug, um darauf zu laufen. Der Akolyth hatte die Kette fast gelöst und Zehn spürte bereits, wie ihre Spannung nachließ. Da bemerkte er einen Streifen dicken Eises direkt unterhalb der Stelle, an der er hing. Er begann mit den Beinen zu treten, um die Brücke hin- und herzuschaukeln und genug Schwung zu erhalten, sodass er ...
In diesem Moment löste sich die zweite Kette und Zehn ließ sie los, als er den höchsten Punkt seines Schwungs erreichte. Mit ausgebreiteten Armen flog er durch die Luft und landete schließlich mit einem dumpfen Geräusch auf dem Eis. Einen kurzen Augenblick lang stand er nur da und lauschte nach dem leisesten Knacken. Nichts.
Er hielt nach weiteren Stellen mit dickem Eis Ausschau und entdeckte in unmittelbarer Nähe eine größere Eisscholle im Wasser. Zehn machte einen Satz, landete auf der Eisplatte und rutschte beinahe ins Wasser. Durch seinen Schwung glitt das Eis etwas näher an sein Ziel heran, aber Zehn musste wild mit den Armen rudern, um die Balance zu halten. Überall auf dem See schwammen Eisschollen, aber solange er nur so langsam vorankam und die Eisscholle derartig wackelte, würde er verlieren, früher oder später baden gehen und schließlich in einem einsamen Grab in den Bergen enden. Er wusste, was er zu tun hatte.
Er sprang von seiner Eisscholle ab und landete auf der nächsten, die ein wenig kleiner war. Aber statt anzuhalten, um die Balance zurückzugewinnen, nutze er seinen Schwung aus und sprang in Richtung der nächsten Scholle und so weiter. Wie ein springender Stein hüpfte er quer über den See, hatte schon nach kurzer Zeit die Schwimmer überholt und näherte sich dem anderen Ufer.
Am felsigen Ufer des Sees ragten sechs mit Eis überzogene Ketten aus dem Wasser. Sie reichten etwa sechs Schritt senkrecht nach oben zu dem Felsvorsprung, auf dem das Kohlenbecken stand. Es würde für alle schwierig werden, sich an den Ketten nach oben zu ziehen, besonders für die nach dem Schwimmen durchnässten Pandaren, deren Pfoten von der Kälte taub waren. Eine wahre Prüfung der Entschlossenheit.
Zu Zehns Unglück wurden die Eisschollen vor ihm immer kleiner und lagen immer weiter auseinander. Seine Füße waren durch die vielen Wasserspritzer bereits durchnässt und er konnte seine Zehen nicht mehr spüren. Zu allem Überfluss waren im unmittelbaren Umkreis um die Ketten weit und breit keine Eisschollen zu sehen. Noch zwei Sprünge und er würde im See landen, daran führte kein Weg vorbei.
Nicht vorbei, sondern wie neulich auf dem Markt – drüber hinweg!
Er griff im Sprung nach oben und löste behände den Kinnriemen seines Hutes. Als er von der letzten Eisscholle abgesprungen war, zog er den Hut vom Kopf, beugte sich nach vorn und warf ihn über das eiskalte Wasser unter ihm. Der Hut traf auf die Wasseroberfläche auf, unmittelbar bevor Zehns Fuß darauf landete. Sein Schwung ließ ihn mit einem Bein auf dem Hut übers Wasser gleiten. Der Hut war groß genug, um ihn ein paar Sekunden lang über Wasser zu halten und dann sprang er erneut – diesmal auf die Kette, die vor ihm aus dem Wasser ragte.
Einer der Vorteile, ein verschrumpelter Pilz zu sein.
Zehn kletterte, so schnell er konnte, die Kette hoch. Der kleine Pandaren war von seinem Sprint über den See wie elektrisiert und hatte kaum Gewicht zu tragen. Er krabbelte über den Rand des Vorsprungs und näherte sich dem glühend heißen Ziel.
Das Kohlenbecken war geschickt konstruiert. Es befand sich im Inneren der Statue eines fauchenden Tigers, an deren Außenseite sich quer verlaufende Eisenstangen vor der gelb-orangefarbenen Glut wie schwarze Tigerstreifen abhoben. Zehn biss die Zähne zusammen, steckte seine Pfote in das Maul der Statue und zog unter hörbarem Zischen eine der weiß glühenden Münzen heraus. Als Dieb beherrschte er die Kunst, Münzen blitzschnell an sich zu nehmen, und so kostete es ihn nicht mehr als eine verbrannte Pfote, etwas versengtes Fell und verbrühte Fingerspitzen, während er das glühende Stück Metall jonglierend zu einem Flecken Schnee brachte. Mit einem erleichterten Seufzer tauchte er seine Pfote in das harsche Weiß.
Das ist das erste Mal, dass ich froh bin, Schnee zu sehen.
Er wandte sich um, als auf einmal eine der Ketten hinter ihm rasselte. Der nächste Initiand war angekommen. Das Mädchen aus Krasarang zog sich nach oben und brach unter heftigem Zittern vor dem Kohlenbecken zusammen. Verwirrt blickte sie Zehn an und rollte sich dann bibbernd zusammen.
„S-s-so k-k-kalt!“, brachte sie mit kratzender, leiser Stimme hervor.
Zehn blickte an ihr vorbei. Das Rasseln dreier weiterer Ketten kündigte die nächsten Ankömmlinge an. Es wurde Zeit zu gehen. Am schnellsten wäre er, wenn er einfach über den See schwimmen würde, aber schon beim Gedanken daran durchlief ihn ein Zittern. Sein Hut war fort, seine Zehen steif gefroren und er hatte die Eisgeister für heute bereits genug an der Nase herumgeführt. Er ging um den See herum.
Zehn erreichte den Hain ohne weiteren Zwischenfall, in dessen Mitte Meisterin Weisenwisper seelenruhig in einem Pavillon wartete. Wenn sie überrascht war, den kleinen Initianden als Ersten zu sehen – noch dazu trocken – ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Stattdessen streckte Meisterin Weisenwisper ihm einfach nur ihre Pfote entgegen und nickte ihm zu, als Zehn die Münze hineinfallen ließ. Dann bedeutete sie dem Initianden schweigend, auf einer Seite des Pavillons zu warten.
Der nächste Ankömmling war nicht das Krasarang-Mädchen, sondern ein kräftiger, langhaariger Junge, der Zehn zuvor noch nicht aufgefallen war. Der Junge war triefend nass und sein rechter Arm dampfte noch von seiner Begegnung mit dem Maul des Tigers. Zehn vermutete, dass er einige Zeit gebraucht hatte, um seine Münze zu finden. Das Fell an seinem Handgelenk war teilweise verbrannt und an seinen Pfoten bemerkte er einige sicherlich schmerzhafte Verbrennungen. Wie auch immer, der Junge hatte es geschafft und nahm wortlos seinen Platz neben Zehn ein. Der kleine Dieb fand, dass der Junge einen durch und durch entschlossenen Eindruck machte. So gingen wahre Krieger mit Schmerzen um. Zehn bewunderte ihn.
Er hat die Prüfung bestanden. Ich bin ihr bloß ausgewichen.
Zehns bisheriges Siegesgefühl war inzwischen verflogen. Er war eben doch nur ein Dieb.
Das Mädchen aus Krasarang kam als Nächstes und ihre Zähne klapperten vor Kälte. Zehn konnte nur erahnen, wie fremd und schmerzvoll das eiskalte Wasser für jemanden sein musste, der eigentlich an die feucht-warmen Dschungel des Südens gewöhnt war. Wenigstens sah ihr Arm besser aus als der des Jungen. Man brauchte wohl schnelle Pfoten, um ihm Dschungel zu überleben.
Auf einmal ertönten nacheinander ein tiefes Knurren und ein lautes Niesen. Dann kam Chan der Schwere angestampft. Der große Pandaren war mehr als durchnässt. Er hatte es geschafft, seinen prachtvollen Umhang im See abzustreifen, aber seine restliche Kleidung gluckste und gurgelte und troff vom eisigen Wasser. Es tropfte von seiner Nase, seinem Kinn, seinem Bauch und um seine riesigen Füße bildeten sich Pfützen, als er Meisterin Weisenwisper erreichte. Er war so nass, dass Zehn glaubte, Chan der Schwere sei tatsächlich vom Kohlenbecken aus zurückgeschwommen, statt wie alle anderen um den See zu laufen. Erneut streckte Meisterin Weisenwisper Ihre Pfote aus.
Chan der Schwere hob seinerseits die Pfote und da bemerkte Zehn etwas, das ihm vorhin von der Seite aus nicht aufgefallen war: Chans Pfote war in Metall gehüllt. Es waren Streifen aus Metall in der Form eines Tigers.
Der große Pandaren verbeugte sich zitternd vor der Shado-Pan.
„Ich konnte meine Pfote nicht mehr aus dem Tigermaul ziehen, als ich die Münze in der Pfote hielt, Meisterin. Das Maul war zu eng und sehr heiß ...“ Chan der Schwere blickte zu Meisterin Weisenwisper auf, die Augen starr auf sie gerichtet. „... Darum habe ich das ganze Kohlenbecken mitgenommen und bin damit zurück in den See gesprungen.“
Er musste erneut niesen. Es war ein lautes Geräusch, das im ganzen Hain zu hören war. Einige rote Blüten schwebten zu Boden und Zehn sah, dass die beiden anderen Initianden Chan mit großen Augen anstarrten.
Er ist tatsächlich beide Wege geschwommen. Und die Hälfte des Weges hatte er einen eisernen Tiger bei sich.
Chan der Schwere hob seinen Arm und schmetterte das Kohlenbecken auf einen der Steine zu seinen Füßen. Durch das kalte Wasser bereits porös geworden, brach es mit einem Krachen auf und Chan ließ drei Münzen in Meisterin Weisenwispers Pfote fallen.
„Hinter mir war keiner mehr.“
Zehn war neugierig, wie viele Anwärter ertrunken oder erfroren waren und wie viele aufgegeben hatten, als sie sahen, dass Chan das Kohlenbecken an sich nahm.
Meisterin Weisenwisper stand auf und bedeutete den Initianden, ihr zu folgen. Alle machten einen weiten Bogen um Chan, während er hinter ihr herwatschelte und dabei versuchte, das überschüssige Wasser aus seiner Kleidung zu wringen. Er musste erneut niesen und bemerkte dann, dass Zehn ihm folgte und dabei versuchte, in keine von Chans Pfützen zu treten.
„Nicht schlecht, du Wurm. Mal sehen, ob du die Prüfung der Stärke auch auf deinem Hut bestehen kannst.“
Der langhaarige Junge lachte und Zehn zuckte mit den Schultern. Er überholte Chan den Schweren und knuffte ihn freundschaftlich auf den Arm.
„Leider gibt's keine Prüfung der Nässe. In deinen Riesenhosen trägst du ja den halben See mit dir rum.“
Chan der Schwere grummelte und versuchte, nach dem kleineren Pandaren zu schnappen. Aber der hatte mit einer solchen Reaktion gerechnet und konnte mit Leichtigkeit ausweichen. Jetzt lachte auch das Mädchen aus Krasarang und Zehn schüttelte theatralisch Wasser aus der Pfote, mit der er Chan berührt hatte. Der große Pandaren blickte ihn böse an und nieste noch einmal – selbst seine dicken Speckrollen konnten nicht verhindern, dass das eiskalte Wasser seine Wirkung tat.
Meisterin Weisenwisper führte die vier Initianden durch zwei schwere Türflügel in ein Trainingsdojo. Im Inneren befand sich eine einfache Arena, die von Steinsäulen umgeben war. Zehn konnte die Geschichtedieses Ortes beinahe spüren. Jahrhunderte des Trainings und der Disziplin lagen in der Luft. Die Shado-Pan-Meisterin nickte zum Abschied und kehrte leise in den Hain zurück. Die Initianden blickten sich derweil nervös im Dojo um und fragten sich, was die nächste Prüfung wohl für sie bereithalten würde.
Zehn fiel etwas Seltsames auf. In der Mitte der Arena standen drei massive Glocken. Sie waren uralt und mit Schriftzeichen der Macht überzogen. Ihre Größe war in etwa die eines ausgewachsenen Pandaren und sie waren so ausladend wie Chan der Schwere. Zehn trat etwas näher heran und hoffte inständig, dass es in dieser Prüfung nicht darum ging, eine der Glocken tragen zu müssen.
Hinter den Initianden ertönte auf einmal eine tiefe Stimme.
„Ihr alle habt wahre Entschlossenheit gezeigt, die eines Shado-Pan würdig ist. Nun wünsche ich, dass Ihr mir eure wahre Stärke zeigt.“
Zehn blickte sich um und ihm stockte der Atem. In der Tür stand der größte Pandarenkrieger, den er jemals gesehen hatte. Er war mindestens drei Handspann größer als Chan der Schwere und hatte breitere Schultern – dieser Shado-Pan war ein wahrer Muskelberg. Sein Fell war fast ganz weiß und seine Augen musterten die Initianden mit einem raubtierhaften Blick, der sofort jede Stärke und Schwäche erkannte.
Zehn erschauderte. Er hatte das Gefühl, als würde er einer unmittelbar losbrechenden Lawine mit tödlicher Wucht gegenüberstehen.
„Ich bin Meister Wan Schneewehe von der Schwarzwache. Die Krieger der ShadoPan unterstehen meinem Befehl und ich unterstehe dem Befehl von Meister Taran Zhu. Ich kenne jeden einzelnen Krieger auf unseren Mauern und habe meine Klinge mit jedem von ihnen gekreuzt. Wenn Ihr die Proben überlebt und Shado-Pan werdet, müsst Ihr eines Tages gegen mich antreten, denn man kennt einander erst dann richtig, wenn man sich im Kampf gegenüberstand.“
An dieser Stelle ballte Meister Schneewehe seine mächtige Faust und das Knacken von Knöcheln hallte wie das Echo fallender Felsbrocken durch das Dojo. Zehn verzog das Gesicht.
„Aber heute ist es noch nicht so weit. Ihr seid jung und untrainiert. Ein Initiand ist noch keine Waffe, sondern nur ein Stück Eisen, das darauf wartet, geschmiedet zu werden. In diesem Zustand zeigt Eisen Stärke, erst danach erhält es eine Schneide.“
Der Meister schritt zu den drei Glocken hinüber, wobei sein geschmeidiger Gang Zehn an einen schleichenden Tiger erinnerte.
„Ihr steht vor heiligen Artefakten, vor Relikten aus längst vergangenen Jahrhunderten, die mithilfe von Magie und Metallkunde erschaffen wurden und dem Zahn der Zeit widerstehen. Jede einzelne Glocke ertönt mit einem perfekten Klang, wenn sie angeschlagen wird.“
Er klopfte mit einem Knöchel an die Glocke, die ihm am nächsten stand, und es war ein dumpfer Klang zu hören.
„Wunderschön, nicht wahr?“ Meister Schneewehe lächelte. „Die Glocken werden erst dann erklingen, wenn sie in die Höhe gehoben und mit großer Kraft angeschlagen werden. Das ist Teil ihrer Magie.“
Zehn runzelte die Stirn. Das Heben von Riesenglocken gehörte nun wirklich nicht zu seinem Repertoire ... und hatte er eben unter der Glocke nicht ein gedämpftes Geräusch gehört? Ein Zischen?
Meister Schneewehe fuhr fort: „Unter jeder Glocke ist eine bestimmte Art des Todes versteckt, Initianden. Der raubende Tod, der heimliche Tod und der rettende Tod. Ich werde im Hain warten, bis alle drei Glocken ertönt sind. Danach komme ich zurück. Jeder von Euch, der stark genug war, um zu überleben, darf dann zur nächsten Prüfung antreten.“
Chan der Schwere nieste und der Shado-Pan-Meister deutete auf den tropfenden Initianden.
„Die siebte Jahreszeit war diesmal besonders kalt und ich weiß, dass Ihr erschöpft seid. Darum fangen wir am besten gleich an.“
Mit einer fließenden Bewegung wandte sich Meister Schneewehe um und trat gegen die Glocke hinter sich. Sie wirbelte in hohem Bogen durch die Luft und krachte gegen einen Pfeiler auf der anderen Seite der Arena. Der Pfeiler zerbarst und einen Moment lang regnete es kleine Steinbrocken. Die Glocke rollte jedoch unversehrt über den Boden.
Meister Schneewehe ging zur Tür zurück und die Initianden beobachteten ängstlich, wie er die Arena verließ.
„Ich erwarte nicht, dass Ihr gut kämpft“, rief er. „Aber ich erwarte, dass Ihr kämpft.“ Die Türflügel schlossen sich und das Schloss wurde verriegelt.
„Seht nur!“, rief der langhaarige Junge mit entsetzter Stimme.
Zehn drehte sich um und stieß ein Keuchen aus. Dort, wo sich eben noch die Glocke befunden hatte, lag jetzt eine riesige aufgerollte Schlange. Langsam hob sie ihren muskulösen Hals, bis sie die Initianden überragte.
„Ein Bambuspython!“, schrie das Mädchen. „Zurück! Er greift gleich a...“
Wie ein grüner Blitz griff die Schlange an. Sie warf den langhaarigen Jungen zu Boden und grub ihre Fangzähne tief in seine Schulter. Der Junge schrie auf und versuchte, den schuppigen Kopf der Schlange wegzuschlagen. Die Schlange aber hatte sich festgebissen und fing an, den Jungen mit ihrem kräftigen Körper zu umschlingen. Die drei anderen Initianden zogen sich aus der Reichweite der Schlange zurück und suchten nach einem geeigneten Versteck. Wie sollten vier unbewaffnete und untrainierte Jugendliche nur so eine tödliche Bestie besiegen?
Das Krasarang-Mädchen fluchte leise vor sich hin und Zehn konnte ihr zornerfülltes Geflüster neben sich hören.
„Ich weiß, wie man diese Dinger tötet. Wenn ich doch nur meinen Speer dabei hätte. Warum durfte ich nicht meinen Speer mitbringen? Ich könnte ihn retten!“
Der rettende Tod.
„Chan!“, rief Zehn. „Bestimmt sind unter einer der Glocken Waffen versteckt! Schau nach, schnell!“
Der groß gewachsene Pandaren warf Zehn einen Blick zu, als sei dieser verrückt geworden.
„Netter Versuch, Wurm. Glaubst du wirklich, dass ich da rüber gehe?“
Er zeigte auf die zwei übrigen Glocken, die hinter der Schlange und ihrer Beute zu sehen waren. Sie befanden sich in ihrer Reichweite.
„Woher“, schrie Chan der Schwere, „willst du denn wissen, dass dort Waffen versteckt sein sollen?! Es könnten doch auch noch mehr Schlangen sein!“
Der langhaarige Junge hatte den Kampf verloren und die Schlange schüttelte ihn ein letztes Mal, bevor sie von ihm abließ und sich zu voller Größe aufrichtete. Sie war mit smaragdgrünen Schuppen bedeckt und hatte kalte schwarze Augen. Von den langen Fangzähnen tropften Blut und widerlicher Geifer die Pfützen auf dem Boden bildeten. Zehn blickte zu dem toten Jungen hinüber, der zwei herzförmige rote Bissspuren an der Schulter trug. Die Größe der Bisse überraschte ihn.
Der raubende Tod – Gift oder eine andere schädliche Flüssigkeit aus den Sümpfen gelangt durch kleine Öffnungen in den Körper und raubt ihm die Seele.
Ein Dieb.
Die Schlange kroch nun auf das Krasarang-Mädchen zu, das bereits die Rückwand der Arena erreicht hatte und nicht weiter fliehen konnte.
Zehn wusste, dass er diese Prüfung nicht bestehen würde, wenn die anderen beiden tot wären. Er konnte die Glocke nicht alleine anheben. Ihm kam eine seltsame Erkenntnis: Er brauchte sie.
„Chan, du musst mir vertrauen, sonst sterben wir alle. Der Python ist der raubende Tod. Unter einer dieser Glocken ist der rettende Tod verborgen. Ich glaube, dass damit Waffen gemeint sind – Werkzeuge des Todes, mit denen wir unser Leben retten können.“
Zehn ballte seine Fäuste und stürmte wie wild mit wedelnden Armen auf die Bestie zu. Die Kreatur zischte und wandte sich von dem Mädchen ab.
„Ich versuche, die Schlange abzulenken und locke sie weg!“, rief er. „Ihr müsst an die Glocken klopfen und horchen, ob ihr im Inneren ein Geräusch hört.“
Der Python kroch nun auf Zehn zu, der sich schnell umdrehen und weglaufen musste. Könnte er sich zwischen den Säulen verstecken? Als er über die Schulter blickte, konnte er sehen, dass Chan der Schwere und das Mädchen auf die Glocken zugingen, sobald die Kreatur ihn verfolgte.
Sie war schneller, als er angenommen hatte, und Zehn zweifelte daran, dass er die Säulen noch rechtzeitig erreichen würde. Die Glocke, die Meister Schneewehe beiseite getreten hatte, lag vor ihm auf dem Boden und der kleine Dieb warf sich genau in dem Moment dahinter in Deckung, als die Fänge nach seinen Fersen schnappten.
Blitzschnell drehte Zehn sich nach dem Python um. Die Schlange hatte sich vor ihm aufgetürmt, sodass die Glocke ihm kaum noch Schutz bot. Die Schlange griff erneut an und Zehn konnte sich gerade noch unter den herabschnellenden Schuppen und Fangzähnen wegducken. Hinter der sich windenden Bestie konnte er sehen, wie Chan der Schwere an eine der übrigen Glocken klopfte und das junge Mädchen ein Ohr daran presste und mit konzentrierter Miene lauschte.
Da erkannte Zehn einen großen Fehler an seinem Plan: Er half seinen beiden Rivalen dabei, sich zu bewaffnen, und diese brauchten nur zu warten, bis der Python ihn getötet hatte, um die Prüfung mit einem Konkurrenten weniger zu beenden.
Chan der Schwere blickte zu ihm hinüber, lächelte Zehn zu und winkte ihm zum Abschied. Er umfasste eine der Glocken mit beiden Armen und kippte sie langsam um.
Zehn knirschte mit den Zähnen, aber er konnte es den anderen Initianden nicht verübeln. In dieser Prüfung ging es ums Überleben, nicht darum, Freundschaften zu bilden. Aber er würde nicht zulassen, dass die beiden anderen über seine Leiche zu Shado-Pan würden.
Er rannte zur Öffnung der Glocke und baute sich tollkühn direkt vor der Riesenschlange auf. Erstaunt wich sie mit einem verärgerten Zischen vor seiner dreisten Bewegung zurück.
Als Dieb hatte Zehn gelernt, verräterische Zeichen an seinen Zielen zu erkennen wie einen bestimmten Ausdruck im Gesicht, eine Geste oder eine Bewegung, die auf einen Angriff hindeuteten. Dieses Talent hatte ihm auf der Straße schon unzählige Male das Leben gerettet.
Auch dieser Python machte so ein verräterisches Zeichen. Zehn hatte die Bestie beobachtet, als sie den langhaarigen Jungen und ihn selbst angegriffen hatte. Unmittelbar vor dem Angriff würde sie die Zunge aus dem Maul schnellen lassen, um damit die Angst des Opfers vor dem Tod zu schmecken. Die Beine angewinkelt beobachtete Zehn das hypnotisierende Wiegen des Ungetüms und wartete darauf, dass die Zunge herausschnellte ... Da!
Zehn sprang senkrecht in die Luft, als der Python genau an der Stelle zubiss, an der er eben noch gestanden hatte. Zum Leidwesen der Bestie war das direkt vor der Öffnung der Glocke gewesen, sodass der Kopf des Pythons mit voller Wucht gegen die schwere Bronze krachte und ein wunderschöner klarer Ton erklang.
Nummer eins.
Zehn landete auf dem Rücken der Kreatur und rollte sich ab, wobei er der sich windenden Schlange auswich, die sich aus der Glocke befreien wollte.
Er war wieder bei den anderen beiden Initianden angelangt, als das KrasarangMädchen mit einem heiseren Lachen einen Speer unter der Glocke hervorzog. Zehn ging in die Hocke, um zu sehen, was sonst noch unter der Glocke verborgen war – der rettende Tod, in der Tat! Auf dem Boden lagen, ordentlich gestapelt, einige einfache Waffen: ein Schwert, ein Knüppel, eine Axt und ein Dolch. Zehn holte sie eilig unter der gekippten Glocke hervor und sicherte sich den Dolch. Er streckt seinen Arm nach oben und schlug mit dem schweren Knauf der Waffe mit aller Wucht gegen die Glocke. Ein reiner, klarer Ton erfüllte das Dojo.
Nummer zwei.
Chan der Schwere fluchte, forderte die anderen beiden auf, ihm eine Waffe zu geben und meinte, dass er die Glocke nicht mehr länger halten konnte.
„Hier, nimm“, sagte Zehn und ließ eine Axt über den Boden schlittern.
„Wurde aber auch langsam Zeit“, keuchte Chan unter großer Anstrengung. „Achtung!“
Mit diesen Worten ließ er die Glocke los. Es gab ein dumpfes Läuten und einen kurzen Windstoß, als das schwere Ungetüm auf dem Boden auftraf.
Mit einem Lächeln hob Chan der Schwere die Axt vom Boden auf. Das KrasarangMädchen lächelte zurück und wog ihren Speer prüfend in der Hand.
„Darauf habe ich gewartet“, sagte Chan. „Jetzt zeigen wir der Schlange, wie unser Tod schmeckt.“
Eine gedämpfte Stimme erklang aus dem Inneren der Glocke.
„Viel Glück, ihr beiden!“
Chan der Schwere erstarrte und das Lächeln gefror ihm im Gesicht.
„Wo ist der Wurm?“
Das Krasarang-Mädchen zuckte mit den Schultern.
„Es gibt nur einen Ort, an dem er sein kann“, sagte sie.
Chan schlug gegen die glatte, feste und schützende Oberfläche der Glocke.
„Ich verfluche deine Familie, du erbärmlicher Wurm! Schämst du dich denn nicht? Was für ein Feigling bist du?“
„Ich gehöre zu der Art Feiglinge, die immer noch am Leben ist, Chan. Und jetzt hör zu: Der Python wird sich bald aus der Glocke befreit haben. Er ist schneller, als du denkst. Achte auf seine Zunge – sie schnellt direkt vor seinem Angriff heraus.“
Zehn lehnte sich gegen die kühle Wand der Glocke und hörte zu, wie die beiden Initianden darüber diskutierten, was sie mit dem Dieb anstellen sollten. Am Ende entschied die Schlange für sie. Er hörte Schreie, Verspottungen und ein ärgerliches Zischen. Ein Schrei, ein Gebrüll.
Wie gut, dass ich nicht da draußen bin.
Da die Initianden nun voll bewaffnet waren, war Zehn sich sicher, dass das Dschungelwissen des Mädchens und die Stärke von Chan dem Schweren ausreichen würden, um die Schlange zu besiegen. Er konnte weitere Schreie und ein Zischen vernehmen. Er spürte, wie etwas auf den Boden krachte, gefolgt von einer lang anhaltenden Stille. Dann ertönte schließlich das Klopf-Klopf-Klopf von Knöcheln an der Glocke.
„Python? Bist du das?“, gab Zehn zurück.
Chans Stimme klang müde und verärgert.
„Die Schlange liegt in mehrere Stücke zerschlagen auf dem Boden verteilt, du Wurm. Pei-Ling und ich werden jetzt die dritte Glocke umstoßen, die Prüfung beenden und dich in deiner kleinen Metallhöhle verrotten lassen. Oder wer weiß? Vielleicht komme ich ja auch zurück, sobald ich Shado-Pan bin, und sperre eine Schlange mit dir zusammen unter der Glocke ein.“
Zehn konnte hören, wie das Krasarang-Mädchen – anscheinend war ihr Name PeiLing – über diesen Einfall lachte.
Fantastisch. Ich habe den Initianden Waffen besorgt und ihnen das Leben gerettet und dafür hassen sie mich jetzt.
Aber das war nichts Neues für ihn. So war es auch mit seinem Vater, seinen Brüdern und selbst mit den anderen Taschendieben in den Gassen gewesen. Warum sollte er von diesen Initianden etwas anderes erwarten?
Die Jahreszeiten sind unabänderlich.
Zehn klopfte an die Glocke.
„Chan, sieh mal an deinem Handgelenk nach. Ich glaube, du hast etwas verloren.“ Es herrschte einige Sekunden lang Stille, dann war ein Wutschrei zu hören.
„Dieb! Kümmerling! Ho-zen-liebender Wurzelfresser!“
Die Beschimpfungen gingen noch einige Zeit weiter, dann war ein dumpfer Schlag zu hören. Das war Chan, der an der Glocke zusammengesackt war.
„Der Armreif war ein Geschenk meiner Mutter, du missratene Kröte. Krabbel da unten raus und gib ihn mir.“
Dann waren ein Grunzen und ein Niesen zu hören und die Glocke wurde ein Stück angehoben. Zehn rollte unter ihr hervor und landete mit seinem Rücken an der dritten Glocke. Pei-Ling saß auf dem Boden und wischte Blut von ihrem Speer. Sie blickte zu ihm auf, salutierte spöttisch und wendete sich dann wieder ihrer Waffe zu. Zehn war von ihrem Verhalten verwirrt. Selbst im Spaß hatte er so etwas noch nie erlebt.
Ein Zeichen des Respekts.
Chan der Schwere ließ die Glocke fallen und drehte sich um. Er zitterte so heftig, dass er kaum noch seine Axt heben konnte. Er war im Kampf verwundet worden, ein Hosenbein war blutig und zerrissen, als ob der dicke Junge über den Boden geschleift worden wäre. Die Wunde, das eisige Bad und das mehrfache Anheben der Glocke hatten den Initianden geschwächt und er schien sich erkältet zu haben. Aber Chans Wut trieb ihn immer weiter an.
„Gib mir den Armreif, du Wurm“, keuchte er. Er ließ seine Axt krachend auf die Glocke niedersausen, die er gerade fallen gelassen hatte und Zehn schreckte zurück, als durch diesen unkontrollierten Schlag Funken aufstoben.
„Beruhige dich, Chan. Hier ist dein kostbares Schmuckstück ...“
„Gib es auf der Stelle her!“
Kurz nach Chans Schrei begann der Boden zu erzittern. Das Beben schien irgendwie aus der dritten Glocke zu kommen und hob Chan von den Füßen. Da er dachte, dass es sich wieder um einen von Zehns Tricks handelte, rappelte er sich grollend auf.
„Du dreckiger Wurm. Chan der Schwere lässt sich von niemandem bestehlen!" Pei-Ling schrie auf und zeigte aufgeregt auf die Glocke. Endlich reagierte Chan und drehte sich mit erhobenen Augenbrauen um.
Die Glocke wackelte. Sie schwankte von einer Seite zur anderen. Dann war ein Aufprall zu hören, das Geräusch von verdrehtem Metall und schließlich ein blubberndes Knurren ...
... gefolgt von einem lauten Krachen. Die dritte und letzte Glocke war in der Mitte geborsten. Die uralte Magie, welche die Glocke über Jahrhunderte lang zusammengehalten hatte, wurde von glühenden Energiewirbeln zerstört, als mit einem Mal eine schattenschwarze Klaue die dicke Bronzehülle zerriss. Die beiden Glockenhälften fielen mit einem lauten Dröhnen auf den Boden und wirbelten eine Wolke aus Rauch auf, aus der eine tiefschwarze Flamme emporzüngelte.
Nein, das ist ein lebendiges Wesen. Ein Monster.
Das Schattenwesen sah aus wie ein fleischgewordener Alptraum. Zehn schaute genauer hin und erschauderte. Das grässliche Ding kauerte über dem Körper eines toten Tigers. Da ahnte er, dass etwas schiefgelaufen sein musste.
Der Tiger sollte unser Gegner sein. Der heimliche Tod, ein geschmeidiger Jäger. Nicht dieses Ding.
Er erinnerte sich, dass Meister Nurong einen Feind erwähnte, von dem Zehn noch nie zuvor gehört hatte — das Sha. Was hatte der Shado-Pan noch mal erzählt?
„Wenn man gegen das Sha kämpft oder sich auch nur in ihrer Nähe aufhält ... stumpft man gegenüber den anderen Aspekten des Lebens ab.“
Er kroch hinüber zu Chan und Pei-Ling und versuchte, sie von diesem Sha wegzuschieben. Beide waren starr vor Schreck und Zehn konnte sehen, dass die Kreatur zu wachsen schien, genauso wie ihre Angst. Sie pulsierte jetzt im Takt der panischen Atemzüge der Initianden. Das Sha war bereits größer als alle drei zusammen und ihm wuchsen mit jeder Sekunde neue Klauen und Tentakel. Solange es sich an ihrer Angst laben konnte, schien das Monster nicht angreifen zu wollen. Aber Zehn wusste, dass das nicht auf Dauer so sein würde.
„Seht mich an! Alle beide!“
Die beiden blickten ihn mit vor Schreck geweiteten Augen an. Sie waren im Kampf ausgebildet, ja, aber sie waren noch keinem Feind von solcher Bosheit begegnet. Es war eine Sache, zu wissen wie man einen Gegner besiegte. Aber es war etwas vollkommen anderes, zu wissen wie man die Angst besiegte.
Zehn kannte Angst. Er zog seinen Dolch und hielt ihn schützend vor sich.
„Hört zu! Wir sind keine verängstigten Kinder mehr. Wir sind Shado-Pan. Wir haben den eisigen See überquert, wir haben die brennenden Münzen zurückgebracht und wir haben den raubenden Tod besiegt. Das ist unsere Prüfung, das ist die Gelegenheit, unseren Wert zu beweisen und in die Reihen derjenigen aufgenommen zu werden, die die Dunkelheit jagen. Wir schaffen das!“
Die anderen beiden nickten schweigend und schöpften neuen Mut aus Zehns Worten. Zehn griff in seine Tunika und zog den goldenen Armreif heraus.
„Hier, es tut mir leid, dass ich ihn dir gestohlen habe, Chan. Dadurch habe ich die Wut entfacht, von der dieses Ding zehrt.“
Chan der Schwere blickte über Zehns Schulter und hielt dann mit einem verwunderten Ausdruck im Gesicht inne.
„Das Monster! Es ist gerade geschrumpft, als du dich entschuldigt hast.“
Als ob es antworten würde, gab das Sha ein Knurren von sich und kroch über den Arenaboden auf sie zu. Zehn verzog das Gesicht.
Oje. Vielleicht war das doch keine so gute Idee.
Der Dieb half den Initianden auf die Füße und sie stolperten rückwärts, weg vom Sha. Er flüsterte Pei-Ling einen schnellen Befehl zu und sie salutierte erneut, bevor sie auf die andere Seite des Monsters glitt. Es knurrte erneut, als sich seine Beute aufteilte, konzentrierte sich aber weiterhin auf die zwei Pandaren vor sich.
Als Zehn sich zurückzog, löste er den trockenen Umhang von seinem Rücken und bot ihn Chan an, der vom Schwimmen immer noch nass war.
„Den sollte ich dir lieber auch geben. Binde dir damit dein Bein ab, um die Blutung zu stoppen.“
Chan der Schwere überlegte einen Augenblick und streckte dem kleinen Dieb dann seine riesige Pranke hin. Der Griff des riesigen Pandaren war schwach und kalt.
„Ich ... ich habe zu große Angst, Wurm. Das ist der reinste Alptraum. Aber ich vertraue dir, dass du einen Weg findest, so wie du über den See gehüpft bist, als ob du ein verdammter Kieselstein wärst. Behalte den Armreif. Meine Mutter würde sagen, dass du ihn dir verdient hast.“
Zehn steckte den Reif wieder in seine Tunika und packte Chans Pfote so fest, wie er konnte.
„Halte deine Angst unter Kontrolle. Beweg dich um das Monster herum, wenn ich mich ihm nähere. Greif aber auf keinen Fall an.“
Zehn ließ die Pfote des Initianden los und wandte sich dem Sha zu.
„Übrigens, ich heiße Zehn.“
Mit grimmigem Lächeln schlang sich Chan der Schwere den Umhang um sein Bein und trat zurück. Das Monster stieß ein Grollen aus und schien dem größeren Pandaren folgen zu wollen, weshalb Zehn mit gezücktem Dolch auf es zu lief. Da wirbelte das Sha herum, um ihn mit erhobenen Klauen und Tentakeln anzugreifen. Der kleine Dieb betrachtete die Schreckensgestalt ganz ruhig – zumindest hoffte er, dass er ruhig wirkte.
„Du gehörst nicht hierher, Monster.“
Das Sha kam näher, die schattenhaften Tentakel zum Angriff erhoben.
„Dieses Kloster ist ein Ort der Meditation und Konzentration. Dein Eindringen ist gegen ...“
Mit einem Knurren griff das Sha Zehn mit zwei seiner Tentakel an, die wie riesige Äste durch die Luft peitschten. Nicht einmal Zehn konnte diesem Angriff ausweichen. Der Schlag warf ihn nach hinten auf den Boden des Dojos.
Autsch. Das hat wehgetan.
Zehn rappelte sich unter Schmerzen wieder auf. Eine seiner Rippen war gebrochen und aus seinem kleinen Mund tropfte ein dünner Blutfaden. Es gelang ihm, seinen Dolch zu packen und er hob ihn mit letzter Kraft hoch, als sich das Sha auf ihn zubewegte.
„Ich bin seit meinem siebten Lebensjahr ein Waisenjunge. Ich habe in Kanälen geschlafen und ich habe gegen Gruppen von Shed-Ling gekämpft, um etwas zum Beißen zu haben und zu überleben. Ich habe zusammen mit Dieben und Mördern in zwielichten Gassen Schutz vor Regen gesucht.“
Das Sha knurrte erneut und schlug noch einmal zu. Zehn wurde erneut auf den Boden gestoßen und sein Dolch schlitterte über den Steinboden. Eine weitere gebrochene Rippe. Konnte er jetzt überhaupt noch stehen? Er musste es. Mit einem Stöhnen kam er zurück auf die Füße. Die eine Seite seines Gesichts war blutüberströmt.
„Glaubst du etwa, ich sei noch nie verprügelt worden, Monster? Erst in der letzten Jahreszeit hat mich ein Metzger grün und blau geschlagen, weil ich seinen Abfall gestohlen habe und auch ein Schmied hat mich verdroschen, nur weil ich mir in seiner Schmiede die Pfoten gewärmt habe.“
Ein dicker Tentakel schnellte hervor, wand sich um Zehn, packte ihn mit festem Griff und hob ihn hoch. Das Sha zog Zehn an seinen mit Zähnen bestückten Schlund heran. Zehn hatte seinen Dolch verloren, deshalb griff er in seine Tunika und wühlte mit seinem freien Arm darin. Chans Armreif fühlte sich kühl und fest in seiner Pfote an.
„Ich habe mein ganzes Leben lang im Schatten von Hunger, Schmerz und Tod verbracht“, fauchte der Dieb. „Du machst mir keine Angst.“
Blitzschnell ließ er seine Pfote in Richtung des Sha schnellen und Chans großer goldener Armreif zischte durch die Luft. Mit einem Schmatzen fuhr der Reif durch eines der glühenden Augen der Kreatur. Das Sha kreischte laut auf, ließ seine Beute fallen und zog sich mit vor Schmerzen windenden Tentakeln zurück. Zehn kämpfte sich hoch auf die Knie und hustete Blut. Das Sha war jetzt kaum noch größer als er.
„Jetzt, Pei-Ling!“, rief er und hoffte, dass seine Stimme im Geheul des Ungeheuers nicht unterging. Das Mädchen aus Krasarang sprang mit ausgestrecktem Speer aus dem Schatten. Sie stieß den Speer durch das Sha hindurch und schob das sich windende Ding an Zehn vorbei in Richtung Chan des Schweren, der wartend neben der ersten Glocke stand.
„Die Glocke, Chan!“, brüllte Zehn und versuchte, auf die Füße zu kommen. Er betete inbrünstig, dass der riesige Pandarenjunge noch genügend Kraft für diese letzte große Anstrengung besaß.
Chan der Schwere nickte, da er Zehns Plan bereits ahnte. Er ging in die Hocke und umfasste die Glocke mit beiden Armen. Dann hob er sie mit einem lauten Schrei hoch.
Pei-Ling trieb das zuckende Sha in vollem Lauf auf Chan zu. Das Monster wand sich wie wahnsinnig vor Schmerzen und seine Tentakel und Klauen schlugen gefährlich durch die Luft. Sie trafen das Mädchen, sodass es an Schultern und Armen blutete.
Mit einem Schrei warf sie ihren Speer – und mit ihm das Sha – direkt in die Glocke. Der heftige Aufprall ließ Chan ein wenig nach hinten taumeln, aber mit einem letzten Knurren rammte er die Öffnung der Glocke auf den Boden. Die Wucht des Aufpralls war so enorm, dass der Boden Risse bekam.
Die Glocke wackelte, als die unter dem Rand der Glocke eingeklemmten Tentakel wild um sich schlugen. Chan der Schwere zog die Axt aus seinem Gürtel und begann mit großer Verbissenheit, einen Tentakel nach dem anderen abzuhacken. Pei-Ling half ihm, indem sie die Tentakel mit ihrem Fuß einklemmte, bevor die Axt mit einem Donnern auf sie herniederfuhr.
Zehn stolperte zu den beiden hinüber und hielt sich die Seite.
„Das Monster dürfte darin eingesperrt bleiben, solange wir unsere Gefühle unter Kontrolle halten.“
Pei-Ling lachte heiser auf.
„Ich denke“, sagte sie, „das dürfte kein Problem mehr sein.“
Zehn und Chan blickten nach unten. Unter der Glocke war es ruhig geworden. Eine blubbernde und rauchende dunkle Flüssigkeit sickerte durch die Risse im Boden. Zehn wischte sich das Blut von der Braue, damit es ihm nicht in die Augen tropfte.
„Wir sollten versuchen, die Teile der dritten Glocke zum Klingen zu bringen. Ich glaube, dass wir die Prüfung der Stärke bestanden haben.“
Meisterin Weisenwisper und Meister Schneewehe standen auf der Terrasse, die den gefrorenen See überblickte, und unterhielten sich leise. Auf diese Art und Weise trugen die Shado-Pan ihre Meinungsverschiedenheiten aus. Und nach der Begegnung und dem Kampf mit dem Sha ergab das in Zehns Augen auch großen Sinn. Der kleine Dieb lehnte sich nach vorne und strengte seine Ohren an, um zu hören, was sie besprachen, aber die Stimmen der Meister wurden vom kalten Wind fortgeweht. Die Bewegung schmerzte in den Rippen, die noch nicht vollständig verheilt waren. Zehn zuckte vor Schmerzen zusammen und setzte sich wieder auf die Fersen.
Die Entdeckung des Sha innerhalb des Klosters hatte Alarm ausgelöst und die Initianden waren wiederholt über das Geschehene befragt worden. Es waren Shado-Pan-Agenten ausgesandt worden, um den Vorfall zu untersuchen. Während sich Zehn im Lazarett erholte, hatte er erfahren, dass der Tiger unter der dritten Glocke ein Geschenk des Dorfes Feuerzweigwinkel gewesen war. Aber im Dorf schien niemand etwas von dem Geschenk zu wissen. Zehn hatte aus dem Geflüster der Akolythen etwas über eine Intrige der Mantis oder sogar eine Moguverschwörung heraushören können. Wie dem auch sei, jemand hatte versucht, die Prüfung der Roten Blüten zu stören und die heilige Tradition der Shado-Pan zu beschmutzen. Zehn war sich im Klaren darüber, dass die Sache noch viel schlimmer hätte ausgehen können. Wenn es dem Sha gelungen wäre, alle Initianden zu töten, hätte es sich einfach im Kloster verstecken und die Shado-Pan an ihrer verletzlichsten Stelle treffen können. Niemandem wäre etwas aufgefallen, denn bei jeder Prüfung sterben Initianden.
Mit anderen Worten, Zehn, Pei-Ling und Chan der Schwere waren Helden.
Zehn blickt zu Pei-Ling rüber, die neben ihm kniete. Sie trug eine Akolythenuniform und der weiße Schal brachte ihr schneeweißes Fell, das um ihre Ohren herum gelockt war, hervorragend zur Geltung. Das Mädchen aus Krasarang lächelte und nickte der großen Gestalt zu, die neben ihr kniete. Chan der Schwere war ebenfalls in eine Akolythenuniform gekleidet, aber anstatt eines Schals trug er einen schmutzigen, ausgetragenen Umhang um den Hals. Der kleine Dieb verdrehte die Augen. Anscheinend hatte Chan sich entschlossen, Zehns Umhang als Zeichen der Ehre zu tragen, solange er ein Shado-Pan sein würde.
Wenn wir wirklich Shado-Pan sind.
Aus diesem Grund waren die drei hergerufen worden. Anscheinend wurde diskutiert, ob sie sich einen Platz im Orden verdient hatten oder nicht. Nach den vielen Befragungen waren Zehn, Chan und Pei-Ling von Meister Schneewehe im Lazarett besucht worden. Er hatte sie sehr gelobt, dass sie die Prüfung überlebt hatten. So eine Prüfung hätte er nicht einmal seinen erfahrensten Schülern zugemutet. Er sagte, dass er stolz sei, welche Stärke die Initianden bewiesen hätten und dass keine weiteren Prüfungen notwendig wären, um sich der Aufnahme in den Orden als würdig zu erweisen. Sobald die drei wieder bei Gesundheit und bereit wären, könnten sie ihr Training im Dojo beginnen. Daraufhin waren hinter Meister Schneewehe einige Akolythen mit weißen Schals erschienen, die mit einer Verbeugung den Initianden ihre Uniformen überreicht hatten.
Am nächsten Tag war Meisterin Weisenwisper mit einer Handvoll eigener Akolythen erschienen. Sie hatte sich bei den Initianden für deren Mut bedankt, aber mit ernsten Worten von drei Prüfungen gesprochen und betont, dass die Prüfung der Roten Blüten noch nicht abgeschlossen sei. Das Eindringen des Sha sei zwar eine sehr bedauerliche Sache gewesen, die ihnen wertvolle Erfahrung im Kampf gebracht hätte und durchaus als Prüfung der Stärke gelten würde. Aber sie war nicht, wie Meisterin Weisenwisper wiederholte, eine Prüfung des Geistes. Sollte sie etwa diese Initianden in den Orden aufnehmen, nur weil sie während der Prüfung der Entschlossenheit im See fast erfroren wären, da diese siebte Jahreszeit nun einmal auf einen der kältesten Winter der Geschichte gefallen war? Ihre Akolythen nahmen die Uniformen von Zehn, Chan dem Schweren und Pei-Ling unter Verbeugungen wieder an sich und verschwanden. Am nächsten Tag erschien Meister Schneewehe erneut und brachte ihnen ihre Uniformen wieder zurück. So ging das eine Woche lang hin und her.
Und jetzt waren sie alle hier versammelt. Die beiden Meister drehten sich um und näherten sich den knienden Initianden. Meisterin Weisenwisper hob eine Augenbraue.
„Ich möchte mich für unsere Unentschlossenheit entschuldigen, junge Pandaren. Ich bin mir sicher, dass sich Meister Schneewehe bei Euch ebenfalls entschuldigen möchte. Das geschieht, wenn die Tradition nicht befolgt wird: Chaos bricht aus.“
Der größere Shado-Pan-Meister nickte und der Hauch eines Lächelns glitt über sein breites Gesicht, als er ihr bedeutete fortzufahren.
„Wir haben den ganzen Morgen über die Feinheiten von Tradition und praktischer Umsetzung diskutiert und sind uns nun einig geworden. Wir haben entschieden ... dass diese Entscheidung nicht bei uns liegt.“
Nachdem sie geendet hatte, trat Meisterin Weisenwisper zurück und Meister Schneewehe nahm ihren Platz ein.
„Die Entscheidung, ob Ihr Initianden eine dritte Prüfung ablegen müsst, sollte der Shado-Pan treffen, der für die dritte Prüfung zuständig ist. Leider musste er uns kurz nach Eurer Begegnung mit dem Sha verlassen. Die Pflicht rief, denn sämtliche Angelegenheiten, die unseren verabscheuungswürdigen Feind betreffen, fallen in die Zuständigkeit des Meisters der Wukao.“
Der Ruf eines Falken erschallte in der Morgenluft.
„Ich danke Euch für Eure Geduld, Meister.“
Meister Nurong trat auf die Terrasse. Seine Stiefel waren schwer von Schnee und sein Umhang wies noch Spuren der letzten Reise auf. An einem Ärmel bemerkte Zehn dunkelrote Spuren. In der einen Pfote hielt der Shado-Pan-Meister eine große Armbrust, in der anderen trug er einen Sack. Der Speer, den Zehn bereits vor einigen Monaten auf den Dächern kennengelernt hatte, war auf den Rücken geschnallt. Meister Nurong warf den Sack Meister Schneewehe und Meisterin Weisenwisper vor die Füße.
Der Sack ging auf und drei Köpfe kullerten auf die Steine. Erst dachte Zehn, es wären Schädel, doch dann bemerkte er die hervorstehenden Insektenaugen und die Mundwerkzeuge.
Mantis.
Bei jedem Kopf war ein Auge mit einem Armbrustbolzen durchbohrt und Meisterin Weisenwisper hob mit wissbegierigem Blick eines der grässlichen Gebilde auf.
„Ich habe diese Mörder in ihrem Versteck am Rand von Feuerzweigwinkel aufgespürt“, sagte Meister Nurong. Seine Stimme klang fest und tief, so wie Zehn sie in Erinnerung hatte. „Ich konnte nur wenig über sie in Erfahrung bringen, bevor sie starben. Mantis-Spione sprechen unter Folter nicht. Ich habe ihre Gliedmaßen trotzdem entfernt, um sicherzugehen.“
Meister Schneewehe nickte und winkte dann eine Akolythin zu sich, die an der gegenüberliegenden Wand stand. Die Dienerin mit dem weißen Schal eilte herbei, steckte die Köpfe in den Sack zurück und nahm den von Meisterin Weisenwisper angebotenen Kopf mit einer Verbeugung entgegen.
„Jetzt wissen wir, woher der Angriff kam oder zumindest haben wir Beweise, die darauf hindeuten“, sagte Meisterin Weisenwisper. „Leider ändert das unsere Taktik an der Mauer nicht. Wir werden sie verstärken, wo wir können, aber wir sind noch immer in der Unterzahl.“
Meister Nurong lächelte und blickte zum ersten Mal auf die Initianden.
„Zumindest haben wir drei fähige neue Mitglieder für unseren Orden ... oder zumindest bald, wenn sie die letzte Prüfung bestehen.“
Meister Schneewehe räusperte sich und sagte erstaunt „Ich hätte gedacht, dass vor allem Ihr von dem Mut dieser jungen Initianden über den Kampf und Sieg gegen den Sha-Eindringling beeindruckt sein müsstet. Gibt es denn einen besseren Weg, um den Geist der Shado-Pan unter Beweis zu stellen?“
Meister Nurong antwortete mit ernster Stimme „Ich bin beeindruckt. Nach allem, was ich gehört habe, haben die Initianden Mut, Stärke und ... erstaunlichen Einfallsreichtum bewiesen.“ Hier nickte er in Zehns Richtung, der verlegen blinzelte und den Kopf senkte.
„Aber die Tradition verlangt drei Prüfungen. Und die Initianden werden drei Prüfungen ablegen müssen, bevor sie von den Shado-Pan aufgenommen werden.“
Meisterin Weisenwisper verbeugte sich mit gelassener Mine – was bei ihr einem Lächeln wohl am nächsten kam. Sie trat einen Schritt zurück, als Meister Nurong vor die jungen Pandaren trat. Der einäugige Shado-Pan verschränkte die Arme.
„Steht auf, Initianden.“
Zehn, Pei-Ling und Chan der Schwere erhoben sich.
„Ich bin Meister Nurong von den Wukao. Die Wukao sind Späher, Jäger, Spione und Assassinen. Wir bringen aus dem Schatten Tod und lehren die Monster, die Nacht zu fürchten. Ihr habt alle die erste Prüfung bestanden und tragt nun ein Zeichen Eurer Entschlossenheit. Blickt auf Eure Pfoten, dort tragt Ihr unser Zeichen.“
Die drei Initianden blickten nach unten und sahen auf ihren Handflächen die runde Narbe, die gerade erst verheilt war. Die Narbe entsprach der Prägung auf der Münze – der Kopf eines Tigers. Zehn konnte sehen, wie Chan lächelte.
Natürlich. Er hat drei.
Meister Nurong fuhr fort „Ihr habt alle an der zweiten Prüfung teilgenommen und Ihr tragt ein Zeichen eurer Stärke. Diese Narben sind zahlreicher und ich verspreche Euch, dass noch unzählige mehr hinzukommen werden, wenn wir Euch als würdig erachten.“
Zehn spürte den Verband an seiner Stirn und nickte feierlich.
„Ihr habt einen Feind besiegt, dem sonst nur unsere erfahrensten Soldaten entgegentreten. Ihr habt den Schrecken der Sha kennengelernt und die dunkle Präsenz dieser Kreatur in Euren Herzen und Gedanken gespürt. Und während Euer Mut und Eure Stärke Euch das Leben gerettet haben, sind die Kosten dieses Kampfes größer, als Ihr ahnt. Es gibt einen Grund, warum wir keine untrainierten Krieger gegen einen solchen Feind schicken.
Von dem Augenblick an, als Euer Kampf begann, seid Ihr vom Sha gekennzeichnet worden. Sobald ihr das Kennzeichen eines Sha tragt, tragt Ihr es für immer. Jede Begegnung mit den Sha wird von diesem Tag an schwieriger und schrecklicher sein. Das Sha kennt Euch jetzt. Es kennt Eure Gedanken, Eure Schwächen und Eure Ängste.“
Und Zehn merkte, dass er wirklich Angst hatte. Es war eine Angst, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte. Was Meister Nurong sagte, stimmte. Er war gekennzeichnet. Zehn unterdrückte ein Schaudern und schaute mit verletztem Blick zu den Meistern auf.
Ihre Gesichter waren unergründlich. Meister Nurong schloss sein verbleibendes Auge.
„Und nun kommen wir zur dritten und letzten Prüfung.“
Das Sha verkörpert all die Angst, den Hass und das Böse in unserem Land. Es zeigt keine Gnade und wird niemals müde. Die geschworene Pflicht der Shado-Pan ist es, das Sha zu vernichten. Wir sind Schwert und Schild unseres Volkes und kämpfen gegen den Schrecken, den das Sha verbreitet. Wir sind die letzte Bastion, die sich dem Bösen entgegenstellt, mit dem es Pandaria überschwemmen will.
Wenn Ihr den Schwur unseres Ordens sprecht, entschließt Ihr Euch damit bewusst, wieder gegen das Sha in den Kampf zu ziehen. Und wieder. Euer ganzes Leben lang. Wir werden Euch lehren, es zu vernichten, und wir werden Euch die Kraft geben, der Angst zu widerstehen, die es verbreitet, aber eines ist sicher: Es wird niemals enden.
„Eure letzte Prüfung soll der Schwur der Shado-Pan sein. Im Angesicht des Wissens, das Ihr erworben habt, im Angesicht der Narben, die Ihr davongetragen habt, werdet Ihr fortan an unserer Seite stehen?“
Zehn wurde auf einmal kalt. Es war eine Kälte, die tief aus seinem Inneren kam.
Einem Sha erneut gegenübertreten? Es ... es hätte uns beinahe umgebracht. Und jetzt kennt es mich. Ich kann es nicht wieder tun. Ich kann der Angst nicht wieder in die Augen sehen. Sie wird mich zerquetschen.
Ein kalter Windhauch zog über die Terrasse und Zehn zitterte. Der kalte Wind dieses verfluchten Berges ließ seine Rippen schmerzen. Er betrachtete die kleine runde Narbe auf seiner Pfote, dachte daran, wie er nach Halbhügel zurückkehren würde, zurück in die Gassen, die sein Zuhause waren.
Das Leben dort war doch gar nicht so übel. Ich bin gut über die Runden gekommen. Ich war ein guter Dieb.
Ein Dieb.
Er hörte Weißfeder am blauen Winterhimmel über sich schreien. Und dann erkannte Zehn, dass diese Bezeichnung nicht mehr zu ihm passte. Sie war einfach zu unbedeutend.
Die Jahreszeiten sind unabänderlich.
Zehn stellte sich vor Meister Nurong auf und nahm dessen Pfote.
„Ich werde den Schwur ablegen und mich den Shado-Pan anschließen, Meister Nurong.“
Pei-Ling trat neben Zehn und Chan der Schwere auch.
„Ich werde den Schwur ablegen, Meister Nurong.“
„Ich ebenfalls.“
Meisterin Weisenwisper blickte sie mürrisch an, trat nach vorne und legte Ihre Pfote auf Meister Nurongs breite Schulter.
„Aber sie können den Schwur der Shado-Pan nicht als Prüfung für Ihre Tauglichkeit ablegen! Der Schwur ist erst möglich, nachdem sie die Prüfung bestanden haben. So ist es seit Jahrhunderten Tradi...“
„Ihr braucht mich nicht zu belehren, Yalia!“
Meister Nurongs eindringliche Worte hallten auf der Terrasse wider. Sein Ton war nicht zornig, aber er klang bedrohlich und warnend. Mit verdutztem Blick trat Meisterin Weisenwisper wieder zurück.
„Die Tradition verlangt, dass der Meister der Wukao die letzte Prüfung stellt. Dies habe ich hiermit getan. Diese Initianden haben sich entschieden, ihrem Volk zu dienen, wohl wissend, welche Schrecken sie in den nächsten Jahren erwarten werden. Sie haben den Mut und die Stärke des Geistes gezeigt, den die Shado-Pan in diesen Tagen brauchen.“
In diesem Moment kam Weißfeder angeflogen und landete auf der Schulter ihres Meisters.
„Ihr habt die letzte Prüfung bestanden, junge Shado-Pan. Ihr werdet Euren Schwur vor Meister Taran Zhu bei Sonnenuntergang auf der Brücke der Initiation leisten und nein, diesmal werdet Ihr nicht im See landen.“
Die anderen beiden Meister verließen die Terrasse mit ihren Akolythen im Gefolge. Zehn fiel auf, dass Meisterin Weisenwisper seinem Blick auswich. Er fragte sich, ob sie wohl immer so grimmig war, und freute sich nicht besonders auf das Training unter ihrer Leitung. Aber darum konnte er sich ein andermal kümmern.
Heute werde ich ein Shado-Pan.
Er verbeugte sich und folgte Pei-Ling und Chan. Sie würden sich jetzt in die Schlafquartiere zurückziehen und Zehn freute sich auf ein eigenes Bett – hoffentlich in der Nähe seiner neuen Freunde.
„Zehn von der Pfefferrolle, ich würde dich gerne einen Moment sprechen.“
Er wandte sich um und sah Meister Nurong auf einer Steinbank am Ende der Terrasse sitzen. Der einäugige Shado-Pan lehnte an der Wand und war offensichtlich erschöpft von seiner langen Reise. Zehn ging zu ihm hinüber und verbeugte sich respektvoll.
„Ja, Meister?“
Meister Nurong sah Zehn mit seinem müden Auge an und streckte ihm die Pfote entgegen.
„Du hast etwas, das mir gehört. Ich hätte es gerne zurück.“
Zehn lächelte und griff in seine Tunika.
„Entschuldigt bitte, Meister. Die Jahreszeiten sind unabänderlich ... alte Gewohnheiten leider auch.“
Das wilde Tal von Robert Brooks
„Keiner von Euch wird die Nacht überleben“, sagte der Orc.
Verteidiger Maraad und Schildwachenkommandantin Lyalia beachteten ihn nicht. Seit seiner Gefangennahme hatte er jede Nacht ähnliche Drohungen ausgesprochen. Lyalia schürte das Lagerfeuer mit einer der Klingen ihrer Mondgleve und richtete ein Holzscheit aus. Die Flammen prasselten kurz. Das Licht umspielte Maraads Hammer und warf einen violett flackernden Schein auf seine Rüstung.
„Die Nachtelfe ist zuerst dran“, sagte der Orc einige Minuten später. „Ich werde Euch dabei zusehen lassen, wie sie stirbt, Draenei. Das verspreche ich Euch.“ Er bewegte sich und die Fesseln an seinen Handgelenken klirrten leise.
Maraad antwortete ihm gar nicht erst. „Ihr solltet heute Nacht schlafen, Lyalia“, sagte der Draenei.
„So wie Ihr“, erwiderte sie. „Aber da Ihr es nicht könnt, werde ich es auch nicht tun.“ Selbst während sie in der Asche des Feuers stocherte, schaute sie immer wieder auf das weite, offene Gelände. „Außerdem ist er heute Nacht redselig. Vielleicht verrät er uns ja endlich seinen Namen.“ Sie warf dem Orc einen festen Blick zu. „Nein? Was kann denn ein Name schon schaden, wenn wir die Nacht sowieso nicht überleben?“
Der grünhäutige Gefangene sah sie wütend an, sagte aber nichts.
„Wie Ihr wollt“, sagte sie.
Die Sonne berührte den Horizont.
***
„Was genau meint Ihr“, fragte Haohan Lehmkrall, „mit ‚Wenn Donner roschelt, wird er heftig roscheln‘?“
Der Ho-zen-Landarbeiter sprang die mitten durchs Tal verlaufende Straße entlang und hielt mit Haohans Wagen Schritt. „Seit du weg bist, hat Donner nicht geroschelt.“
„Nicht ‚geroschelt‘?“
Mung-Mung wedelte mit der Hand vor seiner Nase, als hätte er etwas Stinkendes gerochen. „Ich will nicht da sein, wenn drei Tage Dammbutz aus seinem Fiddler rauskommen.“
„Na großartig“, sagte Haohan. Das Letzte, was er heute brauchte, war ein Mushan mit Verstopfung. „Gebt ein bisschen Olivenöl ins Futter. Das sollte alles durchflutschen lassen.“
Mung-Mung erschauderte. „Hab ich gorrbatschelt. Vor zwei Tagen angefangen. Immer noch nichts.“
Haohan starrte ihn ungläubig an. „Ihr habt ihm zwei Tage lang Öl gegeben? Und es kommt immer noch nichts?“ Auch er erschauderte. Wenn Donner roschelt ...
Die nächste halbe Meile legten sie schweigend zurück. „Weißt du, Bauer Fung ist früh humfastert. Ist schon bei deinem Haus“, sagte Mung-Mung.
„Gut. Wartet“, sagte Haohan und warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. „Was überlegt Ihr gerade?“
„Ich überlege, dass der Lollo besessen ist von verfiddeltem Dünger.“
Haohan grinste breit. „Und vielleicht hätte er gerne frische Zutaten. Das ist die beste Idee, die ich seit Wochen gehört habe.“ Ein Problem gelöst – hoffentlich. „Wer ist noch beim Haus?“
„Knacker.“ Damit meinte er den alten Hügelpranke. Kein Ratsmitglied, aber ein Nachbar. „Gina.“ Haohans Tochter.
„Wer noch?“
„Nur die“, sagte Mung-Mung.
„Wo sind Nana, Mina, Tina und Den?“
„Im Jadewald, immer noch.“
„Immer noch?“ Haohan runzelte die Stirn. „Ich dachte, sie würden heute zurückkommen. Das sollte ein Treffen des gesamten Rates werden. Wie sieht es mit Yoon aus?“
„Der Schmetz ist mit ihnen gegangen.“
„Oh.“ Jetzt fiel es Haohan wieder ein. Yoon hatte für den Bund der Ackerbauern einen Vertrag über Nahrungslieferungen mit Zwergenmaurern geplant.
Mit einer leichten Bewegung der Zügel lenkte Haohan den Wagen nach rechts und die beiden Pferde bogen auf die Straße ein, die zum Lehmkrall-Anwesen führte. Mung-Mung lief weiter im Knöchelgang neben dem Wagen her, machte jedoch keine Anstalten, aufzuspringen. Er traute Pferden nicht. Auch Haohan bevorzugte Mushan als Führungstiere, aber der Rüstmeister der Allianz in der Löwenlandung hatte angeboten, zwei gesunde Pferde gegen eine Wagenladung Karotten einzutauschen – ein Geschäft, das Lehmkrall sich nicht entgehen lassen konnte. Er musste eingestehen, dass der Umgang mit den Pferden wesentlich einfacher war. Selbst gut abgerichtete Mushan neigten dazu, nicht ganz den Zügeln zu folgen.
Plötzlich sprintete Mung-Mung voraus, kletterte auf einen Wegweiser und blickte in die Ferne. „Oh oh“, sagte er.
„Was?“
„Spitz die Mufpansel, Chef.“
„Eure Ohren sind besser als meine“, sagte Haohan.
„Ich höre Shed-Ling“, sagte Mung-Mung.
Haohan seufzte. „Jagen wir sie fort, bevor sie irgendjemanden zu Tode ärgern.“
Einer der Shed-Ling, ein größeres Männchen mit weiß gestreiftem Fell und einem seltsamen Hakenzahn, sprang nach vorn und warf Verteidiger Maraad eine Pfote voller Holzschnitzel hin. „Hier Geld. Her mit Möhren!“
Der Draenei ließ die Holzstücke von seinem Gesicht und der Brustpanzerung abprallen. „Ich habe keine Karotten“, sagte er ruhig.
Wütendes Geplapper brandete unter den Dutzenden von rotäugigen Nagern auf, die um das Trio herumstanden. Mehrere stampften bedrohlich mit den Füßen auf. Neben Maraad legte Lyalia die Hand an den Griff ihrer Mondgleve, zog sie aber nicht aus dem Gürtel.
„Glaubt Ihr, sie werden Ärger machen?“, fragte sie leise.
Maraad lachte. „Das bezweifle ich“, antwortete er. Mit lauterer Stimme fragte er: „Ihr wollt Karotten kaufen?“ Das Grummeln der Shed-Ling bekam einen leidenschaftlichen Unterton. „Es tut mir leid, dass ich euch enttäuschen muss. Aber ich habe keine Karotten zu verkaufen.“
Der Shed-Ling mit den Holzschnitzeln sprang wild auf seinen Hinterbeinen umher. „Wir sehen Halbhügel! Wir sehen Markt. Große geben runde Dinger, Große kriegen Möhren.“ Er warf ihnen eine weitere Pfote voller Holzschnitzel zu. „Jetzt her mit Möhren!“
Die kleinen Holzstücke regneten am Gefangenen herab. Der Orc knurrte und trat nach dem Shed-Ling, verfehlte ihn jedoch. Seine Fesseln klirrten.
Verteidiger Maraad hielt den Arm des Orcs fest umschlossen. „Wie ich schon sagte, ich habe keine zu verkaufen oder zu verschenken“, hob er an. „Und die meisten Händler wollen Gold und nicht die ... Münzen, die ihr da habt.“
„Hey!“ Eine Stimme schallte durch den Lärm. Lyalia sah, wie ein Pandaren und ein Ho-zen sich schnaufend näherten. Ein alarmierter Ruf ging durch die Gruppe der Shed-Ling. „Verschwindet von meinen Feldern!“, brüllte der Pandaren.
Die Shed-Ling stoben auseinander. Einer raste dem Draenei um die Hufe und hob einen Großteil seiner „Münzen“ auf. Der Ho-zen warf einen Stein nach ihm und verfehlte ihn nur knapp. Kurz darauf hatten sich alle Nager in ihre Baue zurückgezogen.
„Dumme Knatzel“, murmelte der Ho-zen.
„Tut mir leid“, sagte der Pandaren. „Sie sind nicht so verrückt wie noch vor ein paar Monaten, aber ab und zu brauchen sie immer noch mal einen kleinen Tritt.“
Lyalia lächelte. „Ich glaube nicht, dass sie böse Absichten hatten“, sagte die Nachtelfe.
Der Ho-zen untersuchte die Holzschnitzel. Er roch an einem und grinste. „Hey, Chef“, sagte er. „Achse.“ Er brach in Gelächter aus.
Der Pandaren stieß einen leisen, aber kräftigen Fluch aus. „Diese dämlichen Shed-Ling ... Deshalb haben sie die Achsen an drei meiner Wagen durchgenagt? Natürlich. Sie haben wahrscheinlich gesehen, wie ich sie mit Münzen gekauft habe, und dachten, die Wagen würden wirklich daraus bestehen.“ Er strich sich mit einer Pfote durch das Fell auf seinem Kopf und seufzte. „Na ja, so ist das hier wohl. Wenn man im Tal leben will, muss man mit ihnen fertig werden.“
„Mein Name ist Haohan Lehmkrall. Mir gehört dieser Hof.“
„Danke für Eure Hilfe. Mein Name ist Lyalia. Ich bin die Kommandantin der Schildwachen in Pandaria. Mein Freund hier ist Verteidiger Maraad der Exodar. Und dieser Geselle ... Wir wissen nicht, wie er heißt, also kann ich ihn auch nicht ordentlich vorstellen.“
Die Augen des Pandaren fielen auf den Orc. Und auf die Fesseln. „In dieser Gegend sieht man selten so seltsame Gruppen wie Eure.“
„Wir möchten euer Land nicht unbefugt betreten. Wenn ihr es wünscht, werden wir gehen“, sagte Maraad.
Haohan schüttelte den Kopf. „Wo Ihr sitzt, wächst nichts, also ist das kein Problem.“ Er warf dem gefesselten Orc einen weiteren Blick zu. „Ich dachte, die Probleme zwischen Euch wären erst einmal beigelegt“, sagte der Pandaren vorsichtig.
„Der Waffenstillstand gilt noch“, sagte Lyalia. „Der hier hat vor zwei Wochen eine kleine Hordenkarawane ausgelöscht und vor zehn Tagen versucht, meine Schildwachen aus dem Hinterhalt zu überfallen. Nach dem Waffenstillstand.“ Der Gesichtsausdruck der Nachtelfe war kühl. „Er hat Morde auf beiden Seiten begangen. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass er unzufrieden mit Höllschreis Niedergang ist.“
„Also ein Krimineller, kein Soldat“, sagte Haohan. Der Orc murrte, sagte jedoch nichts Verständliches. Haohan hob eine Augenbraue. „Und die Horde akzeptiert, dass Ihr ihn ... in Gewahrsam genommen habt?“
„Wir haben beschlossen, der Horde komplett aus dem Weg zu gehen“, sagte Verteidiger Maraad. „Einfache Missverständnisse geraten oftmals außer Kontrolle. Die Spannungen sind noch stark. Wir möchten den Frieden nicht gefährden.“
„Und was sie nicht wissen, macht sie nicht heiß.“ Haohan kratzte sich am Kinn. „Das ergibt Sinn. Na ja, dann gehen wir doch. Ich habe einen Wagen gleich hinter diesem Hügel.“
Lyalia und Maraad tauschten Blicke aus. „Und wohin soll es gehen?“, fragte Lyalia.
„Zu mir nach Hause. Ihr drei sollt ein Nachtlager bekommen.“
„Wir wissen das Angebot zu schätzen“, sagte Maraad, „aber wir müssen ablehnen.“
„Es macht keine Umstände.“
„Nein danke.“
„Diese Shed-Ling werden wiederkommen.“
„Wir werden mit ihnen fertig“, sagte Lyalia.
„Ich glaube, Ihr versteht nicht ganz“, sagte Haohan. „Wenn ich die Shed-Ling richtig einschätze, streiten sie sich gerade in ihrem Bau darüber, warum ihr Vorgehen fehlgeschlagen ist. Nachdem sie einen neuen Plan ausgeheckt haben, werden sie zuerst die anderen Baue aufsuchen und noch mehr Kämpfer versammeln. In ein paar Stunden dreht Ihr Euch dann vielleicht um und seht, wie euch Tausende von geifernden Shed-Ling anstarren und ‚Möhren, Möhren!‘ skandieren. Wenn ihr die dann allerdings nicht habt ...“. Er zuckte mit den Achseln. „Vielleicht schafft Ihr es ja, aber ich glaube nicht, dass es Euch Spaß machen wird, alle abzuwehren.“
Verteidiger Maraad wirkte besorgt. „Nun gut. Wir suchen uns eine andere Stelle für die Nacht aus.“
„Ihr versteht wirklich nicht ganz“, sagte Haohan. „Wenn ihr innerhalb der nächsten halben Stunde nicht Dutzende Meilen entfernt seid, werden sie Euch finden. Ihr glaubt gar nicht, wie hartnäckig die sein können, falls ihr nicht einige von ihnen erledigt, um zu zeigen, dass Ihr es ernst meint. Sie haben jedoch gelernt, sich von Häusern der Ackerbauern fernzuhalten. Wir haben Rechen und wissen, wie man sie einsetzt. Bei mir seid Ihr sicher.“
„Trotzdem“, sagte Lyalia und warf Maraad einen besorgten Blick zu, „können wir das nicht annehmen.“
Plötzlich meldete sich der Orc. „Bietet der Allianz keine Hilfe an, Bauer“, sagte er, „wenn Ihr nicht dasselbe Schicksal erleiden wollt wie sie.“
Haohan zwinkerte. „Oh. Ich verstehe.“ Er lächelte dem Draenei und der Nachtelfe zu. „Ihr glaubt, Euer Gefangener wäre gefährlich. Und dass ich nicht auf mich selbst aufpassen kann.“
Lyalia führte den Pandaren einige Schritte außer Hörreichweite des Orcs. „Wir können Euch keinem Risiko aussetzen“, sagte sie. „Wir wissen nichts über ihn oder darüber, mit wem er vielleicht zusammengearbeitet hat. Wir haben die Horde in der Krasarangwildnis weit – sehr weit – umgangen, um ihn unbemerkt zur Löwenlandung zu bringen. Wenn er nicht allein gehandelt hat, könnten wir jederzeit angegriffen werden.“
Haohan beäugte den Orc. „Er ist ein Anhänger von Höllschrei? Und vielleicht kommen andere Anhänger, um ihn zu befreien? Dann ist es beschlossene Sache. Ihr bleibt bei mir.“
„Das können wir nicht.“
„Tja, hier draußen könnt Ihr auch nicht bleiben. Ich meine das mit den Shed-Ling ernst“, sagte Haohan. „Ich möchte helfen. Leute wie er haben unserem Land genug Schaden zugefügt. Morgen früh bringe ich Euch drei auf meinem Wagen zur Löwenlandung.“
Lyalia zögerte. Das würde ihre Reise um mehrere Tage verkürzen.
„Ein Nein lasse ich als Antwort nicht gelten“, sagte Haohan.
***
Bauer Fung warf den Neuankömmlingen einen mürrischen Blick zu, als sie das Lehmkrall-Anwesen betraten. „Noch mehr Gäste, Haohan? Dazu Fremde?“, fragte er. „Wollt Ihr mich so etwa manipulieren?“
„Sie wurden von Shed-Ling belästigt“, sagte Haohan. „Ich gebe ihnen heute Nacht nur ein Dach über dem Kopf.“
„Hört auf mit den Spielchen.“ Fung zeigte mit dem Finger empört auf Haohan. „Ihr habt rein zufällig Fremde in der Nacht mitgebracht, in der wir über Fremde reden? Wenigstens ist Bauer Yoon nicht hier. Er hatte Glück. Er hat einen guten Partner gefunden. Nur, weil ich einen einzigen Fremden mag, heißt das noch lange nicht, dass unser Tal von ihnen überrannt werden soll.“
„Einwand zur Kenntnis genommen, Fung“, sagte Haohan müde. „Mung-Mung, wolltet Ihr Euch nicht mit Fung über etwas unterhalten? Vielleicht über das Mushan? Oder Inhaltsstoffe von Düngern?“
„Wirklich?“, fragte Fung und seine Miene erhellte sich.
Mung-Mung warf Haohan einen verärgerten Blick zu, als Fung ihn mit sich hineinschleifte.
„Haohan“, sagte eine andere Stimme. Haohan drehte sich um. Der alte Hügelpranke stand in der Nähe des Mushanpferchs und rief ihn: „Euer Mushan ist krank.“
„Mung-Mung hat es mir schon gesagt, Hügelpranke“, erwiderte Haohan und stellte sich neben ihn an den Zaun. Beide sahen zum Pferch, in dem Donner geräuschvoll Heu kaute. „Ich weiß nicht. Ich finde, er sieht eigentlich gesund aus.“
Das Mushan rülpste laut und ein schrecklicher Gestank erfüllte die Luft. Haohan rümpfte die Nase. Es war ein Wunder, dass die Feldfrüchte in der Nähe nicht welkten. Das Geräusch wurde von den Bergen im Norden zurückgeworfen. Er hätte schwören können, dass auch der Geruch zurückgeworfen wurde. „Ja, der alte Knabe ist krank.“
„Gebt ihm Öl“, sagte Hügelpranke. Haohan spürte, wie sein Kopf zu schmerzen begann.
***
Lyalia half dem Orc aus dem Wagen. Maraad trat nach ihm heraus.
Die Nachtelfe bemerkte den älteren Pandaren, der neben Haohan stand. Hügelpranke löste seinen Blick vom Mushan und schien die drei Fremden zu studieren. Lyalia nickte ihm zu. Er nickte nicht zurück. Ein Strohhut mit breiter Krempe hielt seine Augen im Schatten. Das Fell an seinem Kinn war zu einem langen Bart gewachsen. Der andere Pandaren, Fung, hatte seine Feindseligkeit zumindest klar geäußert. Welche Absichten dieser hatte, konnte Lyalia nicht erkennen.
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Pflicht zu: dem Gefangenen und allen, die versuchen könnten, ihn zu retten. Ihr Blick schweifte über den Horizont.
Lehmkralls Haus stand in der Nähe der Spitze eines kleinen Hügels. Es war nicht weit entfernt von der Gebirgskette, die das Tal der Vier Winde vom Tal der Ewigen Blüten trennte, und bot einen spektakulären Ausblick auf das umliegende Ackerland. Selbst im schwächer werdenden Licht konnte Lyalia unzählige Reihen riesiger Gemüsepflanzen und anderer Feldfrüchte erkennen, die sich in die Ferne erstreckten. Zwischen dem Haus und der Gebirgskette fiel der Boden steil bis zu einem Gewässer ab.
Es war keine Bedrohung in Sicht. Zeit, sich um profanere Angelegenheiten zu kümmern.
„Kommt Ihr kurz allein mit dem Orc klar?“, fragte sie Maraad. Er brummte zustimmend.
Lyalia nahm ihre leeren Wasserschläuche und ging vorsichtig hinab zum Rand des Teichs. Kurz darauf gesellte sich Hügelpranke, der ältere Pandaren, zu ihr.
„Geht nicht hinein“, riet er ihr.
Die Oberfläche des großen Teichs wirkte ruhig. „Warum?“
„Seht her“, sagte Hügelpranke. Er ließ seinen Arm nach vorne peitschen und ein Stein hüpfte über das Wasser. Kleine Wellen breiteten sich nach jedem Sprung aus. Und dann ...
... schoss etwas Massiges aus der Tiefe und durchbrach die Oberfläche. Ein riesiges Auge starrte die beiden Gestalten am Ufer an. Die Länge der Kreatur entsprach mindestens sechs bis sieben Mal Lyalias Körpergröße. Vielleicht sogar noch mehr.
Das Wesen tauchte ab und das Wasser wurde wieder ruhig.
„Was war das?“
„Ein Rohrkolbenbarsch“, sagte Hügelpranke. „Die werden manchmal ziemlich groß.“
„Das ist ein bisschen mehr als groß“, sagte Lyalia.
„Darum erlegt man sie. Oder man sollte es zumindest. Mung-Mung ist ein bisschen faul gewesen.“ Der alte Hügelpranke ächzte. „Am Ufer ist man sicher, wenn das Vieh nicht beschließt, dass es einen nicht mag. Springt einfach nicht ins Wasser.“
„Das werde ich mir merken.“ Lyalia füllte ihre Wasserschläuche zu Ende auf.
Der alte Hügelpranke blieb bei ihr. „Ich kenne die Fesseln des Orcs. Ich habe das Siegel des Weißen Tigers gesehen“, sagte er.
„Ah.“
„Handschellen der Shado-Pan. Diese Art benutzen sie, um Leute mit ... ungewöhnlichen Kräften in Schach zu halten. Leute mit unbekannten Kräften.“
„Ihr habt recht“, sagte Lyalia. „Sie waren ein Geschenk.“
„Die Shado-Pan machen normalerweise keine Geschenke“, sagte Hügelpranke.
„Das stimmt. Sagen wir, sie waren eine Bezahlung“, erwiderte Lyalia. „Dafür, dass jeder, der sie trägt, so schnell und unauffällig wie möglich von ihrem Land entfernt wird.“
„Das hört sich schon eher nach den Shado-Pan an.“
„Hattet Ihr schon mal mit ihnen zu tun?“
Der alte Hügelpranke antwortete nicht und Lyalia hakte auch nicht nach.
„Wie lang seid Ihr und Euer Freund schon in Pandaria?“, fragte Hügelpranke.
„Verteidiger Maraad ist erst vor Kurzem eingetroffen und wird wahrscheinlich schon bald wieder abreisen. Aber ich war eine der ersten meines Volkes, die Euer Land betreten haben“, sagte Lyalia.
„Warum? Was hat Euch hierher geführt?“
Sie zögerte. Hügelpranke ließ keinerlei Emotionen erkennen. Sie wusste nicht, ob er aus Neugier oder Misstrauen fragte. Sie beschloss, ehrlich zu sein. „Einer unserer Anführer hat in einer Vision ein gesegnetes Land erblickt. Einige von uns suchten nach anderen Dingen –“ Lyalia senkte kurz den Kopf, als plötzlich Erinnerungen an ihren Vater hochkamen, „aber diese Vision hat unsere Schiffe in Bewegung gesetzt. Das Land stellte sich als das Tal der Ewigen Blüten heraus.“
„Und was habt Ihr dort gemacht?“
Monatelang Mogu bekämpft, nur um mitzuerleben, wie ein tyrannischer Orc alles zerstört. Lyalia wollte nicht alles erzählen. „Ich habe versucht, es zu schützen.“ Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern: „Elune weiß, dass ich es versucht habe.“
Stille legte sich über den Teich. Das Wasser warf kleine Wellen. Schließlich ächzte Hügelpranke erneut und ließ sie wortlos am Ufer zurück.
Lyalia schaute wieder auf den Teich. Von der unter der Oberfläche lauernden Gefahr war nichts zu sehen.
***
Ein breiter grüner Finger stocherte in der Asche des erloschenen Lagerfeuers. „Noch warm. Sie waren heute Nacht hier.“ Der Orc drehte sich zu den anderen acht um. „Wir holen sie uns vor Sonnenaufgang. Bildet Zweiergruppen. Macht Euch bereit.“
Einer der übrigen Orcs trat von einem Bein auf das andere. „Die Geister benehmen sich nicht, Zertin.“
„Die Geister hier sind verwöhnt und weich, Kishok.“ In Zertins Antwort schwang Wut mit. „Es sind Kinder, die Disziplin brauchen. Wenn Ihr nicht mit Kindern umgehen könnt, dann öffnet jetzt Eure Venen und erspart mir die Mühe, Euch auszuweiden.“
Es gab keine weiteren Einwände.
„Gut. Bewegung.“
Sie gingen los. Leise, verborgen in der Dunkelheit der Nacht.
„Nehmt nicht die ganze Soße, Gina“, sagte Bauer Fung. „Ihr ertränkt ja das Fleisch.“
„Das wäre schrecklich“, sagte Gina Lehmkrall ohne jeglichen Anflug von Sarkasmus. Sie blickte zu ihrem Vater Haohan. Er erwiderte den Blick nicht, da er viel zu beschäftigt mit dem Gemüseschneiden war. „Stellt Euch all das zarte, würzige Fleisch vor, das mit jedem Bissen zergeht. Wirklich tragisch.“ Vielleicht hatte sie den Sarkasmus doch nicht ganz außen vor gelassen.
Fung blickte mürrisch drein. „Für frisches Fleisch braucht man nicht so viel Soße. Aber das hier stammt von einem der Hühner des alten Hügelpranke, oder? Das erklärt alles. Würde ich Hühner züchten, hätten sie nicht so einen strengen Geschmack. Ich kann verstehen, dass Ihr gerne etwas mehr Soße hättet. Nehmt euch aber trotzdem nur halb so viel.“
„Euer Mund“, sagte der alte Hügelpranke, „tut Euch keinen Gefallen, Fung.“
Gina warf Fung ein schräges Lächeln zu und schüttete die Soße in den Wok. Die ganze. Fung schnalzte mit der Zunge.
„Wo sind unsere Gäste?“, fragte Gina.
„Im Keller“, antwortete Haohan. Auf die Reaktion seiner Tochter hin meinte er: „Es ist ihre Entscheidung, nicht meine, Gina.“
„Sie sind da unten richtig zusammengepfercht“, murmelte Gina. „Mit der Karottenernte.“
„Da ist genug Platz für drei, wenn sie gut miteinander auskommen.“
„Oder wenn einer in Ketten liegt und kein Wörtchen mitzureden hat“, meinte Fung.
„Das stimmt. Sie haben uns auch gebeten, die Türen nachher abzuschließen.“
Gina füllte drei Schalen mit Suppe und gab Fung ihre Kelle. „Versucht das Essen zu retten“, sagte sie ihm mit ironischem Unterton. „Ich bringe die hier unseren Gästen.“ Sie balancierte die Schalen auf ihren Armen und trat einen Schritt vom Wok zurück, bevor Fung etwas einwenden konnte.
***
Ohrenbetäubendes Geplapper erfüllte den gerammelt vollen Bau. „Hakenzahn gesagt, wir kriegen Möhren!“, rief einer der Shed-Ling. „Wir geben Geld, sie geben Möhren. Nicht stehlen! Wir kaufen! Hakenzahn gesagt!“
Hakenzahn fauchte, sein weiß gestreiftes Fell gesträubt. „Wir nagen Münzen aus Wagen. Das hast dugesagt! Große wollen Wagenmünzen nicht. Wollen Glitzer! Ich nicht schuld!“
Die Baumutter stampfte laut schnaubend auf den Boden. Alle wurden still. Eine Reihe leuchtend roter Augen drehten sich zu ihr. Sie trottete durch den Bau und warf Hakenzahn einen scharfen Blick zu. Er sträubte das Fell und fauchte, sagte jedoch nichts. „Hakenzahn recht. Große wollen Glitzer. Nicht Wagenmünzen. Morgen stehlen wir Glitzer von Großen. Wir kaufen Möhren mit Glitzer!“
„Warum stehlen wir Glitzer?“, fragte eines der Jungtiere. Ein größerer Shed-Ling biss ihm ins Ohr. Der kleinere hüpfte außer Reichweite und weigerte sich, still zu bleiben. „Warum stehlen wir nicht Möhren?Wie immer.“
„Wir stehlen Möhren, Große hauen mit Rechen und Schaufel. Wir kaufen, Große hauen nicht“, sagte die Baumutter.
„Hauen mit was, wenn wir Glitzer stehlen?“, hakte das Jungtier nach.
Das hatten die anderen nicht bedacht. Wieder brandeten Streitgespräche auf.
Dann sah Hakenzahn direkt nach oben. „Ruhig!“ Im Bau wurde es still. „Hört!“ Die Erde bebte. Schritte. Über ihren Köpfen. Zu groß, als dass es sich um andere Shed-Ling handeln könnte. „Mehr Große! Vielleicht haben Möhren!“
Die Shed-Ling stürmten zum Eingang des Baus. „Holt Wagenmünzen!“, rief die Baumutter.
Neun Große gingen durch die Rübenfelder. Seltsam, dass sie nicht die Straße benutzen, dachte sich Hakenzahn. Kurz darauf waren alle neun umzingelt.
„Möhren! Möhren!“, skandierten die Shed-Ling. Hakenzahn hüpfte nach vorn und warf dem Anführer der Fremden mehrere Pfoten voller Wagenmünzen ins Gesicht. Dann blieb er abrupt stehen. Der Ausdruck des Großen schien gezeichnet von reiner Wut. Hakenzahn warf zögernd ein paar weitere Wagenmünzen und hüpfte dann zurück in die Menge. Irgendetwas in den Augen des Fremden machte ihn nervös.
Die Baumutter trat vor. „Wir haben Münzen. Wir wollen Möhren. Her mit ...“
Ein starker Windstoß blies sie um. Die anderen Shed-Ling verstummten. Manchmal erhob sich der Wind, manchmal bebte die Erde, aber es gab immer Warnsignale. Die Shed-Ling hatten gelernt, diese Signale zu erkennen. Sie wussten, dass sie unter der Erde bleiben sollten, wenn ein Sturm sie hinfort fegen könnte, und aus dem Bau fliehen mussten, wenn bei einem Beben Einsturzgefahr bestand. Die Geister konnten boshaft und zu Scherzen aufgelegt sein, waren aber nur selten grausam und warfen keine Shed-Ling grundlos um. Selbst wenn die Großen sie darum baten, würden sie es niemals tun.
Die Baumutter kam wieder auf die Beine. Ihre Unsicherheit hielt nur wenige Augenblicke an. Vor Wut quietschend machte sie einen Satz nach vorn. „Her mit Möhren! Nehmt Münzen!“
Wieder gab es keine Vorwarnung. Der Wind holte sie von den Füßen und hob sie in die Luft. Die Baumutter schrie. Es war, als hätten die Geister mit ihr geschrien. Plötzlich ließ der Wind sie nach unten fallen. Die Erde erhob sich.
Erde und Wind heulten gemeinsam. Und gemeinsam zerquetschten sie sie.
Die Shed-Ling zogen sich zurück. Die Überreste der Baumutter fielen leblos zu Boden.
Die Großen lächelten.
Hakenzahn machte kehrt und floh lauthals quiekend mit den anderen zurück in den Bau. Sie alle hatten in den Monaten zuvor seltsame Dinge erlebt – die dunkle Energie der Sha, die in ihnen blinden Eifer ausgelöst hatte, die Ho-zen-Überfälle, Unmengen von durch das Tal der Vier Winde stampfenden Fremden – und keiner von ihnen wollte die neue Macht erleben, die diese neun Fremden nutzten.
Die Shed-Ling kauerten sich still zusammen und hofften, dass die Großen bald verschwinden würden.
***
Gina trug die dampfenden Suppenschalen die Kellertreppe hinunter. Gegen den Haufen geernteter Karotten gelehnt, unterhielten sich der Draenei und die Nachtelfe leise. Der Orc saß mit dem Rücken an der Erdwand im Norden. Er lächelte.
„Worüber freut der sich denn so?“, fragte Gina.
„Das würde ich ihn fragen, wenn ich eine Antwort erwarten könnte“, sagte Verteidiger Maraad. Der Draenei trug immer noch Rüstung und sein Hammer befand sich in Griffweite.
Gina gab Lyalia und Maraad eine Schale mit Suppe. Die dritte stellte sie dem Orc vor die Füße. Der Gefangene sah weder die Schale noch Gina an. „Seid Ihr beide oft zusammen unterwegs?“, wollte sie wissen.
„Zum ersten Mal“, sagte Lyalia.
„Aus freien Stücken oder Notwendigkeit?“
„Beides“, sagte Maraad. „Ich habe mich freiwillig gemeldet, den Shado-Pan bei der Suche nach dem Angreifer auf den Konvoi zu helfen, und einige ihrer Schildwachen waren in der Gegend. Wir haben in Zweiergruppen gesucht. Und hier sind wir nun.“
„Die Draenei haben mit den Shado-Pan zu schaffen?“
Maraad lächelte leicht. „Nicht so, wie Ihr denkt. Der Feldzug in Eurem Land ist vorbei. Prophet Velen will gute Beziehungen zu allen Völkern Pandarias unterhalten. Er ist persönlich hier, verbringt aber die meiste Zeit im Norden. Es ist ein faszinierender Ort mit einer faszinierenden Geschichte. Es gibt hier viel zu lernen.“ Er nippte an der Schale mit Suppe.
„Wir arbeiten ziemlich gut zusammen“, sagte Lyalia, „wenn man bedenkt, dass seit sechs Tagen keiner von uns geschlafen hat.“
Gina riss die Augen auf. „Seit sechs Tagen?“
„Maraad behält den Orc im Auge.“ Lyalia fragte sich, ob sie erklären sollte, dass Paladine Möglichkeiten besaßen, unerwartete Zauber zu unterdrücken. Sie hatte keine Ahnung, ob eine gewöhnliche Pandaren selbst nach Monaten des Umgangs mit Fremden solche Dinge verstand. Gina nickte einfach; vielleicht verstand sie es. „Und ich behalte alles andere im Auge.“ Die Nachtelfe verzog das Gesicht. „Ich weiß, dass wir das Tal nicht unverteidigt lassen durften. Ich wünschte nur, wir hätten einige zusätzliche Schildwachen für diese Reise abziehen können. Oder zumindest meinen Nachtsäbler.“ Esche hatte sich einige Wochen zuvor eine kleine Wunde an einem Bein zugezogen und Lyalia war sich nicht sicher, ob er solch eine lange Reise hätte durchstehen können.
„Das Tal? Warum sollte es immer noch verteidigt werden?“
„Die meisten Shado-Pan sind nach Norden gezogen, zum Kun-Lai. Zum Tempel des Weißen Tigers“, sagte Maraad. „Habt Ihr nicht gehört von dem ...“
– bumm bumm bumm bumm ...
Maraad verstummte. Gina legte ihren Kopf auf die Seite. „Was ist das für ein Geräusch?“
... BUMM bumm bumm bumm BUMM bumm bumm bumm ...
Der Orc hob den Blick. Sein Lächeln bekam etwas Wildes. Das Geräusch vibrierte durch die Wände des Kellers. Kleine Stücke Erde fielen zu Boden.
„Maraad?“ Lyalia hob langsam ihre Mondgleve. „Das fühlt sich an, als käme es aus dem Boden. Sind das die Elemente?“
„Ich bin kein Schamane, aber ich glaube schon“, sagte Maraad leise. Das Licht ließ seinen Hammer glühen.
Lyalia zog die Panzerhandschuhe fester. Ihre grünen Augenbrauen senkten sich. „Jetzt wissen wir, was unser Freund ist, oder?“
„Ja.“
***
Haohan, Hügelpranke und Fung verstummten umgehend, als der Boden in einem seltsamen Rhythmus zu beben begann. BUMM bumm bumm bumm ...
„Das ist nicht gut, oder?", fragte Fung.
Die Kellertüren schwangen auf. Gina kam herausgesprungen. Die beiden Allianzmitglieder folgten ihr und schoben den Orc vor sich her.
„Nein“, sagte die Nachtelfe, „das ist es nicht.“
***
„Schau dir diese Knatzel an.“ Mung-Mung pfiff leise.
Von seinem Hochsitz auf dem Baum vor Lehmkralls Haus konnte er sehen, wie neun Orcs einen großen Halbkreis bildeten. Das Gebirge im Norden versperrte neben ihnen den Weg und ließ nur den Weg mitten durch die Orcgruppe frei. Zwei der Orcs bewegten ihre Arme im Rhythmus des Bebens in der Erde.
BUMM bumm bumm bumm ...
Das sollte wohl einschüchternd wirken. Sie warfen sich in Pose. Darüber wusste Mung-Mung Bescheid. Als er sechs Jahre alt war (und einfach nur Mung hieß), hatte ihn ein größerer Ho-zen einmal zu Boden gedrückt. Er hatte sich auf die Brust getrommelt und Mung angeschrien, damit er unten blieb, aufgab und die Wildvogeljagd den „echten Flotschern“ überließ.
BUMM bumm bumm bumm ...
Der größere Ho-zen war gefallen. An diesem Tag hatte sich Mung seinen Namensnamen verdient. Mung-Mung.
„Die wollen mit einem echten Flotscher düffklastern?“, flüsterte er. „Kein Problem für Mung-Mung.“
Er zählte noch einmal. Neun Orcs.
***
„Unser Gefangener und die Orcs draußen sind Dunkelschamanen“, sagte Verteidiger Maraad. „Das sind keine guten Neuigkeiten.“
Der Gefangene nahm eine aufrechte Haltung an. „Sie sind Mitglieder der wahren Horde“, sagte er. „Und sie folgen meinen Befehlen. Ich bin Mashok von den Kor'kron. Ich kommandiere die Dunkelschamanen auf diesem Kontinent.“ Er lächelte Lyalia süffisant an. „Ihr hattet recht, Allianzlerin. Da Ihr die Nacht nicht überleben werdet, kann ich Euch so viel ruhig verraten.“
„Kor'kron?“ Bauer Fung wirkte nicht beeindruckt. „Höllschreis Handlanger? Bei Orgrimmar haben sie sich nicht so gut geschlagen.“
„Das habe ich auch gehört“, sagte Gina zustimmend.
„Sie hatten Protodrachen und die Macht eines Sha, konnten aber trotzdem nicht gewinnen“, fügte Haohan hinzu.
Ein böser Ausdruck huschte über Mashoks Gesicht. Seine Fesseln stießen klirrend zusammen. „Hütet Eure Zungen, wenn Ihr sie behalten wollt. Ein paar von Euch haben vielleicht noch die Chance, einen weiteren Sonnenaufgang zu erleben.“
BUMM bumm bumm bumm BUMM bumm bumm bumm ...
Mashok hob seine gefesselten Hände und schnippte mit dem Finger. Sofort hörte der Rhythmus auf. Lyalia sah Maraad erschrocken an. Der Draenei ließ den Orc nicht aus den Augen, machte aber eine leichte Bewegung mit seinem Hammer. Die Fesseln der Shado-Pan. Er sah, dass sie es verstand. Sie unterdrücken vielleicht einen Großteil seiner Kraft, aber anscheinend nicht alles.
Stille erfüllte das Haus der Lehmkralls.
Einen Moment lang.
„Ihr Dunkelschamanen könnt also Musik machen“, sagte Bauer Fung mit einem spöttischen Grinsen. „Sollen wir davor etwa Angst haben? Da habe ich schon Besseres gehört.“
„Was Ihr gehört habt“, sagte Mashok genüsslich, „waren die unter unserem Befehl marschierenden Elementargeister Eures Landes. Sie stehen bereits unter unserer Kontrolle. Wir wurden in
Durotar
ausgebildet, Pandarendummkopf. Das ist ein raues Land. Nicht weich, ineffektiv und kindisch wie Eures. Die Geister hier hatten niemals auch nur den Hauch einer Chance, sich uns zu widersetzen.“
Der alte Hügelpranke hatte während des Gesprächs nichts gesagt. Das änderte sich nun. „Also. Dunkelschamane. Beherrscher der Elemente. Mitglied der ‚wahren Horde‘.“ Er trat näher an Mashok heran. „Gefangen von nur zwei Allianzkämpfern. Eure Macht ist wahrlich grenzenlos. Warum habt Ihr Lager der Horde überfallen, bevor diese beiden Euch gefangen genommen haben? Weil sie nicht zur ‚wahren Horde‘ gehörten?“
Mashok warf seinen Kopf in den Nacken und lachte. „Sie hatten beschlossen, den Kriegshäuptling zu hintergehen. Sie verdienten wesentlich Schlimmeres als das, was ich ihnen angetan habe.“
Der alte Hügelpranke war noch nicht fertig. „Erklärt mir, warum eine Gruppe Dunkelschamanen der Kor'kron sich hier in Pandaria aufhält. In Orgrimmar wart Ihr ja offenbar nicht. Wurdet Ihr zurückgelassen, nachdem Euer Kriegshäuptling unser Land geschändet hatte?“ Feuer flammte in den Augen des Orcs auf. Hügelpranke nickte. „Hab ich's mir doch gedacht. Ihr wart nicht einmal nützlich genug, als dass Höllschrei bei seiner Rückkehr nach Orgrimmar auch nur einen Gedanken an Euch verschwendet hätte.“
„Hier ist das einzige Angebot, das ich Euch Bauern jemals machen werde“, knurrte Mashok. „Draußen warten gerade fünfzehn Kor'kron. Ihr ...“
„Neun. Es sind neun.“ Mung-Mung schwang sich ins Haus und landete auf einem Tisch. Er kratzte sich an der Achselhöhle und grinste den Orc an. „Ich habe zweimal nachgesehen.“
Mashok war irritiert. Maraad und Lyalia warfen sich düstere Blicke zu. Neun Dunkelschamanen? Kaum eine Chance, selbst wenn der alte Hügelpranke recht mit seiner Annahme hatte, dass es sich nicht um Höllschreis Elite handelte. Aber besser als fünfzehn. Interessant, dass Mashok glaubt, lügen zu müssen, dachte sich Maraad.
„Wenn Ihr Pandaren einen Funken Intelligenz besitzt, dann hört gut zu“, sagte Mashok schließlich mit bedrohlicher Stimme. „Lasst mich sofort frei. Sofort. Dann werde ich Euch nicht töten. Ich werde sie töten ...“ Er zeigte auf Verteidiger Maraad und Lyalia. „Euch jedoch nicht. Wenn Ihr auch nur den geringsten Widerstand leistet, werde ich Euer Haus um Euch herum niederreißen.“
Der alte Hügelpranke zeigt nur kalte, rohe Wut. Er ging bis auf Nasenweite an den Orc heran. „Dieses Land untersteht nicht Eurem Befehl“, sagte er. „Hier habe ich meine Familie großgezogen. Hier habe ich meine Familie begraben. Es wird auf immer mir und ihr gehören. Glaubt Ihr wirklich, wir würden uns Leuten wie Euch beugen?“
Mashok lächelte auf den älteren Pandaren herab. „Die Abmachung“, sagte er, „gilt für Euch nicht mehr. Die anderen sollten ihre Entscheidung schnell treffen.“
„Keine Sorge“, sagte Haohan. „Wir sind nicht dumm. Ihr würdet keinen von uns überleben lassen.“ Die anderen Ackerbauern nickten.
Maraad ließ langsam einen tiefen Atemzug entweichen. Wenn die Ackerbauern sich hätten ergeben wollen ...
„Wir werden sie aufhalten, solange wir können“, sagte die Nachtelfe und tauschte einen weiteren finsteren Blick mit Maraad aus. Neun gegen zwei. Im besten Fall könnten sie den anderen mit ihrem Leben ein paar Minuten erkaufen. „Lauft nach Halbhügel. Schlagt Alarm. Die Allianz wird Euch helfen. Die Horde wahrscheinlich auch“, sagte sie widerwillig.
„Auch da müsst Ihr Euch keine Sorgen machen“, sagte Gina. „Wir laufen nicht weg.“
„Das ist nicht Euer Kampf“, sagte Maraad.
„Es ist mein Haus“, sagte Haohan.
„Ich hab's so gemeint, wie ich es ihm gesagt habe.“ Der alte Hügelpranke blickte entschlossen drein. „Ich werde mich ihnen nicht beugen. Dieses Land kann man nicht so einfach einschüchtern – und uns auch nicht. Und wenn Ihr glaubt, wir würden nicht kämpfen wollen, dann kennt Ihr uns nicht besonders gut.“
Bauer Fung schnaufte verächtlich. „Ihr müsst nicht so dick auftragen, Hügelpranke“, sagte er. „Aber ja. Ich werde auch hierbleiben.“
„Dummköpfe“, sagte der Orcgefangene kaum hörbar. „Schwache vollkommene Dummköpfe. Jeder Einzelne von Euch verdient das, was Euch bevorsteht.“
Keiner beachtete ihn. Maraad lächelte. „Dann schlage ich Folgendes vor: Wir sperren den Gefangenen in Eurem Keller ein. Ich werde draußen die Führung übernehmen, ihre Aufmerksamkeit auf ...“
Ein Geräusch unterbrach ihn. Klingender Stahl. Hohle Schläge.
Mashoks Fesseln fielen zu Boden.
Eine dünne kleine Ranke zog sich schnell zwischen zwei Holzleisten zurück. Sie hatte das Schloss geknackt. Der Orc war frei.
Dicke Wurzeln, dornig und braun, schossen an drei Stellen durch den Boden des Hauses. Verteidiger Maraad zögerte keine Sekunde. Er schleuderte die Macht des Lichts. Der Orc schwankte und fiel auf ein Knie. Die Wurzeln erschlafften.
Doch kurz darauf lächelte der Orc. Und stand wieder auf. Die Wurzeln zuckten.
Maraad schob das Licht weiter nach vorn, um den Orc zu betäuben und daran zu hindern, seine Kraft einzusetzen, konnte jedoch spüren, wie der Dunkelschamane seinen Willen beanspruchte und immer stärker wurde. Die anderen Dunkelschamanen zwangen draußen die Geister dazu, ihm zu helfen.
Gina hob die Handschellen auf. „Ich lege sie ihm wieder an.“
„Bleibt, wo Ihr seid“, sagte Maraad.
„Ich habe keine Angst vor ihm. Ich kann ...“
„Geht nicht näher an ihn heran.“ Der Draenei war erleichtert, als er sah, dass Gina einen Schritt zurücktrat. Er hatte die Körperhaltung des Orcs gesehen. Mashok hätte sie als Geisel genommen oder auf der Stelle getötet. Maraad strengte sich an, die Kraft des Orcs in Schach zu halten, während diesen von draußen eine unglaubliche Welle der Stärke durchströmte. Diese Handschellen würden überhaupt nichts bringen, wenn Maraad den Orc nicht vorher vollständig bändigen konnte.
Das Licht war unendlich stark. Daran glaubte Verteidiger Maraad. Aber er war nur ein Gefäß. Und Gefäße haben Grenzen. Und Schwächen. Das wusste Maraad nur zu gut. Diese neun Dunkelschamanen – diesezehn, wenn man Mashok mitzählte – würden ihn schließlich besiegen. Jemand musste die Dunkelschamanen draußen vernichten. Und jemand musste Mashok in Schach halten.
Lyalia zog ihre Mondgleve. Maraad konnte ihren besorgten Blick spüren. „Geht es Euch gut?“, fragte sie.
„Mashok und ich haben einiges zu bereden“, sagte Maraad. „Wir werden die Unterhaltung im Keller führen. Wir möchten Euch nicht ablenken.“
Lyalia erstarrte. Mit ihren Augen stellte sie eine stille Frage. Seid Ihr sicher? Maraad nickte. Lyalia biss die Zähne zusammen.
Der Orc sah ihren wortlosen Austausch und lachte, doch Maraad richtete einen Teil des Lichts auf den Boden um ihn. Die geweihte Erde knisterte voller Energie. Nur ein kleiner Kreis direkt unter den Füßen des Orcs blieb unberührt. Langsam bewegte Maraad den Kreis zu den Kellertüren. Amüsiert ging Mashok mit. Maraad war sich sicher, dass der Schamane mit Gewalt aus diesem geweihten Kreis ausbrechen konnte, dafür allerdings Kraft aufwenden müsste. Und es würde wehtun. Ziemlich.
Mashoks Gesichtsausdruck verfinsterte sich, als er erkannte, dass er in Richtung des Kellers getrieben wurde. „Nun gut, Draenei. Bringen wir das schnell zu Ende“, sagte der Orc. Ohne Widerstand zu leisten, stieg er die Kellertreppe hinab.
„Verriegelt die Türen hinter uns“, sagte Maraad. Er warf Lyalia einen letzten Blick zu. „Möge das Licht mit Euch sein. Liefert ihnen einen guten Kampf, Schildwache.“
„Kommt, sobald Ihr könnt“, sagte sie.
Die Türen schlossen sich hinter ihm und tauchten den Keller in Dunkelheit. Nur das aus Maraads Hammer strahlende schimmernde Licht ermöglichte ihm noch, etwas zu sehen. Der Orc saß wieder ruhig an die Erdwand im Norden gelehnt.
„Sollen wir beginnen, Paladin?“, fragte Mashok.
„Ja“, sagte Maraad und nahm das Licht tief in sich auf.
***
Haohan schob eines seiner übergroßen Hackmesser zwischen die Griffe der Kellertüren. Das sollte sie erst einmal geschlossen halten.
Der Pandaren starrte auf die Wurzeln am Boden herab. „Schlangenwurz“, sagte Bauer Fung. „Seit wann baut Ihr Schlangenwurz an, Haohan?“
„Habt Ihr die Preise für Mineralien in Halbhügel gesehen? Die Fremden können gar nicht genug davon bekommen.“ Haohan schüttelte den Kopf. „Das schien mir eine gute Idee zu sein. Vielleicht ist es das immer noch. Das Geld werde ich brauchen, um meinen Boden zu reparieren.“
Der Ho-zen warf einen Blick zur Tür hinaus. „Orcs warten. Bewegen sich nicht“, sagte Mung-Mung.
„Können wir gewinnen?“ Ginas Stimme und Augen waren ruhig. „Ich rede nicht von Wundern. Haben wir eine reelle Chance, diese neun ... Dunkelschamanen zu schlagen?“
Lyalia wünschte, sie hätte Ja sagen können. „Wenn wir versagen, dann nicht, weil wir uns nicht angestrengt hätten“, beschloss sie zu antworten. „Niemand ist unbesiegbar.“
„Warum haben sie nicht schon früher angegriffen?“
Alle drehten sich zum alten Hügelpranke um. „Was meint Ihr?“, fragte Lyalia.
„Hätten sie Euch beide auf der Straße angegriffen, wären es neun gegen zwei gewesen. Jetzt sind es neun gegen sieben. Na ja, sechs.“ Der alte Hügelpranke schaute zu den Kellertüren hinüber und tippte sich mit einer Kralle an die Wange. „Warum haben sie Euch beide nicht früher angegriffen?“
„Wir waren schnell unterwegs.“ Aber auch nicht so schnell.
„Vielleicht.“ Hügelpranke wirkte nicht überzeugt. „Vielleicht gab es noch etwas anderes. Dieser ... Mashok ... scheint der Stärkste von ihnen zu sein. Vielleicht kämpfen sie ohne ihn nicht so gut. Vielleicht ...“
„Worauf wollt Ihr hinaus, Hügelpranke?“, unterbrach Fung ihn.
„Es könnte mehrere Gründe geben, warum sie mit dem Angriff gewartet haben. Aber sie waren in einer solchen Überzahl ... Was könnte das möglicherweise aufwiegen? Es musste etwas Bedeutsames gewesen sein.“ Hügelprankes Stimme wurde zu einem Flüstern. „Vielleicht haben wir hier einen Vorteil. Sie kennen dieses Land nicht. Wir schon.“
„Das wird bestimmt helfen“, sagte Lyalia vorsichtig. „Informationen über das Gelände sind immer wichtig.“
„Nein“, sagte Hügelpranke. „Wir kennen dieses Land. Wir Ackerbauern sind keine Schamanen. Wir können nicht mit den Elementargeistern sprechen. Aber wir arbeiten jeden Tag mit ihnen.“ Er hob seine Pfoten. „Wir sorgen für sie. Wir kämpfen, um sie zu beschützen. Wir haben über Generationen hinweg in sie investiert.“
Lyalia wollte ihnen keine falschen Hoffnungen machen. „Dunkelschamanismus ist brutal. Ich verstehe zwar nicht jeden Aspekt davon, aber ich bin mir nicht sicher, ob Eure Geister widerstehen können.“
„Mashok hat gesagt, die Geister hier seien weich. Wenn er das glaubt, wenn die anderen das glauben, irren sie sich gewaltig“, sagte Hügelpranke.
Haohan dämmerte es allmählich. „Kindisch. Er hat sie kindisch genannt.“
Lyalia konnte sehen, wie sich die Gesichter der anderen erhellten. „Hat er unrecht?“
Gina lächelte finster. „Auf Arten, die er sich nicht einmal vorstellen kann“, sagte sie.
„Dieses seltsame Geräusch, dieser Rhythmus in der Erde“, sagte Fung, „hat den Geistern wahrscheinlich eine Menge Spaß bereitet. Der Spaß wird aber aufhören, wenn man ihnen befiehlt, die Leute zu töten, die das Land bewässern und den Boden bestellen.“
„Ihr habt den Teich gesehen, Nachtelfe“, sagte Hügelpranke. „Neben unseren guten Feldfrüchten gibt es auch große Raubtiere. Das hier ist kein zahmes Tal.“
„Ich verstehe.“ Lyalia warf einen Blick nach draußen. Es gab immer noch keine Bewegung. Die Schamanen hielten ihre Positionen. Sie warteten.
„Können wir gewinnen?“, fragte Gina erneut.
„Habt Ihr Waffen?“, fragte Lyalia.
„Wir haben draußen Hacken und Rechen“, sagte Haohan.
„Schaut uns nicht so an, Nachtelfe“, sagte Fung. „Wir können uns um uns selbst kümmern.“
Lyalia zwang sich, wieder einen ruhigen Gesichtsausdruck anzunehmen. Sie waren keine Krieger. Nicht ausgebildet. Aber sie hatten das Recht, um ihr Land zu kämpfen. „Natürlich.“ Sie drehte sich zu Gina. „Können wir gewinnen? Ich sage Euch nur eines: Ich habe Monate im Tal der Ewigen Blüten verbracht. Ich habe alles getan, um es zu beschützen. Es war nicht genug. Ich werde nicht zulassen, dass sie euren Häusern das antun, was Höllschrei dem Tal angetan hat. Eher würde ich sterben.“ Sie drehte sich zur Tür. „Ich gehe voraus. Sie werden mich als größte Bedrohung ansehen.“ Und falls sie stärker sind, als wir es befürchten, wird mein schneller Tod Euch eine Warnung sein, wegzulaufen. Ein schlimmer Gedanke.
„Es geht los“, sagte Lyalia.
„Wollt ihr den benutzen?“, fragte der Orc. Die Enge im Keller ließ seine Stimme unnatürlich laut klingen.
Maraad warf einen Blick hinunter auf seinen mit dem Licht leuchtenden Hammer. „Jetzt nicht.“
Beide saßen sich im Schneidersitz in dem schmalen Bereich, der nicht bis zur Decke mit Karotten gefüllt war, gegenüber und starrten sich an. Ein unwissender Beobachter hätte den Eindruck erhalten können, dass sie meditierten und sich auf einen Kampf vorbereiteten.
Nur wenig hätten wissen können, dass der Kampf bereits begonnen hatte. Energieschimmer waren bereits zu sehen. Leuchtend gelbe Flecken umkreisten Maraad. Dunkelbraune und rote Blitze zuckten um Mashok.
Maraad hielt das Licht auf den Orc gerichtet. Er wartete auf den nächsten Angriff, der schnell kam – ein kleiner Stoß, um zu versuchen, die Kontrolle über die Erde zu erlangen. Maraad wehrte ihn mit Leichtigkeit ab.
„Wenn Ihr mich einmal mit dem Ding schlagt, ist alles zu Ende“, stichelte Mashok. „Andernfalls halte ich mein Versprechen. Ich werde Euch zusehen lassen, während sie sterben.“
Maraad ging auf die Provokation nicht ein. Er blinzelte nicht einmal. Die Konzentration, die er brauchte, um den Orc mit einem Hammerschlag niederzustrecken, würde dem Dunkelschamanen einen Augenblick des ungestörten Zugriffs auf die Geister verschaffen. Und das war die wirkliche Gefahr. Nicht Stärke. Oder Geschwindigkeit. Mashok war schnell. Maraad würde nur einen Schlag mit seinem Hammer bekommen.
Er würde warten. Wenn, dann sollte es auch etwas bringen.
Der Orc begann, am Licht herumzutasten. Hier. Dort. Noch einmal. Schneller und schneller. Maraad hielt Schritt und vereitelte jeden Versuch.
Bald lief der Schweiß beiden in Rinnsalen übers Gesicht. Die wirbelnden Farben wurden immer heller.
***
„Ihr werdet mir gehorchen“, knurrte der Dunkelschamane Kishok. Die Antwort der Geister des Feuers kam als verwirrendes, sich überschneidendes Flehen:
– wir verstehen nicht wir wollen nicht wir wissen nicht wir müssen nicht wir hassen wir können nicht wir werden nicht –
Der Orc erweiterte seinen Willen durch sein Totem und griff hart durch. Die Geister heulten vor Schmerz auf. Er lächelte. Das war doch gar nicht so schwierig. Die Geister hatten kurz rebelliert, nachdem Zertin sie gezwungen hatte, die Baumutter zu töten, doch durch die Anstrengung der Kor'kron waren die Elemente nun schnell unter Kontrolle gebracht.
„Ihr werdet mir eure Kraft verleihen“, sagte Kishok. „Ihr werdet mir einen Diener geben. Schickt ihn, den stärksten und mächtigsten unter euch. Bringt ihn mir.“ Weiteres Heulen vor Schmerz und Angst erklang. Sie widersetzten sich. Sie kämpften. Aber schließlich gaben sie nach. Kishok konnte die Hitze schon spüren, bevor der Diener erschien. „Ja. Gut.“ Er richtete sich auf, breitete die Arme weit aus und wartete auf den mächtigsten Feuerelementar dieses Landes.
Wusch.
Kishok starrte hinab. Der Elementar reckte seinen Hals, um zu ihm hinaufzuschauen. Er reichte Kishok nicht einmal bis zum Knie. Er schien eine verzierte Maske zu tragen. Verspielt. Kindisch.
Voller Zorn schüttelte er die Geister durch. „Ihr macht Euch über mich lustig!“, brüllte er. „Ihr wagt es, mirdas zu schicken?“ Der Elementar schreckte mit klar erkennbarer Furcht in seinen übergroßen Augen zurück. „Das ist ein Kind! Ich verlange Stärke. Ich verlange ...“
„Da ist sie!“ Ein anderer Orc zeigt zum Pandarenhaus. Alarmierte Rufe erklangen unter den Kor'kron.
Eine einzelne Gestalt sprintete aus der Tür. Eine Nachtelfe. Von der Allianz. Im Mondlicht erschien sie nur dunkel und verschwommen. Sie hatte ihre Mondgleve gezogen und man konnte alle vier Klingen sehen. Sie beabsichtigte, im Kampf zu sterben.
Gut, dachte sich Kishok.
Die neun Dunkelschamanen sammelten ihre Kraft. Die Erde ächzte. Der Wind heulte. Kishok warf einen wütenden Blick zum Feuergeist hinab. „Verbanne die Schatten“, befahl er. „Lass ihr keinen Ort, an dem sie sich verstecken kann. Wenn du zu so etwas überhaupt fähig bist“, fügte er verächtlich hinzu.
Der kleine Geist hob eine Hand.
Feuer loderte am Himmel. Eine riesige Kugel aus gekräuselten blauen Flammen, vielleicht fünfzig Schritte breit, hing hunderte Schritte über dem Boden. Selbst aus solch einer Höhe blendete das Licht. Kishok hielt sich eine Hand über die Augen. Die Hitze versengte fast seine Haut. Welch eine Kraft ... Er hatte diesen Kleinen hier falsch eingeschätzt. Verzogen und kindisch, ja, aber durchaus verwendbar.
„Ausgezeichnet!“, brüllte er lachend. „Jetzt ...“
Schmerzensschreie jagten durch die Nacht und die Luft bewegte sich nicht mehr. Der Wind – und seine Geister – wurden still.
Was? Kishok blinzelte im grellen Licht und spähte auf die Felder. Ein zweiter gequälter Schrei erklang und Kishok konnte sehen, wie die Nachtelfe davonlief. Dunkle Flüssigkeit tropfte von ihrer Klinge.
Und der Wind wehte immer noch nicht. Zwei Kor'kron hatten ihn kontrolliert. Sie hat beide getötet?
Wut brach in Kishok aus. Das Licht des Elementars hatte der Nachtelfe geholfen, nicht den Kor'kron. „Hör auf damit!“ Die Feuerkugel verschwand und das Land wurde wieder in völlige Dunkelheit getaucht.
Kishok hörte verwirrte Rufe. Die Orcs konnten in der plötzlichen Dunkelheit nichts mehr sehen. „Tu, was ich dir sage. Wir brauchen Licht. Bring ...“ Ohne Vorwarnung kehrte die Feuerkugel zurück, heller als zuvor. Kishok kniff die Augen zusammen. Das Licht blendete ihn durch die geschlossenen Augen.
In reiner, blinder Wut drehte sich Kishok in Richtung der Position, an der er die Allianzelfe zuletzt gesehen hatte, und entfachte seinen Zorn. Ein Donnern erfüllte die Luft.
Er sah nicht, wie die anderen Gestalten aus dem Vordereingang des Hauses schossen.
***
Der alte Hügelpranke blieb unten und ging in Richtung Süden. Keine direkten Angriffe erfolgten in seine Richtung. Er nahm sich einen von Haohans Rechen. Die Zacken waren aus Geistereisen gefertigt. Teuer. Langlebig. Scharf.
Perfekt.
Das wütende Brüllen war ein gutes Zeichen; die Nachtelfe musste mindestens einen der Orcs getötet haben. Die flackernden Lichtwellen bedeuteten, dass die Geister ihren neuen Herren nicht vollkommen gehorchten. Das flackernde Licht offenbarte ihm, wo sich die Orcs befanden. In Zweiergruppen bewegten sich alle nach Westen und suchten Lyalia.
Sie fanden sie. Die Nacht explodierte im Chaos. Die Erde bebte. Hügelpranke näherte sich den zwei Schamanen, die ihm am nächsten waren.
Sie standen mit dem Rücken zu ihm. Hügelpranke stand sicher hin – wie Meister Schrammtatz es ihn vor langer Zeit gelehrt hatte – und stieß einem der Orcs den Schaft seines Rechens gegen den Hals. Knochen knirschten unter dem Schlag. Der unglückselige Orc fiel auf den Boden und pfeifendes Keuchen entwich seiner zerstörten Luftröhre.
Der andere Dunkelschamane brüllte erstaunt. Die beiden mussten die Geister des Wassers kontrolliert haben. Hügelpranke sah, dass eine Kugel stinkender, dunkler, öliger Abscheulichkeit über ihm und den Orcs hing. Doch ohne die Beherrschung durch die Orcs sahen sich die Geister offenbar nicht mehr gezwungen, zu gehorchen. Die Kugel platzte wie eine Blase und regnete herab. Hügelpranke spürte, wie die ersten Tropfen auf seinem Fell zischten, dann duckte er sich und rollte sanft ab. Das Keuchen des sterbenden Orcs wurde zu einem Gurgeln, als vergiftetes Wasser auf sein Gesicht klatschte.
Der andere Orc wurde komplett übergossen. Er kreischte vor Schmerzen, stolperte nach Norden und versuchte in seiner Verzweiflung, schnell zum großen Teich zu gelangen. Seine Haut brannte und löste sich vom Fleisch.
Vor Hügelprankes Füßen gurgelte der Orc weiter. Der Pandaren schwang den Rechen ein letztes Mal und der Orc war schließlich still. Hügelpranke musste die Zacken aus dem regungslosen Körper lösen. Das dauerte länger, als es ihm lieb war.
Der andere Orc verschwand den Abhang hinunter, der zum Ufer hin abfiel. Hügelpranke war versucht, ihm zu folgen, aber das hätte ihn vom Kampf ferngehalten. Stattdessen drehte er sich wieder in Richtung der Felder und suchte sich ein neues Ziel.
***
Lyalia bekam am ganzen Körper Gänsehaut, als Blitze einige Schritte hinter ihr klaffende Löcher in den Boden rissen. Der Sturm schien in einem Bogen zu fegen – von ihr fort, wie sie kurz darauf erkannte. Wenigstens ist jemand noch blinder als ich. Die riesige Feuerkugel flackerte wieder auf. Einer der Orcs begann in der Ferne wütend zu brüllen.
Sie lief weiter. Scherte nach Osten über einen Trampelpfad in das Schlangenwurzfeld aus. Dornen rissen an ihren Beinen. Eine stach tief in ihre Wade. Sie verzog das Gesicht, wurde jedoch nicht langsamer. Ein Blitz erleuchtete das Feld vor ihr. Zwei Gestalten mit einem Totem zwischen sich sahen in die falsche Richtung.
Tja, Pech, dachte sie.
Lyalia lächelte und ließ sich von den Klingen ihrer Mondgleve leiten.
***
„Die Nachtelfe ist schnell“, sagte Haohan.
„Nimm dir ein Beispiel an ihr, Vater“, sagte Gina. Die Nachtelfe zog die Aufmerksamkeit der Fremden nach Osten. Die Lehmkralls sprinteten westwärts in einem Bogen hinter einen einzelnen Orc. Seltsam, dass dieser hier allein stand. Die anderen waren in Zweiergruppen unterwegs.
„Zusammen?“, fragte sie.
„Zusammen“, stimmte Haohan zu.
Haohan senkte seine Schulter. Gina ging zwei weitere Schritte, steckte den Schaft ihrer Hacke fest in die Erde und sprang in die Luft, wobei sie mit ihrem Fuß direkt auf die Kehle des Orcs zielte.
„Zertin! Achtung!“ Einer der anderen Kor'kron rief eine Warnung über das Feld.
Der Orc drehte sich um. Mit einem Schrei sprang er zur Seite und wich sowohl Gina als auch Haohan aus. Dieser ist gut, dachte Haohan.
Der Orc drehte sich zu ihnen um und hob seine Arme.
„Vater!“ Gina warf sich gegen Haohan und riss beide flach auf den Boden. Zähne schnappten an der Stelle zusammen, wo sie gerade noch gestanden hatten. Die beiden Lehmkralls sprangen wieder auf die Beine und starrten in die glühenden Augen eines schwarzen Schattens. An anderer Stelle auf dem Feld zuckte ein Blitz und erleuchtete seine Gestalt. Es war ein Wolf. Ein Geist eines Wolfs. Unter Wut und Schmerzen heulte er sie an.
Der Orc lachte wild. „In eurem Land gibt es viele Wölfe. Jetzt allerdings ein paar weniger“, sagte er. Dann drehte er sich um und lief zurück in den Kampf mit der Nachtelfe.
Der Wildgeist sprang die beiden Pandaren an. Gina schwang ihre Hacke. Das Werkzeug traf den Geisterwolf direkt an seiner Flanke und drückte ihn zur Seite. Er knurrte sie an, sprang jedoch zu Haohan, der gerade eben noch ausweichen konnte.
„Gina, gib her!“
Sie warf ihm die Hacke zu. Er fing sie und drehte sich um. Nachdem er so viele Jahre lang Shed-Ling eine übergezogen hatte, war die Bewegung völlig mühelos. Der Schaft zischte durch die Luft und der Wolf wich instinktiv vor dem Geräusch zurück.
Haohan zögerte. Dann schwang er das Werkzeug erneut. Das Geräusch ließ den Wolf zurückweichen. „Guter Wolf“, sagte Haohan, seine Stimme kein bisschen überzeugend. „Fein.“ Er schwang die Hacke weiter. Der Wolf folgte ihr mit seinen roten Augen.
„Vater“, zischte Gina. „Was tust du da?“
„Ein paar weniger“, sagte Haohan. „Ein paar Wölfe weniger. Das waren die Worte des Orcs.“ Plötzlich stieß Haohan die Hacke nach unten in den Boden. Der Wolf starrte sie an und kam nicht näher. „Ich glaube, dieser Wolf stammt aus dem Tal.“ Der Geist saß auf seinen Hinterbeinen. Er begann zu winseln.
„Woher? Von den Höfen im Osten?“, fragte Gina.
„Da ziehen manchmal Wolfsrudel durch, oder?“
„Ja, stimmt“, sagte Gina. „Dieser hier erinnert sich an die Bauern.“
Haohan biss die Zähne zusammen. „Und diese Orcs haben ihn getötet. Seinen Geist versklavt.“
„Ich verstehe. Guter Wolf“, sagte Gina ebenfalls nicht ganz überzeugend. „Fein. Vater, glaubst du, die anderen Wolfsgeister werden die Bauern auch erkennen?“
„Welche anderen Geister?“ Haohan blickte Gina über die Schulter und erstarrte. „Ach. Die da.“
Sieben weitere glühende Augenpaare näherten sich ihnen. Ein Abschiedsgeschenk des Orcs namens Zertin, ohne Zweifel.
„Ich hoffe es, Gina.“
„Wunderbar“, sagte sie leise.
Die Luft im Keller wirbelte mit der Geschwindigkeit eines Orkans heulend umher. Risse krochen die Wände hinauf. Die Erde bebte.
Weder Verteidiger Maraad noch der Orc hatten sich bewegt. Sie kämpften mit ihrem Willen. Der Orc bekam jedes Element nur kurz in den Griff, bevor Maraad ihn aufhielt, doch jedes Mal steigerte Mashok seine Kontrolle ein kleines bisschen. Das amüsierte Lächeln hatte der Orc schon seit Langem abgelegt. Es war klar, dass Maraad mithalten konnte.
Maraad ließ einen kleinen Teil des Lichts in die Luft entweichen. Darin überbrachte er eine einfache Botschaft, ein Gefühl.
Ich bin nicht euer Feind. Ich bekämpfe euch nicht.
Die Botschaft ging nicht an Mashok. Sie ging an Mashoks Opfer, die Geister. Maraad war ein Paladin, kein Schamane, aber vielleicht würden es die Geister ja verstehen.
„Wie lange dauert es noch, bis Ihr versagt, Allianzler?“, fragte Mashok. „Ihr habt die ganze Woche über nicht geschlafen. Ich habe dank Euch sehr gut geschlafen. Irgendwann leistet Ihr Euch einen Fehltritt.“
Jede Sekunde versuchte Mashok, Maraad mit Erde zu zerschmettern, ihn mit Feuer zu Asche zu verbrennen, Wasser in seine Lungen zu treiben. Maraad wehrte jeden Angriff ab. Doch der Orc hatte recht: Die Müdigkeit lastete schwer auf Maraads Geist. Irgendwann würde er schließlich versagen.
Und doch erlaubte sich der Draenei ein stilles Lächeln nach innen. Kein Orc war Mashok zu Hilfe geeilt. Sie waren oben alle beschäftigt.
Gute Arbeit, Lyalia, dachte er und blockte einen weiteren Angriff ab.
***
„Hier bleiben“, flüsterte Hakenzahn. „Niemand hoch.“
Die Shed-Ling murmelten ängstlich und zitterten, als hohle Schläge die Erde erbeben ließen. Nur einige hatten ihre glühend roten Augen geöffnet. Ein anderer Bau war durch den über der Erde tobenden Kampf schon eingestürzt. Niemand wusste, wann es auch bei diesem so weit sein würde.
„Hakenzahn, wir müssen helfen“, sagte eines der Jungtiere – dasselbe, das auch den Plan der Baumutter infrage gestellt hatte. „Tun Land weh. Grüne Große tun Land weh.“
„Wir bleiben hier“, wiederholte Hakenzahn.
„Und wenn sie Land zu viel wehtun?“, hakte der Kleine nach. „Große keine Möhren pflanzen, wenn tot. Keine Möhren pflanzen, wenn Land wehtut.“
Einige Shed-Ling öffneten ihre Augen und sahen zu Hakenzahn hinüber.
„Wir bleiben hier“, sagte Hakenzahn schon etwas weniger sicher.
***
„Da draußen könnte sich jemand verletzen“, dachte Bauer Fung laut nach.
Er kauerte hinter dem Haus der Lehmkralls und sah, wie ein Strom düsterer Luft über die Felder wirbelte. Nahezu sofort, nachdem er hinausgetreten war, hatte sich der abscheuliche Wirbel direkt über ihm gebildet. Er glaubte nicht, dass er für ihn bestimmt war, aber es hatte mindestens eine Minute gedauert, bis er sich hinab zu der Nachtelfe gewunden hatte.
Unter seinen Füßen drangen unangenehme Geräusche nach oben. Der Keller. Der Draenei und der Orc müssen beschäftigt sein, dachte er.
Er bemerkte auch unangenehme Gerüche. Fung drehte sich um und rümpfte die Nase. Das Mushan, Donner, stampfte mit seinen großen Hufen und jaulte, vom Kampf verängstigt. Offenbar hatte sich seine Verstopfung gelöst. Ein Haufen Ausscheidungen wurde mit jeder Sekunde größer. Das würde eine ausgezeichnete Grundlage für Fungs neues Düngerrezept ergeben, wenn dieser Unsinn vorbei wäre.
„Willst du Dammbutz die bemoddelte Nacht lang anstarren?“
Mung-Mung hing kopfüber am Dachvorsprung des Hauses und warf ihm einen feindseligen Blick zu. „Ich seh Euch da unten auch nicht kämpfen“, blaffte Fung.
„Knatzel haben einen Sturm gemacht. Ich bleibe im Haus, bis er verduffmastelt ist.“ Der Ho-zen sprang hinunter und landete neben Fung. „Wie willst du die hanzdrustigen Schamanen flotschen?“
„Ich denke nach.“ Fung beäugte Donner abfällig. Der Pandaren dachte kurz daran, mit dem Mushan in den Kampf zu reiten. Sehr kurz. Haohans Tiere konnten vielleicht problemlos Wagen ziehen, würden aber wahrscheinlich mit einem schweren Pandaren auf dem Rücken nicht viel nützen.
Obwohl ...
Fung kratze sich am Kinn und schätzte Mung-Mungs Größe ein. Dann warf er einen Blick zurück zu Donner. Und lächelte. „Mung-Mung“, sagte er.
Mung-Mung war seinem Blick gefolgt. Er schüttelte heftig den Kopf. „Nein. Ich sage Nein!“
„Ich habe eine Idee“, sagte Fung fröhlich.
„Nein!“
***
Drei erledigt. Lyalia drehte sich und stieß zu. Vier. Sie begann wieder zu laufen und versuchte, knapp am Rande der sicheren Zone in diesem ganzen Chaos zu bleiben.
Die Kor'kron gruppierten sich neu. Abermals regneten Angriffe herab, überall um sie herum. Ein Tornado zog seine Bahn über die Felder. Ihre Lungen fühlten sich schon an, als würden sie brennen. Sie hatte einen einzigen Atemzug der unsichtbaren giftigen Dämpfe genommen, die von der letzten Zweiergruppe beschworen worden waren, und nun kratzte ihr Rachen bei jedem Einatmen wie Sandpapier. Gezackte Erdsplitter zischten an ihrem Kopf vorbei. Einer streifte ihren Hals und fügte den vielen kleinen Schnitten, die sie schon gesammelt hatte, noch einen hinzu.
Zwei weitere Dunkelschamanen standen vor ihr. Einer von ihnen hob die Hand. Dieses Mal hatte sie keine Chance, auszuweichen. Eine Säule aus brennender Asche rammte sie. Die Kraft des Stoßes warf sie um, doch der Angriff hörte nicht auf. Die Asche regnete von oben in Form winziger brennender Steine auf sie herab und hielt sie mit ihrer Kraft flach auf dem Boden. Lyalia biss die Zähne zusammen, legte die Hände über den Kopf und weigerte sich, aufzuschreien. Die sengenden Steine schlugen auf sie ein.
Vier habe ich erwischt, rief sie sich wieder hervor. Vier. Nicht schlecht.
Vater. Ich werde dich schon bald wiedersehen.
Sie schaute hinauf zu dem Orc, der sie in wenigen Augenblicken töten würde.
***
Die Nachtelfe schaute Kishok fest in die Augen. Er lächelte und machte mit seiner freien Hand eine verächtliche Geste in ihre Richtung. Sofort war sie umhüllt von Flammen.
Da. Er ließ den Ascheregen aufhören. Kishok spähte in die Dunkelheit und entdeckte in der Nähe des Pandarenhauses Zertin, der zweifellos auf den richtigen Moment wartete, den Keller zu betreten und dort dem Idioten der Allianz den Garaus zu machen. Perfekt. Kishok legte seinen Totembeutel auf den Boden, stellte die Gürtel ein und machte sich für den Rest des Kampfes bereit. Der stille Orc neben ihm, Trokk, tat es ihm gleich. Die Bauern zu erledigen, wäre einfach. Einige könnten davonlaufen, aber es dürfte kein Problem sein, sie aufzuspüren. Wenn der Wind ...
Ein lautes zischendes Geräusch unterbrach seine Gedanken.
Kishok drehte sich um. An der Stelle, an der die Nachtelfe lag, stieg Dampf auf. Die Flammen waren verschwunden. Der Feuerelementar kicherte.
Hinter einer gewaltigen Rübe schimmerte blaues Licht hervor. Ein weiterer Elementar. Wasser. Er hatte das Feuer gelöscht. Schüchtern warf er eine kleine Wasserkugel in die Luft. Der Feuergeist schoss einen winzigen Speer aus weißglühenden Flammen darauf, und als sie zusammenstießen, löste sich die Kugel in Dampf und Funken auf.
Beide Geister kicherten erneut.
Spielen die etwa ... Fangen?
Mit einem Wutschrei versuchte Kishok auf den Feuerelementar zu treten.
„Kishok, wartet!“, rief Trokk.
Der Feuergeist glitt zur Seite und der Fuß des Orcs krachte in seinen Beutel mit Totems. Er spürte, wie mehrere Gegenstände zerbrachen.
Kishok warf Trokk einen bösen Blick zu. Der andere Orc war so klug, seinen Mund zu halten. „Es reicht!“, knurrte Kishok. Die Geister weigerten sich, zu gehorchen? Sie wollten spielen? Gut. Genau deshalb war Dunkelschamanismus für die wahre Horde notwendig. Die Geister hatten langsam nicht mehr auf die Schamanen des Kriegshäuptlings in Orgrimmar reagiert. Dieser Ungehorsam war schnell beigelegt worden.
Kishok würde diesen Geist zerquetschen. Ein Exempel an ihm statuieren. Mit seinem Willen griff er nach ihm.
Und fing nichts. Der Feuergeist schaute herab auf die zerstörten Totems. Und kicherte wieder.
„Die brauche ich nicht“, sagte Kishok leise und ging einen Schritt nach vorn. „So oder so ...“
„Hey, Knatzel!“
Der Boden bebte und ein Warnruf von Trokk wurde vom Geräusch eines heftigen Aufschlags erstickt. Einen Augenblick später rammte eine Bestie Kishok von der Seite. Er fiel mit dem Gesicht auf die Erde. Mit einem Knurren rollte er wieder auf die Beine. In den hohen Blättern der nahe gelegenen Rübenfelder zeichnete sich der Umriss eines trottenden Mushan ab. Der Orc konnte hören, wie sich das Tier langsam umdrehte, um erneut auf ihn loszugehen. Kishok ging tief in die Hocke und schaute sich um. Trokk lag mit deformiertem Kopf auf dem Boden und bewegte sich nicht mehr. Das Mushan hatte ihn niedergetrampelt.
Kishok hörte einen leisen Schritt links neben sich – ganz nah – und die linke Seite seines Oberkörpers wurde taub. Im Augenwinkel erblickte er einen schwarz-weißen Blitz und hob verzweifelt seinen rechten Arm, mit dem er einen Schlag gegen seinen Kopf abblockte.
Einer der Pandarenbauern starrte ihm in die Augen. In seiner Pfote hielt er eine seltsame scharfe Waffe. „Ich hasse Fremde. Zumindest die meisten“, sagte der Bauer.
Die Taubheit wich einem rasenden Schmerz. Noch eine dieser seltsamen Waffen steckte in Kishoks Seite. Er bemerkte dies ohne Panik. Der Orc war gut ausgebildet. Unbarmherzig unterdrückte er die Qual und zog sich hoch. Eine geringere Kreatur wäre durch solch eine Verletzung gefallen, aber nicht ein Kor'kron.
Der Pandaren huschte um seine rechte Verteidigung, unbeholfen zwar, aber Kishoks Reflexe waren durch den Schmerz geschwächt. Die andere Seite des Orcs wurde taub. Kishok holte aus und schickte den Bauern mit einem Faustschlag ins Gesicht zu Boden. Knurrend zog Kishok eine der Waffen heraus. Sie hatte einen eigenartigen geschwungenen Griff und bestand aus altem Metall.
„Was ist das?"
„Das sind Scheren“, sagte der Pandaren mit gedämpfter Stimme und hielt sich seine gebrochene Nase. „Für die Schafe.“
Kishok konnte spüren, wie Blut aus seinen Seiten tropfte. Er zog die zweite Schere heraus. „Ihr solltet wissen, mit wem Ihr es hier zu tun habt, Bauer. Ich bin kein einfacher ...“
„Du lebst immer noch, Knatzel?“
Die Erde bebte erneut. Das Mushan war zurückgekehrt. Es rammte Kishok, schickte ihn purzelnd zu Boden und stampfte nur Zentimeter von seinem Schädel entfernt mit riesigen Hufen auf. Verzweifelt streckte der Orc seinen Arm aus. Das Erdtotem war nicht vollständig zerstört und er schaffte es, einen Erdgeist mit dem Fingernagel zu fangen. Eine breite Schneise auf dem Feld hob sich und das Mushan stürzte mit seinem zornig schreienden Ho-zen-Reiter auf die Seite. Der Geist wand sich und versuchte zu entkommen, doch Kishok ließ nicht los.
Weitere Pandaren kamen von Osten, ein Mann und eine jüngere Frau. Von Westen näherte sich ein wesentlich älterer Mann. Das Mushan und die restlichen Pandaren befanden sich im Süden. Kishok stolperte in Richtung Norden. Für Feinheiten gab es jetzt keinen Platz mehr. Er blutete. War verwundet. Er brauchte Entfernung und Zeit, um seine Gegner abzuwehren. Ein Abhang führte zu einem großen Teich. Kishok stand am Rande des Hügels und zwang den Geist, eine fünf Schritte hohe Mauer aus Erde zwischen ihm und den Pandaren zu erschaffen.
Der Geist gehorchte, indem er den Boden direkt unter Kishoks Füßen anhob.
Kishok fiel hin.
Er rutschte den Abhang hinunter bis ins flache Wasser des Teichs. Neuer Schmerz pochte in seinem gesamten Körper und einige Momente lang schnappte er nach Luft, während er darauf wartete, dass der Schmerz nachließ.
Dafür werden sie bezahlen. Sein Zorn wuchs mit jedem Herzschlag an. Dafür werden sie BEZAHLEN. Er stand im knietiefen Wasser auf. Er konnte dunkle Wirbel aus Blut erkennen.
Sein rechter Fuß stieß gegen etwas. Er bückte sich und zog es aus dem Wasser. Ein Beutel. Der Totembeutel eines Schamanen. Zumindest die Hälfte davon. Kishok betrachtete ihn neugierig. Er sah aus, als wäre er entzweigerissen worden – nein, entzweigebissen.
Dem Orc lief es kalt den Rücken hinunter. Einer der Kor'kron hatte sich ans Ufer begeben. Was war mit ihm geschehen?
Das Wasser vor ihm wirbelte. Eine riesige Masse mit aufgerissenem Maul und im Mondlicht glänzenden Zähnen kam unter der Oberfläche hervor. Mit einem Schrei des Entsetzens schoss Kishok zurück. Der riesige – der absolut gewaltige – Fisch sprang mit einem Satz nach vorn und ließ sein Maul zuschnappen. Ein Knirschen hallte vom Gebirge im Norden wider.
Der Totembeutel fiel ins flache Wasser und der Fisch zog sich langsam wieder zurück in die Tiefe.
***
„Deshalb müsst Ihr Fremden mehr essen“, sagte Bauer Fung. Er hielt sich die gebrochene Nase und verzog das Gesicht. „Zu dürr. Wenn ihr ein bisschen mehr Polsterung hättet, wäre wahrscheinlich alles in Ordnung.“
„Wahrscheinlich.“ Lyalia ächzte. Sie lag flach auf dem Rücken. Die Flammen hatten nur wenige Augenblicke gelodert. Hoffentlich nicht lang genug, um sie ernsthaft zu verletzen. Hoffentlich. Es tat noch immer weh. Sie sah den Wasserelementar, der sie gerettet hatte, auf einem Feld in der Nähe herumtollen und mit dem Feuergeist spielen.
„Könnt Ihr aufstehen?“
„Finden wir es heraus“, sagte sie. Fung zog sie hoch, bis sie aufrecht stand. Nach einigen Momenten hatte Lyalia das Gefühl, sie würde nicht unbedingt sofort tot umfallen, aber falls Maraad sie nicht innerhalb einer Stunde heilen könnte, machte sie sich keine großen Hoffnungen. „Wie viele sind noch übrig?“
Ein grauenvoller Schrei erklang in der Nähe des Teichs. Dann herrschte Stille. Der den Abhang blockierende Erdwall fiel zu einem Haufen zusammen. „Einer weniger“, sagte Fung. Mung-Mung johlte und tätschelte den Kopf des Mushan, während das Tier mit seinen Hufen aufstampfte.
„Ich glaube, es ist nur noch einer da“, sagte Haohan. Er hielt sich den linken Arm und verzog das Gesicht. In einem Abschnitt von weißem Fell klaffte eine Schnittwunde. „Und der im Keller.“
„Worauf warten wir noch?“, sagte Gina. Der alte Hügelpranke brummte zustimmend.
„Er ist stark, Lyalia“, warnte Haohan. „Sehr stark.“
Lyalia prüfte ihre Beweglichkeit. Jede Aktion ließ Schmerzen vom Kopf bis in die Füße schießen, aber zumindest konnte sie ihre Mondgleve schwingen. Das musste ausreichen.
„Bleibt ...“ Sie zögerte. Sie würden nicht hierbleiben, selbst wenn sie freundlich darum bäte. Sie ging es anders an. „... erst einmal hinter mir. Wartet, bis er mich verfolgt. Dann schlagt zu. Bisher hat das gut funktioniert.“
Fung beäugte skeptisch ihre Verletzungen, nickte jedoch. Die anderen taten es ihm gleich.
***
Zertin kniete mit in die Erde gedrückten Fingern neben dem Haus der Pandaren. Er lächelte. Die Geister wirbelten unter seinen Füßen, schreiend, sich windend. Aber sie gehorchten. Mashok würde schon bald frei sein.
Dann erklangen Schritte hinter ihm.
Zertin drehte sich um. Langsam näherte sich ihm die Nachtelfe. Sie sah verwundet aus. Verkohlt. Ihre Pandarenverbündeten traten hinter ihr hervor. Ein Ho-zen ritt in ihrer Mitte sogar ein Mushan.
„Tja“, sagte er mit erhobener Stimme. „Ich bin also in der Unterzahl. Ihr glaubt, ich gebe auf, oder?“
Lyalia trat näher an ihn heran. „Nein“, sagte sie.
„Wenigstens seid Ihr nicht vollkommen töricht“, sagte der Orc. Er sah, wie der Pandarenvater und seine Tochter ebenfalls auf ihn zugingen. Er rief ihnen zu: „Hattet Ihr Spaß mit meinen Haustieren?“
„Sie sind jetzt fort“, sagte die Tochter. „Sie hatten kein Interesse daran, die Bauern zu töten, die sie einst gefüttert hatten.“
„So, so“, sagte Zertin. „Dann lernt Ihr jetzt die kennen, die ich aus Durotar mitgebracht habe.“
Gespenstisches Heulen durchbrach die Nacht und ein Rudel Wolfsgeister sprang auf die Gruppe zu. Die Elfe wirbelte herum, um zu kämpfen und die Bauern zu beschützen.
Zertin beachtete sie nicht. Er lief ins Haus.
Dort. Die Kellertüren.
***
Alles im Keller wackelte. Alles wand sich. Alles, bis auf den Orc und den Draenei. Das Kreischen der Geister und das wirbelnde Licht bildeten einen nicht endenden Angriff auf die Sinne. Maraad blinzelte und zwang sich, die Augen geöffnet zu halten.
Hinter und über ihm polterten die Kellertüren.
„Sie sind da“, sagte Mashok mit zusammengebissenen Zähnen. „Ihr habt versagt. Sie sind direkt über uns.“
Ich bin nicht euer Feind. Ich bin ihr Feind, rief Maraad den Geistern noch einmal zu. „Genau darauf habe ich gewartet“, sagte er.
Mashok sah verwirrt aus. Die Kellertüren schwangen auf. „Mashok!“, rief eine Orcstimme. „Ich bin gekommen, um Euch zu ...“
Maraad schlug den Hammer aus seinem Schoß und warf ihn. Mit einem Knirschen traf er den neu hinzugekommenen Orc unterhalb des Kinns und holte ihn von den Füßen. Maraad sprang auf und war mit zwei Schritten an der Kellertreppe. Hinter sich hörte er ein wütendes Brüllen und das Anschwellen der Kraft, als Mashok schließlich die Kontrolle über die Geister erlangte. Maraad schnappte sich seinen Hammer und lief zum Eingang des Hauses. Nur einen Augenblick später schossen dicke Wurzeln aus dem Keller, wanden sich und suchten nach Beute.
Danach ging alles ziemlich schnell.
„Haltet das Mushan vom Haus fern“, rief Lyalia.
„Der Knatzel hört nicht!“, rief Mung-Mung zurück und hielt sich verzweifelt an Donners Hals fest. Die Geisterwölfe waren nicht mehr als eine Illusion gewesen, die das bockende Mushan jedoch vollkommen verängstigt hatten. Wenigstens bewegte sich das Tier fort.
Das Geräusch von sich biegendem und brechendem Holz zog Lyalias Aufmerksamkeit auf sich. Sie sah, wie Verteidiger Maraad aus dem Haus der Lehmkralls gerannt kam.
„Er ist frei!“ Maraad drehte sich zur Tür um. „Wie viele noch?“
„Nur die beiden“, sagte Lyalia.
„Also dann!“ Maraad warf den Pandaren einen kurzen Blick zu. „Helft, wenn Ihr könnt.“
Zwei Orcs kamen heraus. Zertin strauchelte und hielt sich eine Hand an den Kiefer, an dem er den schweren Treffer abbekommen hatte. Der andere war Mashok. Der ehemalige Gefangene hob seine Arme. Dicke Schlangenwurzranken wanden sich um jeden der Stützbalken des Lehmkrall-Hauses. Die Wurzeln zogen sich einmal zusammen und das Haus stürzte in sich zusammen.
„Wurzeln. Ist er nicht vielleicht doch ein Druide?“, fragte Lyalia. Maraad seufzte.
Weitere Wurzeln bahnten sich durch die Erde unter Lyalias Füßen ihren Weg nach oben. Sie tänzelte zur Seite. Der Boden hob sich. Sie konnte sehen, wie Maraads Hammer leuchtete, als er einer anderen Wurzelgruppe auswich.
„Ideen?“, brüllte sie.
„Kämpft nicht gegen die Geister. Kämpft gegen sie.“
Lyalia bemerkte, dass er keine der Wurzeln zerschmettert hatte. „Gut. Ich hatte schon Angst, es würde zu einfach“, sagte sie. Die beiden Orcs waren erst vor wenigen Momenten nach draußen getreten. Mit jedem Augenblick würde ihre Aufgabe schwieriger werden. Sie sprintete nach vorn, duckte sich und wich aus, widerstand jedoch dem Drang, sich einen Weg durch die hoch aufragenden Wurzeln zu schlagen. Ich hoffe, Ihr wisst, was Ihr tut, Maraad. Plötzlich tat sich ein Spalt unter ihren Füßen auf und sie schaffte es gerade noch, ihn zu überspringen. Weit unten erkannte sie das zornige rote Glühen von Magma.
Die beiden Dunkelschamanen gingen langsam zurück, als sie sich näherte. Felsstücke schoben sich zwischen den Orcs und ihr aus dem Boden nach oben. Schlangenwurz griff rankend nach ihrem Hals. Es war unmöglich, bis zu ihnen vorzudringen.
Von hinten schoss eine Gestalt auf die Orcs zu. Gina. Lyalia erwartete, dass sie einen kurzen Angriff versuchen würde, doch das Pandarenmädchen sprang auf Mashoks Rücken, riss an seinem Pferdeschwanz und schlang einen Arm um seinen Hals.
Zertin, der andere Orc, zögerte. Eine weitere Gestalt näherte sich von der Seite. Bauer Fung. Lyalia und Maraad stürmten herbei. Mashok warf Gina ab, wurde dann aber von Haohan umgeworfen. Zertin wich Fungs Hieb mit der Schere aus und trat in Lyalias Reichweite. Die Nachtelfe schwang ihre Mondgleve einmal, zweimal. Zertin duckte sich unter dem ersten Schlag hinweg, wurde jedoch vom zweiten am Arm verwundet.
„Es reicht!“ Mashok lag flach auf dem Rücken, klatschte jedoch in die Hände und plötzlich wurden Gina und Haohan von um ihre Kehlen geschlungenen Wurzeln nach oben gehievt. Weitere Ranken griffen nach Fung und erwischten ihn am Knöchel.
„In der Tat“, sagte Verteidiger Maraad. Sein Hammer zischte durch die Luft. Mashok schrie auf und versuchte, zur Seite zu rollen. Trotzdem landete der Hammer genau auf dem rechten Oberschenkel des Orcs. Lyalia hörte, wie Knochen splitterten.
Kurz darauf durchstachen drei spitze Wurzeln Maraads Rüstung und seinen Unterleib. Mit einem Stöhnen fiel er zu Boden und dunkelblaues Blut tropfte auf die Erde.
Zertin brüllte vor Wut, doch sein Mund schnappte zu, als die offene Pfote eines Pandaren gegen sein Kinn schlug. Hügelpranke. Zertin fiel auf die Knie. Zwei Wurzeln durchstachen die Schultern des älteren Pandaren und zogen ihn zu Boden.
„Hügelpranke!“ Voller Zorn stieß Lyalia eine Klinge ihrer Mondgleve in Zertins Brust. Fünf, dachte sie. Bevor sie sich bewegen konnte, spürte sie, wie eine Wurzelschlinge sich um ihren Hals legte und zuzog. Dornen stachen tief in ihr Fleisch, als sie von den Beinen gerissen wurde.
Fünf für mich. Neun von zehn für uns. Nicht schlecht.
***
Mashok hob seine Hände und ballte die Fäuste. Die Wurzeln zogen sich fester zusammen und warfen die hoffnungslos verfangenen Pandaren auf den Rücken. Nur der Ho-zen blieb frei und Mashok konnte sein aufgebrachtes Schreien in der Ferne hören, als er sich bemühte, das Mushan unter Kontrolle zu bringen. Die Nachtelfe versuchte sich von der Pflanze an ihrer Kehle loszureißen, während der Draenei sich langsam atmend seinen Bauch hielt, in dem immer noch die Wurzel steckte.
Es war geschafft. Die Geister weinten und jammerten im Kopf des Orcs – ein passender Siegesgesang. Zertin nahm einige Schritte entfernt seinen letzten Atemzug und schloss sich danach den anderen Dunkelschamanen im Tode an. Es war kein schrecklicher Verlust, dachte sich Mashok. Seine Untergebenen hatten ihn immer wieder gebremst.
„Nun“, sagte Mashok und genoss die kalte Freude des Moments, „werde ich mein Versprechen einlösen.“ Mit einem Zucken seines Fingers brachten die Wurzeln Verteidiger Maraad in eine kniende Position. „Ihr und die Nachtelfe werdet als Letzte sterben. Nachdem ich mich um jeden einzelnen Bauern gekümmert habe, den Ihr nicht beschützen konntet.“
„Das ist egal.“ Die beißenden Worte stammten vom alten Hügelpranke, aus dessen Schultern und Mund das Blut tropfte. „Ihr seid allein. Das Land selbst weiß, dass Ihr sein Feind seid.“
„Gut.“ Mashok lächelte. „Ihr habt Generationen damit verbracht, Euch um dieses Land zu kümmern?Dann hört mir zu: Ich werde diese Erde versalzen. Ich werde die Geister für Eure Dummheit bezahlen lassen. Ich werde dieses Tal unfruchtbar machen.“ Er schaute verächtlich auf den Pandaren herab. „Sie werden wissen, dass Ihr Euch für den Kampf gegen mich entschieden habt, und sie werden wissen, dass sie alles zerstören müssen, wofür Ihr jemals gearbeitet habt.“
„Sie wissen es bereits. Ihr wollt sie vernichten. Wir haben uns Euch entgegengestellt“, sagte der Draenei mit schmerzverzerrter Stimme. „Sie wissen es.“
Mashok beachtete ihn nicht.
Das Land wurde still. Die Geister wurden still. Sie riefen nicht mehr nach Gnade. Sie versuchten nicht mehr zu entkommen. Sie weinten nicht mehr. Endlich haben sie sich unterworfen. In den Feldern hinter Mashok war nur ein leichtes Rascheln zu vernehmen. Er drehte sich nicht um. Der Ho-zen brüllte in der Ferne immer noch mit voller Kraft. Er war keine Bedrohung.
„Ich werde Eure Landstriche mit Asche bedecken. Feuer wird selbst die in der Erde krabbelnden Käfer und Würmer finden. Nichts wird auf diesem Boden je wieder wachsen. Und dann, erst dann ...“
„Nicht einmal Karotten?“, fragte Bauer Fung. Die Wurzeln um seine Kehle ließen ihn die Worte kaum herausbringen. Mashok starrte den ruhiggestellten Pandaren an. „Nicht einmal Karotten werden auf diesem Boden wachsen?“
Ein langer Moment verging. „Selbst jetzt verspottet Ihr mich noch?“, fragte der Orc leise. „Selbst jetzt ...“
„Das ist eine einfache Frage“, sagte Fung. „Werden hier wieder Karotten wachsen?“
„Nein!“, sagte Mashok spuckend und seine Worte hallten über das Land. „Hier wird niemand je wieder Karotten anbauen!“ Warum lächelte Fung? Mashok spannte die Wurzeln um den Hals des Ackerbauern, bis die Dornen sich in sein Fleisch bohrten. „Ich glaube, Euch werde ich zuerst töten“, sagte der Orc.
Abrupt hielt Mashok inne. Die Geister waren still. Zu still. Zu unterwürfig. Das Rascheln in den Feldern hatte aufgehört.
Er drehte sich um.
Ein Meer aus glühenden roten Augen blickte ihn an. Shed-Ling. Hunderte. Tausende. Sie standen einfach nur starrend da.
Das Rascheln in den Feldern ... Die Geister hatten Mashok nicht gewarnt. Ein Nager aus der Gruppe trat hervor. Es war der mit dem weiß gestreiften Fell und dem seltsamen Hakenzahn. Er schnüffelte. Mashok bewegte seine Hand mit einer verächtlichen Geste. „Verschwindet. Sofort“, sagte der Orc.
Der Shed-Ling mit dem Hakenzahn legte den Kopf auf die Seite, blieb jedoch stehen. „Du ... tötest Möhren?“
Mashok fletschte die Zähne. „Verschwindet.“ Das Land erbebte bei diesem Wort. Wenigstens die Geister der Erde wussten, dass sie ihm bedingungslos zu gehorchen hatten.
Die unzähligen Shed-Ling schwankten mit dem Beben der Erde, hielten ihre beunruhigenden roten Augen jedoch fest auf Mashok gerichtet. „Sagst, du tötest Möhren“, sagte der Shed-Ling mit dem Hakenzahn. „Warum tötest du Möhren?“
Das war absurd. Ich muss ein Exempel statuieren. Kühl befahl Mashok der Erde, einen Spalt unter den Füßen des Shed-Ling-Anführers zu öffnen und ihn zu verschlingen.
Nein, sagte die Erde.
Mashok quetschte einen der Geister. Er kreischte vor Schmerzen, widersetzte sich aber immer noch. Jeder Augenblick deiner Existenz wird aus reinem Schmerz bestehen, wenn du mir nicht gehorchst, teilte Mashok dem Geist mit. Denselben Gedanken schickte er an die anderen Geister. Wagt es nicht, euch mir noch einmal zu widersetzen. Gebt nach.
„Andere Große pflanzen Möhren“, sagte der Shed-Ling mit dem Hakenzahn. „Machen große Möhren. Du Möhren nicht töten. Große nicht töten.“
Verbrenne sie zu Asche, befahl Mashok einem Geist des Feuers.
Nein, sagte der Geist und schrie.
Ein Geist des Windes wartete gar nicht erst auf einen Befehl. Ich werde nicht gehorchen, sagte er.
Ich auch nicht, sagte ein Geist des Wassers.
Mashok schlug seinen Willen gegen den ihren, peitschte sie mit seinem Geist, erzeugte unsägliches Leid. Und doch gaben sie nicht nach.
Sie haben uns nicht bekämpft, sagte der Feuergeist. Wir werden dir nicht helfen.
Die Wurzeln um die Pandaren und Allianzmitglieder lockerten sich. Der Draenei stöhnte, als die scharfen Spitzen sich endlich aus seinem Fleisch zogen.
„Nein“, flüsterte Mashok.
„Möhren nicht töten“, sagte der Shed-Ling mit dem Hakenzahn noch einmal. Alle Shed-Ling wiederholten die Worte.
„Möhren nicht töten ... Möhren nicht töten ...“
„Ihr werdet euch beugen!“, brüllte Mashok. Er wusste, dass die Geister ihn hören würden. „Oder ihr werdet brechen! Nichts kann sich auf ewig widersetzen!“
Das müssen wir nicht, erwiderten die Geister gemeinsam. Wir müssen uns nur einige Augenblicke widersetzen.
Mashok erblickte nur kurz einen Lichtblitz, bevor etwas gegen seinen Kopf krachte. Mit der Wange auf der Erde sah Mashok, wie Verteidiger Maraads leuchtender Hammer zu Boden fiel.
Die Shed-Ling stürmten voran. „Möhren nicht töten!“
Mashok schrie auf und versuchte, die über ihn hereinbrechende Welle aus Zähnen und glühenden Augen abzuwehren.
***
Schreie der Qual erklangen aus der Mitte der höllenhaften, sich windenden Masse. Der Orc kämpfte, doch jeder Shed-Ling, den er wegschlug, kam Augenblicke später wieder zurück ins Getümmel gehüpft. Der kniende Haohan schaute schwer atmend zu. „Ich wusste schon immer, dass diese Nager für irgendetwas gut sind. Alles in Ordnung, Gina?“
Seine Tochter winkte ab, aber er konnte sehen, dass ihr Fell immer mehr von Blut getränkt wurde.
Der Draenei blickte Haohan in die Augen. „Könnt Ihr sie aufhalten?“, fragte Maraad. Er hatte offensichtlich Schmerzen und hielt die Hände über seine Bauchwunde. Er humpelte zum alten Hügelpranke und kniete sich hin. Das Licht leuchtete um ihn herum auf und der Pandaren zischte erstaunt. Die Wunden in seiner Schulter verschwanden.
„Die Shed-Ling aufhalten?“ Haohan warf einen weiteren Blick hinüber zu dem Chaos auf seinen Feldern. Anscheinend lebte der Dunkelschamane noch und kämpfte, wurde jedoch zu einem Bauloch in der Nähe gezogen. „Warum sollte ich das wollen? Er hat mein Haus zerstört.“
Lyalia ging langsam zu Haohan. „Glaubt mir, ich kann das Gefühl verstehen“, sagte die Nachtelfe. „Aber ganz gleich, was er verdient, ist es doch besser, wenn wir ihn lebend bekommen.“
„Gerechtigkeit?“
„Er ist ein Dunkelschamane“, sagte Lyalia. „Nur wenige von ihnen wurden lebend gefasst und nur wenige sind so stark wie er. Alles, was wir von ihm lernen können, wird uns helfen.“ Nach einer kurzen Pause lächelte sie und fügte hinzu: „Und um Gerechtigkeit geht es auch.“
Haohan rieb sich eine schmerzende Schulter und schüttelte reumütig den Kopf. „Ihr habt recht. Das wäre ein zu einfaches Ende für ihn.“ Mit einem Ächzen stand er auf und stolperte in den Trümmerhaufen, der einst sein Haus gewesen war. „Wo war denn noch mal ...? Ah“, sagte er, zog einen Teil des Dachs zur Seite und legte den Eingang zum Keller frei. Selbst in der Dunkelheit vor der Morgendämmerung konnte man die Reihen riesiger Karotten sehen. „Gina, würdest du die Einladung aussprechen?“
Gina verzog das Gesicht vor Schmerzen und räusperte sich. Dann schrie sie: „Karotten!“
Sofort wurden die Shed-Ling still und drehte ihre glühenden roten Augen in Ginas Richtung.
„Hier sind unsere Karotten! Wir danken Euch! So viel zu unserer Ernte ...“ Die letzten Worte murmelte sie nur noch.
Haohan zeigte auf den Keller und nickte übertrieben. „Alle unsere Karotten! Holt sie euch!“
Die Kreaturen zögerten und schauten sich gegenseitig, dann den Orc und schließlich wieder den Pandaren an. Der Shed-Ling mit dem Hakenzahn ließ den Dunkelschamanen als Erster links liegen. Hunderte taten es ihm gleich.
Verteidiger Maraad drängte sich durch die Flut von Shed-Ling. Nicht alle hatten aufgehört, auf den Orc einzuschlagen und an ihm herumzunagen, und der Draenei schob die restlichen von ihnen sanft zur Seite. Sie grummelten, gaben aber schon bald der im Keller liegenden Versuchung nach.
In Mashoks Augen lag Wut. Der Rest von ihm sah aus wie Hackfleisch. Maraad kniete sich neben ihn und machte sich bereit, ihn zu heilen. „Ich schätze“, sagte er, „so habt Ihr Euch das Ende nicht vorgestellt.“
Die Morgendämmerung brach herein.
Der Wagen knarrte laut. Schon bald verschwand das Haus der Lehmkralls hinter dem Horizont. Verteidiger Maraad behielt den Orc im Blick. Seine Brustpanzerung lag neben ihm; nach dem Kampf war sie gerissen und beschädigt. Er hatte angemerkt, dass er sie repariert oder ersetzt bekommen müsste.
Lyalia schaute über die Felder, aber ihr Blick schweifte zur Straße hinter ihnen. Ungefähr drei Dutzend Shed-Ling folgten Haohans Wagen in kurzem Abstand und starrten Mashok an. Im Tageslicht wirkten ihre glühenden roten Augen zwar nicht mehr ganz so bedrohlich, doch jedes Mal, wenn einer von ihnen fiepte, zuckte Mashok zusammen. Der Orc lag wieder in Ketten und hatte seit Sonnenaufgang kein Wort gesagt.
Maraad hatte den Morgen über die anderen geheilt. Und zum Schluss auch sich selbst. Lyalia hatte dem Orc Gesellschaft geleistet. Haohan hatte eine Nachricht nach Halbhügel geschickt und gemeldet, dass er Arbeiter für den Wiederaufbau seines Hauses brauchte und auch Fremde willkommen wären. Fung hatte gegen den letzten Teil heftig protestiert.
„Ich habe nachgedacht“, sagte Haohan. Seine Pfoten lagen leicht auf den Zügeln. „Was wäre geschehen, wenn wir aufgegeben hätten?“
„Aber das habt Ihr nicht“, sagte Lyalia.
„Trotzdem. Das Angebot unseres Freundes. Euer Leben im Tausch gegen unseres. Wenn wir ihm geglaubt und sein Angebot angenommen hätten, was hättet Ihr getan?“ Bis auf das Knarren des Wagens herrschte Stille. „Das wäre wohl für Euch beide eine schwierige Situation gewesen: Gegen uns kämpfen, um Euer eigenes Leben zu retten? Oder aufgeben und sterben für ein Angebot, das nichts weiter ist als ein Sack Mushanhaufen?“ Haohan lachte. „Manche hätten Euch als Dummköpfe bezeichnet, wenn Ihr Euch für die zweite Möglichkeit entschieden hättet.“
„Vielleicht.“
„Manche würden die gesamte Allianz als großen Haufen von Dummköpfen ansehen, die besiegte Feinde fangen, statt sie auszuweiden, weil sie ja vielleicht ein wenig gefährlich sein könnten“, sagte Haohan.
„Vielleicht“, sagte Maraad.
„Hm.“ Haohan zog an den Zügeln und der Wagen bog an einer Gabelung nach Süden ab. In Richtung Krasarangwildnis und Löwenlandung. „Schaut mich an. Ich quassele die ganze Zeit. Rede Unsinn. Nerve Euch beide nach dieser rauen Nacht, die wir alle hatten.“
Lyalia und Maraad warfen sich einen kurzen Blick zu. Der Draenei schüttelte amüsiert den Kopf und wandte sich dann wieder dem Orc zu. Mashok zuckte erneut zusammen, als ein Shed-Ling auf die Hinterseite des Wagens hüpfte, einen schrillen Ruf ausstieß und dann zurück auf die Straße sprang.
„Trotzdem habe ich mir Gedanken gemacht“, fuhr Haohan fort. „Vielleicht könnt Ihr noch eine bisschen Bauernphilosophie aushalten. Ich frage mich, ob den Leuten, die Euch für töricht halten würden, nicht etwas Wichtiges entgeht. Wenn man eine Richtlinie aufstellt, muss man auch danach leben. Gewinnen oder verlieren. Andernfalls hätte diese Richtlinie niemals etwas bedeutet. Ihr Leute von der Allianz stellt gerne alle möglichen zivilisierten Richtlinien auf. Manche gehen bestimmt davon aus, dass Euch das einen Schritt zurückwirft, wenn es hart auf hart kommt.“
„Vielleicht“, sagte Lyalia.
„Hm. Trotzdem habe ich mir ...“
„Gedanken gemacht?“, fragte Maraad.
„Woher wusstet Ihr das? Ich habe mir Folgendes gedacht: Wenn man völlig zivilisiert ist, wirft einen das vielleicht wirklich einen Schritt zurück. Wenn Leute darauf vertrauen, dass Ihr ihnen kein Messer in den Rücken stoßt, könnten sie auf die Idee kommen, dass sie Euch ohne Probleme eines in den Rücken stoßen können.“ Haohan ließ die Zügel knallen. „Aber das wäre ein Fehler, oder? Es gibt nichts Furchteinflößenderes als eine zivilisierte Person, die wütend ist. Manchen würde nicht gefallen, was sie bekommen, wenn sie gute Leute dazu zwingen, gegen sie zu kämpfen.“
„Vielleicht nicht“, stimmte Maraad zu.
„Werden die Shed-Ling uns den ganzen Weg bis zur Küste folgen?“, fragte Lyalia.
„Wahrscheinlich“, sagte Haohan. Der Orc erschauderte.
Der Wagen rollte weiter.
Baine Bluthuf: Wie zuvor auch unsere Väter von Steven Nix
Ein klappriger alter Karren zockelte den Pfad zum Großen Tor hinunter, wo eine kleine Patrouille darauf wartete, ihn auf dem Weg zum fernen Zeppelinturm zu bewachen. Dort würde das Wasser, das er geladen hatte, an die Orcsiedlungen in ganz Durotar verteilt werden, dem Gebiet, das von der jüngsten Dürre am härtesten getroffen worden war. Der junge Kodo, der den Karren zog, bewegte sich mit der trägen Geschwindigkeit, die die Gewohnheit langer, wohlbekannter Reisen mit sich bringt. Er erschien kurz auf der Hügelkuppe, bevor er außer Sichtweite geriet.
Ein verärgerter Goblin sah zu, wie der Karren verschwand. Sein eigener Karren hätte sich direkt hinter dieser Karawane befinden sollen, aber er steckte noch immer am Wasserbrunnen fest, weil die Brise nachgelassen hatte und die windbetriebene Pumpe somit nutzlos geworden war. „So beeilt Euch doch! Wir müssen aufholen, wenn wir eine Patrouille finden wollen, die uns auf dieser Reise begleitet.“ Der Goblin tippte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden, während er seinen Unmut gegen den jungen Orc richtete, der mit der Kurbel kämpfte.
„Immer mit der Ruhe, Izwix“, sagte ein Orckrieger, der in der Nähe im Gras lag. „Was sollen ein paar kleine Allianzlakaien schon ausrichten? Versuchen sie irgendwelche Dummheiten, bekommen sie eine Axt in den Schädel.“ Er riss einen Zweig von einem nahen Busch und stocherte damit in seinen Zähnen herum.
„Die Allianz ist eine Bedrohung, Grotz!“, blaffte der Goblin. „Und ich hätte lieber eine Eskorte, statt mich auf Eure begrenzten Fähigkeiten verlassen zu müssen ... oder auf seine.“ Er zeigte auf den Assassinen, der im Gebüsch kauerte.
„Um mich müsst Ihr Euch keine Gedanken machen, Izwix“, sagte Dras, der plötzlich aus seinem Versteck auftauchte. „Wenn mir einer zu nahe kommt, bekommt er einen Schweinestecher in den Rücken. Lasst diese Allianzköter nur kommen.“
Izwix seufzte. „Was habe ich nur verbrochen, dass ich mit diesen beiden ... hä?“ Die Büsche im Umkreis des Brunnens zitterten, und er neigte seinen Kopf zur Seite. „Was war das?“
Alle drehten sich in Richtung des Geräuschs; Grotz griff nach seiner Axt und stand auf. Das Geräusch verstummte. Er machte einen vorsichtigen Schritt nach vorn. Eine kräuselnde Welle bildete sich auf der einen Seite der Hecke und bewegte sich durch sie hindurch bis auf die andere Seite. Jeder Busch begann heftig zu zittern. Izwix trat vorsichtig zurück und bewegte sich zentimeterweise auf den Kodo zu, der am Wasserkarren festgebunden war. Dras spielte nervös mit seinen Messern, während das Rauschen der Blätter lauter wurde.
Dutzende von eberähnlichen Bestien, mit Speeren und diversen anderen Waffen bewehrt und in zusammengewürfelter Rüstung, brachen hervor und überrannten die Gruppe. Einer oder zwei fielen unter Grotz‘ Axt, bevor er überwältigt wurde, und Izwix versuchte, zu fliehen. Dras sprang in Deckung und traf dabei auf den Anführer der Attacke. Der Stacheleber holte mehrmals wild nach dem Orc aus und schaffte es schließlich, die Seite seines Kopfes zu treffen.
Die anderen Mitglieder der Karawane fielen einer nach dem anderen; Das Blut färbte das Gras rund um den Brunnen schnell rot. Izwix hatte es geschafft, den Kodo loszumachen, auf seinen Rücken zu springen und ihn voranzutreiben, bis ein Speer durch die Luft schnellte und ihn von seinem hohen Sitz riss. Der Kodo trampelte weiter vorwärts, während die Stacheleber den Karren plünderten und dorthin verschwanden, wo sie hergekommen waren, zurück in die Dornrankenklamm.
***
Eine Weile vor diesem Angriff saß Baine Bluthuf, Oberhäuptling der Taurenstämme, mit Garrosh Höllschrei und dem Erzdruiden Hamuul Runentotem in seiner Behausung. Es war kein zwangloses Aufeinandertreffen: Baine hatte freiwillig die Entscheidung getroffen, für den Tod von Cairne Bluthuf keine Rache an Garrosh zu üben, damit die Horde vereint geführt werden konnte. Baine wusste, dass die Horde eine starke Führungspersönlichkeit brauchen würde, wenn sie überleben sollte, und Garrosh konnte sein Volk inspirieren. Das Treffen lief allerdings nicht gut. Garrosh, vormals wegen seiner Rolle im Mord an Baines Vater vorsichtig, war nun wieder aufbrausend und prahlerisch geworden und war mit einem Übermaß an Forderungen in Mulgore angekommen.
Erregte Stimmen wurden in diesem engen Raum abwechselnd laut und verstummten wieder. Hamuul, sonst zurückhaltend und ruhig, begann, seine Stimme in Reaktion auf den störrischen und dreisten jungen Orc vor ihm zu heben. Garroshs Führung der Horde ließ nach Meinung des Tauren sehr zu wünschen übrig, und Hamuul konnte noch immer nicht glauben, dass Cairne Bluthuf, der größte aller Taurenhäuptlinge, diesem Grünschnabel zum Opfer gefallen war. In seiner Rolle als Baines Berater hatte Hamuul die Verhandlungen für den Transport von Wasservorräten nach Orgrimmar eröffnet. Bis jetzt waren die Verhandlungen nicht gut gelaufen.
Baine sah dem stoisch zu, seine Hand um den Streitkolben geschlossen, bevor er seine andere Hand hob, um zu unterbrechen. Einen Augenblick später beruhigten sich die beiden anderen und sahen Baine an.
„Garrosh, Ihr sagt, Ihr braucht Wasser. Aber was ist mit dem Südstrom und der daraus entstandenen Südstromaue? Bieten sie nicht alles Wasser, das Ihr braucht?“
Garrosh schnaufte spöttisch. „Normalerweise schon, aber es ist verunreinigt worden. Wir können noch immer die Felder damit bewässern, aber wir können es nicht trinken, und das belastet unsere Stadt und jeden anderen Ort in diesem Gebiet, an dem sich Orcs niederlassen könnten.“
Hamuul sah Garrosh direkt in die Augen und sagte nur: „Und was genau verunreinigt es?“
Garrosh knirschte mit den Zähnen. „Die Projekte der Goblins in Azshara scheinen ... Nebeneffekte zu haben. Die Verschmutzung, die durch ihre Grabungen entsteht, ist in den Boden gesickert und wird vom Fluss nach Süden gespült, wo wir unter den Folgen leiden.“
Baine und Hamuul blickten einander kurz an. „Warum befehlt Ihr den Goblins nicht einfach, aufzuhören?Gebt dem Land Zeit, zu heilen, und fahrt später fort? Mit etwas Planung und Voraussicht können die Goblins ihre Projekte mit Einschränkungen fortführen, solange die Erde nicht übermäßig beeinträchtigt wird.“
Garrosh klopfte mit den Fingerknöcheln auf den Tisch. „Unfug! Was sie tun, ist für den Kriegsaufwand unerlässlich, und ich werde die Sicherheit der Horde nicht untergraben. Mulgore hat noch immer genug Wasser, und dieses Wasser wird Orgrimmar und die äußeren Siedlungen versorgen.“
Hamuul sagte leise: „Ich pflichte Baine bei, und Ihr wisst auch, dass er Recht hat. Die Goblins müssen aufhören oder ihre Bauprojekte verlagern, damit das Land heilen und der Fluss sich erholen kann.“
„Und was macht Eure Meinung gültiger als irgendeine andere der tausenden, die ich jeden Tag höre?“ Garroshs Augen verengten sich leicht. „Und das war keine Bitte. Es war eine Mitteilung.“
Der Streit flammte wieder auf. Hamuul und Garrosh schrien sich weiter an, bis Baine gereizt dazwischenrief: „Genug! Dieses Gezänk hilft uns nicht weiter!“
Beide brachen mitten im Satz ab, überrascht von diesem Ausbruch, und starrten Baine an, der in etwas beherrschterem Ton fortfuhr: „Garrosh, Ihr werdet Euer Wasser bekommen. Aber ich will einen offiziellen Vertreter der Tauren als Berater für zukünftige Projekte der Goblins.“
Garrosh starrte Baine mit kalten Augen an. „Ihr habt verdammt noch mal Recht, ich werde mein Wasser bekommen. Ich habe gegenüber der Horde die Pflicht, alle sicher und gesund zu halten. Ich werde nicht einfach herumstehen und meine Führungsqualitäten und Beweggründe in Frage stellen lassen.“ Mit diesen Worten stürmte er aus dem Zelt und rief über seine Schulter: „Mein Abgesandter wird in Kürze eintreffen, um die Lieferungspläne aufzusetzen!“
Hamuul sah der sich zurückziehenden Gestalt nach und sagte „Wenn er nur auf eine andere Stimme als die eigene hören könnte ...“
Baine lächelte traurig und legte seine riesige Hand auf Hamuuls Schulter. „Gebt ihm Zeit, Hamuul. Für Leute wie Garrosh vergeht sie schnell. Er wird Einsicht lernen oder sich selbst vernichten. Das sind die einzigen Möglichkeiten, die die Zukunft ihm bietet. So oder so ist Geduld unser bester Verbündeter. “
Hamuul schüttelte den Kopf, als wolle er seinen Geist befreien. „Wir haben schon existiert bevor die Orcs ankamen, wenn Ihr Euch erinnert. Euer Vater mag Thrall etwas geschuldet haben für alles, was er für unser Volk getan hat, aber dies ist eine neue Horde. Ich habe das Flüstern anderer Tauren gehört. Manche fragen sich, ob diese Horde wirklich etwas ist, zu dem wir noch gehören sollten.“ Er schnaufte. „Die Horde hat viel erreicht, und wir schulden ihr viel, aber Ihr müsst zugeben, dass an ihren zweifeln etwas dran ist.“
Baine zog eine Karte von einem Regal und begann, alle bekannten Wasserbrunnen in Mulgore zu suchen. „Wie Ihr schon sagtet, mein Vater mag Thrall etwas geschuldet haben, aber er hat auch an die Horde geglaubt, die er mitgeformt hat. Auch wenn mein Vater nicht mehr unter uns ist, trotz dieser Veränderungen, denen wir uns gegenübersehen, ich glaube weiterhin an die Horde.“
***
In kürzester Zeit waren Wasserkarawanen, die von verschiedenen Wasserbrunnen in Mulgore aus nach Orgrimmar zogen, zur Normalität geworden. Von Orgrimmar aus wurde das Wasser verteilt, und die Bewohner von Durotar hatten wieder frisches Wasser in ihren Behausungen. Hin und wieder traf ein Bericht über Überfallversuche von Banditen ein, aber im Großen und Ganzen boten die Wasserlieferungen wenig Anlass zur Sorge.
Der erste solche Angriff in Mulgore schockierte Baine. Er war nicht nur in seinem eigenen Land geschehen, es war auch noch ein brutales Gemetzel gewesen. Die Untersuchungen des Zwischenfalls führten zu keinerlei Hinweisen auf die Angreifer oder deren Motive. Von den Leichen war nichts geplündert worden und der Karawanenwagen war zerstört worden, obwohl sich daran nichts von Interesse befunden hatte. Der Karren sollte schließlich nur einen Wasserbehälter transportieren. Den Blutflecken im Gras nach zu urteilen waren einige Leichen weggeschleift worden, aber alle anderen Karawanenmitglieder waren gefunden worden.
Baine war ratlos. Anfänglich hatte er einen Vergeltungsangriff der ins Exil geschickten Grimmtotems befürchtet, aber seine Fernläufer konnten nichts finden, was auf eine Verstrickung ihrerseits hingedeutet hätte. Eines Tages, als er über diese Berichte nachgrübelte, näherte sich ein orcischer Bote und räusperte sich. Baine sah auf und bedeutete ihm, einzutreten. „Was verschafft mir diesen Besuch?“
„Nachricht vom Kriegshäuptling.“ Der Bote entrollte den Brief und begann, vorzulesen. „An Baine Bluthuf, den Oberhäuptling der Tauren, sendet Garrosh Höllschrei die folgende Nachricht: Die Wasserlieferungen treffen weiterhin pünktlich ein, was mich freut. Nehmt jedoch Notiz davon, dass die letzten Lieferungen mit einer unbekannten Substanz verunreinigt sind. Ich erwarte, dass dies behoben wird, und zwar schnell.“
Baine dachte einen Moment lang nach, seine Braue besorgt gerunzelt. „Diese Lieferungen kamen von dem Brunnen der Winterhufe. Sagt Garrosh, dass ich mich persönlich darum kümmere.“ Daraufhin lief der Bote davon, und Baine machte sich, nachdem er einen seiner Krieger mit der Bewachung von Donnerfels beauftragt hatte, für den Marsch ins südliche Mulgore bereit.
***
Mit ernster Miene betrachtete Baine die Leichen, die um den Brunnen herum lagen. Es war ein Anblick des absoluten Gemetzels. Drei Karawanenwagen waren ohne jede Hoffnung auf Reparatur zerschlagen worden, und alles was nicht festgenagelt war, war gestohlen worden, einschließlich der vollen Wasserbehälter, die sich in ihnen befunden hatten. Die Kodos der Karren waren verschwunden, und acht Karawanenwächter lagen im Kreis um die sechs Arbeiter, die sie zu verteidigen versucht hatten. Die Wachen waren dieses Mal besser vorbereitet gewesen, und mindestens ein Dutzend tote Stacheleber lagen in der Gegend verstreut.
„Das sind Stacheleber, aber sie sind besser gerüstet. Seht Ihr die Rüstung an diesem da? Das ist Flickschusterei aus mehreren Rüstungen der Horde. Ich habe noch nie so gut organisierte Stacheleber gesehen.“ Baine wurde nachdenklich. „Eines der Hindernisse für den Frieden in Mulgore war immer die hartnäckige Bedrohung durch die Stacheleber. Mein Vater hat es nie geschafft, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Aber wenn sie neue Anführer haben, können wir vielleicht diesmal mit ihnen verhandeln.“
Baine wandte sich an den nächsten Fernläufer. „Teilt Camp Narache mit, dass die Stacheleber in der Dornenrankenklamm kontaktiert werden müssen. Wir können Gemetzel nicht mit Gemetzel beantworten, und ich werde nicht zulassen, dass in meinem eigenen Land ein Krieg eskaliert.“
„Ich werde für ein paar Tage in meiner alten Behausung im Dorf der Bluthufe bleiben. Unterrichtet mich von allen neuen Entwicklungen, sobald Ihr könnt.“ Dann wandte sich Baine an seinen Boten. „Teilt Garrosh mit, dass wir den Schuldigen gefunden haben, und dass wir uns um die Situation kümmern.“
Garrosh antwortete einige Stunden später, genau wie Baine erwartet hatte. Der Kriegshäuptling bestand darauf, Truppen einmarschieren zu lassen, um das Land zurückzugewinnen und die Schuldigen zu vertreiben. Seine Nachricht endete mit den Worten: Und wenn Ihr keinen Erfolg haben solltet, versichere ich Euch, dass ich ihn haben werde.
Baine schnaufte. „Das geht so nicht. Ich hatte gehofft, er würde einsehen, wie dringend wir einen weiteren Konflikt vermeiden müssen. So sei es. Teilt Garrosh mit, dass wir für seine Unterstützung dankbar sind, aber momentan keine militärische Aktion benötigen, da wir erst sehen möchten, wie sich die Verhandlungen entwickeln. Ich bete zur Erdenmutter, dass sie erfolgreich sein werden.“
***
Am nächsten Tag trat der Fernläufer auf Baine in seiner alten Behausung zu. „Ich habe Neuigkeiten über die Situation mit den Stachelebern, Oberhäuptling.“
Baine sah hoffnungsvoll aus. „Gute Nachrichten vielleicht?“
„Wir haben auf jede erdenkliche Art versucht, mit ihnen zu kommunizieren, aber unsere Gesandten werden sofort angegriffen. Nach jedem Versuch kehren sie blutüberströmt zurück, und es ist nicht ihr eigenes Blut.“ Der Späher sah die Enttäuschung in Baines Augen. „Aber die Todesopfer wurden möglichst gering gehalten. Sie kämpften nur, wenn es für den Rückzug nötig war“, fügte er schnell hinzu.
Baine seufzte. „Nun gut. Unterbrecht die Verhandlungsversuche fürs Erste. Ich muss die Quelle ihrer Aggression finden, wenn wir dieses Problem ohne unnötiges Blutvergießen lösen wollen.“
Einer von Baines Beratern ergriff das Wort. „Bei allem Respekt, Oberhäuptling, ich bin sicher, dass sich ein kleiner Trupp unbemerkt einschleichen und ihren Anführer töten könnte. Wenn wir sie in Verwirrung stürzen, wird es uns leichter, sie auszulöschen.“
„Auf gar keinen Fall. Ich weiß, dass wir irgendwie Frieden erreichen können. Wir werden der Verlockung einer Militäraktion widerstehen. Das sind Garroshs Methoden, nicht meine.“
Er wandte sich wieder dem geduldig wartenden Fernläufer zu. „Geht, bringt ihnen meine Nachricht, und fügt hinzu, dass niemand in das Gebiet der Stacheleber vorrücken darf, ohne dass ich explizit meine Erlaubnis gegeben habe. Ich werde eine Lösung für diese neue Bedrohung finden.“ Der Bote lief fort, und Baine bereitete sich auf die Reise zur Rückreise in die Heimat seines Vaters vor.
Baine drehte sich um, um seine Berater ein weiteres Mal anzusehen, bevor er das Zelt verließ. „Die Welt wurde zerrissen, die Allianz bedroht unsere Grenzen und die Horde versucht, sich selbst von innen heraus zu verschlingen. Ich würde gern eine andere Lösung als Blutvergießen finden.“
Derselbe Berater erhob die Stimme. „Ich bin bereit, dem zuzustimmen, aber diese Stacheleber sind gewalttätige Bestien, die unser Volk seit Jahren plagen. Ein solcher Frieden würde nicht lange halten.“
Baine nickte leicht. „Vielleicht. Frieden kann brüchig sein, aber ist ein weiterer Konflikt, ausgerechnet in unserem Zuhause, jetzt wirklich notwendig?“ Mit diesen Worten brach er nach Donnerfels auf.
***
Spät eines Nachts, nicht allzu lang nach dem letzten Angriff, versammelten sich mehrere Tauren aus Camp Narache um das Feuer. Die Angriffe der Stacheleber waren zahlreicher geworden, und mehr und mehr Wasser schien ihrem Land entzogen zu werden, um an andere geschickt zu werden.
Der älteste sprach zuerst. „Das ist nicht die Art, auf die unser Land genutzt werden sollte. Baine hat bis jetzt jeder Forderung dieses prahlerischen Garrosh nachgegeben, egal wie lächerlich. Wie lange können wir hier noch herumsitzen und zusehen, wie er langsam alles, was uns ausmacht, an die Orcs fallen lässt?“ Ein anderer, jüngerer Tauren fügte hinzu: „Wir können nicht die einzigen sein, die so denken. Hat jemand unter uns mit den anderen Stämmen gesprochen?“
Der erste Sprecher seufzte. „Das habe ich, und Ihr wisst, wie störrisch die Stahlgrimms und die Steinhufe sein können. Sie verstehen nicht ganz, wie Baines Taten seit dem Tod seines Vaters sich auf Mulgore ausgewirkt haben.“
„Baine ist vielleicht nicht sein Vater, aber ich bin mir sicher, dass er tut, was das Beste für uns ist. Er würde nie etwas anderes als die Interessen seines Volkes im Sinn haben.“
„Mag sein, aber das macht es auch nicht weniger gefährlich, hier zu leben. Wir Weitwanderer sind kein Stamm, der gerne an Ort und Stelle verharrt; warum ziehen wir nicht weiter? Erinnert Ihr Euch an die alten Zeiten, wie wir den Herden folgten? Wir haben jetzt ein Land, das wir Zuhause nennen, aber um den Preis dieser Freiheit.“ Er seufzte und zeigte auf seine Kameraden. „Erinnert Ihr Euch? Jeden Monat ein anderes Fleckchen Himmel? Warum müssen wir an ein einzelnes Land gekettet bleiben, wenn wir doch immer frei waren?“
„Und wo genau sollten wir hingehen?“
Der ältere Tauren zuckte mit den Schultern und stocherte im Feuer herum. „Ich habe nie gesagt, dass der Plan perfekt wäre ...“
***
Baine hatte seinen Fernläufern aufgetragen, die Bewegungen der Stacheleber und ihre neuesten, außerordentlich aggressiven Angriffe zu beobachten. Die Stacheleber waren schon immer streitlustige Kreaturen gewesen, und nun nahm ihre Feindseligkeit noch weiter zu. Trotz seines stabilen Netzwerks von Spähern entgingen ihnen Angriffe, und keine Lösung bot sich an. Er hatte seit einiger Zeit nicht mit Hamuul gesprochen und hoffte, dass der alte Erzdruide einige Hinweise gefunden hatte.
Baine fand Hamuul, der gerade Tiere beobachtete, am Fuße von Donnerfels. Ohne seinen Berater stören zu wollen, sagte Baine leise: „Ich brauche Euren Rat, Hamuul“.
Hamuul stand lächelnd auf. „Aber sicher, junger Baine. Ich werde alle Hilfe bieten, die ich bieten kann; das wisst Ihr.“
„Wie Ihr wisst, habe ich vor Kurzem mit den Spähern über die neueste Aggression der Stacheleber gesprochen. Sie waren noch immer ratlos und hatten keine Antworten zu bieten. Ich weiß, dass Ihr in letzter Zeit häufiger mit der Erdenmutter in Kontakt wart. Habt Ihr etwas herausgefunden, das dieses Rätsel lösen könnte?“
Hamuul griff eine Handvoll Gras, schnupperte daran und ließ es im Wind hinfortwehen. Er beobachtete, wie es landete, und schüttelte dann den Kopf. „Leider noch nicht. Mit dem Land zu sprechen braucht Zeit, Baine, besonders wenn es so aufgewühlt ist. Ich werde mit meinen Meditationen fortfahren. Es würde auch nicht schaden, mit einem Schamanen oder zweien zu sprechen ...“
***
Baine schüttelte seinen umwölkten Kopf, als er zusah, wie Hamuul murmelnd fortging. Zuviel war in der Abwesenheit seines Vaters geschehen. Er war nicht sicher, wie er all das lösen sollte, aber er war entschlossen, einen Weg zu finden. In den letzten Jahren hatte es zu viele Konflikte gegeben, und eine friedliche Lösung für dieses Problem wäre eine willkommene Abwechslung.
Auf dem Rückweg zu den Aufzügen traf Baine auf eine Gruppe von Tauren mit Gepäck und Vorräten. „Weitwanderer! Bereitet Ihr eine Reise vor?“
Sie verneigten sich gleichzeitig, und der Anführer der Gruppe sagte „Es tut uns sehr leid, Oberhäuptling, aber wir können nicht länger in Mulgore bleiben.“
Baine schloss für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, waren jegliche Reste von guter Laune, die er gehabt hatte, verflogen. „Ich lege Euch nahe, zu bleiben, Grauhuf. Ich müsste lügen, wenn ich sagen wollte, dass dies keine schwierigen Zeiten sind. Aber wir müssen jetzt mehr denn je vereint bleiben.“
Der ältere Tauren nickte. „Eure Worte sind wahr, doch es gibt kaum etwas, das wir hier tun könnten. Erinnert Ihr Euch an die alte Lebensweise? Es gibt noch Länder, die von der Verderbnis des Krieges noch unberührt sind. Das Leben kann friedlich sein, und frei, wenn wir wieder umherziehen.“
„Aber die alte Lebensweise passt nicht mehr so zu uns, wie sie es einst tat. Nomaden gehören in eine viel größere Welt, eine Welt, die inzwischen durch Kriege und Expansionen verkleinert wurde. Indem wir sesshaft sind, bekommen wir ein Zuhause, und indem wir als ein Volk vereint bleiben, können wir es so schützen, wie es geschützt werden muss.“
Grauhuf trat von einem Huf auf den anderen, peinlich berührt. „Leider ist Mulgore, wie so viele andere Gebiete, nur noch ein Ausläufer unter Garroshs Willkür. Wir möchten nur in ein Land außerhalb seiner Arroganz ziehen. Wir sind dankbar, dass Ihr nach dem Tod Eures Vaters die Führung übernommen habt, aber diese Veränderungen sind einfach zu viel.“
Mit zusammengebissenen Zähnen sagte Baine „Garrosh ist der Anführer der Horde, und arrogant oder nicht, wir haben dieser Horde die Treue geschworen. Sie ist mehr als ihre Anführer, sie ist ein anhaltendes, vereinigendes Konzept, das Thrall und mein Vater geformt haben. Gibt man ihr eine Chance, werden diese Probleme gelöst, und die Horde wird vor ihren äußerlichen Feinden und innerlichen Konflikten gerettet. Das verspreche ich.“
„Wie Ihr meint, Oberhäuptling.“ Baine nickte kurz und ging in Richtung des Aufzugs, um nach Donnerfels zurückzukehren. Grauhuf sagte seiner Gruppe: „Lasst uns nach Camp Narache zurückkehren und uns auf die Reise vorbereiten. Wir werden etwas Zeit zur Vorbereitung brauchen, bevor wir gehen können.“
***
Einige Tage später kehrte Hamuul mit einem großen, imposanten Orc im Schlepptau zurück. Der Orc verbeugte sich tief und sagte „Ich bin Swart vom Klingenhügel, Oberhäuptling. Es ehrt mich, Euch endlich zu treffen.“
Baine nickte als Antwort und sagte „Ebenfalls. Ich habe Hamuul von Euch reden hören, und jeder seiner Freunde ist in Donnerfels herzlich willkommen. Was verschafft uns die Ehre Eures Besuchs?“
Hamuul sagte: „Wir bringen gute Nachrichten. Ihr habt um ein friedliches Ende unseres Konflikts mit den Stachelebern gebeten. Es war nicht leicht, aber wir glauben, eine Lösung gefunden zu haben.“
Baine lächelte. „Ah, das sind in der Tat wunderbare Nachrichten. Mein Vater war immer zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um sich um sie zu kümmern, obwohl er glaubte, dass man mit ihnen verhandeln könnte. Bitte, sprecht weiter.“
Hamuul fuhr fort. „Wir haben nun seit einiger Zeit tief meditiert und glauben, endlich die Quelle der Störung gefunden zu haben. Swart?“
Swart räusperte sich. „Die Stacheleber haben spezialisierte Individuen namens Wassersucher, die dank des Aufruhrs der Erde anscheinend die Fähigkeit verloren haben, Wasser zu finden. In ihrer Verzweiflung drängen sie auf der Suche nach Wasser aggressiver vorwärts, ziehen sich nachts aber in die Sicherheit ihrer Dornenranken zurück. Wir glauben, dass die Lösung einfach ist: Man sollte für sie eine lokale Wasserquelle finden. Irgendwie.“ Er warf Hamuul einen Blick zu.
Hamuul lächelte. „Hier komme ich ins Spiel ...“
***
Baine und Hamuul warteten in Garroshs Vorraum. Ihre Schweife wedelten nervös.
Garrosh beeilte sich für niemanden, Anführer oder nicht. Als er endlich ankam, kam Baine entgegen seiner Gewohnheit sofort auf den Punkt. „Kriegshäuptling, wir haben Informationen, die für die Zukunft unserer Wasserlieferungen entscheidend sind. Wir hielten es für nötig, mit Euch über diese Informationen zu sprechen.
„Die Angriffe sind in den letzten Wochen dreister geworden, aber wir glauben, die Quelle des Problems gefunden zu haben, die auch die Quelle der verunreinigten Wasserlieferungen war, die Ihr erhalten habt. Die Stacheleber sind eine Plage, die unser Volk seit Jahren verfolgt, aber sie wollten nie mehr als Platz, um sich auszubreiten, was sie mit Leichtigkeit unterirdisch tun konnten. Es scheint als bräuchten sie dank der kürzlichen Erschütterungen der Erde auch Wasser. “
Ein junger Taurenbote kam in den Vorraum gerannt und unterbrach Baine. „Oberhäuptling! Ich bitte um Verzeihung, aber ich wurde geschickt um zu melden, dass ein weiterer Angriff entdeckt wurde. Die Karawanenbegleiter sind tot, und Wasser und Vorräte sind gestohlen worden!“
Baine nickte. „Ich danke Euch für den Bericht. Kehrt nach Donnerfels zurück und lasst Ruk Kriegsstampfer wissen, dass ich in Kürze eintreffen werde, um mich um die Situation zu kümmern.“
Als der Bote ging, begann Garrosh, im Raum auf- und abzuschreiten. „Das ist jetzt der dritte Zwischenfall seit letzter Woche. Wir wissen, wer verantwortlich ist, und doch wurden keine Strafen ausgeübt, und selbst jetzt verspotten Euch diese Stacheleber, indem sie Eure Grenze angreifen. Mein Vertrauen in Euch sinkt.“
Baine erhob die Hand. „Garrosh, Ihr versteht nicht, dass das eine Angelegenheit der Taurenländer ist, und dass sich daher unser Volk darum kümmern wird. Ich werde mich darum kümmern. Wir suchen in diesem Moment den Rat der Erdenmutter.“
Garroshs warf die Hände in die Luft, während er schrie: „Die Erdenmutter! Die Erdenmutter! Ich höre immer dieselbe Litanei. Was ist diese Erdenmutter schon?“
„Sie ist die Schöpferin unseres Volkes, und die leitende Stimme der Weisheit der Erde ...“
„Und doch benutzt Ihr die Erdenmutter als Krücke“, warf Garrosh ein. „Ihr verzögert und diskutiert und handelt nicht selbst! Diese Stacheleber wollen Macht demonstrieren, und die Horde wird ihnen ihrerseits zeigen, was Macht ist ...“
Baine atmete tief durch und fuhr ruhig fort. „Garrosh, ich bitte Euch freundlich, unsere Wege und Methoden zu respektieren. Dieses Problem wird bald gelöst sein, und zwar ohne unnötiges Blutvergießen. Hier geht es um mehr als auf den ersten Blick zu erkennen ist. Diese Angriffe riechen nach Verzweiflung, und ihre Probleme zu lösen kann auch unsere lösen.“
Während Garrosh ihn anstarrte, kam Baine zum Ende. „Ich kann den Wunsch verstehen, sie zurückzuschlagen, aber die Stacheleber sind gerissener als Ihr denkt. Ein direkter Angriff wird Folgen haben, und mein Volk wird darunter leiden.“
„In dem Moment, in dem sie unsere Frischwasserquelle angriffen, ist es zu einem Problem der Horde geworden. Wir leiden gemeinsam darunter, und Euer Zögern kommt uns jeden Tag teuer zu stehen. Ich werde nicht tatenlos zusehen, wie Ihr die Stärke und den Willen der Horde zum Gespött macht. Diese Aggression wird eingedämmt, und zwar bald.“ Mit diesen Worten schritt Garrosh aus dem Raum und verschwand.
Hamuul sah Garrosh hinterher und schnaufte. „Hat nicht einmal zugehört. Was glaubt er denn, was er an der Situation ausrichten kann?“
Baine hob Furchtbrecher an, und der silberne Kopf des Streitkolbens mit den sich überschneidenden Bändern aus Gold und Runen leuchtete hell. Er nickte kurz und machte sich auf den Weg zum wartenden Zeppelin. „Ich fürchte, dass Garrosh den Feind, dem er gegenübersteht, schwer unterschätzt. Wenn wir wieder in Donnerfels sind, solltet Ihr die Sonnenläufer bereit machen. Er könnte unsere Hilfe noch brauchen, ob er sie will oder nicht.“
***
In dieser Nacht, während Donnerfels schlief, ging Baine nervös in seiner Behausung auf und ab. Sein Bestehen auf einer friedlichen Lösung hatte zu weiteren Angriffen auf Karawanen geführt, sogar zu einem offenen Angriff auf sein Land, der das Leben des Kriegshäuptlings in Gefahr brachte. Als Hamuul den Raum betrat, sah Baine von seiner Grübelei auf und sagte traurig: „Ich habe meine Zweifel, Hamuul, ob das der richtige Weg ist. Vielleicht haben die Weitwanderer doch Recht. Die Horde war nicht so, als mein Vater Oberhäuptling war.“ Er zögerte. „Ich habe mich manchmal gefragt, ob ich unser Volk führen könnte. Jetzt frage ich mich, ob ich es sollte.“
Hamuul antwortete mit einem leisen Grollen in der Stimme. „Das ist nicht der richtige Zeitpunkt für Selbstzweifel, junger Baine. Ihr erfüllt Eure Aufgaben genauso gut wie Euer Vater. Ich weiß ohne jeden Zweifel, dass er die Weisheit, die Ihr an den Tag legt, und die Leidenschaft, mit der Ihr sicherstellen wollt, dass Ihr das Richtige tut, gutheißen würde.“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Lasst diejenigen, die das nicht einsehen, gehen und ihren eigenen Weg finden.“
Baine lächelte schwach. „Ich erinnere mich, dass Ihr vor nicht allzu langer Zeit eine sehr ähnliche Meinung vertreten habt.“
Hamuul versteifte sich merklich. „Ich habe voreilig und aus der Frustration heraus gesprochen. Ich gebe gern zu, dass ich mich geirrt habe. Wir werden durchkommen, und Ihr werdet sehen, dass Ihr ein Anführer seid, auch wenn Ihr das im Moment nicht glaubt.“
***
Zur gleichen Zeit bereitete Garrosh die Kor’kron auf die Invasion der Dornrankenklamm vor. Fünfzehn standen vor ihm stramm, die Augen regungslos geradeausgerichtet, aber vor bösartiger Vorfreude auf die kommende Schlacht glitzernd.
„Diese Tauren könnten einem Kodo den Schwanz abdiskutieren, aber schreiten sie zur Tat, wenn ihr eigenes Land von einer Invasion bedroht ist?!“, tobte Garrosh. „Wir müssen ihnen zeigen, was wahre Krieger ausrichten können. Unser Ziel sind die Stacheleberbaue im Süden von Mulgore. Der Angriff beginnt kurz vor Tagesanbruch. Sorgt dafür, dass Ihr bereit seid.“
Seine Krieger salutierten und liefen davon, um sich vorzubereiten. Garrosh kehrte auf seinen Thron zurück und legte Blutschrei über seinen Schoß. Er würde sie alle in den Sieg führen, und die Axt seines Vaters würde wieder im Ruhm der Schlacht singen. Garrosh bleckte seine Zähne in einem scharfen Grinsen.
***
Die Kor’kron waren Elitesoldaten; Sie waren tödlich und sie hatten das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Die geschwärzten Zeppeline glitten in den frühen Stunden vor Tagesanbruch leise durch die Luft und hielten in der Nähe der von den Stachelebern besetzten Gebiete an. Mit Garrosh an ihrer Spitze hangelten sich die Krieger an Seilen herunter und landeten fast auf den Köpfen der Patrouillen der Stacheleber. In einem Sturm aus Attacken blitzten Klingen, und zehn Stacheleber lagen still da. Nur ein kleines Quieken kam über die Lippen eines einzigen Feindes, und die Wachen in der Nähe des Eingangs zum Bau kamen, um nachzusehen. Auch sie fielen schnell in einem Wirbel aus Äxten und Schwertern, der in die benommene Menge hinein explodierte. Während sich die Zeppeline in sichere Entfernung bewegten, begaben sich die Kor’kron in die Tunnel, und aller Widerstand, auf den sie trafen, wurde schnell und effizient beseitigt.
Die Schlacht war kurz aber heftig, und die Stacheleber verteidigten ihr Heimatterritorium mit einer Wildheit, die selbst Garrosh überraschte. Sie waren es gewohnt, in engen Tunneln zu kämpfen, benutzten wenn nötig ihre Hauer und griffen mit besinnungslosem Eifer an. Sie hatten keine Angst bei der Verteidigung ihrer Heimat zu sterben. Garrosh lächelte, als vor ihm ein Stacheleber nach dem anderen fiel. An diesem Tag würde er sie das Fürchten lehren.
Minuten später erreichte die Gruppe die Hauptkammer. Garrosh ging triumphierend voran, Blutschrei vor sich erhoben, bereit, zuzuschlagen. Er nickte voller Stolz. Der Boden war von Leichen übersät, und außer dem schweren Atmen der Krieger waren keine Geräusche zu hören. Sie sahen sich um, suchten nach Zeichen und versuchten herauszufinden, welchem der zahllosen Tunnel sie folgen sollten. Nach einigen Minuten waren hinter ihnen Schritte zu hören, und sie drehten sich langsam um in der Erwartung, die wenigen versprengten Überlebenden zu töten.
Es waren mehr als ein paar versprengte Überlebende. Die Tunnel hinter ihnen quollen mit den Bestien über. Die Neuankömmlinge hielten einen Moment lang inne und bemerkten die dutzende ihrer Brüder, die den Boden bedeckten. Garrosh rief ihnen zu: „Heute werdet ihr alle bezahlen. Heute werdet ihr den Zorn der Horde sehen!“
Auf Garroshs Zeichen schleuderten die Kor’kron einen Hagel von Äxten in die Menge, ein dutzendfaches Quieken brach aus und hallte von den Wänden der Höhle wider. Aber die Stacheleber machten noch keine Anstalten, anzugreifen. Ein weiterer Schauer aus Äxten traf sein Ziel, und dennoch bewegte sich kein einzelner vorwärts. „Was soll das?!“, schrie Garrosh. „Habt ihr so einfach aufgegeben? Ich werde euch keine Gnade gewähren, sondern euch an Ort und Stelle niedermähen!“
Wie ein Mann erhoben die einzelnen Mitglieder der Menge vor ihm ihre Arme und ließen ein lautes Quieken hören. Etwas brach aus der Höhle hinter den Kor’kron aus, und als die Orcs herumschnellten, sahen sie eine Flut von hunderten der Bestien blitzschnell aus Tunneln im Boden und aus Löchern in der Decke auftauchen.
„Zur linken Flanke ausweichen; vorwärts!“, schrie Garrosh. „Lasst sie uns nicht von der Oberfläche abschneiden!“ Die Krieger warfen sich auf die Stacheleber und behielten den Ausgang im Rücken. Blutschrei verschwamm in der Luft, während sie singend auf die Anführer des Angriffs zuraste. Sie fielen mit einem Knirschen zu Boden, und weitere Bestien fluteten über ihre gefallenen Brüder.
„Vorwärts!“ schallte der Befehl, und seine Krieger drängten heftiger gegen das ohrenbetäubenden Quieken und Grunzen an, während die Stacheleber ohne zu zögern zurückdrängten. Farbiges Leuchten erhellte die verzerrten Gesichter seiner Kor’kron, als die Schamanen der Stacheleber Zauber in ihre Mitte schleuderten. Ein donnerndes Tosen explodierte und hallte in der Höhle wider, wann immer sie trafen. Mit sinkendem Mut merkte Garrosh, dass in jedem Aufblitzen ein Krieger weniger in seinem Trupp zu sehen war. Als sie fielen, fielen auch die Fackeln, die seine Kämpfer trugen, zu Boden und wurden schnell ausgelöscht. Mit erneuter Kraft brüllte Garrosh und kämpfte noch rasender. Er war ein Höllschrei, und ein Höllschrei würde keinen jämmerlichen Tieren zum Opfer fallen. Er würde sie hier hinausführen.
Er schwang Blutschrei herum, schneller und schneller, und die Luft war erfüllt mit dem überirdischen Lied der sich bewegenden Axt. Der Schrei hallte durch die Tunnel und fand seine Antwort in dem Kreischen weiterer der Bestien. Stacheleber flogen in alle Richtungen oder wurden unter seiner Axt in Stücke geschnitten, während Garrosh sich vorkämpfte, aber ihre Zahl war endlos. Es gab kein Nachlassen, es gab keinen Rückzug, und Garrosh wurde weiter und weiter in die Höhle gedrängt, bis selbst das Licht von der Oberfläche nicht mehr zu ihm durchdringen konnte. Er war jetzt allein, die Dunkelheit kam näher, und er war umgeben vom endlosen Strom der Stacheleber, die alle entsetzlich quiekten. Sie begannen, an seiner Rüstung zu reißen, ihn zu kratzen und sein ungeschütztes Fleisch zu beißen und drängten ihn so noch weiter in den Tunnel.
Ihm blieb nichts weiter übrig, als sich in die Richtung zurückzuziehen, in die sie ihn drückten, immer weiter nach unten. Er konnte ihren heißen Atem und ihr aufgeregtes Quieken hören. Er drehte sich und tastete nach einem Weg zurück zur Oberfläche, fand aber nur einen kurzen Seitentunnel, der abrupt endete. Schließlich, als er mit dem Rücken zur Wand stand, klemmte Blutschrei in einem Riss in der Wand fest und ließ sich nicht herausziehen.
Mit einem heiseren Schrei warf sich Garrosh gegen die schwellende Flut aus Borsten und Schwertern. Er entriss einem Angreifer einen Speer, um ihn in den Kopf eines anderen zu bohren. In diesem Moment fiel die Fackel, die das Biest gehalten hatte, die letzte verbliebene Lichtquelle, zu Boden und erlosch. Alles wurde dunkel. Sie strömten weiter und weiter heran, und obwohl er allein und in der Dunkelheit verloren war, würde Garrosh nicht aufhören, bis alle tot am Boden lagen. Seine Arme begannen zu schmerzen, und sein Atem kam in abgehackten Stößen, aber er kämpfte weiter, mit jeder Waffe, die seine Hände erreichen konnten. Für jedes Biest, das fiel, stürmte ein weiteres heran, um seinen Platz einzunehmen.
Langsam wurde er überwältigt, und mehr und mehr Angriffe der Stacheleber trafen ihr Ziel. Er konnte ein schwaches Licht sehen, das die Dunkelheit durchdrang, aber er konzentrierte sich auf den Kampf, der vor ihm lag. Als das Licht heller wurde, hielten viele seiner Angreifer inne, und er konnte undeutlich einen Aufruhr aus dem Haupttunnel hören. Plötzlich strömte unbegreiflich helles Licht in mehreren glänzenden Strahlen herab, und seine Quelle kam jede Sekunde näher. Die ihn umgebenden Stacheleber schrien vor Wut und rasten zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Obwohl er geblendet war, konnte er sehen, wie die Biester in alle Richtung geschleudert wurden als wären sie aus bloßem Papier.
Das Licht wurde noch heller und näherte sich der Biegung, an der er sein letztes Gefecht schlug. Aus seinem Blickwinkel hinter der Ecke konnte er Baine sehen, begleitet von Hamuul Runentotem und einer Handvoll Sonnenläufern. Baine rief in den Tunnel: „Seid standhaft, Brüder! Ihr müsst die Dunkelheit nicht fürchten!“, während Furchtbrecher hell in seiner Hand leuchtete, heller als das strahlende Licht der Sonnenläufer selbst. Baine fragte sich kurz, ob Anduin Wrynn damit einverstanden wäre, sein Geschenk auf diese Art zu benutzen, während ein Biest nach dem anderen unter dem zwergischen Streitkolben fiel, bis sich alle Stacheleber auf einmal weiter in ihren Bau zurückzogen, in die Sicherheit der Dunkelheit.
Baine stürzte an die Seite des Kriegshäuptlings. „Garrosh, nehmt Eure Waffe und wir gehen. Wir müssen hier raus, bevor sie uns umzingeln.“ Er zog Garrosh auf die Beine und half ihm dabei, seine Waffe aus der Wand zu ziehen, wo sie noch immer feststeckte. „Beeilt Euch.“
Schnell fanden sie den Wag zur Oberfläche, und bis auf die Leichen, die den Boden übersäten, war der Weg frei und ohne Hindernisse. Baine war dankbar für sein Glück und hoffte, dass sie die Stacheleber vollkommen vernichtet hätten, während sie eine große Höhle durchquerten. Als sie die andere Seite erreichten, ließ Hamuul alle anhalten. Er kniete nieder und begann zu murmeln, in der Hoffnung auf einen richtigen Hinweis auf den Pfad, der nach draußen führte. Als er aufstand und auf den Weg zeigte, brach etwas aus den Wänden der Höhle hervor. Die Gruppe schnellte herum, um sich dem erneuten Angriff zu stellen, hielt aber beim Anblick der Angreifer inne.
Garrosh rief über den Tumult hinweg: „Was sind diese Dinger?!“
Baine tat einen vorsichtigen Schritt rückwärts. „Ich wünschte, ich wüsste es, Kriegshäuptling ...“
Körper waren weiß wie Asche und in stacheligen Borsten von einem kränklichen Grün bedeckt, mit großen, hervorquellenden Augen, die aus ihren Schädeln ragten. Sie waren einen ganzen Kopf größer als alle anderen Stacheleber, die die Tauren oder irgendein anderes Volk je gesehen hatten, und die intelligenzbegabte Bösartigkeit in ihren Augen zeigte, dass sie weit fähiger waren als ihre Brüder, die vor so kurzer Zeit unter dem Ansturm von Baine, Hamuul und den Sonnenläufern gefallen waren.
Baine ließ seine Sonnenläufer anhalten, als die beiden Seiten einander gegenüberstanden. Es gab keinen Ausweg, nur den Weg zurück. Die Luft wurde schwer und von einem widerwärtigen, erdigen Geruch durchsetzt, als mehr und mehr der äschernen Bestien jeden freien Platz der Höhle ausfüllten. Aber es folgte kein Angriff. Es war, als würden sie diese Eindringlinge abschätzen und sich einen Plan für ihren nächsten Schachzug zurechtlegen.
Garrosh hob seine Axt und rief: „Geisterhafte Bestien! Lasst uns diese Sache jetzt beenden!“
Baine rief über Garrosh hinweg: „Kriegshäuptling, wir müssen in offenes Gelände kommen! Wenn wir hier unten bleiben, ist alles verloren!“ Hamuul vollführte eine Geste, und kleine Ranken schossen aus dem Boden. Sie wanden sich einen Pfad durch das Labyrinth der Tunnel bis zum Ausgang. „Folgt mir, schnell!“, befahl Baine.
Mit dem brüllenden Garrosh im Schlepptau rannten Baine, Hamuul und die Sonnenläufer an die Oberfläche und erreichten den oberen Teil des Höhlensystems, als Hamuuls Zauber endete. Jetzt hatten sie Bewegungsfreiheit. Während Garrosh sich auf den Ausgang des Tunnels konzentrierte, griff sich Baine die goblinische Signalfeuerpistole von Garroshs Gürtel und schoss in die Luft. Die Zeppeline begannen, sich zum Evakuierungsort zu bewegen, aber nicht schnell genug. Die unnatürlichen Bestien fluteten an die Oberfläche, heftig blinzelnd im Licht des frühen Morgens.
Baine trat auf sie zu, als sie herauskamen, und sie scheuten vor ihm zurück, sich der Tatsache bewusst, dass sie nicht mehr in ihrem Element waren. Er wandte sich Hamuul zu, als der Erzdruide eine Geste vollführte und der vor ihm versammelten Menge zurief: „Es gab eine bessere Lösung, eine, die ihr alle ignoriert habt. Seht den Segen der Erdenmutter!“ Mit diesen Worten trat Hamuul vor und stieß mit einem Schrei seinen Stab in den Boden.
In einer riesigen Fontäne brach Wasser vor ihm aus dem Boden, umschloss die meisten der Albino-Stacheleber und spülte sie mit einem Donnergrollen zurück in den Tunnel. Die zurückgebliebenen wurden von der Explosion zu Boden gerissen, ebenso wie der verdrießliche Garrosh.
Ein neuer Fluss ergoss sich aus der Stelle, in die Hamuul seinen Stab gestoßen hatte. Er umspülte die Steine, floss in den Tunnel und tief in die Erde. Als die Stacheleber sich wieder erhoben, trat Baine nochmals auf sie zu. „Das Land ist gegenüber denen, die es respektieren, freigebig. Es gibt genug Wasser für alle. Ihr werdet sehen, dass dieser Fluss seinen eigenen Weg gefunden hat und durch diese Tunnel zu einem unterirdischen See fließt. Nehmt dieses Geschenk und behelligt uns nicht weiter.“
Die Stacheleber kehrten langsam in ihren Tunnel zurück, als das Licht endlich die Hügelkuppen um Mulgore herum erreichte. Die Morgendämmerung war für alle Tauren von Bedeutung, da sie ein Symbol der Wiedergeburt war, aber heute stand sie auch für erneuerten Respekt vor der Erdenmutter und ihre vielfältigen Gaben. Sie fanden ihren Weg durch die Leichen der Stacheleber, die im ersten Angriff gefallen waren, und machten sich auf den Weg Richtung Camp Narache. Garrosh blieb auf der Reise stumm; Er war zu wütend, um zu sprechen. Baine wurde bewusst, dass ihn eine solche Reaktion nicht überraschte, während er Garroshs steife Bewegungen beobachtete.
Endlich kam der erste Zeppelin an und hielt, während die Strickleiter zu Boden gelassen wurde. Baine schaute zu dem Luftschiff empor, dann zurück zu seinen versammelten Sonnenläufern. Einige Momente lang fiel sein Blick auf Garrosh, bevor er in Richtung des Luftschiffs nickte und sagte: „Geht und führt die Horde. Sollten wir in Mulgore erneut Eure Hilfe benötigen, werden wir es Euch wissen lassen.“ Mit diesen Worten wandte er dem noch immer stummen Kriegshäuptling den Rücken zu und begann die Reise zurück nach Donnerfels, seine Sonnenläufer nahe hinter ihm.
***
Die Nacht begann über Mulgore hereinzubrechen und warf lange Schatten über das Land. Feuer flackerten auf den Mesas und in den Ebenen auf, während die Tauren es sich für den Abend bequem machten. Heute würden sie ruhig schlafen in dem Wissen, dass ihr Land wieder sicher war. Vor Baines Behausung zögerten Grauhuf Weitwanderer und einige seiner Stammesmitglieder. Schließlich sagte er „Stählt Euch. Wir müssen es tun.“
Mit seinen Stammesmitgliedern nahe hinter ihm betrat er den Hauptraum, wo Baine versuchte, sich zu entspannen, und fragte leise: „Oberhäuptling, habt Ihr einen kurzen Moment Zeit für uns?“
Baine stand lächelnd auf. „Unbedingt. Was kann ich für Euch tun?“
Der ältere Tauren ließ den Kopf hängen und sagte: „Trotz Eurer Ermutigung waren wir im Innersten unserer Herzen weiterhin besorgt. Wir verbrachten Zeit damit, uns auf unsere Abreise vorzubereiten, und in den frühen Morgenstunden brachen wir auf. Wir waren Zeugen Eures Triumphes über die Stacheleber, und es war wahrhaftig inspirierend. Ihr habt die Stärke eines Anführers und lasst Euch von einer Weisheit leiten, die wir in unserer Blindheit nicht erkannten. Es beschämt uns zuzugeben, dass wir es für nötig hielten, dieses Land zu verlassen, und wir möchten uns dafür entschuldigen, Oberhäuptling.“
Baine wischte diese Bedenken mit einer Handbewegung weg. „Wir leben in aufwühlenden und ungewissen Zeiten. Es ist ein Leichtes, Euren besorgten Herzen zu vergeben. Diese Stacheleber werden uns in Mulgore nicht mehr belästigen, aber das bedeutet nicht, dass wir sorgenfrei sind. Wir werden von allen Seiten mit Problemen von außerhalb und innerhalb bedrängt, aber wir können sie nur gemeinsam bewältigen.“
Baine trat an die vordere Seite seiner Behausung und sah lange nach draußen. Er sah, wie sich Donnerfels auf den Abend vorbereitete und die verstreuten Feuer, die in der Ferne brannten. Er konnte vage den Umriss von Camp Narache sehen, wo junge Taurenkrieger ihre Ausbildung fortsetzten. Sie würden in den kommenden Prüfungen gebraucht werden, Prüfungen, die das Vertrauen und die Unerschütterlichkeit seines gesamten Volkes auf die Probe stellen würden.
Baine nickte und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der kleinen Gruppe vor ihm zu. „Unser Volk ist lange, lange Jahre durch dieses Land gezogen und hat in dieser Zeit viel über die Welt gelernt. Unsere Verbündeten werden sich an uns wenden müssen, um Weisheit und Führung zu finden. Mein Vater hat der Horde ein Versprechen gemacht, um eine Schuld zu begleichen, die sie sich mit ihrem Dienst an unserem Volk erworben hat. Ich für meinen Teil habe die Absicht, dieses Versprechen einzulösen.“
Gallywix: Handelsgeheimnisse eines Handelsprinzen von Gavin Jurgens-Fyhrie
Einleitung des Autors
Hey, Kumpel. Hier spricht Handelsprinz Gallywix. Ihr haltet dieses Buch in Euren Händen, weil Ihr so sein wollt wie ich. Wer würde das nicht wollen? Es gibt keinen lebenden Goblin, der mächtiger oder gefährlicher wäre als ich. Ich kann Euch alles beibringen, was Ihr für den Erfolg wissen müsst.
Doch zunächst eine rechtlich verbindliche Warnung an Euch:
Wenn Ihr diese Zeilen lest und das Buch nicht gekauft habt, dann handelt es sich um Diebstahl. Ihr meint, schmökern sei ein Verbrechen ohne Opfer? Ihr meint, es sei Euer Recht als Kunde? Da seid Ihr schief gewickelt, Kumpel! Es sind Trittbrettfahrer wie Ihr, die meine Profitspanne im letzten Jahr haben einbrechen lassen und damit verhindert haben, dass ich mir essbare Möbel für den neuen Flügel an meinem Anwesen kaufen konnte. Anstelle der Sitzgarnitur aus Schokolade nebst Kissen aus Streuselkuchen, die mir zugestanden hätte, muss ich jetzt mit Möbeln aus Seide vorlieb nehmen. Habt Ihr schon mal probiert, Seide zu mampfen? Wisst Ihr überhaupt, wo das Zeug herkommt? Das pressen Würmer aus ihren Allerwertesten, jawohl! Ihr müsst dafür sorgen, dass sich meine Umstände bessern. Kauft mein Buch, oder meine explodierenden Assassinen werden Euch jagen wie eine diebische Bilgewasserratte, die Ihr ja auch seid.
Was, Ihr glaubt mir nicht? Meint Ihr mich zu kennen? Durch leere Drohungen wird man nicht Handelsprinz. Die Stelle wird nicht vererbt, wie bei diesen verweichlichten, rosahäutigen Menschen. Wenn ich Euch sage, dass Euch in diesem Augenblick zweiunddreißig Spione dabei beobachten, wie Ihr Euch nervös die Lippen leckt, solltet Ihr das besser glauben.
Ihr braucht Euch gar nicht erst umzuschauen. Ihr werdet sie nicht sehen können. Hört auf, meine Zeit zu verschwenden und Euer Leben zu riskieren. Zwanzigtausend Gold ist fast geschenkt für die Geschichte meines Lebens. Und wenn Ihr auch nur noch eine weitere Zeile lest, ohne mein Buch zu kaufen, werde ich die gesamte Macht meines Imperiums dafür einsetzen, Euch zu vernichten. Haben wir uns verstanden?
Gut. Dann bezahlt jetzt den verdammten Händler.
Fertig? Seid Ihr ganz sicher? Gut. Na, dann danke, dass Ihr mein Buch gekauft habt, Dummkopf. Ihr wollt Handelsprinz werden? Ich will eine Armee Teufelshäscher, die mein Konterfei auf ihre Faust tätowiert haben, aber die Verhandlungen mit der Brennenden Legion sind gescheitert, also sieht es aus als würde keiner von uns bekommen, was er will.
Warum Ihr kein Handelsprinz werden könnt? Weil sämtliche Posten mit Goblins besetzt sind, die besser sind als Ihr. Ihr seid noch nicht so weit, aber keine Sorge. Ihr habt Euch an den richtigen Goblin gewendet.
Ihr habt vielleicht einige Gerüchte über mich gehört. „Gallywix ist Handelsprinz geworden, indem er jeden, den er kannte, entweder hochgejagt, gekauft oder einfach verkauft hat. Als der Kajaro ausgebrochen ist, hatte Gallywix das einzige Schiff, und hat die Flüchtlinge den geringen und äußerst fairen Preis in Form all ihrer Ersparnisse für die Tickets zahlen lassen. Er hat die Elite der goblinischen Aristokratie unter Deck wie Sardinen in der Büchse gehalten und sie dann in die Sklaverei zu verkaufen versucht. Dieses Monster Gallywix hat sein gesamtes Volk für eine Bazillion Moneten verschachert.“
Hört sich ganz schön grausam an, was?
Dann ratet Mal: Es ist alles wahr. Warum sollte ich lügen? Ich vertusche niemals Dinge, auf die ich stolz bin. Wenn morgen die Welt in zwei Hälften brechen sollte, dann würde ich das Dunkle Portal kaufen, eine Mautstelle darauf errichten und jedem Flüchtling für die Passage sein gesamtes Bargeld, die Ringe an seinen Fingern, einen Happen von seinem Sandwich und die vertragliche Verpflichtung, mir im Himmel von Nagrand einen Raketenpalast zu bauen, aus der Tasche ziehen. Das ist Goblinart! Angebot und Nachfrage! Kommt damit klar!
Aber hey, Ihr habt für Euer Ticket bezahlt, und das bekommt Ihr dafür: die drei Geheimnisse des größten Handelsprinzen, den diese Schlammkugel je gesehen hat. Es wird nicht lange dauern, sie mitzuteilen. Tatsächlich werdet Ihr, wenn Ihr das Buch ganz hinten aufschlagt, feststellen, dass die letzten dreihundert Seiten lediglich Zeitungsausschnitte und Rezepte für Trockenfisch enthalten.
Tja, tut mir leid, Kumpel, keine Rückerstattung.
Geheimnis 1: Lasst Euch von niemandem die Butter vom Brot nehmen
An dem Tag, als ich zehn Jahre alt wurde, übernahm ich den Familien-Tüftelbetrieb UND das örtliche Verbrechersyndikat. Das war einfacher, als einem Blutelfen einen Spiegel zu verkaufen. Gebt gut Acht….
Mein Geburtstag fing an, wie jeder andere Tag auch: Mein Vater brachte mich beinahe um.
Nicht, dass er es jemals bewusst versucht hätte. Und da bestand eigentlich auch das Grundproblem bei ihm. Nichts, das er jemals anpackte, gelang so, wie er es sich vorgestellt hatte, und das ist kein Pappenstiel, wenn man es mit Sprengstoff zu tun hat. Der einzige Laden, den er am Laufen halten konnte, lag so tief im schlimmsten Teil des Malocherviertels, dass nicht einmal die Handelseintreiber von Handelsprinz Maldy sicher waren. Der Letzte, der sich dorthin verirrte, wurde um seine Stiefel betrogen, ausgeraubt, beleidigt, auf ein Schießpulverfass gebunden und zurück zu dem alten Goblin gerollt, mit einem freundlichen Ablehnungsschreiben zwischen den Zähnen.
Mein Papa hat die Steuerersparnis als Zusatzverdienst angesehen. Ich habe mir die schlammigen Straßen und den verstrahlten Müll angesehen. Sogar die Ratten haben sich aus dem Staub gemacht. Papa meinte, er würde eines Tages mit einer weltbewegenden Erfindung groß rauskommen. Ich wusste, es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis er uns alle in die Luft jagen würde, und hatte mich in der vorigen Nacht dazu entschieden, wegzulaufen und ein Pirat zu werden, so wie meine Mama.
Ich hatte die ganze Nacht mit Packen und Planen verbracht. Die fünf Moneten, die ich in meinen zerrissenen Stiefeln versteckte, fühlten sich wie ein Vermögen an. Mein alter Herr stand im Morgengrauen auf und begann im Laden herumzubasteln und Selbstgespräche zu führen. Sein Forschungs- und Entwicklungsprozess bestand aus drei Phasen – Optimismus, Sorge und Panik – und die dritte konnte einen leicht ein paar Finger oder Teile der Haut kosten. Als er bei 2,9 angekommen war, verschnürte ich mein Bündel und rammte es unter meine verschimmelte Matratze.
„Komm schon“, murmelte er auf der anderen Seite der papierdünnen Wand, „Nur noch ein bisschen fester… fester… Upps! Oh-oh. Oh, nein. Nein! Halt! Junge! Wach auf und such Deckung!“
Ich erhob resigniert mein bleiverstärktes Kissen, gerade als ein Teddybär mit orangefarbenem Fell und einem roboterhaften Gesicht durch die Wand brach. Er sah mich, gab ein schrilles Kreischen von sich und explodierte dann, wobei er Schrapnelltornados in jede Richtung schleuderte.
Fußschritte donnerten durch den schäbigen Flur und mein Papa brach durch den Türrahmen. Er klopfte vorher nicht an, aber nicht, weil er so in Eile war, sondern, weil Napalm die Tür letzten Monat geschmolzen hatte.
„Ist bei dir alles in Ordnung, Junge? Hast du das gesehen? Ein perfekter Test! Horizontale Brennstufe, das Ziel aufgeschaltet, ein gyroskospischer Impuls, und Detonation! Die Union meinte zwar, dass die Verwendung von Mikrobomben für die Navigation und Raketentreibstoff für den Antrieb die gesamte Nachbarschaft in Schutt und Asche legen würde, aber wir haben es ihnen gezei…“
Ich ließ mein zerfetztes Kissen klappernd zu Boden fallen.
„Das war der einzige Prototyp, richtig?“
„Nun, ja, aber…“
„Und die Blaupausen sind…?“, fragte ich, den Satz unvollendet lassend, damit er antworten konnte. Ich hatte eine Menge Erfahrung darin, mit ihm zu reden.
„Gestohlen, von einem mechanischem Huhn.“
Das war mir neu, aber ich würde mich nicht ablenken lassen.
„Also kannst du so etwas nicht noch Mal nachbauen, oder?“
Er öffnete den Mund, um eine schnippische Antwort zu geben. Dann weiteten sich seine Augen vor Schreck. Ich nickte. Die morgendliche Routine war abgeschlossen. Zeit, sich etwas zum Frühstücken zu organisieren und sich dann aus dem Staub zu machen.
„Macht nichts, Junge. Ich habe das Prinzip jetzt verinnerlicht. In liebenswerten Plüschtieren versteckter Sprengstoff… ein gänzlich jungfräulicher Markt. Wir werden reich!“
„Pah, der einzige Weg, der uns aus der Armut führt, ist der, dass du dich in die Luft sprengst“, schnauzte ich.
„Jastor, das ist nicht fair. Es ist nur eine Frage der Zeit.“
„Weißt du was? Du hast Recht. Du wirst uns eines Tages in die Luft sprengen. Ich glaube an dich, Papa.“
„Hey! Es gibt ‘ne Menge Goblinkinder da draußen, die sich wünschen würden, ihre Eltern wären Tüftler. Als ich in deinem Alter war, habe ich davon geträumt…“
„Ach wirklich, Paps? Diese Geschichte schon wieder?“
„… dass meine Eltern aufhören würden, Kanäle auszuheben, und lieber etwas in die Luft jagen würden! Du bereitest mir Sorgen, wenn du sagst, dass du Angst vor Explosionen hast. Das ist nicht goblinisch.“
„Nein! Soll ich dir sagen, was nicht goblinisch ist? Ein Kind zu haben und ihm zu sagen, dass es spielen gehen soll. Weißt du, was das Problem ist? Es ist niemand zum Spielen da! Jelky muss den ganzen Tag Zündschnüre flechten. Druz steht im Morgengrauen auf, um Zement zu mischen. Weißt du eigentlich, wie demütigend es ist, dass mich mein eigener Vater nicht zum Arbeiten zwingt?“
Papa warf die Arme in die Luft und machte sich auf den Weg zurück durch den kurzen Flur in den Laden.
„Ich sag dir was“, rief er, „warum überlässt du mir nicht das Geschäft, und ich überlasse den Zuckermampf-Keks da hinten dem ersten Geburtstagskind, das vorbeikommt.“
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass man mitunter auch Mal was verkaufen muss, um im Geschäft zu bleiben!“, rief ich, aber ich war nicht mehr bei der Sache. Zuckermampf! Wegzehrung!
„Du meinst, dass du es besser kannst?“, fragte er vom Laden her. „Du kannst es jederzeit ausprobi… äh, guten Tag, die Herren.“
Papa schien Kundschaft zu haben. Ich nahm das als gutes Omen für meine Reise. Wenn etwas so Unwahrscheinliches wie das Auftauchen von Kundschaft im Laden meines Vaters eintreten konnte, dann würde auch ich keine Probleme haben, ein Schiff zu finden, das mich aus Kezan fortbringen würde. Quatsch, ich würde vermutlich sogar einen zahmen Hai finden, der mich zu einer magischen Insel aus Muffins und Platin bringen würde. Ich ging durch den Flur Richtung Keks.
Die Zuckermampf-Bäckerei gibt es nicht mehr. Ein paar Jahre, bevor die Orcs in Azeroth auftauchten, wurde der Eckladen während des Zweiten Handelskrieges leicht und während des Vierten Handelskrieges schwer bombardiert, und während des Friedenskrieges eingeschmolzen. Die ganze Nachbarschaft roch einen Monat lang nach verbranntem Zucker und verschmorten Körperteilen. Aber die Sache ist die: wenn man nie einen Keks aus der Zuckermampf-Bäckerei probiert hat, hat man noch nie einen richtigen Keks probiert. Basta.
Sie waren groß genug, dass man sie in beiden Händen halten konnte, und am äußeren Rand leicht gebräunt. Schokoladenstücke, so groß wie eine Ogerfaust. Mit einem Hauch Zimt und Puderzucker. Und ich bekam nur ein Mal im Jahr so einen.
Am Ende des Flurs erstarrte ich und hielt mich im Halbschatten verborgen. Ich hätte es besser wissen sollen. Keine Kunden. Skezzo und seine Schläger versuchten mal wieder, meinen Vater zu erpressen.
Im Malocherviertel waren sogar die Gauner ständig pleite, da bildete auch die Kupferstraßengang keine Ausnahme. Ich sehe diesen Idioten Skezzo noch vor mir mit seinen nachgemachten Goldohrringen und dem miefenden, zusammengeflickten Anzug. Das einzig Sinnvolle, das er je getan hat, war es, sich mit mir anzulegen.
Er schubste Papa gegen seinen dreieinhalbbeinigen Arbeitstisch. Am anderen Ende wackelte unser einziger Teller mit meinem Keks darauf bedenklich. Ich stieß den Atem aus, aber ich wäre mir auch nicht zu schade gewesen, das Ding vom Boden zu essen, wenn es hätte sein müssen. Es wäre Euch nicht anders gegangen, glaubt mir.
„Was sollen wir mit dir nur anfangen, Luzik?“, sagte Skezzo. „Du zahlst nie rechtzeitig. Du zahlst eigentlich nie. Es würde mir sehr leid tun, Lumpo morgen hierher schicken zu müssen, um ein bisschen was in deinem schönen Laden in die Luft zu…“ Skezzo verstummte, als ihm aufging, dass sich, abgesehen von einer Stange Dynamit, nichts von Wert in Sichtweite befand. Und die in die Luft zu jagen würde ihm nicht viel bringen.
„Hört mal, es tut mir leid“, meinte Papa, „aber ich habe kein Geld übrig. Ich habe kaum genug für Vorräte!“
„Aber für Süßigkeiten, so wie’s aussieht.“ Skezzo langte an Papa vorbei…
Nach.
Meinem.
Keks.
„Du zahlst mir bis heute Nacht alles, was du mir schuldest.“, sagte er, wobei er sich den Keks in den Mund stopfte. Wertvolle Krümel rieselten ihm dabei auf den speckigen Kragen. „Oder ich brenne deinen Laden nieder und lasse dich die Fackeln dafür bezahlen.“
Er sah mich im Flur stehen und zwinkerte mir zu, bevor er aus der Tür stolzierte, nicht ohne dabei die Reste des Kekses auf den Boden zu spucken.
Das reichte. Ohne diesen Keks wäre ich heute wahrscheinlich ein heruntergekommener Piratenkönig in den Südlichen Meeren, und die Welt wäre eine andere.
Ich stolperte in den Laden. Papa sprach mich an. Ich konnte ihn durch das Rauschen des Blutes in meinen Ohren nicht hören.
Ich hätte Kezan verlassen können, aber das war nicht das Problem hier. Mein Vater hatte es zugelassen, dass kleine Gauner ihm Dinge wegnahmen. Ich hatte zugelassen, dass sie mir den Keks gestohlen hatten. Das war das Problem. Deswegen waren wir arm. Sicher, Skezzo hatte eine Gang. Sicher, er hatte Waffen und Leute. Aber ich hatte etwas, das sich in meinem Kopf ausbreitete wie eine Zeppelinflotte, die eine Gnollhütte angreift: einen Code, voll scharfer Kanten und gut geölter Scharniere. Dieses Unternehmen gehörte meinem Vater. Dieses Unternehmen gehörte mir. Dieser Keks gehörte mir. Ich konnte Skezzo keinen Vorwurf dafür machen, dass er es versucht hatte, aber niemand würde mir das streitig machen, was mein war, koste es, was es wolle.
Zehn Minuten später war ich bei einem von Skezzos Kredithaien, umgeben von Zigarrenrauch und süffisant grienenden Schlägern.
„Nur damit ich das richtig verstehe“, kicherte der Kredithai, „du schuldest dem Boss Geld. Und jetzt willst du dir von ihm Geld leihen, um es ihm zurückzuzahlen?“
„Ja“, sagte ich.
„Zu welchen Konditionen?“, fragte er mich, wobei er sich sichtlich bemühen musste, mir nicht lauthals ins Gesicht zu lachen.
„Was immer Ihr für fair haltet.“, antwortete ich mit ernsthafter Miene.
„Okay, du Wicht.“ Er zählte das Geld ab. „Aber ich glaube, dein Vater ist in ernsthaften Schwierigkeiten. Geschäftstüchtigkeit scheint bei euch wirklich nicht in der Familie zu liegen.“
Das einzige, was sich bei Goblins noch schneller verbreitet als der neueste „Schießpulvergirls“-Kalender, ist die Aussicht auf eine öffentliche Demütigung. Skezzo rückte jene Nacht mit seiner gesamten Entourage an, Kredithaie eingeschlossen. In der gesamten Straße öffneten sich die Fenster, und unsere treuen Nachbarn lehnten sich hinaus, um zuzusehen, wie der Tüftler und sein schwachsinniger Sohn ihr Geld verloren und aus dem Viertel geworfen wurden. Nur Papa war nicht da. Er war losgezogen, um einen neuen Keks zu beschaffen. So war er eben: Er meinte es gut, hatte aber nicht den Durchblick. Es ging hier nicht mehr um Kekse.
Skezzo und seine Meute bauten sich vor mir auf wie eine hässliche Pfeilspitze.
„Hast du das Geld, Kleiner?“, fragte er. Seine Rowdies schauten ihm über die Schulter, um zu sehen, ob ich dumm genug sein würde, ihn gewähren zu lassen.
„Mit Zinsen“, sagte ich.
Skezzo riss mir die Tüte aus der Hand, tätschelte meinen Kopf und schlenderte, gefolgt von seiner Gang, die Straße hinunter. Ganz genau. Er hat noch nicht Mal das Geld gezählt. Wie es dieser Typ geschafft hat, mehr zu leiten als eine einfache Würstchenbude, geht über meinen Verstand.
„Schön, mit dir Geschäfte zu machen, Kleiner!“, rief er mir über die Schulter zu. „Lumpo, trag du die Tüte, die ist verdammt schwer.“
„Das wird wohl das Dynamit sein.“, sagte ich freundlich.
Kameras wurden erst ein paar Jahre später erfunden, aber für einen Schnappschuss von Skezzo und seinen Schlägern, wie sie mich anglotzten, eine Sekunde, bevor die unter dem Geld versteckte Bombe hochging, würde ich noch immer alles geben.
Als sich der Rauch verzogen hatte, war von der Gang nichts mehr übrig. Meine glotzenden Nachbarn starrten in bühnenreifem Einklang erst den Krater, dann mich an.
Ich lächelte und wies zum Himmel. Hunderte von Augenpaaren gehorchten und schauten nach oben.
Skezzo, seine Gang und sein brennendes Geld regneten vom Himmel.
Ich schlenderte über die Straße zu Bezok, dem Ziegelmacher, wobei mir das Jubelgeschrei meiner Nachbarn einen gewissen Schwung verlieh. Mein kleiner Trick hatte zwar Papas gesamtes Restvermögen gekostet, aber diese vierhundert Moneten würden am Ende der Woche nur noch wie Kleingeld erscheinen.
„Wow. Wow!“, sagte Bezok. Goblins kamen aus jedem Hauseingang und jeder schmutzigen Gasse, um sich an der ekelhaftesten Schatzsuche aller Zeiten zu beteiligen, auf der Suche nach unbeschädigten Moneten. „Denen hast du’s gezeigt, Kleiner! Wir sind frei!“
„Das wird nicht lange anhalten“, sagte ich, während ich beiläufig einer brennenden Socke auswich. „Es ist ein Leerraum entstanden. Andere Gangs werden ihn zu besetzen versuchen, sobald sie mitkriegen, dass Skezzo weg ist. Wir müssen uns zusammenschließen, um uns zu schützen. Wir müssen Handelsrouten aufbauen und sie bewachen.“
„Genau!“, rief Bezok, dessen Augen zu glänzen begonnen hatten. „Gute Idee! Vielleicht können wir eines Tages sogar…“
„Nein“, unterbrach ich ihn. „Komm morgen früh vorbei und ich werde einen Vertrag vorbereitet haben. Du kannst die Verantwortung über die Produktion behalten, okay? Den langweiligen geschäftlichen Kram nehme ich dir ab.“
„Häh?“, machte Bezok und blinzelte. Er hatte einer Wolke von brennenden Moneten dabei zugesehen, wie sie auf das Dach seiner Hütte niedergingen. „Moment Mal, du meinst, du willst mein Geschäft leiten? Jetzt hör mal zu, Kleiner…“
„Bumm“, sagte ich.
„Bumm?“, sagte Bezok und zuckte zurück.
„Bumm.“
„Warum sagst du ‚Bumm‘?“
„Ich sage einfach gerne ‚Bumm‘“, flötete ich mit dieser gruseligen Unschuld, die nur Kindern gelingt. „Pass auf, komm morgen früh einfach vorbei. Dir wird nicht mal auffallen, dass ich das Ruder übernommen habe, bis du merkst, wie viel mehr Geld zu verdienst.“
Bezok war kein Feigling. Er hatte Schwierigkeiten, all seine Rechnungen zu bezahlen. Und solche Leute sind immer Feuer und Flamme bei der Aussicht auf leicht und schnell verdiente Moneten.
„Weißt du was, Kleiner? Warum nicht? Ich kann ja später immer noch aussteigen, oder?“
„Sicher, ich werde den Vertrag entsprechend aufsetzen“, sagte ich. Er würde lediglich sein Geschäft aufgeben, mir eine jährliche Verwaltungsgebühr zahlen und drei Mal wöchentlich in ein Bärenkostüm schlüpfen müssen, um für die neue Kollektion explodierender Kuscheltiere von Papa Werbung zu machen.
Ich verließ Bezok, als er sich eine Leiter schnappte, um an die brennenden Moneten auf seinem Dach zu gelangen, und stolzierte heimwärts. Als mein Vater heim kam, war ich gerade beschäftigt, meinen ersten Vertrag aufzusetzen, in so kleiner Schrift, dass selbst eine Laus mit Brille sie nicht lesen hätte können. Verträge zu schreiben ist leicht, solange man sich darauf konzentriert, den Idioten, der ihn unterschreiben wird, hinters Licht zu führen, und solange man sich vergegenwärtigt, dass fast jeder glaubt, das Kleingedruckte müsse nur eben überflogen werden vor der Unterschrift, anstatt es lieber zehn Anwälten vorzulegen, vor Gericht anzufechten, es Wort für Wort auseinanderzunehmen und es schließlich in sicherer Umgebung zu vernichten.
Papa scharrte mit den Füßen und räusperte sich.
„Ich kann es besser“, sagte ich, bevor er anfangen konnte. Ich brauchte ihn nicht anzusehen, um zu wissen, dass er von der Bombe gehört hatte.
Er stammelte: „W-was?“
„Du hast mich gefragt, ob ich dein Geschäft besser führen könnte. Ich kann. Morgen früh werden wir Zugang zu Bezoks Bargeld haben, und das ist nur der Anfang. Allerdings musst du mir alles überschreiben.“
Er war eine lange Zeit still. Ich nutzte die Stille, um noch schnell ein paar Sätze niederzuschreiben.
„Du kommst eindeutig nach deiner Mutter“, sagte er schließlich. „Okay, du hast eine Woche. Wenn wir bis dahin nicht genug Profit verbucht haben, um neues Dynamit kaufen zu können, wirst du es abarbeiten, einverstanden?“
Ja, er dachte, ich wäre zum Scheitern verurteilt und würde eine wertvolle Lektion lernen. Aber er ließ mich mit meinem neuen Keks und meiner Arbeit allein. Der Keks war beim dritten Entwurf schon eingetrocknet, und ich entschloss mich, ihn als Andenken zu behalten. Ich habe ihn noch immer.
Als Papas Stichtag kam, hatte sich die Hälfte der Unternehmen im Viertel meinem Kupferstraßenkonglomerat angeschlossen. Ich war bereits ausgezogen, aber ich schickte ihm drei Kisten Dynamit, einen Schutzanzug und einen Bonus.
Ja, Ihr habt Recht. Das war ein bisschen weichherzig. Aber denkt daran, ich war zehn, Schlaumeier. Ich habe meine erste Million Moneten verdient, da habt Ihr Euch gerade den Sklaz geholt, weil Ihr durch den Giftschlamm bei Garzak Weizenbrenners Bionahrungsmittelfabrik geschwommen seid.
Außerdem war es mein Papa. Und ich bin gut zu Dingen, die mein sind.
Geheimnis 2: Man ist entweder gnadenlos oder zahnlos. Es gibt keinen Mittelweg
Die Jahre zogen ins Land. Ich werde Euch nicht mit einer detaillierten Aufzählung aller Geschäfte, die ich übernommen, gegründet, verkauft oder ruiniert habe, langweilen. Ich habe gewonnen, das ist alles, was zählt. Ich habe alles gewonnen, was ich haben wollte.
Nicht durch Glück, oh nein. Glück existiert nicht. Glück ist was für Verlierer. Wenn du groß, schnell und hart genug auftrittst, um dir deinen Platz in der Welt zu erkämpfen, wird jeder andere sich verbiegen, nur um an deinem Erfolg teilzuhaben.
Nun, fast jeder. Manchmal wird man auf einen anderen großen Spieler treffen. Und sie werden einen fällen wie einen heiligen Baum auf einem Grundstück der Venture Company, wenn man nicht schneller ist.
Während des Zweiten Krieges war ich der aufgehende Stern Kezans. Präsident des riesigen Kupferstraßenkonglomerats, Berater des Tüftlerverbands, der große Goblin in der Handelskoalition und der zweitreichste Typ im Bilgewasserkartell. Handelsprinz Maldy hatte sich entschlossen, sich der Herausforderung zu stellen, und mir eine Einladung für das Geburtstagsfest seiner Tochter auf seinem Anwesen zu schicken.
Der alte Goblin war so populär wie ein Stück Seife auf einem Piratenschiff. Handelsprinz Dampfdruck, munkelte man, wurde durch seinen angeblichen Exklusivvertrag mit der Horde steinreich. Maldy war der Ansicht, dass, wenn die Dinge für die Horde schlecht liefen, die Allianz sich als nächstes mit uns befassen würde. Er schränkte den Handel ziemlich ein und bestand darauf, dass Bilgewasser über ausreichend Vorräte und Geld verfügte, um eine finanzielle Blockade überstehen und die anderen Kartelle richtig alt aussehen lassen zu können.
Ein feiner Zug, es gab nur ein Problem: Dem klassischen Goblin gefällt Vorsicht nicht. Vorsichtig ist langweilig. Die Moguln und Financiers von Bilgewasser entschieden, dass sie einen jüngeren, aggressiveren Handelsprinz auf Maldys Thron setzen wollten. Ratet mal, wen.
Sechs Monate Planung waren dieser Nacht vorausgegangen, lange bevor Maldy die Einladung überhaupt abgeschickt hatte. Jede Eventualität war bedacht, in jede Hand war gespuckt worden. Sogar die anderen Handelsprinzen hatten ihr Einverständnis signalisiert, und sei es auch nur, weil sie sich über einen Neuling als Rivalen freuten. Der Erfolg war unausweichlich: Bis zum Morgengrauen würde ich der neue Handelsprinz sein.
Ich schritt den Pfad zu Maldys Anwesen hinauf. Thissy Stahlnagel, meine persönliche Assistentin, rannte auf mich zu. Jahre später musste ich sie feuern, weil sie Attentäter angeheuert hatte, mich in meinem Pool zu erledigen. Sie war großartig.
„Ich habe Maldys Schreibtisch aufgebrochen, Herr“, schnaufte sie. „Er… hat den Schlüssel unter einer Falkenstatuette versteckt. Ich habe seine Geheimdienstinformationen gefunden… über die Vorhaben der anderen Handelsprinzen.“
„Prima“, sagte ich. Maldy wurde also wirklich weich, wenn er Informationen dieser Art so einfach herumliegen ließ. „Was haben sie vor? Wir müssen gleichziehen, wenn wir wettbewerbsfähig sein wollen.“
Thissy wühlte in den Papieren.
„Ausheben von Söldnerarmeen.“
„Nützlich. Schickt einen Korb voll Gold an die Südmeer-Freibeuter.“
„Metall oder Schokolade, Herr?“
„Schokolade. Sie werden so oder so hineinbeißen. Können denen also auch was schicken, was schmeckt. Was noch?“
„Parfüm.“
„Parfüm?“
„Handelsprinz Donais ist anscheinend sehr darauf versessen, Herr.“
„Okay. Lasst mich Euch etwas Zeit ersparen. Alles, was auf dieser Liste steht? Findet jemanden, der für mich arbeitet und sie abarbeitet. Und jetzt verschwindet. Ich habe auf einer Party zu erscheinen.“
Thissy nickte und machte sich davon. Ich kam drei Schritte näher an das Anwesen heran, als Quizvox, Direktor der Tüftlervereinigung, aus einem Busch gesprungen kam.
„Ihr erinnert Euch an den Plan?“, zischte er.
„Ich habe den Plan verfasst“, erwiderte ich, wobei ich mich zwingen musste, nicht mit den Zähnen zu knirschen. Ich hatte ihn auf der großen Schwäche von Maldy aufgebaut: er liebte seine Tochter sehr. Als Handelsprinz kann man sich enge Familien- oder Freundschaftsbande nicht leisten; „Freund“ und „Feind“ hören sich nicht grundlos ähnlich an. Mein Vater war natürlich eine Ausnahme. Er hatte die Antriebskraft von nassem Holz. Abgesehen davon hatte jeder Goblin, der mich zu erpressen versucht hatte, indem er ihn entführte, herausgefunden, ob man in eine Kanone gestopft und sicher von Kezan in die Beutebucht geschossen werden konnte.
„Vermasselt das hier nicht, Gallywix“, raunte Quizvox und kletterte zurück in seinen Busch. „Und werdet nicht Größenwahnsinnig. Ihr mögt Euch morgen Handelsprinz nennen, aber Ihr arbeitet für uns, verstanden?“
„Verstanden, Boss.“ In deinen Träumen, Idiot.
Der Wächter am Rande der Tanzfläche winkte mich mit einem knappen Nicken durch. Ich hatte zwei Monate damit verbracht, Maldys Wächter mit meinen eigenen Söldnern zu ersetzen. Ich schlenderte weiter.
Habt Ihr schon einmal erlebt, dass Euch auf einer Party jeder zujubelt? Nein? Kann ich nur wärmstens empfehlen. Einhundert Goblins versuchten, Augenkontakt aufzunehmen oder mir einen Drink zu spendieren. Ich ignorierte sie und griff eine Handvoll Hummerstrock von einem hingehaltenen Tablett. Ich hatte einen Job zu verrichten.
Des Handelsprinzen Tochter, Nessa, hatte ich noch nie getroffen. Mein Spion hatte mir berichtet, dass sie sich für das Fest ein blaues Kleid und eine diamantene Haarspange in Form einer Libelle gekauft hatte. Er hatte noch gesagt, dass sie „atemberaubend“ aussehe. Ich habe ihn natürlich gefeuert. Als ich aber Nessa am anderen Ende der Party erblickte, wurde mir klar, dass ich mich zum ersten Mal in meinem Leben -bei jemandem entschuldigen musste.
Sie war so schön, dass man meinen konnte, sie würde dafür bezahlt. Haut von der Farbe der tiefen, grünen See, Augen so dunkel wie eine Smaragdmine zu Mitternacht. Der Glanz ihrer kohlschwarzen Haare ließ die Diamantspange billig wirken.
Eine unsichtbare Hand zog mich wie an der Leine durch die Menge zu ihr hin. Ich war nicht aufzuhalten. Ich wusste tief in mir drin, dass ich die Kontrolle wiedererlangen musste; Plan A basierte darauf, dass ich sie von der Party fortlocken und der Entführungsbrigade übergeben konnte, damit Maldy ohne Kampf nachgeben würde.
„Lust zu Tanzen?“, fragte ich und warf Plan A in den Mülleimer.
„Warum nicht“, antwortete sie. Mir ging auf, dass sie mich auf meinem Weg zu ihr beobachtet hatte. Ausgezeichnet. „Nandirx hier langweilt mich zu Tode.“
Ich wirbelte sie von dem am Boden zerstörten, kleinen Banker davon, in die Mitte der Tanzfläche. Wir plauderten, während wir tanzten, aber ich könnte Euch nicht mehr sagen, worum es ging. Ich fühlte mich wie betrunken. Meine Ambitionen waren in großen Schwierigkeiten. Wenn ich mich gegen ihren Vater wendete, konnte ich meine Chancen bei ihr begraben, und ich kann Euch sagen, dass ihre Schönheit aus der Nähe noch weit überwältigender war. Ich musste cool bleiben.
„Heiratet mich“, platze ich heraus.
Sie schnaubte. „Ich kenne Euch kaum, Herr Gallywix“
„Das lässt sich ändern“, sagte ich. „Ich bin...“
„Präsident des riesigen Kupferstraßenkonglomerats, Berater des Tüftlerverbands, der große Goblin in der Handelskoalition und der zweitreichste Typ im Bilgewasserkartell“, vollendete sie mit einem Lächeln.
Sie hatte meine Presseerklärung gelesen!
„Aber ich kann Euch nicht heiraten“, fuhr sie fort. „Sicher, Ihr habt ein paar Mal Glück gehabt. Aber ich stehe auf skrupellose Goblins. Risikoträger.“
Für ein paar Sekunden war ich sprachlos. Allerdings bin ich nicht wirklich gut im sprachlos sein, weshalb ich mich davon erholte.
Ich erzählte ihr von meinen Anfangstagen. Hielt ihr Zeitungsausschnitte hin über mysteriöse Feuer in Krankenhäusern und Erpressung von Waisenkindern. Gab Wegbeschreibungen zu den Leichen, die ich buchstäblich im Keller hatte. Und von da arbeitete ich mich zum richtig fiesen Kram vor.
Sie hörte zu, wobei sie ihren Kopf ein wenig zur Seite legte. Ab und zu lächelte sie.
Nachdem ich geendet hatte, zuckte sie mit den Schultern und sagte: „Sieht aus wie ein guter Anfang.“
Was für eine Lady, was? Bis zu dem Moment habe ich mich tatsächlich schuldig gefühlt – ja, wirklich – wegen Plan B, aber plötzlich war ich mir sicher, dass das der Weg war, um sie für mich zu gewinnen. Sie wollte wirklich einen skrupellosen Goblin. Ich hatte praktisch ihren Segen.
Ich hatte die Unruhe hinter mir nicht bemerkt, bis mir jemand mit einem Gehstock auf die Schulter klopfte. Ich drehte mich wütend um und blickte auf ... uuups.
„Ah, Ihr seid also derjenige, der meine Tochter in Beschlag nimmt, junger Gallywix“, sagte Handelsprinz Maldy und lehnte sich auf seinen dicken Gehstock. Seine Hand, schwer geschmückt mit dicken Goldringen, öffnete und schloss sich um den verdächtig nach Schwertgriff aussehenden Knauf.
Stille senkte sich über die Gesellschaft. Diese Goblins hatten genug hochklassigen Verrat gesehen, um zu wissen, dass sich hier irgendwas anbahnte. „Wie schön, Euch endlich kennenzulernen. Und jetzt: Hände weg von der Ware.“ „Entschuldigt, Herr“, sagte ich, während ich mich von Nessa wegbewegte.
„Danke. Ich habe gehört, dass meine Sicherheitsleute letzten Monat Eure Fälschereifabrik abgebrannt haben. Ich hoffe, das habt Ihr nicht persönlich genommen. Es hatte nur geschäftliche Gründe.“
„Bitte sagt nicht ‚nur‘, Herr“, erwiderte ich, grinsend. „Das klingt so nach Entschuldigung.“
Auf seinem runzeligen Gesicht machte sich ein weites, ledriges Grinsen breit. „Ich wusste, dass Ihr mir gefallt“, sagte er. „Amüsiert Ihr Euch auf der Feier meiner Tochter?“
„Ihre Feier?“, fragte ich, während ich den Wachen ein Signal gab. „Das ist nicht mehr ihre Feier. Das ist jetzt meine.“
„Was?“, blaffte Maldy mit gerunzelten Augenbrauen.
„Von heute Abend an, genauer: bei Sonnenuntergang, gehört mir die Mehrheit Eurer Anteile in der Handelskoalition durch hundert Briefkastenfirmen und kleine Geschäfte. Ihr könnt es natürlich überprüfen, aber ich habe die Mitarbeiter Eurer Verwaltung gekauft, weshalb Ihr ihnen möglicherweise nicht trauen solltet. Außerdem gehören Eure Sicherheitsleute jetzt mir. Ich habe Euch das Land unter Eurem Haus geklaut. Und Ihr habt diese Ringe da aus einem von meinen Läden geliehen. Ihr seid erledigt, Maldy. Ihr seid erledigt und alle wissen es.“
Irgendwo in der Ferne quäkte ein Papagei. Maldys Gesicht nahm erst eine rote, dann eine violette Farbe an, während er sich nach einem Verbündeten umsah und dabei stattdessen meine Schläger erblickte, die sich wie ein Ring um uns schlossen. Ich hielt sie mit beiden Händen zurück. Um Nessa zu beeindrucken, bedurfte der nächste Teil etwas persönlichen Touchs.
„Mein Seetransport“, knurrte er. „Die Hälfte meiner Flotte setzt in diesem Augenblick Segel für einen Waffentransport für die Allianz. Damit werde ich ein Vermögen verdienen und alles zurückkaufen.“
„Ich bin froh, dass Ihr das erwähnt“, sagte ich und zog eine Fernbedienung aus meiner Tasche. „Ich habe Euren Gästen eine kleine Showeinlage mitgebracht. Hier, drückt auf den Knopf.“
„Nein!“
„Was, mögt Ihr etwa keine Überraschungen? Habt Ihr etwa Angst? Ich dachte, Handelsprinzen sollten Mumm haben! Drückt auf den Knopf, Maldy!“
Mit gefletschten Zähnen wie ein alter Löwe, stocherte Maldy mit seinem Finger auf den großen roten Knopf.
Unten im Hafen explodierten die Schiffe seiner Handelsflotte der Reihe nach – und in perfekter alphabetischer Abfolge – und gingen in tosenden Feuerbällen auf.
Ich zwinkerte dem schockierten Maldy zu, riss ihm den Gehstock aus der Hand und zog daraus das Schwert hervor, von dem mein Späher mir berichtet hatte. Ich richtete es auf Nessa, ohne in ihre Richtung zu sehen.
„Also. Ihr habt eine Stunde, um Kezan zu verlassen, bevor ich Eure Tochter hier auslüfte und Euch kopfüber in den Kajaro werfe“, sagte ich strahlend zu Maldy. Dann blickte ich Nessa an. „Ist das skrupellos, oder was?“
Oh. Ihr Gesicht war so bleich, ich konnte fast hindurchsehen.
„Zu viel?“, fragte ich, blinzelnd.
Sie stürmte vorwärts, an dem Schwert vorbei und verpasste mir eine Ohrfeige. Dann nahm sie ihren Vater bei den Schultern und führte ihn von der atemlosen Menge fort.
Ich senkte die Klinge und hob zwei Hände und vier Finger zum symbolischen Goblinzeichen für den vollkommenen und totalen Sieg. Die Gäste ... meine Gäste ... brachen in tosenden Beifall aus und stürmten vorwärts, um mir auf den Rücken zu klopfen und Visitenkarten und Bestechungsgelder in meine Taschen zu stopfen. Ich sah keinem von ihnen in die Augen.
Stattdessen blickte ich Nessa nach, wie sie ihren Vater außerhalb des Anwesens den Weg den Berg hinab führte.
Geheimnis 3: Wenn Euer Rentenplan keinen Palast beinhaltet, dann macht Ihr was falsch
Das war vor mehr als zwanzig Jahren. Vielleicht fragt Ihr Euch, ob ich irgendwas bedaure. Sicher, ich habe die Liebe meines Lebens ins Exil geschickt, zehn Minuten nachdem ich sie traf, und später dafür gesorgt, dass mein „Es-hat-nicht-sollen-sein“-Schwiegervater vollkommen zufällig und unbeabsichtigt den Tod fand. Alle, die ich jemals kannte, haben versucht, mich zu verraten und zu betrügen. Ich bin allein.
HA! Ganz genau. Oh, nein, mein unendlicher Reichtum und meine Macht sind alles, was ich habe! Wie tragisch! Schickt mir Kondolenzgeld.
Damit Ihr es nur wisst: Ich schicke Nessa jedes Jahr ein Bild von mir, wie ich mich mit meinem Vermögen amüsiere. Sie schickt mir im Gegenzug einfache Kisten, die mit Bomben verdrahtet sind. Wer hat jemals behauptet, dass Fernbeziehungen nicht funktionieren?
Nach Jahren des Verfassens von Kleingedrucktem, verkrampft meine Hand sehr leicht, deshalb werde ich jetzt zum Ende kommen. Ihr kennt nun eine ganze Menge meiner Geheimnisse, aber macht Euch keine Illusionen. Ihr werdet mich niemals schlagen. Es hat noch keine Falle gegeben, die ich nicht zu meinen Gunsten hätte nutzen können. Selbst als dieser Goblin, dessen Namen ich nicht nennen werde, versucht hat, diesen Grobian von einem Orc namens Thrall auf mich anzusetzen, um mich umzubringen, ist es mir dennoch gelungen, wieder ganz oben anzukommen.
Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Habt Ihr meine neue Unterkunft gesehen? Einen Palast auf der Spitze eines Berges in Azshara? Meerblick? Granatengolfplatz? Geheimen Fuselkeller? Heißblütige Ladies, die sich im Pool aalen? Nein, natürlich habt Ihr das nicht. Verlierer sind auf meinem Grundstück nicht willkommen.
Aber hey, ich mache mir nichts vor: ich weiß, dass ich nicht für immer leben werde. Habt Ihr in letzter Zeit mal aus dem Fenster geschaut? Dieser Planet sieht aus wie eine aufgeplatzte Eierschale. Azshara kann schon morgen unter Wasser stehen.
Ihr habt mein Buch gekauft, was uns zu Kumpeln macht, richtig? Richtig. Also, sollte der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass Ihr länger lebt als ich, dann gibt es nur eins, was Ihr tun müsst, um das Volk der Goblins zu übernehmen.
Gewinnen.
Das ist wirklich alles. Ich habe Euch gesagt, dass Ihr festhalten müsst, was Euch gehört, dass Ihr skrupellos sein müsst und einen Palast braucht, in dem Ihr skrupellos sein könnt. Wenn Ihr aber ich sein wollt, Kindchen, dann müsst Ihr alles als etwas betrachten, was Ihr Euch nehmen könnt. Und Ihr müsst alles (, aber auch wirklich alles) tun, um es Euch unter den Nagel zu reißen.
Also, raus mit Euch und gewinnt. Haut Eure Freunde und Eure Familie übers Ohr, nutzt die Leute aus, die Euch vertrauen, und klaut Euch eine nette Anfängervilla zusammen. Und macht fetten Profit.
„Aber wie werde ich reich, Handelsprinz Gallywix?“ Gute Frage, Kumpel. Unglücklicherweise gehört das in ein komplett anderes Buch und, wie Euch vielleicht aufgefallen ist, habe ich nicht die Gewohnheit, irgendwas umsonst rauszugeben.
Ich sage Euch was. Fangt einfach damit an, mir Geld, Juwelen, frittierte Delikatessen und exotische Tiere in mein Lustschloss zu schicken. Wenn ich beschließe, dass Ihr mir genug gezahlt habt, dann schicke ich Euch ein Exemplar von „Reich werden nach Art von Gallywix“. Und Ihr habt meine persönliche Garantie, dass sich in dem Buch keinerlei halbgarer Nepp findet*.
Ich freue mich darauf, Geschäfte mit Euch zu machen, Kamerad.
*Die Bedeutung von „Nepp“, nachfolgend „das Wort“, wird vollständig durch den Handelsprinzen Gallywix definiert. Jeder Versuch, der Definition des Wortes auf den Grund zu gehen, führt zu rechtlichen Schritten. Jeder Versuch, das Wort zu definieren führt zu rechtlichen Schritten. Alle Beschwerden über diesen Band oder die Rezepte für Murlocflossensuppe, Murlocaugensuppe, Murlocschuppensuppe oder Murloc-„Frag einfach nicht“-Suppe in den folgenden siebenundzwanzig Bänden führt zu rechtlichen Schritten. Alle rechtlichen Schritte führen zu vernichtenden rechtlichen Schritten. Legt Euch nicht mit mir an, Kumpel. Ich habe eine Skorpidgrube und Ihr nicht.
Garrosh Höllschrei: Herz des Krieges von Sarah Pine
Ihr enttäuscht mich, Garrosh.
So sehr er sich auch bemühte, diese Worte gingen ihm einfach nicht aus dem Kopf. Es spielte keine Rolle, wie oft er die stolzen Rufe „Willkommen Oberanführer“ hörte, als er Agmars Hammer durchquerte oder wie lange er in den Ruinen vor dem Zorntor stand und in die magischen Flammen starrte, die dort noch immer loderten. Sogar der Hieb seiner Klingen gegen die Geißel oder Bestien, die es wagten, sich ihm im Kampf entgegen zu stellen, boten ihm nur eine zeitweilige Ablenkung. All das heiße, scharfe Blut, das auf sein Gesicht spritzte, brachte diese Stimme in seinem Inneren nicht zum Erliegen. Im selben Augenblick, in dem er wieder unterwegs war, hörte er die Worte in seinem Kopf mit jedem Auftreten der Tatzen seiner großen Wolfin auf dem Schnee.
Vielleicht war es die ständige Präsenz des Kriegshäuptlings an seiner Seite, die den Nachhall dieser Worte begünstigte. Thrall hatte beschlossen, Garrosh von Dalaran zurück nach Kriegshymnenfeste zu begleiten. Er sagte, er wolle ihre Festungen in Nordend begutachten. Garrosh hatte das Gefühl, beaufsichtigt zu werden, aber es war auch eine Gelegenheit. Die Überfälle der Horde auf Nordend waren alle andere als unbedeutend. Sicherlich war Thrall das bewusst. Sicherlich würde er es wertschätzen, was an der Front geleistet wurde.
Garrosh spie vom Rücken seiner Wölfin Malak aus ins Riedgras. Der Kum'uyasee lag hinter ihnen, spiegelglatt unter dem grauen Morgenhimmel. Sie würden Kriegshymnenfeste in der Mitte des Nachmittags erreichen, in der Abenddämmerung, wenn sie langsam waren. Heimlich musste er zugeben, dass er begierig war, den Ausdruck in Thralls Augen bei ihrer Ankunft zu sehen.
Unglücklicherweise hatten sie keine Zeit, den Anblick ausreichend zu würdigen, als sie sich näherten. Garrosh erkannte sofort, dass die Nerubier erneut in Großfelsbruch eingedrungen waren. Er verzog das Gesicht. Es spielte keine Rolle, wie sehr sie sich gegen Azjol-Nerub absperrten, dieses Insektenpack fand immer einen Weg zurück in den Westen. Ihre gespenstischen Schreie waren unverkennbar und der eiskalte Wind der Tundra trug sie weit in alle Richtungen.
„Vorwärts! Zum Angriff!“, befahl Garrosh den Reitern der Kor’kron, die sie begleiteten und vergaß dabei, das er faktisch nicht ihr Befehlshaber war. Er versetzte Mallak in ihren schnellsten Lauf und ließ alle anderen Krieger hinter sich, bevor er sich daran erinnerte, dass die Etikette geboten, auf Thrall zu warten. Nun, Schlachten gewann man nicht durch Einhalten der Etikette, sondern durch Taten.
Die Schlachtgeräusche wurden lauter, als er sich näherte: Schreiende Schlachtwächter, das monotone Wummern der Artillerie und das bezeichnende Splittergeräusch von Metallwaffen auf nerubischem Chitin. Garrosh machte seine Äxte Herz des Kriegers - Sarah Pine 3 bereit, sein Herzschlag beschleunigte sich in gespannter Erwartung. Er flog über den Rand des Steinbruchs. Malak zögerte keinen Augenblick. Sie schlitterten die Felswand hinab, sprangen über Vorsprünge und Gerüstbauten und mit einem Schrei warf sich Garrosh ins Gefecht.
Den Nerubier vor ihm traf es vollkommen unvorbereitet. Garroshs erster Schlag schnitt tief in seine Kehle und der zweite trennte den gesamten Vorderteil seines Körpers vom Rest. Die Wache des Kriegshymenklans, gegen die er gekämpft hatte, sah erschrocken auf, seine Axt noch immer zum Schlag über die Schulter erhoben. Garrosh grinste.
„Höllschrei!“, rief der Krieger und salutierte. Er wandte sich an die Umstehenden. „Oberanführer Höllschrei ist zurückgekehrt!“
Zur Antwort riss Garrosh seine Axt empor. „Schlagt sie zurück!“, brüllte er seinen Soldaten zu. „Erinnert dieses Ungeziefer daran, was es bedeutet, sich mit der Horde anzulegen! Lok'tar ogar!“
Garroshs kurze Rede entfachte den Kampfgeist der Verteidiger wieder und sie drängten vorwärts, ein „Lok'tar ogar!“ auf ihren Lippen zur Antwort. Ein gewaltiges, insektenähnliches Monster beherrschte den Grund des Steinbruchs und Garrosh trieb seine Wölfin an, es anzugreifen. Orkwölfe waren ebenso gut auf den Kampf vorbereitet wie ihre Reiter. Malaks Zähne schnitten sich tief in den Insektenfuß des Nerubiers und brachten ihn aus dem Gleichgewicht, während Garrosh absprang. So vorteilhaft ein berittener Kampf auch sein mochte, er fühlte sich stets wohler, wenn er mit beiden Beinen auf dem Boden stand.
Der Nerubier zischte und stieß mit seinen Vordergliedmaßen nach seinem Hals. Garrosh parierte den Schlag und mit einem Hieb seiner Axt trennte er sie ab. Im hohen Bogen flogen sie durch die Luft. Das Insekt taumelte zurück. Garrosh tänzelte hinter ihm her und schwang dabei seine Axt mit tödlicher Eleganz. Das Blut rauschte in seinen Adern und die Hitze der Schlacht brannte in seiner Brust. Es würde ihm nie in den Sinn kommen, eine Ironie darin zu erkennen, dass er sich dann am lebendigsten fühlte, wenn er den Tod austeilte.
Garrosh hieb auf den Brustkorb des Monsters ein, während Malak an dessen Beinen zerrte und den Nerubier so davon abhielt, festen Stand zu gewinnen. Als Garrosh sich zu einem weiteren Schlag bereitmachte, gab es einen Blitz gefolgt von einem scharfen Krachen. Der beißende Geruch von versengtem Chitin lenkte ihn kurz ab. Er verkündete Thralls Eingreifen in die Schlacht. Der Nerubier war geschlagen und es gab für ihn kein Entkommen mehr. Garrosh fühlte sich plötzlich sicher. Er hob die Axt und führte den tödlichen Streich aus, der den Kopf des Insekts spaltete.
Garrosh wusste, dass damit die Schlacht gewonnen war. Jetzt mussten die Streitkräfte des Kriegshymnenklans nur noch die verbliebenen Nerubier erledigen, die noch durch den Steinbruch krabbelte. Als Thrall die Wächter kämpfen sah, erhob er seinen Schicksalshammer und murmelte etwas, das Garrosh nicht hören konnte. Auf den Befehl des Kriegshäuptlings hin, peitschte und brüllte plötzlich ein wütender Wind und das Knistern in Herz des Kriegers - Sarah Pine 4 der Luft ließ die Haare an Garroshs Hals sich aufrichten. Thrall brüllte und rief einen grellen Blitzschlag hernieder, der in die letzten, Widerstand leistenden Truppen fuhr, während die Soldaten in Deckung hechteten. Die Explosion ließ versengte Panzerstücke auf die Felsen regnen.
Garrosh rief Malak zu sich und legte ihr einen Arm um den Hals. Zufrieden mit ihrem gemeinsamen Erfolg, ließ er seinen Blick über die Truppen schweifen. Der Kampf war kurz, aber befriedigend gewesen. Unglücklicherweise hatte die Horde ihre Festung oberhalb eines stark frequentierten Abschnitts des alten nerubischen Königreichs errichtet, aber die Angriffe ließen nach und wurden immer seltener. Er war sich sicher, dass sie schließlich ganz zum Erliegen kommen würden. Seine Soldaten wurden mit jeder Verteidigungsaktion effizienter und ihre Reihen blieben standhaft. Ihre Reihen würden auch weiterhin standhalten.
Er suchte sich seinen Weg hoch zur Rampe am Eingang von Kriegshymnenfeste, wo Oberanführer Razgor wartete. Schleimiges Sekret tropfte noch immer von seinem Schwert.
„Wurde Zeit, dass Ihr auftaucht“, sagte er, während er sich den Schweiß aus dem Gesicht wischte. Garrosh lachte.
„Ich verschenke ungern eine Gelegenheit, ein paar zu groß geratene Insekten zu zerquetschen“, antworte er. Razgor grinste.
„Kriegshäuptling Thrall hat mich von Dalaran hierher begleitet“, fuhr Garrosh fort. „Er will unsere Stellungen in Nordend begutachten.“ Während er sprach, kam Thrall den Pfad hinter Garrosh hinauf.
Razgors Augen weiteten sich und er nickte. Er wandte sich an die umherstehenden Soldaten.
„Heißt den zurückgekehrten Oberanführer Höllschrei willkommen!“, rief er. Die Soldaten jubelten und schwangen ihre Waffen. „Und begrüßt“, setzte er lauter hinzu „unseren Kriegshäuptling! Thrall, Sohn von Durotan!“ Die Versammelten drehten sich nahezu gleichzeitig um und salutierten. Alle Augen waren auf Thrall gerichtet. Razgor trat einen Schritt nach vorn und salutierte ebenfalls.
„Eure Anwesenheit auf Kriegshymnenfeste ehrt uns, Kriegshäuptling“, sagte er. Thrall Blick wanderte die hohen Steinmauern der Festung empor, über die eiserne Befestigung und hinunter in den Steinbruch, in dem sie gerade gekämpft hatten. Schließich ließ er seinen Blick auf Garrosh ruhen, der unverwandt zurücksah.
„Es erinnert mich an Orgrimmar“, sagte Thrall. „Beeindruckend.“
„Wartet ab, wie es drinnen aussieht“, antwortete Garrosh. „Wir zeigen es Euch.“
„Ich bin mir sicher, dass ich nicht enttäuscht sein werde“, erwiderte Thrall. Nach diesen Worten knirschte Garrosh mit den Zähnen.
Orgrimmar. Als er es damals zum ersten Mal sah, musste er unwillkürlich innehalten. Sie hatten Klingenschlucht erst seit kurzer Zeit hinter sich gelassen und waren aus den hohen Sandsteinmauern in Durotars erbarmungslose Sonne getreten. Vor ihnen erstreckte sich die rote Ebene endlos weit aus und der Horizont verschwand im Flimmern der Hitze. Dies war ein großer Unterschied zu den grünen Hügeln von Nagrand.
„Dort. Könnt Ihr es sehen?“ Thrall hielt sein Reittier an und zeigte in Richtung des Horizonts im Norden. Garrosh hielt neben ihm an und kniff die Augen zusammen. Hinter ihnen verlangsamte sich ihr Gefolge und verteilte sich.
In der Entfernung sah er ein großes Tor, eine Mauer mit spitzen Holzpfählen, Türme mit roten Dächern ... Nein, seine Augen spielten ihm keinen Streich. Er war überrascht. Ogrimmar konnte unmöglich so groß sein. Er sah hinüber zu Thrall, der ihn mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht beobachtete. Er wartete offensichtlich gespannt auf Garroshs Reaktion. Garrosh spürte, wie seine Wange erglühten. Garadar war vielleicht nicht sonderlich imposant, aber dort war er der Häuptling. Er war der Sohn seines Vaters.
„Beeindruckend“, brummte er. „Wenn es wirklich so groß ist, wie es erscheint.“
Thrall lachte. „Wartet es ab“, sagte er grinsend.
Die Tore waren nicht einfach nur groß. Sie waren gigantisch. Die Wachen salutierten, als sie den vorüberziehenden Kriegshäuptling erkannten. Garrosh blickte mit erhobener Brust starr nach vorne. Plötzlich fühlte sich seine Kehle trocken an. Vom Staub, natürlich.
In den Wochen ihrer Reise hatte Thrall ihm die Stadt in zahlreichen Bildern ausgemalt. Garrosh hatte geglaubt, er wüsste einigermaßen, was ihn erwartete. Er hatte sich getäuscht. Nichts, nicht alle Worte dieser Welt konnten ihn auf das vorbereiten, was er nun sah. Gebäude erhoben sich zwei oder drei Etagen hoch, ihre Wände bildeten verschlungene Wege, die im Schatten zahlreicher Bäume und überhängender Felsen lag. Falls es in Draenor je eine Orkfestung gegeben hatte, die halb so groß gewesen war, war sie längst geschliffen oder verlassen. Orgrimmar dagegen summte wie ein Bienenstock. Auf den Plätzen befanden sich dutzende und aber dutzende von Orks. So viele Orks hatte er seit Jahren nicht gesehen. Er hatte nicht gewusst, dass noch so viele von ihnen am Leben waren. Auf diesen Anblick hätte er niemals vorbereiten sein können.
Als Garrosh noch fast ein Kind war, hatten die Klans sich zur Horde verbündet und sich monatelang auf das vorbereitet, was später als Erster Krieg in die Geschichte einging. Jahre später, nach dem Zweiten Krieg, hatte die Allianz im Gegenzug die Heimat der Orks überfallen. Garrosh hätte sich wild entschlossen den Reihen der Horde angeschlossen und an der Seite seines Vaters gekämpft, aber das Schicksal wollte es anders. Stattdessen blieb er wegen der Roten Pocken in Garadar unter Quarantäne. Er war kaum in der Lage zu aufzustehen und an ihm zerrten sowohl das Fieber seiner Krankheit als auch die Schmach ob seiner Schwäche. Sein Vater war ohne sich umzusehen nach Azeroth gezogen und war nie wieder nach Garadar oder zu seinem Sohn zurückgekehrt, und er, Garrosh Höllschrei, Erbe des Kriegshymnenklans, hatte nicht die Kraft, seinem Volk zu helfen. Die Horde hatte ihn zurückgewiesen. Er war vielleicht Mag’har – unverdorben – aber er war ebenso unerwünscht.
Die Horde war schließlich gefallen. Die Menschen hatten das Dunkle Portal zerstört, die besiegten Orks gefangen genommen und der ausufernde Krieg hatte ein Ende gefunden. Die Mag’har waren gänzlich auf sich gestellt. Manche Orks der Horde hatten überlebt, das war sicher, aber sie hatten Garadar gemieden aus Vorsicht und aus Abscheu gegenüber den kranken Bewohnern. Die Epidemie war vorüber, aber der Aberglaube und die Verbitterung hielten sich hartnäckig. Das Volk der Orks schwand dahin. Es war in alle Winde verstreut und befand sich in einem ständigen Kampf ums nackte Überleben. Schließlich wurde es offenbar, dass die Horde endgültig besiegt war und ihre Feinde bedrängten sie weiter, bis alle Hoffnung zu Staub zerfallen war und ein Überleben unmöglich erschien.
Mit eigenen Augen sah er nun, dass die Horde nicht nur überlebt hatte, sie erblühte. Der Platz war überfüllt mit Orks. Marktschreier priesen ihre Waren an und lockten die Käufer mit Sonderangeboten. Kinder sausten zwischen den Ständen umher und kämpften im Spiel gegen unsichtbare Feinde. Grunzer patrouillierten auf den Straßen. Garrosh konnte kaum glauben, was er vor sich sah.
Neben ihm lachte Thrall stillvergnügt in sich hinein. Garrosh blickte zu ihm hinüber.
„Kann sich wohl sehen lassen“, sagte Thrall.
Garrosh nickte, sagte aber nichts.
„Ich zeige dir alles, Garrosh“, fügte Thrall hinzu. Er grinste breit. „Willkommen in Orgrimmar!“
In Kriegshymnenfeste spazierten sie über die Festungsmauern, stiegen auf die Türme und besichtigten die Schmiede und Gerbereien. Als sie zur großen Halle zurückkehrten, schien Thrall Jahre damit zu verbringen, die riesige Militärkarte von Nordend zu prüfen, die auf dem Boden ausgebreitet lag. Sie war äußerst gewissenhaft in Leder gestochen und geätzt und zeigte alle Details der bekannten Stellungen und Kriegsfronten in Nordend; sowohl die verbündeten als auch die gegnerischen. Garrosh fiel auf, wie lange sich Thrall mit der nördlichen Halbinsel der Sturmgipfel beschäftigte, wo Ulduar lag. Garroshs Gedanken schweiften zurück zu ihrem kurzen Treffen mit den Kirin Tor in Dalaran. Ihr enttäuscht mich. Er ballte seine Faust, bis seine Knöchel brannten.
„Wo“, sagte Thrall plötzlich „ist die Front in Eiskrone?“ Er studierte die Karte. Es gab dort nur eine Kreidemarkierung.
„Im Südosten“, antwortete Garrosh. „Sie wird von dem Argentumkreuzzug gehalten.“ Er deutet auf eine andere Stelle der Karte, nördlich der Stellungen des Kreuzzugs.
„Orgrims Hammer wurde von dort entsandt. Wir werden uns zum Angriff auf die Festungsmauern von Eiskrone aus der Luft rüsten.“ Er beäugte Thrall. „Unsere Späher teilen uns mit, die Allianz plane dasselbe.“
Bevor Thrall antworten konnte, scholl eine andere Stimme durch die Halle.
„Der Angriff hat bereits begonnen.“ Thrall und Garrosh wandten sich um, um zu sehen, wer dort gesprochen hatte.
Hochfürst Varok Saurfang trat mit einer versiegelten Schriftrolle in der Hand auf sie zu.
„Dieses Sendschreiben traf heute Nachmittag ein“, setze er fort. „Es trägt das persönliche Siegel von Korm Schwarznarbe.“
„Throm-ka Varok“, sagte Thrall.
„Throm-ka Kriegshäuptling“, antwortete dieser.
„Wir sind hierher aus Dalaran über Agmars Hammer gekommen“, erzählte Thrall. Er machte eine kurze Pause. „Wir erwiesen der Pforte des Zorns unsere Ehrerbietung.“
Varok schwieg.
„Es tut mir Leid wegen Dranosh“, sagte Thrall.
„Mein Sohn starb eines ehrenhaften Todes, während er sein Volk verteidigte“, antwortete Varok ein wenig zu schnell. „Sein Geist soll gerächt sein, wenn wir den Lichkönig vernichten.“
Thrall nickte.
„Hier ist der Bericht von Schwarznarbe“, setzte Varok fort und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Schriftrolle. „Wollen wir sehen, was es Neues von der Front zu berichten gibt.“
Garrosh liebte Orgrimmar. Er liebt es, durch die Straßen zu schlendern. Er liebte es, die Märkte zu durchstöbern. Er liebte die Ställe und Trainingsgeräte und die Schmiede und die Geschäfte. Vor allem liebte er die Banner, die auf den Masten um die Stadt herum im Wind flatterten: die schwarz-roten Banner der Horde. Neben diesen Bannern zu stehen, war alles, wonach er sich gesehnt hatte. Er diente der Horde, wie es sein Vater vor ihm getan hatte.
Nichtsdestotrotz war er alleine, obwohl er von seinen Leuten umgeben war. Überall wo er hinkam, starrten die Leute ihn an. Die Neuigkeit hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, dass der Sohn von Grom Höllschrei lebte und nach Orgrimmar gekommen war. Zuerst hatte er das für den Grund gehalten. Aber eines Tages hörte er zufällig, ein Kind laut zu seiner Mutter sprechen.
„Sieh mal da! Der sieht so komisch aus.“
„Still. Sei still!“
„Aber seine Haut. Sie ist nicht so grün wie unsere. Was für Orks haben keine grüne Haut?“
Garrosh drehte sich zu dem Kind um. Es starrte ihn noch immer mit weit aufgerissenen Augen an und saugte dabei an dem Finger in seinem Mund. Garrosh starrte zurück und fing dabei kurz den Blick der Mutter ein. Sie sah weg, griff ihren Sohn am Arm und eilte davon. Langsam sah er sich auf dem Weg um und forderte schweigend jeden heraus, der das Gespräch mitangehört hatte, ein weiteres Wort zu sagen. Die Straße war voller Leben. Nein, meine Haut ist nicht grün; sie ist braun, sagten seine Augen. Ich bin ein Mag’har. Als er sicher war, dass er alle Schaulustigen eingeschüchtert hatte, drehte er sich herum und ging langsam weiter. Er hatte erst eine kurze Distanz zurückgelegt, bevor sich eine Hand sanft auf seinen Arm legte.
Garrosh wirbelte überrascht herum.
„Vergebt mir, junger Ork, aber ich kann es vielleicht erklären.“
Der Sprecher war ein Ältester der Orks. Sein Haar war längst ergraut, aber noch immer zu einem Knoten geflochten. Die zahlreichen Narben auf seinem Gesicht und seinen Armen zeigten deutlich, dass er ein erfahrener Krieger war. Garrosh funkelte ihn an.
„Was habt Ihr zu sagen, Ältester?“
„Das Kind hat die Wahrheit gesagt, ohne zu wissen, was es bedeutet.“ Der alte Ork schüttelte den Kopf.
Garrosh schüttelte seinen Griff ab. „Ich bin nicht an Eurer Erklärung interessiert“, sagte er und wandte sich erneut zu Gehen.
„Ich habe unter Eurem Vater gekämpft, Höllschrei“, sagte der Krieger. Garrosh zögerte. „Ich folgte ihm von der Plünderung von Shattrath bis zu den Wäldern von Eschental. An seiner Seite trank ich Mannroths Blut und ich fühlte den Bann des Fluchs weichen, als er sich opferte.
Ihr könnt nicht wissen, was es für mich und meinesgleichen bedeutet, Euch zu sehen. Sobald der Bann gebrochen war, erinnerten wir uns wieder daran, was wir zurückgelassen hatten und was wir zerstört hatten. Wir dachten, es sei nichts mehr von dem übrig, wie unser Volk einst war. Euch zu sehen ...“ Er verstummte und musterte Garrosh von oben bis unten. „Zu wissen, dass unsere Vergangenheit nicht gänzlich verloren ist ... Das gibt uns Hoffnung für die Zukunft.
Grom war ein großer Krieger. Ich bin ihm bis ans Ende von Draenor gefolgt und darüber hinaus. Jetzt tauge ich nicht mehr fürs Schlachtfeld. Aber wenn es anders wäre, würde ich Euch ebenfalls folgen.“
Garrosh war ebenso ratlos wie sprachlos. Er starrte den alten Krieger an. Er wusste, dass Thrall ein treuer Gefährte seines Vaters gewesen war und Thrall hatte in der Tat viel von Grom gesprochen. Aber Thrall hatte Grom nicht besonders lange gekannt und es gab viel, was Garrosh gerne noch erfahren hätte, obwohl sein Stolz ihm verbot, das zuzugeben. Er wollte die Geschichten hören – die schönen Geschichten. Die hässlichen hatte er selbst miterlebt, als er aufwuchs.
„Ihr werdet uns Stolz machen, Höllschrei“, sagte der alte Ork. Schließlich wandte er sich ab und ging davon. Er ließ Garrosh auf der Straße stehen, alleine mit seinen aufgewühlten Gedanken. Er konnte sich nicht mehr erinnern wohin er ursprünglich gehen wollte. Er schnaubte, wählte eine Richtung und stiefelte los. Das war zumindest besser, als herumzustehen.
Seine Schritte führten ihn zum östlichsten Teil der Stadt, dem Tal der Ehre und zu dem großen Becken, in dem das Quellwasser gesammelt wurde. Er setzte sich auf einen Felsen am Rande des Beckens und sah den Wasserfällen zu, wie sie aus dem Felsen stürzten und in den kleinen See unter ihm klatschten. Der stete Wasserstrom und der Schatten des Felsvorsprungs kühlten die Luft und boten eine willkommene Abwechslung zur Hitze der Wüste. Der Sprühnebel fühlte sich wohl an auf seiner Haut.
Seine Haut. Er betrachtete seinen Handrücken und sah die tiefbraune Farbe auf dem rotgesprenkelten Felsen. Er verzog das Gesicht. Hatten Thralls Horden wirklich vergessen, woher sie gekommen waren?War seinem äußeren Erscheinungsbild wirklich so viel Bedeutung beizumessen?
Ein Platschen in der Nähe ließ ihn aufblicken. Eine junge Orkfrau zog ihr Fischnetz ein. Aus der Entfernung sah er ihr bei der Arbeit zu. Ihre Haut war selbstverständlich grün. Sie drehte sich um und watete auf das Ufer zu, als sein Blick den ihren traf. Eine Augenklappe bedeckte die Stelle, an der ihre rechtes Auge hätte sein müssen. Zu seinem Erstaunen sah sie ihn grimmig an.
„Macht Spaß, nicht wahr“, rief sie und ihre Stimme troff ebenso von Verachtung wie ihr Netz von Wasser. „Dort zu sitzen und zuzusehen, wie ich mich mit ein paar Fischen herumschlage? Hoffentlich hat es Euch Freude bereitet.“
Garrosh schnaubte sie an. „Es ist mir egal, was Ihr tut. Fischt oder lasst es bleiben, wie es euch beliebt. Kauf sie auf dem Markt, wenn Euch die Arbeit nicht zusagt.“
„Kaufen?“ Sie warf den Kopf zurück und lachte. „Werdet Ihr dafür bezahlen? Leicht für euch, das zu sagen, Höllschrei. Ja, ich weiß, wer Ihr seid.“
Er lachte ebenfalls. „Natürlich wisst Ihr das. Ich bin der einzige Mag’har in Orgrimmar. Falls Ihr das nicht wisst, muss Euch das andere Augen auch noch fehlen.“
„Genauso arrogant wie Euer Vater.“ Sie zog ihr Netz ein und stopfte es in einen Leinensack. „Genauso ein Narr wie er.“
Ihre Worte brachte Garroshs Blut in den Adern zum Kochen. Er sprang hinunter vom Felsen, auf dem er gesessen hatte und schritt auf sie zu. „Mein Vater hat sein Leben für Euch und den Rest von Thralls Volk geopfert. Ihm habt Ihr es zu verdanken, dass Ihr von dem Fluch des Blutes befreit seid!“
„Ihm haben wir es zu verdanken, dass es überhaupt einen Fluch gab!“ erwiderte sie. „Und ich gehöre nicht zum Volk des Kriegshäuptlings. Ich bin eine Tochter der Horde wie auch meine Eltern vor mir, aber darüber hinaus habe ich keine Verpflichtung.“
Garrosh machten ihre Worte rasend. „Ihr sagt, Ihr hättet keinerlei Verpflichtungen? Ihr sagt, Ihr gehört nicht zum Volke des Kriegshäuptlings? Während Ihr gleichzeitig mit beiden Beinen auf dem Boden seiner Stadt steht? Wo wir in unserem eigenen Gebiet frei leben können und ohne Angst vor der Vernichtung?Wo wir alles haben, was wir benötigen?“
„Ha!“, rief sie. „Ich frage Euch, Höllschrei, habt ihr diese Stadt wirklich angesehen? Ja, der Marktplatz ist voll des Überflusses. Aber wo kommt dieser her? Wo sind die Höfe in Durotar?“
Garrosh kniff die Augen zusammen. Er wusste, dass es in den Außenbezirken von Orgrimmar einige gab, aber die züchteten hauptsächlich Schweine und bauten sicherlich kein Korn oder Früchte an.
„So ist es“, fuhr sie fort. „Es gibt keine. Alles was wir haben, wird über viele Kilometern Entfernung hierhertransportiert.“ Sie schaute auf den Sack, in dem sie ihr Netz aufbewahrte. „Oder wir müssen es der Wüste entreißen. Sicherheitshalber.“ Sie lachte. „Die Allianz dringt täglich weiter in unser Land ein. Falls man diese roten Felsen überhaupt ein „Land“ nennen kann. Im Norden ist der Wald von Eschental. Dort gibt es alles, was wir benötigen im Überfluss, aber haben wir uns dort niedergelassen? Nein. Stattdessen leben wir in einer Wüste. Sagt mir also, Höllschrei, warum sollte der gute Kriegshäuptling, der sein Volk so sehr liebt, uns also in dieses Ödland verbannen, wenn ein wenig flussaufwärts viel mehr zu holen ist? Er ist entweder korrupt oder unfähig oder beides und er scheint bei Euch in bester Gesellschaft zu sein.“
Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
„Verrat!“, brüllte Garrosh. Er schritt drohend auf sie zu. „Du wagst es, den Kriegshäuptling zu beleidigen! Schweig still, Verräterin, oder ich werde dir dein Maul für immer stopfen!“
„Nur zu und ...“ sie ballte ihre Hände zu Fäusten, spannte sich an und erwartete den Streich.
„Nein, Krenna!“, erscholl eine andere Stimme. Garrosh sah zu ihr hinüber. Eine andere Orkfrau kam auf sie beide zugerannt.
„Krenna, hüte deine Zunge!“, rief sie und stellte sich zwischen die beiden.
Die mit der Augenklappe, Krenna, sah die andere wütend an, schnaubte dann und trat zur Seite.
„Bin schon unterwegs, Gorgonna.“ Sie schulterte ihren Sack und zog ohne ein weiteres Wort davon. Garrosh wollte ihr folgen, aber Gorgonna wandte sich sofort an ihn und fasste ihn am Arm.
„Bitte nicht“, sagte sie. „Es tut mir leid wegen meiner Schwester. Sie meint es nicht so, wie sie es sagt.“
„Das will ich hoffe“, knurrte Garrosh. Gorgonna seufzte und ließ ihn los.
„Sie und ich verbrachten unsere Kindheit nach dem Zweiten Krieg in einem Gefangenenlager. Sie ist dem Kriegshäuptling dankbar, dass er uns befreit hat, aber ...“ Sie zögerte, dann fügte sie ruhig hinzu: „Sie denkt, dass er nicht genug tut.“
„Und Ihr?“, verlangte Garrosh zu wissen. Gorgonna sah den Weg hinunter, den Krenna gegangen war und antwortete nicht sofort.
„Unsere Eltern kämpften in den Kriegen“, sagte sie langsam. „Sie tranken Mannroths Blut wie es auch Euer Vater tat, und der Fluch kam ebenfalls über sie. Sie begingen schreckliche Taten im Namen der Horde. Sie griffen Unschuldige an und ermordeten sie.“
Garrosh wurde wütend. Sein Vater war kein Mörder. „Sie haben getan, was sie für richtig gehalten haben! Wollt Ihr Euer eigenes Blut in den Dreck ziehen?“
„Ich halte die Erinnerung an meine Eltern in Ehren, täuscht Euch da nicht“, rief sie. „Aber was sie geglaubt haben, war falsch. Was alle Orks geglaubt haben, war falsch. Wir mussten dafür leiden. Der Kriegshäuptling versteht das genauso wie ich. Meine Schwester hingegen versteht es nicht.“
„Das ist lächerlich. Ihr habt im Krieg nicht einmal mitgekämpft. Ihr sagtet, Ihr wärt im Gefangenenlager noch Kinder gewesen. Ist das nicht Bestrafung genug? Warum solltet Ihr noch weiter leiden?“
„Nichtsdestotrotz trage ich die Zeichen“, sagte sie und hob ihre Hände. Sie waren so grün wie die ihrer Schwester, so wie die aller Orks in Orgrimmar – außer den seinigen. „Ich erntete das, was die anderen gesät haben. Sind wir dafür nicht noch etwas schuldig?“
„Und wer sollte den Preis dafür festlegen?“, fragte Garrosh. Ihre Haltung verärgerte ihn. Besaß sie nicht die Spur von Stolz? „Wer hätte das Recht, darüber zu bestimmen?“
„Ich werde bezahlen, was der Kriegshäuptling verlangt“, antwortete sie.
„Thrall würde niemals derart unvernünftig sein. Wir schulden niemanden etwas.“
Gorgonna starrte ihn einen Augenblick an, dann lachte sie unerwartet, ebenso verbittert wie es ihre Schwester getan hatte. „Natürlich nicht“, sagte sie. „Ihr schuldet niemanden irgendetwas, Mag’har. „Aber wir sind nicht Ihr.“
„Ungeheuerlich“, rief Thrall. Rastlos schritt er die Halle auf und ab. „Ich kann nicht glauben, dass der Himmelshäscher so etwas zulassen würde.“
Varok saß am Tisch. Die Seiten mit dem Bericht von Schwarznarbe lagen vor ihm auseinandergebreitet. An der anderen Seite der Halle sammelte Garrosh ein paar Holzplättchen ein, blaue für die Allianz, rote für die Horde und mit Schädeln bemalte Plättchen für die Geißel. Er ließ sie auf die Karte von Eiskrone fallen, südlich von Mord’rethar, dem Schwarzen Tor der Eiskronenzitadelle. Mit einem Stück Holzkohle zeichnete er ein großes X auf die gehärtete Tierhaut. Der Bericht gab dieser Region einen Namen: die Zerbrochene Front.
Die Allianz hatte versucht, Mord’rethar zu erobern, aber eine Patrouille der Horde hatte das Regiment erspäht und ihren Angriff erfolgreich abgewehrt ... indem sie die Truppen von hinten angriff. In der Klemme zwischen der Geißel an der Front und der Horde in ihrem Rücken, waren die Streitkräfte der Allianz vernichtet worden – aber auch die Truppen der Horde. Die Geißel hatte ebenfalls Verluste erlitten, aber das Tor blieb schließlich unter der Herrschaft des Lichkönigs.
Die Streitkräfte von Schwarznarbe hatten absichtlich gewartet, bis die Soldaten der Allianz in den Kampf verwickelt waren und hatten sie dann niedergemetzelt. Thralls Züge verzerrten sich, als er die Worte des Himmelshäschers las: Obwohl sie dabei ums Leben kamen, verhinderte ihre selbstloser Kühnheit, dass die Allianz einen strategisch wichtigen Punkt eroberte. Solch Tapferkeit ist wahrer Soldaten der Horde würdig!
„Selbstlose Kühnheit. Der Horde würdige ‚Tapferkeit'.“ Thrall spuckte die Worte aus. „Und die Geißel hält das Schwarzes Tor weiterhin besetzt. Ist es das, was er will? Ist dies etwa unsere Form von Ehre?“
Garrosh blieb ungewöhnlich still. Stattdessen betrachtete er die Holzplättchen auf der Karte. Er konnte spüren, wie sich Varoks Blick in seinen Rücken bohrte und Thrall würde ebenfalls bald über ihn herfallen. Es war gut, dass Mord’rethar nicht in die Hände der Allianz gefallen war, da war Garrosh sich sicher. Dennoch starrte er weiter auf die farbigen Holzmarken. Spät in der Nacht, als die anderen Kommandanten sich zum Schlafen niedergelegt hatten, las Garrosh den Brief von Schwarznarbe noch einmal.
Solch Tapferkeit ist wahrer Soldaten der Horde würdig!
Er rief einen Kurier zu sich. „Schickt nach Himmelshäscher Korm Schwarznarbe in Orgrims Hammer“, sagte er und übergab ihm eine Schriftrolle. „Er soll umgehend nach Kriegshymnenfeste zurückkehren. Sagt ihm, Oberanführer Höllschrei wünscht ihn zu sehen.“
Garrosh befand das, was Gorgonna ihm an dem See gesagt hatte, für absurd. Sein eigener Vater hatte als erster Mannroths Blut trinken müssen. Das wusste er. Bei seinen Ahnen, das wusste er ganz genau. Niemand könnte ihn das jemals vergessen lassen. Aber Grom hatte dafür Mannroth vernichtet und den Fluch für alle beendet – und das auf Kosten seines Lebens. Seine Schuld war mit Blut bezahlt worden. Wer konnte noch mehr erwarten?
Es waren Krennas Worte, die wirklich an ihm nagten.
Sie nagten weiter an ihm, als die Nachtelfen in Eschental Holzkarawanen aus dem Hinterhalt überfielen.
Sie nagten an ihm, als die Soldaten aus Burg Tiragarde Klingenhügel ausraubten.
Sie nagten an ihm, als die Zwerge von Bael Modan und die Menschen der Feste Nordwacht sich weigerten, das Gebiet der Horde zu verlassen, das sie sich einverleibt hatten.
Keine dieser Dinge war zum ersten Mal geschehen.
Sicherlich, es hatte Vergeltungsmaßnahmen gegeben und viele Außenposten hatten sich rechtschaffend verteidigt. Garrosh sehnte sich danach, zu reisen und ihnen seine Unterstützung zukommen zu lassen. Mit größter Freude würde er für ihre Sicherheit kämpfen. Er würde der Allianz gerne eine Lektion erteilen. Sie sollte die Horde in Ruhe lassen, damit sie sich das nehmen konnten, was sie zum Überleben brauchten. Im Gegensatz zu Garadar hatte Orgrimmar die Macht und die Truppenstärke, sich selbst zu verteidigen.
Nun, sie hätte sie zumindest, wenn sich die Orkstreitkräfte nicht in Tarrens Mühle aufhalten würden, wo sie den Verlassenen – ein treffender Name, wie Garosh fand – halfen. Was Thrall an ihnen fand, würde Garrosh einfach nie begreifen.
Es wurden weitere Orks nach Quel’Thalas geschickt. Garrosh Begegnungen mit den Elfen in Orgrimmar ließen ihn gründlich darüber nachdenken, warum die Horde sich überhaupt mit ihnen eingelassen hatte. Mit ihrem Respekt schien es nicht weit her zu sein.
Und die Trolle. Garrosh konnte den Gedanken daran kaum ertragen. Ein Rekrut nach dem anderen wurde entsandt, damit er sie dabei unterstützte, ihr Land im Süden zurückzugewinnen und dennoch waren alle ihre Versuche gescheitert. Offensichtlich ging dies nun schon seit Jahren so. Was war das für ein Volk, das nicht einmal mit einer einzigen Hexenmeisterin fertig wurde? Brauchte man dazu wirklich eine großangelegte Invasion und noch weitere Truppen der Horde, um ein paar schäbige Inseln zurückzuerobern?
Je länger Garrosh darüber nachdachte, desto größer wurde sein Zorn. Mit jedem vorüberstreichenden Tag gruben sich Krennas Worte immer tiefer in seinen Geist. Garrosh wurde ungeduldig.
Dann gingen die Gerüchte los. Aus Ratschet über Beutebucht ging die Kunde, das etwas mit den Getreideladungen schief lief. Die Leute begannen zu flüstern. Die wenigen Verlassenen, die Orgrimmar zu ihrer Heimat auserkoren hatten, warnten ihre Anführer: Es geschieht wieder.
Sie hatten nicht ganz Unrecht.
Dies waren Zeiten, wie noch keiner sie erlebt hatte. Freunde wandelten sich in Feinde; Leben in Tod, der keiner war. Es konnte kein Zögern geben, keine Gnade, keine Almosen. Dies war die Seuche. Diese Hexerei entsprang einer Boshaftigkeit, zu der nur jemand wie Gul’dan fähig sein konnte, und dennoch, Gul’dan war seit langer Zeit tot. Jemand anderes entfesselte diese Scheußlichkeiten, wie Garrosh erfuhr: ein ehemaliger Prinz der Allianz. Einer der zu gutgläubig, zu schwach und zu dumm war, sich dem Bann des Bösen zu entziehen. Jetzt ließ er den Tod auf sie herniederregnen.
Garroshs Äxte waren in die Höhe geschnellt und immer und immer und immer wieder heruntergerast, als er Orgrimmar verteidigte. Er würde sein Volk beschützen.
Dann, ganz plötzlich, schien es zu Ende. Die Seuche breitete sich nicht weiter aus. Des letzten Erkrankten wurde sich entledigt, aber das war nicht das Ende, das wusste Garrosh. Weit gefehlt. Das einzige Mittel gegen einen derartig schamlosen Feind war Krieg, brutal und erbarmungslos. Er sehnte sich danach. Er würde ihre Armeen anführen und der Horde zur Gerechtigkeit verhelfen. Er wartete nur noch auf Thralls Kommando.
Uns erreichen Berichte aus der ganzen Welt. Die Seuche hat uns alle aufgerieben und die Fliegenden Zitadellen entsenden ihre Armeen, um unser Land zu entweihen. Dennoch wartet ihr ab, Kriegshäuptling. Ihr schickt nach Beratern, wenn Ihr nach Kriegern schicken solltet. Sogar diese ... Verbündeten ... denen Ihr es erlaubt habt, unserer Horde beizutreten, haben sich hier versammelt, und den einzigen Befehl, den Ihr für uns alle habt, ist zu warten. Wir warten, Thrall. Ihr zögert.
“Mak’Gora!“
ie Herausforderung sprach er aus purer Frustration und Wut aus. Thrall würde nicht handeln. Er wollte auskundschaften, er wollte sich mit der Allianz beraten – mit einer Frau aus ebenjenem Volk, das den verräterischen Prinz aufgezogen hatte. Garrosh würde das nicht zulassen.
„Du forderst mich heraus, Bürschchen?“ Thrall Stimme war tödlich ruhig, als er antwortete. „Dafür haben wir keine Zeit ...“ Er wandte sich ab.
„Ihr weigert Euch also? Ist Durotans Sohn ein Feigling?“
Damit hatte er Thralls Aufmerksamkeit. Der Kriegshäuptling wirbelte herum und es bereitete Garrosh Genugtuung, in seinen Augen die Wut brennen zu sehen.
„Rein da!“, brüllte er und zeigte auf den Ring der Ehre. Garrosh hätte am liebsten gesungen.
Ich werde dich zum Handeln zwingen.
Im Nachhinein betrachtet wusste Garrosh, dass es sein großes Glück war, dass das Duell unterbrochen wurde, obwohl er lieber gestorben wäre, als das zuzugeben. Es war gleichgültig. Thrall war zur Besinnung gekommen und hatte ihm schließlich den Befehl gegeben, nach Nordend zu marschieren, ein Befehl, dem Garrosh mit Freuden Folge leistete.
Jetzt stand er in der Vorhalle der Zitadelle, die er erbaut hatte und die auf dem Land stand, dass er erobert hatte und wartete auf das Eintreffen von Korm Schwarznarbe. Thrall war in Nordend geblieben. Garrosh war sich sicher, dass er miterleben wollte, wie Garrosh sich den Himmelshäscher vornahm.
Werdet Ihr noch einmal enttäuscht werden, Kriegshäuptling?
Schwarznarbe schleppte sich durch die Tür und sah sich erstaunt in der Runde um. Trotz der Anwesenheit des Kriegshäuptlings, wandte er sich an Garrosh. „Ihr wünschtet meine Rückkehr nach Kriegshymnenfeste, Oberanführer“, sagte er. „Ich habe diesem Wunsch entsprochen.“
Garrosh hielt das Sendschreiben über die Zerbrochene Front empor. „Hier beschreibt Ihr, wie eine unserer Patrouillen die Allianz daran hinderte, einen strategisch bedeutenden Punkt gegen die Geißel einzunehmen.“
Schwarznarbe brach in ein breites Grinsen aus. „Sie haben es uns nicht leicht gemacht! Ist es nicht glorreich?“
Garrosh sah auf den Bericht, dann zu Schwarznarbe. „Nein.“
Schwarznarbe hob überrascht die Augenbrauen.
Ein Hinterhalt auf kampfbereite Truppen ist eine Sache. Ein Regiment hinterrücks anzugreifen, das bereits in eine Schlacht verwickelt ist? Was werdet Ihr als nächstes tun?“, fragte Garrosh. „Würdet Ihr Euch in ihr Lager schleichen und ihr Wasser vergiften?“ Würdet Ihr einen ihrer Kommandanten mit Magie gefügig machen und ihn dazu zwingen, seine Truppen im Schlaf zu ermorden? Würdet Ihr Krankheiten auf sie niederregnen lassen wie auf die Verlassenen? Würdet Ihr auf ihre Weise kämpfen?“
Schwarznarbe stockte. Ihm fehlten die Worte.
„Es gibt keine Schlacht außer der ehrenhaften Schlacht, Schwarznarbe.“ Garrosh hielt ihm den Bericht vor die Nase und zerknüllte ihn in seiner Hand. „Dies? Dies ist das Werk eines Feiglings! Ich dulde keinen Feigling in meinen Reihen.“
„Oberanführer“, stammelte Schwarznarbe. „Falls ich Schande über unsere Sache gebracht habe, werde ich von meinen Posten zurücktreten.“
„Gebt Ihr zu, ein Feigling zu sein? Noch einmal: Ich dulde keinen Feigling in meinen Reihen. Beweist, dass Ihr keiner seid, Schwarznarbe. Geht zurück auf die Orgrims Hammer und führt eure Soldaten in einer Weise, die der Horde würdig ist. Falls Ihr versagt, werde ich nicht Euren Rücktritt verlangen, sondern Euren Kopf auf einem Spieß. Und jetzt geht mir aus den Augen.“
Garrosh wartete nicht darauf, dass Schwarznarbe ging. Er schritt aus der Halle und die Treppen hinauf zu einem der Bollwerke der Festung. Dort ging er mit zusammengezogenen Augenbrauen auf und ab. Er begutachtete den Zustand der Verteidigungsanlagen und merkte sich, was aufgebessert werden musste und wer dafür verantwortlich war.
Er drehte sich um, um den Wall erneut abzugehen. Kurz darauf stand Thrall vor ihm. „Ja, Kriegshäuptling?“
Thrall musterte ihn sorgfältig. Garrosh gefiel der Ausdruck in seinen Augen nicht.
„Meiner Ansicht nach habt Ihr die Angelegenheit mit Schwarznarbe gut geklärt“, sagte Thrall. „Die Taten seiner Soldaten an der Zerbrochenen Front waren skrupellos, aber er ist ein starker Kommandant. Unser Vorrücken nach Eiskrone würde unter seinem Verlust leiden. Ihr habt die richtige Wahl getroffen.“
Garrosh ging an ihm vorbei. „Er wird nur diese eine Chance erhalten. Ich dulde keine Schwindler und Betrüger in meinen Reihen“, antwortete er.
„In der Tat“, rief Thrall ihm sarkastisch nach. „Ich erinnere mich an etwas, das mir jemand auf der Spitze des Violetten Turms sagte, vor nicht allzu vielen Wochen. ‚Ein echter Kriegshäuptling würde sich niemals mit Feiglingen verbünden.‘“
Garrosh blieb abrupt stehen und drehte sich langsam herum. Zu hören, wie Thrall Garroshs eigene Worte zitierte, verunsicherte ihn. „Ich bin nicht der Kriegshäuptling“, antwortete er einen Augenblick später.
Thrall lachte leise. „Ich weiß. Dennoch, wahre Worte. Sie passen ebenso trefflich auf einen Oberanführer.“ Thrall sah sich um, nahm die Festung in sich auf, das graue Meer im Westen und die weite Ebene der Tundra, die sich um sie herum erstreckte. „Dies ist keine kleine Errungenschaft, Garrosh. Unsere Stützpunkte sind sicher und die Front in Eiskrone drängt nach vorn. Ihr kämpft mit Mut an der Seite Eurer Soldaten und sie zollen Euch Respekt. Ihr solltet stolz sein.“
Garrosh kniff die Augen zusammen.
„Ich bereue die Wahl meines Kommandant für diesen Angiff nicht“, sagte Thrall.
Garrosh blinzelte überrascht, unsicher, was er sagen sollte. Diese Reaktion kam unerwartet. Er trat von einem Fuß auf den anderen. Thralls Lob bereitete ihm Unbehagen, und dennoch gefiel es ihm. „Ich diene der Horde“, sagte Garrosh schließlich. „Ich tue, was am besten für sie ist.“
„Daran zweifle ich nicht“, antwortete Thrall. „Und Ihr leistet gute Arbeit, wie ich stolz anmerken darf.“
Garrosh lehnte sich zu Seite und sah an Thralls Schulter vorbei auf die große Mauer hinter ihm. Das Wappen auf dem karminroten Banner der Horde wehte in der sanften Brise hin und her.
„Wie dem auch sei“, setzte Thrall fort. „Ich glaube, Eure Haltung gegenüber der Allianz ist falsch. Wir können den Krieg nicht ohne sie gewinnen.“
Garrosh sah schnell zu Thrall. „Ich bin der Horde verpflichtet“, antwortete er. „Und nur der Horde allein.“
„Vielleicht, Garrosh“, sagte Thrall. „Aber Blutvergießen ist nicht die einzige Möglichkeit, um diese Pflicht zu erfüllen.“
“Pah!“
Garrosh wandte sich ab und stützte sich mit beiden Händen auf die Brüstung. Hinter sich konnte er hören, wie sich Thralls Schritte über die Treppe hinunter entfernten. Garrosh sah in den bedeckten Himmel. Thrall verstand nicht, dass die Allianz sie niemals anerkennen würde. Sie würde die Horde an ihren Grenzen bedrängen – wie die Orks ihre Feinde in Garadar – bis die Horde zerschlagen war. Die einzige Antwort darauf war, zu kämpfen und die Menschen zuerst zu vertreiben. Die Sicherheit der Orks war wichtiger als alles andere. Es gab keine Verhandlung, solange die Allianz das nicht verstand. Garrosh würde nicht Halt machen. Sein Volk würde niemals dahinschwinden, nicht noch einmal. Die Horde würde sich niemals geschlagen geben.
Gelbin Mekkadrill: Kurzer Prozess von Cameron Dayton
„Wir haben die oberen Etagen in Sektor 17 überprüft, Herr. Es wirkt alles ziemlich unberührt seit unserem, ähm, Abzug. Zugegeben, es stinkt überall nach Troggs ...“
„Mmmm, ja – diese wunderbare Mischung aus Schimmel, Krätze und altem Affen. Das kann einem schon den Appetit verderben, ich weiß.“
Der Hauptmann der Wache, Herk Winkelfeder, verzog sein Gesicht, das nach der Beschreibung seines Kommandanten etwas an Farbe verloren hatte. Es war offensichtlich, dass der Geruch langsam an Moral und Stimmung zu zehren begann.
„Aber Eure Mannschaft ist mit dem neusten Modell meiner Hochgeschwindigkeitsnasenwischer ausgerüstet, oder?“
„Ja, Herr. Allerdings ... der Geruch ... nun, man kann ihn schmecken, Herr. Egal, wie gut die Nase ausgewischt ist.“ Winkelfeder legte den Kopf zurück und präsentierte ein großes, schmuckes Paar von Gnomennasenlöchern, die in der Tat gut ausgewischt waren. „Ich musste zwei Mitglieder meines Trupps zur Trollpatrouille in Ambossar versetzen und mein Sanitäter möchte wissen, ob es für den Gestank Extraurlaub gibt.“
Hochtüftler Gelbin Mekkadrill seufzte. Er schob sich die Brille auf die Stirn und rieb sich mit Zeigefinger und Daumen über die eigene markante Nase. Die neue Brille war unbequem und sie anzupassen stand ganz oben auf der Liste der Dinge, die er sich vorgenommen hatte, wenn dieser Einsatz vorbei war. In der vergangenen Nacht hatte er nicht geschlafen und der Bereich, wo die Gläser auf der Haut auflagen, fühlte sich wund und empfindlich an. Die Rückeroberung Gnomeregans entwickelte sich langsam zu etwas, das weit über einen einfachen Militärschlag hinausging.
Man musste nur den Gestank als Beispiel nehmen. Eins der Probleme mit einer weitläufigen unterirdischen und mechanischen Stadt – eins von hunderten, wenn man ehrlich sein wollte – war die Lüftung. Zu Hauptauslastungszeiten hatte das System aus Lüftern, Ventilatoren und Filtern ein Team von fünfzehn Technikern benötigt, die in Schichten rund um die Uhr arbeiteten, um die Luft in Gnomeregan frisch und sauber zu halten. Jahre der ungefilterten Ausdünstungen der Troggs waren zu Schichten von moschusartigem, undurchdringlichem Dreck geronnen, der sich als schwieriger zu entfernen herausstellte als die Eindringlinge selbst.
„Macht Euch keine Sorgen, Hauptmann. Die Genies vom Alchemistencorps werden noch diese Woche den Prototypen meiner entätzenden Mief-Weg-Kanone fertigstellen. Das sollte uns helfen, diesen fiesen Geruch aus unseren Hallen zu vertreiben. Warum nehmt Ihr und Euer Trupp Euch nicht den Rest des Tages frei und genehmigt Euch ein paar Halbe unten bei Donnerbräus?“
Der andere Gnom lächelte, salutierte und nickte kurz.
Mekkadrill wandte sich wieder den Blaupausen zu, die auf dem Tisch vor ihm ausgebreitet waren und schob sich mit einem Zucken die Brille zurück auf die Nase. Während um einige Bereiche von Gnomeregan noch immer verbissen gekämpft wurde, waren andere ihm überraschend leicht zugefallen. Natürlich hatte die Unterstützung durch die Allianz viel dazu beigetragen, aber Gelbin war sich nicht sicher, dass nicht mehr dahinter steckte. Die Halle der Zahnräder war fast vollkommen verlassen gewesen. Es sah seinem alten Feind so gar nicht ähnlich, sein Territorium einfach so aufzugeben.
Gelbins Gedankengang wurde von einem Räuspern unterbrochen und er drehte sich erneut um. Der Hauptmann stand noch immer da und rang mit den Händen.
„Entschuldigung, war noch etwas, Hauptmann?“
„Nun, ja, Hochtüftler, Herr. Wenn ich eine Frage stellen dürfte ...“
„Natürlich. Sprecht.“
„In Ordnung, Herr. Es ist nur so, dass einige der Jungs sich fragen, und ich frage mich das ehrlich gesagt auch, warum wir ausgeschickt wurden, um diesen Sektor zu erkunden. Ich meine, er ist nicht mal in der Nähe der Front und er scheint über keinerlei Ressourcen zu verfügen. Er scheint überhaupt keinen strategischen Wert zu haben. Sieht eher aus wie die Bibliothek eines verrückten alten Kauzes. Herr.“
„Die ‚Bibliothek eines verrückten alten Kauzes‘, sagt Ihr?“
Hauptman Winkelfeder grinste verschwörerisch. „Ha, das war jedenfalls mein Eindruck, Herr. Stapel alter Bücher, zerknülltes Papier und irgendwas, das aussah wie ein aus Pastetenformen gebastelter Kaninchenbau ...“
„Na ja, ich schätze, dass das maßstabsgetreue Modell der Tiefenbahn schon irgendwie so aussieht ...“
„Das ... Herr?“
„Das waren meine Gemächer, Hauptmann.“
„Eure ... Eure Gemächer, Herr? Oh. Oh. Ich bitte um Entschuldigung, Hochtüftler. Ich wollte nicht ...“
„Nicht ganz das, was Ihr von jemandem in meiner gehobenen Position erwartet habt, was?“ Gelbin schmunzelte und lehnte sich vor, um dem verlegenen Hauptmann auf die Schulter zu klopfen. „Macht Euch keine Sorgen deswegen, Winkelfeder. Es mag sein, dass ich einen vornehmen Sitz im Tüftlerhof innehatte, aber die echte Arbeit, das wahre Denken und Erfinden fand in der Bibliothek des verrückten alten Kauzes statt. So, wäret Ihr so gut und würdet auf Eurem Weg nach draußen Unteroffizier Kupferschraube wissen lassen, dass ich bereit bin, mir einen Überblick über die Gegend zu verschaffen?Danke für Eure gute Arbeit, Hauptmann.“
***
Gelbin wartete, bis seine Sicherheitsmannschaft um die Ecke verschwunden war, bevor das Lächeln sein Gesicht verließ. Schwer ausatmend ließ er die Schultern sinken – ein Ausatmen, das sowohl ein Seufzer als auch ein Fluch war.
Das hier war schwer. Es war schwer, in sein Arbeitszimmer zurückzukehren. Seinen Schlupfwinkel. Dies war der Ort, den er vor Augen hatte, wann immer er das Wort Heimat hörte, auch nach so vielen Jahren, in denen er nicht mehr hier gewesen war. Jahre der Barmherzigkeit und des Langmuts von Verbündeten, die ihn, all ihren noblen Beweggründen zum Trotz, noch immer mit Mitleid ansahen.
Das Mitleid – ah, das war der schwierigste Teil. Für ein Volk, das aus ehrgeizigen Leuten bestand, die im Leben Bestätigung durch die meisterhafte Beherrschung der wissenschaftlichen Gesetze des Universums fanden, war es unerträglich, bemitleidet zu werden. Mitleid kam einer Beleidigung gleich. Gelbin ärgerte sich über die Anteilnahme und er wusste, dass es seinem Volk genauso ging. Als Anführer hatte er gelernt, dass es weise war, auf seine eigenen Gefühle zu achten, da sie zu einem bestimmten Grad das reflektierten, was der Rest der Gnome empfand.
Aber es war nicht nur das Mitleid, jedenfalls nicht für den Hochtüftler. Er war gezwungen, seinen Leuten gegenüber weiter zu lächeln, sie weiter anzufeuern und weiter gnomischen Witz zu zeigen. Gezwungen, beständige und unverbrüchliche Zuversicht im engen Viertel, das die alte Tüftlerstadt war, zu verbreiten, wenn er eigentlich nichts anderes wollte, als zusammenzubrechen und zu Boden zu sinken und ... und ...
Gelbin atmete zitternd ein und taumelte zur Seite. Mit einem dumpfen Schlag prallte er mit der Schulter gegen die Metallwand. So viel Tote. So viele!
Er riss sich zusammen, ballte die Hände zu Fäusten und atmete aus. Er schloss die Augen und zählte Primzahlen, bis die Gefühle sich, wieder einmal, in eine entfernte Ecke seines Verstandes zurückzogen. Sichere, zuverlässige Primzahlen. Auf sie konnte man sich immer verlassen, ihnen vertrauen. Gelbin wusste, dass er sich eines Tages erneut diesen Gefühlen würde stellen müssen, aber im Moment war dafür keine Zeit. Überhaupt keine Zeit. Die Gnome brauchten ihren Hochtüftler im Bestzustand, um ihre Heimat zurückzuerobern, und die Zurschaustellung solch alberner Regungen wie Scham und Bedauern würde nur als Schwäche verstanden werden. Ein wanderndes Volk, das am Rand der Auslöschung navigierte, konnte sich keinen Anführer leisten, der Schwäche zeigte.
Zumindest kein zweites Mal.
Während er diesen Gedanken abschüttelte, schritt Gelbin voran und begann damit, den Zustand seiner einstigen Heimat zu analysieren. Anders als seine Kollegen in der Allianz mied der Hochtüftler extravagante Wohnverhältnisse im Austausch gegen eine praktische Bleibe. Was nützte ein Thron, wenn man stehend besser denken konnte? Das ausgetretene Gängenetzwerk von Sektor 17 war das physische Abbild von Gelbins kreativem Prozess: Bibliothek verbunden mit Entwurfsraum verbunden mit einfacher Gießerei verbunden mit Montageraum. Forschung, Vorstellungskraft, Herstellung, Ingenieurskunst. Hier wurden die Zahlen gesammelt, mit Eisen zusammengeworfen und dann wurden sie in die Welt hinausgeschickt. Im wahrsten Sinne des Wortes.
In diesen Räumen hatte sich Gelbin den ersten Roboschreiter ausgedacht, der es seinem zwergenhaften Volk erlaubt hatte, mit den mächtigen Rössern der Menschen Schritt zu halten. Diese Erfindung hatte den Ruhm des jungen Gnoms begründet und ihm den Weg zur Führerschaft eröffnet. Der gyromatische Mikroregler, der Reparaturbot, die Tiefenbahn, selbst der Prototyp der zwergischen Belagerungsmaschine – alles hatte seinen Anfang als Entwurf und Träumerei in seinem Arbeitszimmer gehabt. Alles war in der Ursuppe von Gelbins Fantasie entstanden, zur Verbesserung des Lebens der Gnome.
„Was uns zu einer Frage führt“, murmelte er. „Wiegen hundert brillante Erfindungen einen schrecklichen Fehler auf?“
Die Finsternis umfing seine Worte und fügte ihnen Schmerz hinzu. Während er auf die Antwort wartete, die er schon längst kannte, bemerkte der Hochtüftler etwas, das ihn zum ersten Mal seit seiner Ankunft hier unten lächeln ließ. Er redete mit sich selbst. Das war etwas, was er nicht getan hatte, seit ... Nun ja, seitdem er das letzte Mal in diesen Tunneln gelebt hatte. Vielleicht war die wiederkehrende Neurose also ein gutes Zeichen? Gelbin kratzte sich am sauber gestutzten Bart.
„Wenn ich tatsächlich Hoffnung in einem psychotischen Rückfall finde, dann ist wirklich was im Argen.“
Während er durch die Versammlungskammer ging, fuhr er mit einem Finger über eine staubbedeckte Bank und schnalzte mit der Zunge. Die Jahre waren nicht unbemerkt an diesem Ort vorbeigegangen. Selbst in dem flackernden Licht – die noch immer funktionierende Beleuchtung war ein weiterer Beleg für gnomische Ingenieurskunst – konnte Gelbin erkennen, dass sein einst makelloses Arbeitszimmer einmal gründlich durchgewischt werden musste.
Er erblickte die Vitrine mit seinen Trophäen an der gegenüberliegenden Wand. Er hatte sie auf Drängen seiner Lehrlinge hin aufgestellt und auch nur, weil er einen Ort gebraucht hatte, wo er all diese nutzlosen Auszeichnungen hinstellen konnte. Wie alles andere auch, war es mit einer Staubschicht bedeckt.
Das Prunkstück in dem großen Schaukasten war sein erster funktionierender Prototyp eines Roboschreiters, der stolz und schlaksig zwischen diversen Medaillen und Schleifen stand. Gelbin lächelte bei dem Gedanken daran, dass sich auch in den aktuellsten und fortgeschrittensten Hochgeschwindigkeitsmodellen aus Eisenschmiede noch immer der vogelartige Gang und der kesselartige Bauch seines Originalwerks erkennen ließen. Mehr noch: Seine Agenten in Nordend hatten ihm berichtet, dass die rätselhaften Mechagnome seine Erfindung für ihre eigenen mysteriösen Zwecke übernommen und modifiziert hätten. Was könnte schmeichelhafter sein als dass ein Volk, das aus Maschinen bestand, seine Maschine zur Fortbewegung nutzte?
Und obwohl der Roboschreiter die erste (und wohl auch die beliebteste) seiner Erfindungen gewesen war, hatte der stetige Fluss einzigartiger, mächtiger und immens praktischer Kreationen, der seinen Weg aus diesen Hallen gefunden hatte, sich als entscheidender Gewinn für die Allianz aus Zwergen, Menschen und Elfen herausgestellt. An dieser Stelle hatte Gelbin Mekkadrill die Schwelle von einem einfachen Erfinder hin zum Hochtüftler der Gnome überschritten. Hier hatte er seine größten Einsichten erreicht, seine brillantesten Erfindungen zustande gebracht und die größte Anerkennung durch sein Volk erfahren, das Kreativität und handwerkliches Geschick über alles andere stellte und zu würdigen wusste.
Und hier war es auch gewesen, wo Gelbin Mekkadrill törichterweise auf den Rat von jemandem gehört hatte, den er für einen Freund hielt. Hier was es gewesen, wo Gelbin Mekkadrill den Befehl erteilte, der einen Großteil seines Volkes das Leben kosten, die Überlebenden um ihre Heimat bringen und sie in Bettelei und Schande treiben sollte.
Er schlug mit der Faust gegen eine Wand, wobei eine Staubwolke aufgewirbelt wurde, und die Lichter über ihm flackerten als visuelles Echo seiner Frustration. Der Hochtüftler beschloss, diese dunklen Gefühle durch einen Spaziergang abzuschütteln. Er wanderte von der Versammlungskammer zur Gießerei und von dort zum Entwurfsraum. Dann hielt er inne. Gelbin erkannte plötzlich, dass er gerade das erste Anzeichen von echtem Zorn gezeigt hatte, Jahre nach dem Verrat. Und er hatte sich gut angefühlt, dieser vollkommen uncharakteristische Wutausbruch.
Vielleicht zeigte die Gesellschaft der Zwerge langsam Wirkung. Oder vielleicht war es auch der Umstand, dass er wieder Zuhause war, endlich fort von den Blicken mitleidvoller Wohltäter und sich sorgender Bürger, dass er sich fühlte, als ob die Vorhänge aufgezogen worden waren und er nicht mehr der Hochtüftler sein musste. Hier, endlich, konnte er Gelbin sein. Und Gelbin durfte trauern; Gelbin durfte sich verraten fühlen; und Gelbin durfte wütend und untröstlich sein über die verdammungswürdige Ungerechtigkeit der ganzen Sache.
Er knurrte und schlug erneut nach der Wand. Er begrüßte den stumpfen Schmerz in seinen Knöcheln und das befriedigende Klingen, das von den eisernen Gängen um ihn herum widerhallte. Das Mindeste, was das Leben bei den Zwergen mit sich gebracht hatte, war, dass sein Volk stärker geworden war und sich wohler im Umgang mit den eigenen körperlichen Fähigkeiten fühlte, als das jemals zuvor in der akademischen Geschichte der Gnome der Fall gewesen war. Die Zwerge hatten die unfeine Kunst des Nahkampfes gemeistert, in einer Welt voller Wesen, die häufig mehr als doppelt so groß waren wie sie, während die Gnome sich im Allgemeinen darauf konzentriert hatten, zu entkommen und solchen Konflikten einfach aus dem Weg zu gehen. Doch die Jahre voller Not und der Kampf ums Überleben unter ihren stämmigeren Verbündeten hatten den Gnomen, im Guten wie im Schlechten, eine kämpferische Seite gegeben. Gelbin sah mehr Gnome, die Schwerter schwangen, Rüstung anlegten und Großen Leuten Widerworte gaben, als jemals zuvor.
„Na ja“, murmelte er, „die Widerworte waren unserer vorher schon abnehmenden Anzahl nicht gerade zuträglich.“
Das klingende Geräusch seines ungestümen Angriffs auf die Wand hallte noch immer als Echo durch den Raum und der Hochtüftler unterbrach sich mitten im Gedanken. Das hörte sich nicht richtig an.
Gelbin neigte den Kopf und machte einen Schritt zurück. Sektor 17 war in die robusten nordwestlichen Bereiche von Dun Morogh gehauen worden – ein Teil der schneebedeckten Weite, die vor allem aus Granit und Schiefer bestand. Die eisernen Gänge in diesem Flügel von Gnomeregan hätten eigentlich nicht mit derartiger Resonanz auf eine Erschütterung reagieren sollen. Oder trog ihn seine Erinnerung?
Gelbin klopfte mit geschlossenen Augen erneut mit den Knöcheln gegen die Wand. Wieder war ein Klingen zu hören, mit fast glockengleichem Klang.
Ohne seine Augen von der Wand zu nehmen, begab sich Gelbin in die Mitte des Raums. Sein alter, von Trollen hergestellter Stuhl, eine entzückend primitive Konstruktion aus Knochen und Raptorbälgen, stand noch immer am gewohnten Ort. Der Stuhl war ein Andenken des ersten von Gnomen unterstützten Schlags der Allianz gegen ein Hordelager während des Zweiten Kriegs und Gelbin hatte das wild aussehende Ding behalten, um ihn an zwei wichtige Dinge zu erinnern. Erstens, dass seine Feinde in einer Welt lebten, die aus dem Fleisch und den Knochen von Monstern geformt war. Und zweitens, dass selbst moosbewachsene Wilde mit Fangzähnen ab und zu einen gemütlichen Ort zum Hinsetzen brauchten. Obwohl der Hochtüftler nur selten still dasaß, wenn er mit seinen Erfindungen beschäftigt war, hatte er in unzähligen Nächten den Stuhl als behelfsmäßige Liege benutzt, nachdem er wieder bis spät in die Nacht Ideen gewälzt hatte. Dessen niedrige Form und seine weite Sitzfläche mit gepolstertem Leder, die für das relativ umfangreiche trollische Hinterteil gedacht gewesen war, waren perfekt für ein kleines gnomisches Nickerchen geeignet. Mit einem besorgten Seufzen ließ er sich in die angenehme Weichheit seines Stuhls fallen.
Hatte es seit dem Exodus neue Konstruktionsarbeiten in diesem Bereich gegeben? Gelbins Argwohn war nun geweckt. Er blickte durch den Entwurfsraum, auf der Suche nach Zeichen für Sabotage: lose Drähte, falsch gesetzte Blenden oder unbekannte Fußabdrücke im Staub. Der gesamte Sektor war von seiner fähigsten Mannschaft eingehend untersucht worden, aber Mekkadrill hatte gelernt, nichts und niemandem blind zu vertrauen. Ganz besonders, wenn es um Thermadraht ging.
Sicco Thermadraht. Bei dem Namen zog sich sein Magen noch immer zusammen, eine Anspannung, die auch logisches Denken nicht vertrieb. Gelbin hatte endlich einen Begriff gefunden, der dieses seltsame Gefühl umschrieb. Es war ein Gefühl, das ihm gänzlich und erschreckend unbekannt war. Es war Verwirrung. In diesem einen ungewöhnlichen Fall war der Hochtüftler Gelbin Mekkadrill noch immer sehr, sehr verwirrt.
Wie hatte es passieren können?
Ein Gnom aus Gnomeregan, der gegen die Seinen handelte, war eine Unmöglichkeit, ein Zufall, eine unausdenkbare Anomalie. Im Gegensatz zu den Zwergen gab es in der Geschichte der Gnome keine Fälle von inneren Gewaltakten. Ihre Vergangenheit war frei von Kriegsherren und gewalttätigen Fraktionen. Gnome bekämpften einfach keine Gnome. In einer Welt voller Löwen, Tiger, Furbolgs und Großer Leute musste sein Volk sich aufeinander verlassen können. Das verstand sich von selbst. Darum bedurften die Gnome auch nicht des primitiven Erstgeburtsrechts, das unter den anderen Völkern Azeroths zu so viel Blutvergießen geführt hatte. Außerdem hatten sie sich schon vor Jahrhunderten gegen eine Monarchie entschieden. Die Gnome wählten ihre Anführer durch ein Konsensverfahren, das auf Arbeitsverdiensten basierte. Verdienste, die ganz und gar quantifizierbar waren in ihrem Nutzen für die Gemeinschaft der Gnome. Auf eine Art und Weise zu handeln, dass die eigenen Leute Schaden nahmen, die Gier nach Macht ungeachtet dessen, was es das eigene Volk kosten würde – das waren Dinge, die ein Zwerg tun würde oder ein Orc. Es war zweifellos menschlich. Aber wie konnte ein Gnom die fast vollständige Vernichtung der Gnome herbeiführen?
Sicco hatte behauptet, dass er die Strahlungsbelastung des Gases getestet hätte. Er hatte behauptet, Beweise für dessen tödlichen Effekt auf die Troggs zu haben und er hatte Gelbin gefälschte Zahlen über die Dichte und das Raumgewicht des Gases vorgelegt. Es hätte in den unter Quarantäne gestellten Durchgängen und tieferen Sektionen von Gnomeregan verbleiben und die aus den Tiefen kommenden Eindringlinge vergiften sollen, während die Gnome sicher und wohlbehalten in den oberen Tunneln der Stadt abwarteten. Zu der Zeit hatte es so ausgesehen, als sei dies die einzige Rettung vor der unvorhergesehenen Invasion, und der Plan bedurfte auch keiner Hilfe von der anderweitig beschäftigten Allianz. Die Gnome würden sich selbst um die Probleme der Gnome kümmern. Thermadraht hatte so sicher gewirkt, dass dieses Zeug funktionieren würde.
Aber der Großteil der Troggs war einfach durch das Gas getrottet. Wenn es überhaupt eine Wirkung hatte, dann die, dass die Troggs durch die Bestrahlung nur noch wilder wurden. Und das Gas war durch Gnomeregan aufgestiegen. Es war durch Thermadrahts vielgepriesene innerhäusige „Glasklar!“-Luftfilter gedrungen. Und es hatte die Gnome getötet, die in ihren Häusern gewartet hatten. Sie waren an widerwärtigen grünen Wolken erstickt, hinter Türen, von denen der Hochtüftler ihnen versprochen hatte, dass sie sie schützen würden. Gnomeregan war an diesem Tag gestorben. Es war gestorben, weil Gelbin Mekkadrill darauf vertraut hatte, dass ein Freund sich wie ein Freund verhalten würde. Oder zumindest wie ein Gnom.
Gelbin lehnte sich zurück und schloss die Augen. Der Druck auf seinen Brustkorb tat schon fast weh und zum millionsten Mal überlegte er, ob er seinen Titel zurückgeben und jemand anderes Hochtüftler werden lassen sollte. Jemanden, der weniger verwirrt war. Jemanden, der nicht einen närrischen Fehler machen würde, der letztendlich so viele das Leben kostete ...
Dieses Mal ließ sich die Verzweiflung nicht zurückhalten, die trübe Welle des Schmerzes, die hochstieg aus dem Ort tief in ihm, an dem sie viel zu lange eingesperrt gewesen war. Gelbin holte ein paar Mal schnell Luft, zählte Primzahlen und hielt sich an den Lehnen seines Stuhls fest, aber dieses Mal ließ es sich nicht aufhalten. Die Trauer überspülte seine inneren Schutzvorrichtungen und brach mit einem abgerissenen, heiseren Schluchzer aus ihm hervor.
Und endlich, alleine in der dunklen, steinernen Stille seines verlassenen Arbeitszimmers, weinte Hochtüftler Gelbin Mekkadrill.
***
Nachdem die Tränen getrocknet waren, das Zittern aufgehört hatte und die kühle Ruhe in den Raum zurückgekehrt war, atmete Gelbin bebend aus und richtete sich auf. Er fühlte sich ... leer ... auf eine gereinigte, ausgehöhlte Art und Weise. Es war nicht wirklich ein gutes Gefühl. Aber ein dringend benötigtes.
Es war Zeit, an die Oberfläche und zu seinem Volk zurückzukehren. Er fing bereits an, sich egoistisch zu fühlen, dafür, dass er sich so viel Zeit für seine eigenen Probleme genommen hatte. Er stemmte sich auf die Stuhllehnen und begann, sich zu erheben.
Und hielt inne.
Unter seiner Hand befand sich etwas Kaltes. Gelbin öffnete die Augen und blickte hinab. Ordentlich gefaltet lag seine Lieblingsbrille auf der Armlehne seines Stuhls, die einfachen, mit einem Rand aus Mithril versehenen Linsen, die er als Geschenk erhalten hatte, als er seinen Abschluss an der Getriebewelleuniversität machte. Solide, verlässlich, beruhigend. Sie hatten seitdem Dekaden in einer konstanten Position in seinem Gesicht verbracht – eine Position, die nur unterbrochen worden war durch die Invasion der Troggs und den anschließenden hastigen Abzug der Gnome. In der Zwischenzeit hatte Gelbin mit einer neuen Brille vorliebgenommen, einem Gestell, das er in Eisenschmiede zusammengebastelt hatte, auf seinen Wegen zwischen Tüftlerstadt und dem Thron von Bronzebart. Es handelte sich dabei um ein Meisterstück, über das seine arme Nase sich von Anfang an beklagt hatte. Lächelnd griff der Hochtüftler nach unten, um seine lange verschollene Sehhilfe wieder an sich zu nehmen.
„Jetzt werde ich endlich wieder ich selbst ...“
Eine seltsame Spannung begleitete das Anheben der Brille und Gelbin erstarrte. Eine kalte Erinnerung schob sich von hinten durch seine Gedanken: Die Brille war ein Geschenk zum Abschluss des Studiums gewesen. Ein Geschenk von seinem Freund und Mitabsolventen Sicco Thermadraht.
Und Gelbin hätte seine Brille niemals auf dem Stuhl liegen gelassen.
Zu spät bemerkte er einen dünnen Draht, der um den Steg der Brille gewickelt war. Er verlief entlang der Seite des Stuhls und in ein winziges Loch in einer Fliese darunter, ein fast unsichtbarer Metallfaden. Echtsilber, unglaublich leicht, aber fester als Stahl. Gelbin fühlte ein leichtes Ziehen auf der anderen Seite des Drahts, den mechanischen Ruck einer gelösten Feder, und blickte genau im rechten Augenblick auf, um zu sehen, wie eine schwere Tür zuschlug und den Eingang versperrte. Ein ähnliches metallisches Geräusch erklang von dem Ausgang hinter ihm.
Neue Konstruktionsarbeiten in Sektor 17? Anscheinend hatten welche stattgefunden. Jemand hatte eine Falle für den Hochtüftler gebaut und Gelbin war mit beiden Füßen voran hineingetappt. Wer sonst würde sich auf diesen Stuhl setzen? Wer würde die Brille des Hochtüftlers anfassen? Während versteckte Zahnräder in den hohlen Wänden rumpelten, ertappte sich Gelbin dabei, wie er darüber nachdachte, ob Hauptmann Winkelfeder bestochen wurden war oder ob er und seine Mannschaft wirklich diese Art von Sabotage übersehen hatten.
Ein knisterndes Statikgeräusch erklang und ein elektrischer Lautsprecher erwachte zum Leben, gefolgt von einer Stimme, die den Hochtüftler seit Jahren in seinen Träumen heimgesucht hatte.
„Wisst Ihr, werter Gelbin, ich hatte mich gefragt, ob dieser Köder zu offensichtlich für Euch sein würde – ich habe es ja fast nicht glauben wollen, als mein Alarm hier losging. Es scheint, als könnte ich mich immer darauf verlassen, dass Eure entzückende Naivität Euren Intellekt übertreffen wird.“
Gelbin sprang auf die Füße, während er sich über die Augen wischte. Für einen Moment erlag er der kindischen Sorge, dass Sicco ihn vielleicht beim Weinen beobachtet hatte. Das Gefühl der Leere, das er noch Augenblicke zuvor gespürt hatte, war nun ersetzt durch etwas Kälteres. Angst. Scham. Sie erklangen zusammen mit seiner Verwirrung in schmerzlicher Harmonie. Zähneknirschend griff Gelbin hinunter an seinen Gürtel, wo er normalerweise seinen getreuen Excalischlüssel trug. Nichts. In seiner Eile, sein altes Arbeitszimmer wiederzusehen, war er vollkommen unbewaffnet gekommen.
Das war eine weitere Sache, die er niemals tat, noch nicht mal, wenn er sich durch Eisenschmiede bewegte. Verlor er langsam den Verstand? Verwirrung, Vergesslichkeit und jetzt dies.
Auf eine merkwürdige Art und Weise hatte Thermadraht Recht. Der Hochtüftler hatte eine Falle hier unten vermutet, hatte gespürt, dass der Bereich zu leicht aufgegeben worden war. Aber ... wie hatte Sicco willentlich solch eine unglaubliche Menge an Zeit und Ressourcen verschwenden können, um einen einzelnen Gnom zu töten, wenn die gesamte Allianz vor seiner Tür stand? Erneut: verwirrend.
„Konzentrier dich, verdammt!“, flüsterte Gelbin sich selbst zu. Er würde hier unten sterben, wenn er sich nicht zusammenriss. Niemals zuvor hatte der Hochtüftler sich so wenig bereit gefühlt wie in diesem Moment, aber das durfte er seinen alten Freund nicht wissen lassen, wenn er überleben wollte. Vielleicht würde ein verbaler Schlagabtausch Siccos berühmte eingleisige Art zu denken beschäftigt halten, während Gelbin einen Weg hier raus fand. Er räusperte sich.
„Offensichtlich habe ich Euch als Stratege zu viel zugetraut, Sicco. Kein Wunder, dass es meinen Streitkräften so leicht gefallen ist, gegenüber Eurer verschanzten Armee so gut voranzukommen, obwohl sie uns drei zu eins überlegen ist: Ihr habt Eure Zeit damit verschwendet, dumme Rachespielchen zu spielen.“
Während er schnell die Kammer analysierte, kämpfte Gelbin darum, den Fokus nicht zu verlieren. Wenn Thermadraht sich dafür entschied, die Räumlichkeiten mit demselben toxischen Gas zu fluten, das er gegen seine eigenen Leute eingesetzt hatte, dann würde es kein Entkommen geben. Gelbin kannte den Raum gut genug, um das einzusehen. Nur zwei Türen, beide versiegelt. Er hielt sich sein Hemd vors Gesicht und blickte sich nach verräterischen Zeichen des tödlichen grünen Nebels um. Möglicherweise konnte er die Luft lange genug anhalten, um durch den Luftschacht zu fliehen, den sein Feind konstruiert haben musste, um das widerliche Zeug einzuleiten.
Sicco Thermadraht lachte.
„‘Dumme Rachespielchen‘? Gelbin, habt Ihr irgendeine Vorstellung davon, was Euer Tod für die Gnome bedeuten wird? Sie haben zu ihrem Anführer gehalten, trotz allem, was ich getan habe, um Euch in Misskredit zu bringen. Die kleinen Narren lieben ihren Hochtüftler. Euer Tod wird ihnen ihre Herzen rausreißen!“
Gelbins Antwort wurde von dem Klicken eines umgelegten Schalters unterbrochen. Totenstille und dann ein mechanisches Stöhnen, das Geräusch von gespannten, schweren Eisenkabeln, die über federgetriebene Räder liefen. Die Wand vor ihm – genau die Wand, auf die er eingeschlagen hatte – begann, sich zur Decke zu heben. Ein Schwall warme, feuchte Luft wehte ihm entgegen und Gelbin erkannte, welche Form seine Ermordung haben würde. Es roch nach Schimmel, Krätze und altem Affen.
Der Trogg trat mit einem geifernden Knurren aus den Schatten. Kräftig gebaut, mit muskulösen Armen, die fast bis auf den Boden hingen, bewegte er sich mit dem selbstsicheren, wiegenden Gang eines Raubtiers, das weiß, dass sein Opfer festsitzt.
Der Hochtüftler hatte bei Gefechten gegen diese Bestien den Oberbefehl gehabt, aber er war noch nie so nah an einer von ihnen drangewesen; sein Sicherheitsteam hatte es niemals erlaubt (ein Team, dem er dummerweise befohlen hatte, außerhalb des Sektors auf ihn zu warten). Der Trogg war ohne weiteres doppelt so groß wie Gelbin und ein Netzwerk aus Narben verlief über die gegerbte Haut seines Brustkorbs. Schroffe, knochige Ausbuchtungen ragten aus den Schultern und Ellenbogen der Kreatur, deformierte Auswüchse, die Zeugnis ihrer steinigen Herkunft ablegten. Gelbin hatte Gerüchte gehört, dass die Troggs gemeinsame Wurzeln mit den Zwergen besaßen und es sich bei ihnen um einen pervertierten Zweig derselben Art handelte, und er konnte die Ähnlichkeit erkennen im struppigen Bart, der gedrungenen Statur und den dicken, kabelartigen Muskeln, die wirkten, als seien sie aus Granit gemeißelt worden – obwohl er das seinen freundlichen Gastgebern gegenüber niemals zugeben würde. Aber da hörten die Übereinstimmungen dann auch auf. Der Trogg hatte eine geneigte, affenartige Körperhaltung, mit schweren Augenbrauen und den ausgeprägten Fangzähnen eines Raubtiers.
Gelbin dachte zurück an seine Kampfausbildung. Normalerweise nahmen vier oder fünf Gnome es mit einem Trogg auf, vorausgesetzt, sie waren bewaffnet und erfahren in unterirdischer Kriegsführung. Als erfahrener Taktiker wusste Mekkadrill, dass er auch ohne dampfdruckgetriebene Rüstung und Excalischlüssel an seiner Seite einen guten Kampf abliefern würde. Der Gnom machte einen Schritt nach vorne und warf einen Blick durch den Raum. Wenn er schnell genug auf die andere Seite käme, könnte er dort vielleicht einen Hocker als Waffe zweckentfremden. Wenn er sich den Trogg irgendwie vom Leib hielt, würde es ihm womöglich gelingen, durch die Öffnung zu entkommen, durch die das Monster gerade hereingekommen war. Es wäre riskant, aber es war die beste...
Zwei weitere Troggs schlurften ins Licht. Der erste grunzte den beiden Neuankömmlingen kehlige Befehle zu und sie bewegten sich mit animalischer Geschwindigkeit, die ihre Untersetztheit Lügen strafte, auf jeweils eine Seite ihres Opfers.
Die Wand senkte sich hinter ihnen mit einem drohenden Dröhnen und Gelbin gelangte zu einer traurigen Erkenntnis: er würde hier sterben. Aus Thermadrahts Falle würde es kein Entrinnen geben. Sicco brachte zu Ende, was er Jahre zuvor in den Hallen von Gnomeregan begonnen hatte. Die Stadt würde endgültig und unbestreitbar dem Monster gehören, das vorgab, ein Gnom zu sein. Gelbin fiel auf die Knie und schloss die Augen. Aus.
Vorbei.
Er war des Mitleids müde und der täglichen Erinnerungen, dass er sein Königreich verloren hatte, einfach nur, weil er ein Gnom war. Er war der verdammten Verwirrung müde. Das schlurfende Geräusch der Troggs kam näher und Gelbin Mekkadrill flüsterte einen Abschiedsgruß an sein geliebtes Gnomeregan. An sein Volk.
„Die kleinen Narren lieben ihren Hochtüftler.“
Nach allem, was passiert ist, lieben sie ihren Hochtüftler.
Gelbin öffnete die Augen und blickte hinab. Er sah, dass er noch immer seine Brille in der Hand hielt. Er sah den hauchdünnen Echtsilberdraht, der sich zum Boden erstreckte. Fast instinktiv übernahm der Ingenieur in ihm das Denken und breitete vor seinem inneren Auge technische Zeichnungen aus.
Der Stolperdraht führte zu etwas, was offensichtlich eine beschwerte Abzugsfeder war. Diese war verbunden mit einer schweren Radachse, die ihr Gegengewicht in den Kabeln hatte, die die Wand mit Hilfe von etwas hochgehoben hatten, was sich anhörte wie rostige Scharniere – Sicco war schon immer nachlässig bei seinen Konstruktionen vorgegangen. Der Rest war eigentlich recht simple Ingenieurskunst und Gelbin fand es ironisch, dass sogar Sicco, der Un-Gnom, sich gnomischer Technologie bediente, um seine finsteren Ziele zu erreichen. Eine Technologie, die Gelbin angepasst, mit Neuerungen versehen und für den Schutz und die Rettung seines Volkes gemeistert hatte.
Gelbin Mekkadrill war ein Gnom mit Schwächen und Stärken. Das war der Grund, warum sein Volk ihn liebte. Das war der Grund, warum er noch immer Hochtüftler war. Und das war der Grund, warum er noch immer für die Gnome kämpfte, selbst nach so viel Schande, Finsternis und Chaos.
Und plötzlich war er nicht mehr verwirrt.
Gelbin rollte sich auf die Seite und wich der Faust des ersten Troggs aus, als diese auf ihn zuraste. Die steinernen Fingerknöchel der Kreatur krachten in den gefliesten Boden und ließen Scherben an seinem Ohr vorbeifliegen. Eine Sekunde später war Gelbin auf den Füßen und sprintete in Richtung des hinteren Teils des Arbeitszimmers. Ein Plan formte sich in seinem Kopf.
„Verratet es mir, Sicco: Wenn mein Tod so einen offensichtlichen Vorteil für Euch darstellt, warum habt Ihr dann bis jetzt gewartet? Wäre es nicht viel einfacher gewesen, mich damals zu töten, als Ihr noch mein Vertrauen hattet?“
Es war schwierig, gleichzeitig zu reden und zu laufen, aber Gelbin wusste, dass er Thermadraht abgelenkt halten musste, wenn sein Plan Erfolg haben sollte.
In dem Glauben, dass ihr Opfer sich in Richtung eines versteckten Fluchtwegs bewegte, stürmten die zwei Troggs an seinen Flanken an ihm vorbei, um ihn zu blockieren. Das hatte Gelbin vorausgesehen und er nutzte die wenigen Sekunden, die ihm dies gewährte, um den verbleibenden Echtsilberdraht um seine Brille zu wickeln.
Der erste Trogg hatte ihn schon fast wieder erreicht und Gelbin drehte sich um und rannte auf die heulende Bestie direkt zu. Damit hatte die Kreatur nicht gerechnet. Sie stürzte sich auf leere Luft, als Gelbin sich duckte, zwischen ihren Beinen durchrutschte, sich abrollend wieder auf die Füße kam und weiterrannte.
Brüllend drehte sich der Trogg um und wankte hinter ihm her. Die anderen beiden, erregt von den Geräuschen ihres Bruders, heulten auf und umkreisten ihn. Sie waren keine dummen Tiere, das wusste Gelbin. Sie waren damit zufrieden, es dem ersten Trogg zu überlassen, ihn an den Rand der Erschöpfung zu treiben, und ihn sich dann als schnelle Mahlzeit zu schnappen. Siccos Stimme durchdrang die Luft:
„Was? Ihr seid noch nicht tot?“
Gelbin lächelte, während er lief. Sein Gegner hatte ihm gerade offenbart, dass er zwar hören konnte, was in der Kammer geschah, aber nicht sehen. Er könnte wirklich Erfolg haben.
Der wütende Trogg war schnell – schneller als Gelbin erwartet hatte – und der Gnom konnte seinen fürchterlichen Atem im Nacken spüren. Sein eigener Atem ging stoßweise und Gelbin fokussierte seine Konzentration auf den Zeichentisch, der sich nur wenige Meter vor ihm befand.
Nur noch ein bisschen näher! Nur noch ein bisschen näher!
Mit einem plötzlichen Jaulen wurde der Trogg zurückgerissen und von einer unsichtbaren Kraft zu Boden geschmettert. Der Echtsilberdraht, den Gelbin um das Fußgelenk der Kreatur geschlungen hatte, war an seinem Ende angekommen und hatte, nachdem er in einer Kombination aus Gewicht und Geschwindigkeit auf die robuste Mithrilbrille getroffen war, der Bestie den Fuß vom Bein abgetrennt. Ein schmerzerfülltes Brüllen, zum Teil Stöhnen, zum Teil Schreien, durchschnitt die Luft. Der Trogg hob einen bluttriefenden, abgerissenen Stumpf hoch und heulte erneut auf, während er mit einer Faust auf den Boden schlug. Mekkadrill zwinkerte ihm entschuldigend zu und hastete zum Zeichentisch direkt vor ihm. Einer der Troggs bewegte sich zu seinem gefallenen Kollegen, eher neugierig als besorgt, während der andere weiterhin Gelbin umkreiste.
Erzürntes Gemurmel erklang aus dem im oberen Bereich versteckten Lautsprecher.
„Ihr habt Recht, Gelbin. Ich hätte Euch damals töten sollen, aber ich brauchte einen Sündenbock. Ich brauchte jemanden, gegen den ich die Gnome versammeln konnte, damit sie mich zum neuen Hochtüftler wählen würden. Habt Ihr eigentlich eine Vorstellung davon, wie viel Zeit ich damit verbracht habe, einen Plan zu ersinnen, der Euren Namen beschmutzen würde? Euch zu töten wäre so viel einfacher gewesen!“
Gelbin hatte den Tisch erreicht und begann, in verzweifelter Suche die Schubladen aufzuziehen. Er überdeckte seine Handlungen mit einem fast plauderhaften Tonfall.
„Also, wann soll der Teil mit dem Versammeln der Gnome und dem Aufstieg zum Hochtüftler denn anfangen? War das ursprünglich geplant für vor oder nach dem Völkermord?“
Sicco knurrte und fluchte, außerdem war das deutliche Geräusch eines Schraubenschlüssels, der von einer Wand abprallte, zu hören. Gelbin hatte einen wunden Punkt getroffen.
„Im Nachhinein kann jeder Idiot weise klingen! Das Gas war ... wirksamer, als ich gedacht hatte. Meine Berechnungen hatten eine Sterblichkeitsrate von dreißig Prozent ausgegeben, eine statistisch bedeutsame Anzahl an Toten – die alle Euch zu Lasten gelegt worden wären. Das, zusammen mit meinem beeindruckenden Zurückdrängen der Troggs, hätte mir einen schnellen Coup ermöglicht.“
Gelbin sah den Einstieg. „Bleiben wir mal bei dem Wörtchen ‚hätte‘ ...“
Ein weiteres krachendes Geräusch – dieses Mal hervorgerufen durch etwas, was nur eine Faust sein konnte, die gegen ein Mikrofon geschlagen wurde.
„Wer konnte denn voraussehen, dass die Gnome Euch noch immer folgen würden, nachdem ich Eure Hände praktisch in Blut getaucht hatte? Dass sie Logik vollkommen beiseitelassen und sich wie ein Haufen weinerlicher, emotionaler Nachtelfen verhalten würden? Ich bin froh, dass das Gas so gewirkt hat, wie es das letztendlich tat! Die Gnome brauchten diese Reinigung!“
Das nächste Geräusch war dem davor ähnlich, nur lauter und gefolgt von tosendem statischen Rauschen. Dann Stille. Anscheinend hatte Sicco Thermadraht Nahkampfschaden nicht in die Lebensdaueranalyse seines Mikrofons miteinbezogen. Gelbin blickte von seiner Sucherei auf und nickte. „Beherrschung, Beherrschung. Ihr habt gerade die Möglichkeit verloren, Euch aus der Entfernung an meinem Unglück zu weiden, mein Freund.“
Er bückte sich und machte sich wieder an die Arbeit. Zum Glück war Thermadraht vorsichtig genug gewesen, das Misstrauen der Spezialisten des Hochtüftlers nicht zu erregen, und hatte deshalb das Arbeitszimmer fast unberührt gelassen. Tatsächlich vermutete Gelbin, dass der Großteil der Falle irgendwo anders zusammengebaut und sie dann hinter den Wänden und unter dem Boden installiert worden war. Das einzige Zeugnis eines Eingriffs war der verdammte Draht gewesen.
Und dieser verdammte Draht hatte gerade seine Probleme um 33,3 Prozent reduziert (Periode 3, natürlich). Gelbin fand, was er suchte, auf dem Boden der letzten Schublade. Es war ein kleiner Lederranzen, den seine Assistenten benutzt hatten, um die im Arbeitszimmer verteilten Uhren zu warten. Pünktlichkeit hatte nie zu seinen Stärken gehört, aber er schätzte es, zu wissen, um exakt wie viel er sich verspäten würde.
Der Gnom drehte sich um, um zu sehen, wo sich seine Angreifer befanden und wich einem weiteren fürchterlichen Hieb aus. Einer der Troggs hatte versucht, sich an ihn heranzuschleichen und seine Faust brach durch den Tisch hinter Gelbin, als ob er aus Streichhölzern bestanden hätte. Er hatte immer geargwöhnt, dass diese Kreaturen über Schwermetalle in ihrer Physiologie verfügten, und der Schaden, den sie in den letzten Minuten am Boden und der Einrichtung angerichtet hatten, hatte ihn in seiner Vermutung bestätigt.
Erneut gereichte dem Gnom seine Geschwindigkeit zum Vorteil und er bewegte sich mit dem Ranzen in der Hand eilig von der Bestie fort. Der Trogg brüllte wütend auf und knurrte dann Kommandos in Richtung seiner Brüder. Ein Monster verlor mit dem auf die Fliesen fließenden Blut langsam seine Lebenskraft, aber das andere signalisierte grunzend Zustimmung und bewegte sich bedächtig durch den Raum. Sie hatten vor, Gelbin zwischen sich festzusetzen und ihm dann den Todesstoß zu versetzen. Der Hochtüftler würde nicht für immer fortlaufen können. Es war nur eine Frage der Zeit und das wussten sie.
Der Gnom war in die Mitte des Raums zurückgekehrt, wo noch immer sein Stuhl lag, auf eine Seite gefallen. Der sterbende Trogg hatte mit der ganzen Kraft seines schweren, rennenden Körpers an dem Draht gezerrt und dabei das Auslösergehäuse herausgerissen, das unter den Fliesen unter dem Stuhl verborgen gewesen war. Es bestand aus einer quadratischen Metallbox, ungefähr der Größe eines flachen Tellers entsprechend. Und wenn Sicco Thermadraht hierbei genauso schlampig und goblin-esque vorgegangen war, wie Gelbin es schon zuvor bei ihm beobachtet hatte, dann würden sich die Hauptachsfeder und die Gegengewichte direkt darunter befinden.
Gelbin stieß den Stuhl beiseite und öffnete seinen Ranzen. Ein Schraubenschlüssel, ein eiserner Hammer, eine Feile und eine weiße Phiole Schwarzmaulöl, um Federn zu ölen – alles in Miniaturausgabe, genau groß genug, um damit an Uhren zu arbeiten. Oder um Sabotage zu sabotieren. Er blickte auf, um die Zeit abzuschätzen, die er hatte, bevor die Troggs ihn erreichten. Vielleicht zwanzig Sekunden. Er brauchte dreißig.
Er entkorkte die Phiole, verteilte deren Inhalt und ließ sie dann in einer glitzernden Geraden über die Fliesen in Richtung des nächsten Troggs rollen. Die Kreatur blickte auf die kleine Flasche nieder und kicherte in affenartiger Erheiterung. Als sie wieder aufsah, konnte sie den Gnom dabei beobachten, wie er einen winzigen Schraubenschlüssel in der einen und eine Feile in der anderen Hand hielt. Mit einer schnellen Bewegung ließ Gelbin das Ende des Schraubenschlüssels über die Feile schaben. Eine Reihe gleißender Funken fiel in breitem Bogen zu Boden und traf dort auf die Ölspur, die sich wie eine glühend heiße Schlange in Richtung der Phiole zu Füßen des Troggs schlängelte. Alles geschah so schnell, dass die Kreatur kaum Zeit hatte, sich abzuwenden, als der Feuerball unter ihr Form annahm. Das struppige Haar ihres Bartes fing Feuer und der Trogg begann hektisch mit seinen knorrigen Fingerknöcheln nach sich selbst zu schlagen, womit er den Flammen nur noch mehr Luft zufächelte.
Zufrieden drehte sich Gelbin zurück zu Draht, zerbrochener Fliese und herausgerissenem Auslösergehäuse zu seinen Füßen. Der andere Trogg befand sich noch immer auf der anderen Seite des Raums und bewegte sich nun sehr viel vorsichtiger, nachdem er gesehen hatte, wie sein Kumpan von einem unbewaffneten Gnom in Brand gesteckt worden war.
„Dreißig Sekunden“, murmelte der Hochtüftler. „Vielleicht vierzig.“
Er nutzte den Schraubenschlüssel, um das Auslösergehäuse zu öffnen, und identifizierte dann den Auslösemechanismus am Boden der Echtsilberspule. Wie erwartet hatte Sicco schlampig gearbeitet. Ein guter Saboteur hätte sichergestellt, dass der Auslöser nur einmal funktionierte, entweder durch Einwegmaterialien oder Federn mit geringer Spannkraft. Die Feder bei dieser Spule war noch immer aufgerollt genug, um sie ein paar weitere Male einzusetzen, und Gelbin fügte den Auslöser schnell dem Gegengewichtsschalter hinzu. Dabei handelte es sich um eine rechteckige Kombination aus Zahnrädern, die es möglich machte, die Trickwand auf und ab zu bewegen, indem sie die Kabel lenkte, die mit einer separaten, gewaltigen und über eine Achse direkt unter seinen Füßen gespannten Triebfeder verbunden waren. Nachdem der Auslösemechanismus angebracht war, legte er den Schalter zur Seite und griff nach unten in den Zwischenraum, wo sich das Auslösergehäuse befunden hatte. Der Schraubenschlüssel leuchtete auf, als Gelbin flink die Rückhaltebolzen entfernte, die die Achse sicher in Position gehalten hatten.
Insgesamt fand er vier rostige Bolzen vor und es kostete Gelbin die restliche Zeit, um drei von ihnen zu lösen. Metall ächzte, als sich das gewaltige Gewicht, das bisher von der gesamten Vorrichtung getragen worden war, nun auf einen einzelnen, zerfressenen Bolzen verlagerte.
Gelbin war gerade dabei, sich von seiner Arbeit aufzurichten, als der Trogg ihn ergriff und in die Luft riss. Er zog Mekkadrill zu sich heran und zeigte ein zerklüftetes Grinsen: seine Geduld war belohnt worden. Der Hochtüftler befand sich nur Zentimeter entfernt von gesprungenen Felszähnen, Zähnen, die noch immer bedeckt waren mit den Überresten von welcher armen Kreatur auch immer, die ihm zuletzt so nah gewesen war. Gelbin wich angewidert zurück, das Gesicht verzogen.
„Winkelfeder hatte Recht – ich kann diesen Gestank schmecken.“
Der Trogg brüllte und der Hochtüftler wurde mit Spucke überzogen.
Gelbin schlug mit der Faust in den Mund des Troggs, wobei er ihm die Frontzähne zertrümmerte und ihm Knochenstücke in die Kehle trieb. Der Trogg ließ ihn fallen und wankte mit einem glucksenden Schrei rückwärts. Gelbin schüttelte das Blut von seiner Hand und öffnete sie dann, um den Eisenhammer darin zu offenbaren.
„Ein kleiner Tipp, mein Freund: Lass niemals einen Gnom in die Nähe deiner Zähne.“
Der Trogg wischte sich das Blut vom Mund und drehte sich um, als der andere Trogg, dessen versengte Haut mit Brandblasen überzogen war, hinzukam. Die beiden Wesen waren aufgebracht und Gelbin wusste, dass er nur wenige Sekunden davon entfernt war, in Stücke gerissen zu werden. Er machte einen Schritt zurück und drückte auf den hastig konstruierten Auslöser.
Im Untergrund wurden Gewichte verschoben, Kabel spannten sich und ein einzelner, rostiger Bolzen gab unter dem Druck nach. Die Fliesen zu Füßen der Troggs zersprangen, als ein Kabel nach oben durch den Boden gerissen wurde und dabei die Achse hinter sich herzog, in einer Eruption aus Gestein und Metall. Die Bestien wurden nach hinten geschleudert und krachten in den geschundenen Tisch, während sich gleichzeitig hinter dem Hochtüftler die Trickwand hob.
Seine Gegner waren ausgeschaltet und der Ausgang frei. Es war Zeit, diesen Ort zu verlassen. Gelbin wandte sich zum Gehen, während er seine Werkzeuge in seinen Gürtel schob. Eine Sekunde lang hielt er inne und rang tatsächlich mit sich, ob er zurückgehen sollte, um seine alte Brille zu holen. Er konnte sie auf der anderen Seite des Raums sehen, durch ein Stück Draht noch immer verbunden mit den grotesken Überresten eines Troggfußes. Noch immer intakt. Noch immer funktionsfähig. Seine Hand ging automatisch zu seiner Nase und rieb sich die empfindliche Stelle, wo die neue Brille die Haut wundscheuerte.
„Nein, nein“, sagte Gelbin zu sich selbst, den Kopf schüttelnd. „Sie hat ihren Zweck erfüllt. Und ich muss hier raus.“
Allerdings hatte er zu lange gewartet. Mehr Troggs kamen jetzt durch den Ausgang. Dutzende von ihnen. Sie drängten sich durch die Öffnung und umkreisten Gelbin, knurrend und fauchend und ihre felsigen Zähne bleckend. Er war mit seiner Weisheit am Ende und zweifelte daran, dass diese Troggs so freundlich sein würden, ihn und seinen blutigen Hammer in der Faust in die Nähe ihrer Gesichter zu heben.
Aber die Troggs näherten sich nicht. Sie warteten ab.
„Ich schätze, ich schulde Euch eine Entschuldigung, Gelbin. Ich habe Eure Unerschrockenheit unterschätzt – ich hätte Euch vier Troggs schicken sollen.“
Das nachfolgende schrille Lachen war nervenaufreibend. Es klang, als hätte sich Sicco Thermadraht hier unten in Gesellschaft dieser Monster nur noch weiter dem Wahnsinn ergeben. Ein klirrendes Geräusch erklang, das Zischen einer Dampfmaschine, und Sicco erschien.
Der Robogenieur hatte einen neuen Kampfanzug für sich selbst erschaffen. Gelbin hatte Berichte gehört, die davon sprachen, dass Sicco in den vergangenen Jahren mit einem gewaltigen, kesselförmigen Etwas in den Eingeweiden Gnomeregans unterwegs gewesen sei, aber das hier war etwas komplett anderes. Eine wendige Vorrichtung in Menschengröße schritt an den wartenden Troggs vorbei, begleitet von dem Zischen heißen Dampfes. Zusammengeschweißt aus formbaren, dekorativen Metallen, ähnelte es einem dieser raffinierten Rüstanzüge der Menschen, die für Paraden oder die Zurschaustellung vor dem gewöhnlichen Volk gedacht waren – nur dass in diesem Falle Siccos runzliger kleiner Kopf aus dem Kragen ragte. Dem wahnsinnigen Gnom hatten die letzten Jahre nicht gut mitgespielt und Gelbin erkannte seinen alten Freund kaum wieder. Er sah eingefallene Wangen, dünne Strähnen weißen, spinnennetzartigen Haars und eine ungesunde grünliche Hautfarbe, die von Verstrahlung und Irrsinn zeugten.
Sicco bemerkte Gelbins mitleiderfüllten Blick und missverstand ihn als Anerkennung. Grinsend wirbelte er in einem engen Kreis herum und verbeugte sich dann mit einer schwungvollen Geste.
„Beeindruckendes Stück Ingenieurskunst, was? Wisst Ihr, ich habe diverse Testläufe mit einem eher praktisch ausgerichteten Schlachtfeldprototypen durchgeführt, aber er hat sich als viel zu sperrig erwiesen ... und als zu anfällig für Explosionen. Dieser Anzug hier ist in der Hinsicht um einiges stabiler und viel angemessener für meinen gesellschaftlichen Rang.“
„Euren gesellschaftlichen Rang?“
„Natürlich. Es ist nur angemessen, dass der König der Gnome sich auf Augenhöhe mit den anderen Herrschern der Welt befindet. Ein Konzept, das für einen kümmerlichen Versager wie Ihr es seid schwer zu begreifen ist, ich weiß.“
Gelbin runzelte die Stirn. „Der König der Gnome, hm? Ihr habt also aufgegeben, darauf zu hoffen, eine Wahl zu gewinnen, nehme ich an. Das ist wahrscheinlich am Besten so, immerhin würde es den Wahlberechtigten wohl schwer fallen, für einen Kandidaten zu stimmen, der kein Gnom ist.“ Für eine Sekunde sah Sicco überrascht aus und ein Zischen war zu hören. Der Hochtüftler war nicht sicher, ob das Geräusch der kochenden Dampfmaschine im Bauch von Siccos Anzug entstammte oder ob es nicht viel mehr eine reptilische Antwort des Möchtegernthronräubers war. Ungeachtet dessen passte das Geräusch zu Thermadrahts finsterem Gesichtsausdruck.
„Mir scheint, dass das Betteln um Abfälle an den zwergischen Tafeln Euch ein wenig durcheinander gebracht hat, Gelbin. Kein Gnom? Ich bin zehnmal der Gnom, der Ihr jemals sein werdet! Während Ihr Euch zurückgelehnt und auf Eurem erfundenen, unberechenbaren ‚Genie‘ ausgeruht habt, war ich derjenige, der tatsächlich arbeiten musste für die Anerkennung. Wer hat denn Wochen damit verbracht, ballistische Mechanismen für Eure Belagerungsmaschinen zu entwickeln? Ich war derjenige, der Euren schwerfälligen Metallrübenwagen in eine mobile Kanone verwandelt hat! Diese Arbeit hat unsere Allianz mit den Zwergen gefestigt. Und habe ich dafür auch nur den Hauch eines Dankes bekommen?“
Gelbin seufzte. „Sicco, Ihr wart einer der intelligentesten Gnome in Dun Morogh und Ihr scheint vergessen zu haben, dass ich meine Dankbarkeit für Eure Arbeit immer sehr lautstark zum Ausdruck gebracht habe. Ihr hattet kreative, sogar brillante Ideen. Aber Ihr habt nachlässig gearbeitet. Zu ungenau in Euren Schätzungen und zu vorschnell in Euren Verfeinerungen. Ich habe Euch die Entwicklung von Geschützen zugewiesen, in der Hoffnung, dass Ihr daran wachsen würdet. Aber Eure ballistischen Berechnungen hätten meine Belagerungsmaschinen beim Nachladen explodieren lassen. Ich habe lange Stunden damit zugebracht, Eure Zahlen zu überarbeiten, bevor ich sie nach Eisenschmiede schickte.“
„Was? Lügen! Wenn meine Arbeit so lausig war, warum habt Ihr dann zugelassen, dass ich die Lorbeeren für die Waffen ernte?“
„Weil“, sagte Gelbin, „Ihr mein Freund wart.“
Sicco Thermadraht trat einen Schritt zurück, die Augen geweitet. Für einen Augenblick wurde sein Gesicht weicher und ähnelte dem gewitzten jungen Gnom, mit dem sich Gelbin vor vielen Jahren angefreundet hatte. Dem Gnom, dem er dabei geholfen hatte, seinen Schulabschluss zu machen, den er in seiner Gießerei beschäftigt und dem er zu einer prominenten Rolle im Tüftlerhof verholfen hatte, trotz seiner besorgniserregenden und zunehmend fehlerhaften Leistungen. Sicco blinzelte mehrmals und hob eine metallene Hand, um sich die Stirn zu reiben.
„Gelbin, ich ... ich ...“
Und dann bemerkte er die Hand, die mächtigen vergoldeten Finger, die er allein erschaffen hatte. Er ballte die Hand zu einer Faust und Siccos Gesicht verzog sich zu einem irren Grinsen. Gelbins Freund war verschwunden.
„Nun, diese durchweichte Schwäche ist genau der Grund, warum ich beschloss, Euch die Zügel aus der Hand zu nehmen. Wir Gnome sollten dieses Land dominieren, mit unseren unaufhaltsamen Waffen, und sie nicht an unsere idiotischen Verbündeten verkaufen. Dafür gibt es die Goblins!“ Der Hochtüftler schüttelte den Kopf.
„Ihr habt es niemals wirklich verstanden, oder? Es ist unsere Loyalität gegenüber unseren Freunden, die uns unsere wahrhaftigste, größte Stärke gewährt. Das ist es, was uns von den Ogern und Troggs unterscheidet – und sogar von den Goblins. Darum haben uns die Zwerge geholfen, als wir am Rande der Auslöschung standen, und darum haben sie uns sogar einen Teil ihrer geheiligten Hallen überlassen, damit wir ihn eine Heimat nennen können. Und darum sterben Zwerge, Menschen, Draenei und Nachtelfen an unserer Seite in den uns umgebenden Tunneln, um eine Stadt zurückzuerobern, die niemals die ihre war. Sie sind hier, weil sie unsere Freunde sind, Sicco. Meine Freunde. Das ist eine Macht, der Zahlen niemals ebenbürtig sein können.“
Der Robogenieur zischte – diesmal war sich Gelbin sicher, dass das Geräusch von den geschürzten Lippen des Gnoms gekommen war – und marschierte vorwärts. „Warum schließt Ihr nicht einfach die Augen und lasst mich diesem Trauerspiel ein Ende machen?
Er hielt direkt vor dem Hochtüftler. Sicco schüttelte den Kopf und hob seine Hand zum Abschiedsgruß. Die Hand machte ein knarrendes Geräusch, vollführte einen geschlossenen Kreis und verschwand dann im Stahlhandgelenk der Rüstung des Kampfanzugs. Thermadraht kicherte und bewegte den Arm nach vorne. Mit einem weiteren Dampfstoß wurde eine bösartige Klinge aus dem Ärmel ausgefahren – eine Klinge, die rot zu gleißen begann vor mechanischer Hitze. Gelbin stolperte rückwärts in die Achse und fühlte die gespannte Feder in seinem Rücken. Er hatte noch immer seinen Schraubenschlüssel in seinem Gürtel und er hob ihn, um damit Siccos Klinge zu parieren. Dies rief ein weiteres Kichern hervor.
„Ach herrje. Ihr seht da unten so zerbrechlich aus. Haben die Zwerge Euch beigebracht, so zu kämpfen?“
„Nein“, erwiderte Gelbin, während er den Schraubenschlüssel in seinen Fingern drehte. „So kämpft ein Gnom. Passt auf Euren Kopf auf.“
Er drehte sich um und tippte mit dem Schraubenschlüssel gegen den Haken, der die Feder in Position hielt – ein Haken, der von der darunterliegenden Vorrichtung gestützt worden war. Nun schwang er mit einem klickenden Geräusch zurück, wobei er der Feder die Möglichkeit gab, von der Achse fortgeschleudert zu werden. Ein scharfer Stahlwirbel pfiff durch den Raum, als sich ein gewaltiger Speicher von aufgestauter Energie innerhalb weniger Sekunden entlud. Gelbin fühlte ein ungeheures Rauschen, hervorgerufen von einer peitschenden Bewegung über seinem Kopf, und dann ... Stille.
Er drehte sich und sah zurück. Die Troggs standen noch immer dort und geiferten. Sicco kicherte erneut.
Drei einsame Haare, die zuvor auf Gelbins Kopf gewachsen waren, fielen langsam vor seinen Augen zu Boden.
Gefolgt von den Köpfen jedes einzelnen Troggs im Raum.
Und letztendlich vom halbierten Rumpf von Sicco Thermadrahts Kampfanzug. Begleitet von einem heißen Dampfstrahl glitt die obere Hälfte ohne Widerstand zur Seite und knallte auf den Boden vor Gelbin, wo sie mit dem Gesicht nach oben an seinem Bein zum Halt kam. Der Träger des Kampfanzugs schluckte einmal und blinzelte mehrmals.
Sicco war überrascht.
Sicco war ... verwirrt.
„M-meine Beine sind in der Hälfte“, sagte Sicco und zeigte auf den noch immer stehenden Teil des Anzugs.
Hochtüftler Gelbin Mekkadrill nickte und beugte sich vor, um ihm auf die mechanisierte Schulter zu klopfen.
„Da habt Ihr vollkommen Recht, mein Freund. Und dank des rasierklingenschnellen Federschnitts und der Kauterisation durch den Dampf aus Eurer zerborstenen Maschine ist die Blutung vermutlich minimal. Ich würde ja bleiben, um zu sehen, ob die Ratten Euch vor Euren Troggdienern finden, aber von Letzteren habe ich genug gehabt für einen Tag.“
„Ihr wollt mich hier einfach ... einfach zurücklassen?“
„Ihr verdient keinen schnellen Tod, Sicco. Ihr verdient eine lange, elende Existenz in einem dunklen Loch, umgeben von dreckigen Monstern.“
Gelbin trat mit einem traurigen Lächeln einen Schritt zurück. Er hob die Arme, um mit dieser Geste ganz Gnomeregan einzuschließen. „Eigentlich habt Ihr Euer ganz privates Gefängnis schon hier errichtet. Besser als alles, was ich für Euch hätte bauen können. Hier habt Ihr mich definitiv ausgestochen. Glückwunsch.“
Sicco Thermadraht blinzelte. Er stammelte. Gelbin genoss die seltene Gelegenheit, auf seinen Feind herabschauen zu können. Er konnte hören, dass sich weitere Troggs durch die Öffnung näherten und wusste, dass es Zeit war, zu gehen.
„Überdies, wenn Ihr doch überleben solltet, so fällt mir niemand ein, den ich lieber als Anführer dieser Bestien sehen würde als einen der Ihren.“ Er beugte sich vor und roch an Siccos Kopf. Angewidert rümpfte er die Nase.
„Genießt Eure weitere Zeit im Kerker, mein Freund. Ihr habt Eure Zeit fast schon abgesessen.“
Und damit verließ Gelbin sein Arbeitszimmer, um nach Neu-Tüftlerstadt zurückzukehren. Sicco blieb allein in der Dunkelheit zurück, hilflos und sorgfältig in zwei Hälften geteilt.
Die Verseuchung durch die Troggs würde noch immer Zeit und Anstrengung in Anspruch nehmen, um ihrer Herr zu werden. Ein umfassender Wischauftrag für diese stinkenden Gänge war gerade auf seiner Prioritätenliste aufgestiegen und der Hochtüftler malte sich bereits Pläne aus für eine offenere und luftigere Anordnung. Diesem „dunklen Loch“ standen Umbauarbeiten bevor, die sich selbst die Titanen nicht hätten vorstellen können, nicht nur, um seine frühere Pracht wiederherzustellen, sondern um etwas weit besseres zu erschaffen. Weit heller. Weit passender für die Gnome von Azeroth. Gelbin nahm seine neue Brille ab und seufzte, während er sich über den Nasenrücken rieb. Ein paar Nachrüstungen hier, ein paar Verbesserungen da – vielleicht würde er sich ja doch noch an diese Brille gewöhnen.
Genn Graumähne: Der Herr des Rudels von James Waugh
„Akzeptiere niemals, dass dir ein anderer aufhilft“, sagte König Archibald Graumähne, seine kräftige Gestalt nur noch eine verschwommene Silhouette im verblassenden Glanz des Zwielichts. „Es ist immer besser, selbst Rückgrat zu beweisen. Das unterscheidet die Bedeutenden von den Sanftmütigen.“
Sein Sohn Genn, stolze sieben Jahre alt, zog seine ausgestreckte Hand zurück. Er saß mit überkreuzten Beinen auf den kühlen Steinen der vor Kurzem errichteten Befestigungsanlagen. Die Mauern und Wälle waren das beeindruckende Zeugnis für die Macht der Nation, doch auf Genn wirkten sie nicht annährend so beeindruckend wie der Mann, der vor ihm stand.
Archibald verfolgte das Thema weiter, so wie er es immer tat, wenn er einen seiner berühmten Exkurse zum Besten gab. „Glaubst du, all das hier wäre dadurch gebaut worden, dass wir die anderen Königreiche gebeten hätten, uns unter die Arme zu greifen?“
Die industriellen Türme von Gilneas ragten unter ihnen auf. Es war in der Tat ein herrlicher Anblick: riesige Ziegeldächer schwebten über gepflasterten Straßen; Geschäfte, Fabriken und wogender Rauch aus den Türmen; es war wahrlich eine der Zukunft zugewandte Stadt, der Zukunft und der Stärke seines Volkes.
„Als ich ein junger Prinz war, so wie du heute, hätte mein Vater sich so etwas nicht erträumen können! Aber ich hatte diesen Traum und ich habe mich alleine durchgeschlagen. Und sieh uns heute an ... Wir haben es geschafft – ohne die Hilfe von denen in Sturmwind und ohne die in Lordaeron um Unterstützung anbetteln zu müssen. Und ganz sicher hatten wir es nicht nötig, vor der langohrigen Arroganz dieser Halbmenschen in Quel’Thalas zu Kreuze zu kriechen.“
Genn hatte die Geschichten von Gilneas aus der Zeit vor der Thronbesteigung Archibalds gehört. Es waren Geschichten einer Nation, die über einen Bruchteil der Macht verfügte, zu der sie aufsteigen würde.
„Und nun steh auf, Junge. Steh auf und bitte mich nie wieder, dir zu helfen. Denn alles dies hier wird eines Tages dir gehören und wenn es so weit ist, musst du bereit sein.“
„Es gehört Euch, Vater. Gilneas wird immer Euch gehören.“
Archibald lächelte und sein Ton wurde milder: „Nein, zukünftiger König. Prinzen werden zu Königen und Tage werden zu Nächten. Das ist der Lauf der Dinge ... Nun komm, ich verspüre einen kühlen Luftzug. Wir wollen fürstlich speisen. Ich glaube, heute Abend steht gerösteter Eber auf der Karte.“
Genn stand schnell auf. Saftiger Eber in Flitzdistelsauce, zubereitet von, so befand Genn, dem besten Koch in ganz Azeroth – das war ihm das Liebste unter den zwei Monden.
„Glaubt Ihr, dass es Bratäpfel zum Abendessen geben wird, Vater?“
„Wenn du Bratäpfel möchtest, Sohn, dann wirst du sie bekommen. So gehört sich das für Prinzen und Könige.“
Mit diesen Worten machten sich die beiden auf den Weg die Wälle hinunter, während die letzten Sonnenstrahlen über den blutroten Himmel fielen.
***
Das Transportschiff der Nachtelfen wurde in der zunehmend rauen See hin- und hergeworfen. Mit jedem schwindelerregenden Schaukeln kreischten die uralten hölzernen Planken, welche vor Tausenden von Jahren zum imposanten Rumpf des Schiffs geformt worden waren, schrill auf.
In einer muffigen Kajüte im Bauch des Schiffes schlug Genn Graumähne die Augen auf. Die Kindheitserinnerung wirkte noch immer nach und verfolgte ihn aus Gründen, die er nicht ganz verstand. Und es war noch nicht einmal die Einzige: Eine ganze Flut an Erinnerungen an die Vergangenheit suchte ihn dieser Tage heim und schien seine Gedanken ertränken zu wollen, ganz so, als ob ihm eine Nachricht übermittelt werden sollte, die er nicht verstehen konnte. Erinnerungen waren eine rätselhafte Sache: es war, als besäßen sie ihre eigene Art von Magie, vielleicht noch seltsamer und machtvoller als die mächtigen arkanen Kräfte, in denen die maskierten Magier von Dalaran so bewandert waren.
Er begann, sich aufzusetzen, musste sich dann jedoch wieder auf die Bettstelle zurücksinken lassen. Sein Körper schmerzte von der letzten Schlacht. Die Schlacht um sein Königreich. Die Schlacht, die er verloren hatte.
Er atmete in den Schmerz hinein und schloss die Augen. Bilder, die er zu vergessen wünschte, stürmten auf ihn ein: ein Kelch, der mit einem scheppernden Geräusch über einen Steinboden rollte; die Banner von Gilneas, die stolz von den Mauern hingen; sein verstorbener Sohn Liam, in Genns Armen liegend und aus dem Mund blutend.
Um eine Ruhepause betend öffnete er die Augen. Direkt vor ihm befand sich die nach ihm ausgestreckte violette Hand eines Nachtelfen. Talar Eichenklaues Worte waren sanft, doch Genn wusste es besser, als die Eleganz des Nachtelfen mit Schwäche zu verwechseln.
Talar war hochgewachsen und angetan mit einer kunstvollen Lederrüstung und Roben aus einem seidenen Stoff, dessen Farbe Genn niemals zuvor gesehen hatte. Blau oder vielleicht grün, er konnte nicht recht sagen, was es war. Wunderschöne Federn hingen in Quasten von dem langen Stab in Talars anderer Hand.
Genn starrte die ihm angebotene Hand den Bruchteil einer Sekunde lang an.
„Dieser alte König hier braucht weder Eure Hilfe noch die eines anderen, um sein Bett zu verlassen, Talar Eichenklaue. Dazu bin ich noch immer selbst in der Lage.“ Er zog sich hoch auf die Beine, wobei er den in seinem Rücken aufwallenden Schmerz bereitwillig ertrug.
Talar bemerkte, wie Genn zusammenzuckte und bemühte sich, sich seine Frustration nicht anmerken zu lassen, bevor er erneut sprach: „Ich komme mit schlechten Neuigkeiten, ehrenwerter König. Ihr werdet an Deck gebraucht ... Die Gefahr besteht weiter!“
Das Licht der Fackeln flackerte und warf Schatten auf die Granitmauern der fürstlichen Gästeunterkünfte Lordaerons. Genn und einige der einflussreichsten gilnearischen Adligen waren angereist, um auf den Notruf von König Terenas zu antworten, mit dem er die Fürsten Azeroths zusammengerufen hatte. Es waren gerade einmal wenige Stunden vergangen, seit sie von der Eroberung Sturmwinds durch die orcische Horde erfahren hatten und von den düsteren Zeiten, die möglicherweise vor ihnen lagen. Nach einem formellen Abendessen mit den verschiedenen Königen hatte sich Genn in seine Gemächer zurückgezogen, um sich mit seinen Landsleuten zu beraten. Es hatte nicht lange gedauert, bis es zum ersten Streit gekommen war.
„Diese verfluchten grünen Bastarde könnten sehr bald schon an unserer Türschwelle stehen, wenn wir nicht handeln, Lord Graumähne. Wir sollten unser dieser Allianz anschließen. Wir müssen tun, was wir können, bevor diese Monster durch die anderen Königreiche preschen und in unseres einfallen.“ Lord Crowley war ein intelligenter Mann, jünger als Genn und etwas weniger versiert, was die Feinheiten der Politik betraf, aber viele glaubten, dass vor dem Adligen eine strahlende Zukunft lag. Er hatte seinen Appell an die Fürsten mit einer Inbrunst hervorgebracht, die nicht oft zu beobachten war.
„In der Tat, Crowley. Ich kann Eure Befürchtungen nachvollziehen, glaubt mir. Doch diese ... Orcs, wie sie sich nennen, befinden sich noch nicht einmal in der Nähe unseres Landes. Nicht ein Tropfen gilnearisches Blut wurde vergossen. Mein Herz blutet für Sturmwind, für den jungen Prinzen Varian und seinen Helden Lothar, glaubt mir. Aber sollte ich mein Volk zu dem gleichen Schicksal verdammen? Ist es wert, auch nur ein gilnearisches Leben für einen Zweck zu opfern, der mit ihm nicht das Geringste zu tun hat?“ Genn war leidenschaftlich. Diese drohende Gefahr durch die Orcs war neu und eigentümlich, doch es war keineswegs klar, dass dies eine Bedrohung sein würde, die sein fleißiges Volk nicht allein bewältigen konnte. Diese Orcs waren schließlich nur Grobiane. Halbwesen. Monster.
„Lord, wie Ihr beschrieben habt, scheinen die anderen Nationen nur zu bereit, uns zu unterstützen. Wenn Trollbann, Perenolde und die Übrigen sich beteiligen, ist mir nicht klar, wie wir uns länger Nachbarn und Freunde nennen können, ohne uns ihnen anzuschließen“, fuhr Crowley fort. Genn verstand gut, warum er so beliebt war. Seine Worte waren von eindringlicher Kraft. Hier ging es nicht um politische Winkelzüge — dies war ein Mann, der sich um seine Mitmenschen sorgte. Genn zollte ihm Respekt, so fehlgeleitet er auch sein mochte. Crowley konnte einfach nicht die Torheit seiner Sympathien erkennen und wozu dies letztendlich führen könnte. Er konnte nicht sehen, dass er vor allem anderen zuerst an sein eigenes Volk denken musste. Er war jung und noch neu unter den Adligen.
„Mein Vater hat niemals geglaubt, dass die Zukunft unseres Volkes an die Ausrichtung von Lordaeron, Stromgarde und Alterac gebunden ist. Manche sind stark, Lord Crowley, und andere schwach. So ist es nun einmal. Wir Gilneer sind stark, und Gilneas muss sich zuerst und vor allem anderen um sich selbst kümmern.“ Genn hatte sie nun in der Hand. Er konnte das zustimmende Nicken sehen. Er konnte sehen, wie die Adligen sich die ersten Kampfberichte von der Front ausmalten, die Klagerufe der Mütter, die ihre Söhne verloren hatten. Und er konnte sehen, wie sie tatsächlich die Kosten an Menschenleben erwogen, die die Bitte von Terenas und Lothar kosten würde.
Doch dann erklang eine gemessene Stimme aus dem Hintergrund.
„Doch andererseits, mein Lord ... um uns die Gunst unserer benachbarten Königreiche zu bewahren und damit den zukünftigen Handel und die Zolltarife zu sichern, sollten wir womöglich zumindest eine kleine Streitmacht senden. Um ihnen zu zeigen, was selbst die Unterstützung einer kleinen Militärmacht aus Gilneas auszurichten vermag. Unser stehendes Heer ist einsatzbereit, um angreifende Mächte abzuwehren. Dies sollten wir nutzen.“
Sein Name war Godfrey. Genn vertraute auf seinen Rat, war jedoch immer etwas im Zweifel, was seine Motive betraf. Godfreys Äußerung entsprang nicht der Empathie, wie dies bei Crowley der Fall war. Es war ein geschickter politischer Schachzug, der Godfrey als Anführer des stehenden Heeres sicheren Ruhm versprach. Doch sein Argument war stichhaltig: Handel und Zölle bescherten dem Königreich reiche Einnahmen, und diese zu gefährden, wäre kaum weise.
„Diese Vorgehensweise hat ihre Vorzüge, mein Lord.“, fügte Lord Ashbury hinzu. Ashbury war einer von Genns engsten Vertrauten. Genn war mit ihm gemeinsam aufgewachsen, sein Vater, Lord Ashbury I, hatte Archibald darin unterstützt, die Nation aufzubauen, und er hatte Genn immer der Königstreue der Ashburys versichert.
„Ich werde es in Erwägung ziehen, Godfrey.“
***
Genn und Talar eilten über die gewundene Treppe an Deck. In der Luft lag ein Hauch von Dringlichkeit. Dessen ungeachtet war Genn fasziniert von den reichen Verzierungen des Elfenschiffes. Eine solche Kunstfertigkeit, die in jedes nützliche Element einfloss. Die schiere Größe des Schiffes und seine vielen Etagen übertrafen selbst den Einfallsreichtum seines eigenen Volkes.
„Es scheint, die Gilneer sind recht eigensinnig, Lord Graumähne.“ Talars Frustration hatte sich im Verlauf des vergangenen Tages vertieft.
„Dies ist ein Wesenszug, den wir an uns selbst immer zu schätzen wussten, guter Druide.“
„Ja. Das ist offensichtlich.“
„Ihr wart mehr als höflich, Talar, doch ich sähe es lieber, wenn Ihr offen sprächet. Seit wir uns zum ersten Mal begegneten, spüre ich in Euch tiefen Argwohn. Erweist mir die Ehre, Euch offen zu äußern.“
„Ich bitte um Verzeihung, wenn es so erscheint. Ich ... Azeroth ist in ernster Gefahr, Eure Majestät. Ich fürchte, wir werden diese Zeiten möglicherweise nicht überstehen, wenn wir nicht fest verbündet bleiben ... Ihr seid ein Herrscher, der sich dazu entschlossen hat, sein gesamtes Königreich vom Rest Eures Kontinents abzuschotten. Ihr seid ein König, der sich jahrelang weigerte, Hilfegesuchen nachzukommen. Wie Ihr wisst, bin ich Druide. Ich glaube an die Verbundenheit aller Dinge. Dies ist die Struktur der Natur. Ein Ökosystem. Eure Entscheidungen sind für mich ... fremdartig.“
„Ich verdanke Euch und Eurem Volk viel, Talar. Zwischen uns mögen große Unterschiede bestehen. Doch ich hoffe, ihr werdet diese uns nicht entzweien lassen.“
Talar neigte seinen Kopf sacht. „Das werde ich sicherlich nicht. Erzdruide Sturmgrimm glaubt, dass Ihr und Euer Volk für die Allianz einen wertvollen Gewinn bedeuten. Ich werde seine Weisheit nicht in Frage stellen.“
„Ein Gewinn für die Allianz?“ Glenn war bestürzt. „Wir schulden Euch viel, das ist wahr ... doch ich kann Euren Anführern nicht garantieren, dass wir für die Unternehmungen der noblen Allianz tatsächlich einen Gewinn von auch nur geringer Bedeutung darstellen werden.“
„Das sind keine guten Nachrichten ... Doch dies sind politische Angelegenheiten. Unsere Aufgabe ist es, den heutigen Tag zu überleben.“
Das Tageslicht draußen war spärlich. Schwache Lichtstrahlen drangen durch die Wolkendecke, nur um vom dunklen Horizont verschluckt zu werden. Die frische salzige Luft drang in Genns Nase, und in der Ferne war das schauderhafte Krächzen von Möwen zu hören.
Dutzende violetter menschenartiger Gestalten gingen an Deck ihren Aufgaben nach, wie es schien, bereiteten sie das Schiff auf das vor, was ein gewaltiger Sturm zu werden versprach. Doch zwischen den Gefärbten konnte er seine eigenen Leute ausmachen. Menschen rosiger Hautfarbe und natürlich die Worgen: wolfsartige Tiermenschen, unwillig, sich den Ansprüchen ihrer Retter zu beugen.
„Wie Ihr sehen könnt, König, haben sie vor, an den Vorbereitungen teilzunehmen und die Anweisungen zu missachten, die ihnen erteilt wurden. Sie weigern sich, meine Anordnung zu befolgen, dass alle Personen außer der Besatzung sich unter Deck begeben sollen.“
Im Vorschiff konnte Genn zwei Schildwachen sehen, wunderschöne Kämpferinnen, die sich bemühten, einen Worgen davon abzuhalten, an der Takelage Hand anzulegen. Es lief nicht gut. Der Wolfmann drängte die Nachtelfenseglerin zurück, erbost darüber, weggezerrt worden zu sein.
„Ihr müsst verstehen, dass die Mission, für die wir ausgesendet wurden, nicht vorsah, die Überlebenden einer gesamten Nation nach Darnassus zu transportieren. Es war vorgesehen, dass wir den Worgen helfen sollten. Wir sind bereits unterbesetzt. Seht Euch das an. Das ist keine einfache Windböe. Uns steht womöglich das größte Hindernis bislang bevor“, fuhr Talar fort.
„Ihr habt recht, Talar.“
Mehrere andere Nachtelfenschiffe umringten das Gefährt im Ozean. Genn wusste, dass sich auf einem von ihnen, auf der Glanz der Elune, seine Frau Mia und seine Tochter Tess befanden, seine gesamte Familie. Es war eigenartig für ihn, nun an seine Familie zu denken, ohne seinen Sohn einschließen zu können. Es schmerzte ihn mehr als jeder physische Schmerz, den er in seinem Leben hatte erdulden müssen. Es schmerzte ihn mehr als der Verlust seines Königreichs.
„Die Späher sind zurück!“ schrie ein Beobachtungsposten aus dem Ausguck herab, und deutete in den bleichen Himmel.
Drei schwarze Flecken schälten sich aus der sturmdurchtosten Düsternis. Sie wurden langsam deutlicher, nicht länger nur Flecken, sondern riesige Sturmkrähen, die in halsbrecherischem Tempo auf Talar zuflogen. Ihr durchdringendes Gekrächze ein Missklang aus Dringlichkeit und, wie es Genn erschien, Furcht.
Dann wechselten die Riesenkrähen die Gestalt. Genn gewöhnte sich langsam daran, diese Verwandlung zu sehen. Er hatte gehört, dass das Druidentum mitunter in der Landbevölkerung von Gilneas ausgeübt wurde, doch er selbst war bis vor kurzem nie direkt damit konfrontiert worden. Die Vogelgestalten zuckten und verzerrten sich und bildeten dann eine etwas vertrautere Gestalt aus — die von Druiden der Kaldorei, zwei Männer und eine Frau.
Panik stand in ihren Gesichtern geschrieben.
„Wir müssen die Schiffe sofort in Aktionsbereitschaft versetzen!“ sagte die Druidin.
„Dieser Sturm ... Er lässt sich mit nichts vergleichen, was ich je gesehen habe. Riesenwogen, so groß wie drei Riesen aufeinandergetürmt ... die See brodelt, überall die Wracks zerborstener Schiffe“, berichtete einer der Männer. Er verwendete seine gesamte Willenskraft darauf, die Fassung zu wahren, doch das Grauen war ihm anzusehen.
„Es ist, wie ich befürchtet hatte“, sagte Talar. „Geht nun, schnell, warnt alle Kapitäne. Ein vereinzeltes Schiff wird es nicht überstehen. Sagt ihnen, dass wir unverzüglich eine Flottille bilden müssen!“
Ohne Zögern verwandelten sich die Druiden zurück in Krähenform, bevor sie sich auf die anderen Schiffe verteilten. Genn beobachtete den aufgewühlten Ozean, schwarze Regenwolken, die den Himmel nicht weit vor ihnen zu ersticken schienen. Er stammte aus keiner seefahrenden Familie, doch auch für ihn mit seinen begrenzten nautischen Kenntnissen sah die Lage äußerst ernst aus.
„Dieser verfluchte schwarze Drache verfolgt uns noch immer“, sagte Talar. So emotional hatte Genn ihn seit dem Tag, an dem sie Gilneas nur knapp entkommen waren, noch nie gesehen. „Dieser Kataklysmus ... die Welt bebt noch immer, die Stürme haben selbst die See entzweigerissen ...“
„Todesschwinge der Zerstörer ist ein Monster, zweifellos ... doch sich vorzustellen, dass er die große Katastrophe verursacht hat ... dass es durch ihn noch immer Nachbeben gibt ... Ich kann einfach —“
„Glaubt es, Genn Graumähne. Wie ich bereits sagte, wir leben in den düstersten aller Zeiten. Wenn wir dies überleben, ist das für Gilneas erst der Beginn aller Probleme. Nun bringt Eure Leute unter Deck. Meine Besatzung muss sorgfältig und ohne Ablenkung arbeiten können. Sendet den Befehl an alle Schiffe, damit Euer Volk gehorcht.“ Talar hatte bereits begonnen, den Seefahrern auf der Brücke über ihnen zu signalisieren.
„Wir können helfen, Talar. Mein Volk ist fähig ... Sie werden mitarbeiten wollen, um ihre eigenen Häute zu retten.“
„Wir haben keine Zeit für Streitgespräche! Mir wäre es lieber, wenn ihre Häute, wie ihr sie nennt, nicht als Futter für die Naga auf dem Meeresgrund landen! In dieser Angelegenheit, auf unseren Schiffen, muss Gilneas sich fügen.“
Regenwände zogen heran. Flüssigkeit prasselte in Strömen auf die hart arbeitende Besatzung herab. Die See hob sich. Genn sah ein, dass dies nicht der rechte Augenblick für sein Volk war, sich aufzulehnen. Dies war eine Situation, in der sie ihr Schicksal in die Hände der Kaldorei legen mussten.
Der Wind heulte, als wie aus dem Nichts eine gewaltige Woge gegen den Rumpf klatschte und das starke Schiff kippte, so dass Menschen, Nachtelfen und Worgen über das Deck schlitterten. Genn rutschte aus und klammerte sich dann fest an einen der Masten, hielt sich mit aller Kraft auf den Beinen. Dieser Sturm, dieser Tsunami, hatte noch schneller zugeschlagen, als es selbst die Späher hatten vorhersehen können.
Er konnte kaum noch etwas sehen, nur die Regenwand vor ihm. Er konnte die Schreie seines Volkes hören. Er konnte hören, wie sie mit den Nachtelfen stritten.
Genn warf sich vorwärts und begann, seinen Leuten Befehle zuzuschreien.
„Sie kommen noch immer, Herr, Welle über Welle! Sie ... hören einfach nicht auf! Ich ... es gibt kaum etwas, das wir tun könnten.“ Der Hauptmann der Wache konnte sein Entsetzen nicht verbergen, den Mund geöffnet, den Blick nach unten gerichtet. Genn, der junge Liam, der Hauptmann und der berüchtigte königliche Erzmagier, der als Arugal bekannt war, standen auf den Bollwerken hoch über dem Graumähnenwall.
Unter ihnen war ein Meer aus schlurfenden untoten Körpern, zahllosen spinnenhaften Kreaturen und riesigen Monstrositäten, deren Körper anscheinend aus der Haut faulender Leichen zusammengenäht worden waren. Der Ursprung dieser bösen Nekromantie war unklar, doch ihre Herkunft war es nicht – Lordaeron. Lordaeron, das Gilneas einige Wochen zuvor um Hilfe angefleht hatte, die man verwehrt hatte.
„Beim Licht, seht sie nur an. Es sind so ... so viele.“ Genn war von dem, was er sehen konnte, erschüttert. Das Mondlicht schimmerte auf der zerfetzten Rüstung der skeletthaften Gestalten. Ihr Stöhnen hallte nach oben wider, beharrlich und unablässig. Die Untoten bewegten sich wie ein einziges Wesen mit einem klaren Ziel: dem Durchbrechen des Walls.
Gilnearische Soldaten außerhalb des Walls hielten die Stellung und schossen vergeblich flammende Pfeile in das Gedränge. Ihre Flammenschweife zogen sich durch die Dunkelheit, bis sie ihr Ziel erreichten. Doch sobald einer der Untoten in Flammen stand, nahm ein anderer seinen Platz ein.
„Es ist kein Ende in Sicht. Wir machen das jetzt schon seit Tagen. Ich ... ich glaube nicht, dass wir noch viel länger standhalten können. Selbst unser großer Wall wird dieser Unzahl weichen müssen.“ Der Hauptmann war verstört. Er hatte in den letzten paar Tagen viel Schreckliches gesehen, Dinge, die kein Mensch jemals sehen sollte – Dinge, die kein Mensch je vergessen könnte.
„Beruhigt Euch! Ihr seid Gilneer. Wo ist Euer Stolz? Natürlich wird der Wall standhalten, und natürlich werden wir auch dies überstehen.“ Genn war streng. Er musste Führungsqualitäten zeigen, egal was passierte. Er musste der Herr über sein Rudel sein, das schlagende Herz von Gilneas.
Er sah nach draußen, lauschte den Schreien unten, sah, wie seine Männer zurückweichen mussten, wie sie zurück zu seinem Wall drängten. Er fragte sich, was sein Vater in Zeiten wie diesen getan hätte. Es musste eine Lösung geben.
„Vater, Ihr ... Ihr hättet auf mich hören sollen.“
Genn wandte sich der Stimme zu. Er konnte nicht glauben, was er hörte. Sein eigener Sohn, Liam, sein eigener Junge, stellte ihn wieder in Frage, und das hier, vor den Anderen, während Genn tat, was er konnte, um Mut einzuflößen.
„Das ist nicht der geeignete Zeitpunkt, Junge! Nicht jetzt.“ Genns Augen loderten vor Zorn.
Genn blickte zu dem Erzmagier, der still bei ihm stand. Arugal. Immer ein wenig rätselhaft. Selbst hier zeigte er kein erkennbares Gefühl, keine Furcht, nur den ruhigen, kalkulierenden Blick eines Mannes, der die lebenden Leichen dort unten analysierte und von ihnen fasziniert war. Aber so verhielten sich diejenigen, die ihr Leben dem Arkanen widmeten. Genn hatte nie auch nur einen getroffen, den er mitfühlend hätte nennen können.
„Meister Magier ...“
„Ja, mein Fürst?“ Arugals Worte waren kalt und rauchig, während seine Augen den Anblick, der sich unten bot, verschlangen.
„Tut, was wir besprochen haben. Tut es endlich!“
Arugal neigte leicht den Kopf, ein seltsames Lächeln auf den Lippen, als wäre er ein Kind, dem ein neues Spielzeug gegeben wurde. „Es wird geschehen, Herr.“
Er verschwand und überließ Genn, Liam und den Hauptmann den fürchterlichen Geräuschen unten – das Klirren von Stahl auf Rüstung, das anschwellende Stöhnen der Untoten und die Schreie sterbender gilnearischer Soldaten. Einen winzigen Moment lang dachte Genn darüber nach, was er gerade getan hatte. Er hatte die Wolfsmenschen gesehen, die Worgen, die Arugal beschworen hatte. Sie waren gefährliche Bestien und weitere von ihnen könnten ein Risiko darstellen. Aber dies waren verzweifelte Zeiten; vielleicht brauchte man Monster, um Monster zu besiegen.
***
Die Flottille erlitt nun die volle Wucht des Sturms, riesige Wellen hämmerten auf die Schiffe, doch die vereinte Kraft des festen Holzes und der Stahlnieten einer gesamten Flotte hielt stand. Jeder Schaden, den ein einzelnes Schiff erlitt, wurde sofort von der Besatzung eines anderen behandelt.
Die Flottille konnte jedoch der Glanz der Elune nicht helfen. Sie half Mia und Tess nicht. Das Schiff, oder das, was davon übrig war, rutschte weiter unter Wasser.
Vier Rettungsboote platschten in den Ozean, weiß und schäumend von den peitschenden Wellen und dem prasselnden Regen, seine Farbe im starken Kontrast zum tiefschwarz bewölkten Himmel. Mehrere Schildwachen stiegen über Strickleitern in die Barken hinab, die scharfen Gleven der Nachtelfen auf ihre Rücken geschnallt. Genn folgte Talar zur Steuerbordseite des Schiffes.
„Talar ... ich muss einfach mit Euch gehen.“ flehte er.
„König Graumähne, es ist meine Pflicht, Euch und Euer Volk sicher nach Darnassus zu bringen.“ Er schrie über den rollenden Donner und die peitschenden Winde. „Ich kann es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, auch Euer Leben zu riskieren. Dies ist eine gefährliche Aufgabe, weshalb ich als Leiter dieser Expedition derjenige bin, der sie auf sich nehmen muss. Ich weigere mich, mehr als eine Handvoll meiner Leute zu riskieren ... ich verspreche Euch, dass ich alles tun werde, was in meiner Kraft steht, um Eure Frau und Euer Kind zurückzubringen.“
„Sie sind alles, was ich habe, Talar. Ich muss – “
„Ihr müsst bleiben!“ Talar stieg die Strickleiter hinab und ließ sich in das Boot fallen. Die Rettungsboote legten schnell ab und bewegten sich in Richtung der Glanz der Elune und den winzigen violetten und rosa Punkten, die mit den Armen wedelnd im Meer schwammen.
Genn sah zu, wie die Barken in den schweren Wellen auf und ab trieben. Nein. Er konnte nicht bleiben. Er konnte einfach nicht. Dies war seine Familie. Er war ihnen viel schuldig. Selbst jetzt, da ihre Welt in tausend Stücke zersprungen war, selbst nach allen törichten Entscheidungen, die er getroffen hatte, glaubten Mia und Tess noch immer an ihn und unterstützten ihn. Er atmete tief durch, und ihm entfuhr ein Brüllen. Er konnte den Wandel spüren, seinen Körper, der sich ausdehnte, sein blitzschnell wachsendes Haar, sein Gesicht, das sich zu einer ergrauten Schnauze verlängerte.
Mit einem lauten Heulen, mit gebeugtem Rücken und dem Himmel entgegengestreckten Armen, vollendete er seine Transformation. Er war ein Worgen, einer der Wolfsmenschen, um deren Beschwörung er Arugal vor all diesen Jahren gebeten hatte – einer der Wolfsmenschen, die zusammen mit den Verlassenen unaufhaltsam sein Land zerstört hatten. Aber in dieser Form war er schneller und stärker. Der Fluch, mit dem er geschlagen war, hatte seine Vorteile.
Er rannte auf die Steuerbordseite des Schiffes zu, mit voller Geschwindigkeit. Das nasse Deck hatte keinen Einfluss auf seine Balance: er war vollkommen auf sein Ziel fixiert. Der tierische Instinkt, der ihm innewohnte, pulsierte durch seine Adern. Sein Geist war nur auf die Tat versessen, nichts weiter, nur das Handeln. Und dann, als er die Reling erreichte, sprang er!
Talar schnellte herum, als er das Heulen hörte. Über ihm, in sein Rettungsboot springend, ein Koloss vor dem Hintergrund des Regens, war Graumähne.
Graumähne war perfekt auf den Füßen gelandet und stand dem Druiden Auge in Auge gegenüber. Die Schildwachen zu seiner Rechten und Linken zogen instinktiv ihre Gleven, um zuzuschlagen.
„In Dingen, die meine eigene Familie betreffen, muss ich handeln.“ Genns Stimme war jetzt wild, furchteinflößend.
Talar winkte die Schildwachen zurück. „Was für ein störrischer Mensch.“ Doch einen Augenblick später nickte Talar.
Die Rettungsboote näherten sich dem sinkenden Schiff. Die Glanz der Elune stöhnte, ihr Holz splitterte, der Rumpf barst, ihr Bug war gen Himmel gerichtet.
„Ho, ihr da! Hilfe!“
„Beim Licht, bitte, rettet mich!“
„Bruder Druide, Hilfe!“
Die Arme rudernd, die Beine verzweifelt strampelnd, versuchten Gestalten aus Gilneas und der Kaldorei mit aller Macht, ihre Köpfe über dem tosenden Wasser zu behalten.
Die Schildwachen in den Booten griffen nach klammernden Armen und rissen Überlebende aus dem Wasser. Das Rettungsboot von Talar und Genn stürmte auf das zerstörte Transportschiff zu. Hoch über ihnen, auf dem umgedrehten Bug, waren Überlebende. Ihre Schreie verschwanden in den strudelnden Geräuschen, die sie umgaben – Regen, peitschende Winde, das schwankende Schiff. Es waren nicht viele, oder auch nur soviele, wie es hätten sein sollen… und Genn sah es sofort. Die anderen mussten vom Großen Meer oder den Bestien, die in ihrem ewigen Grund lauerten, ergriffen worden sein.
„Mia! Tess!“ rief Genn aus. Seine Sicht war in seiner Worgenform besser, und durch den Regen konnte er seine Familie nicht auf dem Bug sehen. „Sie müssen noch immer dort drin sein! Sie müssen.“
„Rückt auf das Schiff vor. Werft die Seile nach dort oben aus. Jetzt!“
Die Schildwachen auf der Barke warfen ihre Gleven hoch, jetzt mit starken Tauen verbunden. Die uralten Waffen bohrten sich in den Bug, und die Seile entrollten sich, bis sie in die starken Hände der Kriegerinnen fielen.
„Sie sind nicht da oben. Wenn sie am Leben sind, müssen sie innen sein.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, sprang Genn aus dem Rettungsboot und klammerte sich an die Nieten, die aus dem Rumpf des Schiffes hervorragten. Er kletterte zu einem der Bullaugen hinauf, dessen Glas gebrochen war.
„Graumähne! Halt. Überlebende werden immer zu Bug oder Heck geschickt. Wenn sie am Leben sind, sind sie –“ Doch es war zu spät. Genn hatte den hölzernen Rahmen des Bullauges bereits herausgerissen und war in das sinkende Schiff verschwunden.
„Narr ... er wird ertrinken. Wenn er allein sein will, soll es so sein“, flüsterte Talar. Mit diesen Worten verwandelte er sich in eine riesige Sturmkrähe und segelte hoch in den grauen Himmel, auf den Bug und die Überlebenden darauf zu.
Im Schiff wütete ein Feuer. Wolken aus dunkelgrauem Rauch breiteten sich aus. Genn konnte kaum sehen. Die Hitze war erdrückend, und das Atmen fiel schwer. Alles war schräg, auf die Seite gekippt. Die Gänge waren verzogen und voller gebrochener Planken und verkohlter Ausstattung. Über Genn, außerhalb der Kabine, konnte er die verzweifelten Schreie überlebender hören.
„Mia?“
Mit einem beherzten Atemzug ließ er die Rage, die seiner wilden Form innewohnte, übernehmen, und er rannte los, aus der Kabine in den Seitengang, durch die Flammen und das zerfallende Schiffsgerüst.
„Tess?!“
Die Schwerkraft zog ihn hinab, jede Bewegung nach oben war ein Kampf. Die schrägen Gänge waren von Leichen übersät. Viele davon waren eins stolze Schildwachenkriegerinnen der Kaldorei, manche von hölzernen Pflöcken durchbohrt, andere bleich und so aussehend, als wären sie überrascht worden, mit dem Ausdruck würdevollen Entsetzens: so hatten sie nicht erwartet zu sterben. Er lief nun über die über Kopf stehenden Wände. Der Boden befand sich zu seiner linken.
Der Rauch wehte ihm entgegen, der Geruch brennenden Fleisches umschmeichelte seine Nüstern. Es war ein Geruch, der ihm wohlbekannt war.
Gilneas stand in Flammen. Rauch kroch durch die Seitenstraßen und Kanonendonner hallte durch die Luft. Genn stand auf der Befestigungsmauer und schaute nach unten. Auf derselben Mauer hatte er als Junge mit seinem Vater orangefarbene Sonnenuntergänge beobachtet, von dort aus hatte er die großartige Stadt und die Nation, über die einst herrschen würde, bewundert.
Doch jetzt wurde die Stadt bedroht. Crowley war mit seinen Männern, diesen Nordtorrebellen, wie sie genannt wurden, durch die Tore marschiert. Für Genn waren sie Terroristen und mit ihrem Verrat musste entsprechend verfahren werden.
Crowley hatte den Wall nicht billigend hingenommen. Er hatte sich gegen Graumähne aufgelehnt und sogar der Allianz in dem, was jetzt als der Dritte Krieg bekannt war, geholfen, indem er die „Brigarde von Gilneas“ zu Lady Jaina Proudmoore entsandte.
Genn hatte versucht, den stolzen Edelmann zu überzeugen. Er hatte versucht, ihm klar zu machen, dass der Wall den Weg in die Zukunft bereiten würde. Er hatte versucht, zu erklären, warum es falsch war, der Allianz zu helfen, wenn auch sein eigener Sohn selbst mit ihm geteilter Meinung war. Doch Crowley sah die Wahrheit dahinter nicht. Crowley bestand darauf, dass er das tat, was am besten für die Zukunft von Gilneas war und dass er Genns „Tyrannei“ ein Ende setzen würde.
Ein Bürgerkrieg ergriff die Nation. Die Hauptstadt stand in Flammen, angegriffen von Gilneas’ eigenen Bürgern. Der große Traum von Archibald Graumähne verblasste.
***
Genn bog scharf ab und begann, einen Gang hinaufzuklettern, der eigentlich hätte eben verlaufen sollen. Er eilte Hilfeschreien entgegen.
Über ihm konnte er violette Arme sehen, die aus umgestürzten Trümmern reichten, welche eine Tür blockierten. Die Hände analysierten die Trümmer, die sie gefangen hielten, und suchten verzweifelt nach einem Ausweg. Sie mussten zu Seeleuten gehören, die sich in einer Kabine im Bug verbarrikadiert hatten.
Genn verlor keine Zeit. Mit seinem rechten Arm schwang er sich vorwärts, ergriff den mit einem Netz überspannten hölzernen Rahmen mit seiner linken Hand und riss den Schutt nach unten. Durch die verbogenen Hölzer der Trümmer hindurch konnte er nun das Gesicht eines männlichen Nachtelfen sehen, das ihn voller Freude anblickte.
„Beim Licht der Elune, wo kommt ihr denn her?“ rief eine Stimme.
„Wir sind gekommen, Euch zu retten.“ Er zog mit aller Kraft an den Trümmern, doch sie gaben nicht nach. Das konnte er nicht alleine bewerkstelligen.
„Drückt mit aller Kraft dagegen. Wenn wir unsere Kräfte vereinen, kann ich Euch befreien!“
„Was immer ihr sagt, Worgen.“
Genn konzentrierte sich und versuchte, die Erinnerungen aus seinem zerstreuten Kopf zu halten. Ein fallender Kelch. Wein, der über den Boden floss wie Blut. Nicht schon wieder. Sie durften ihn hierbei nicht ablenken. Sie durften ihn hier nicht schwächen. Schließlich zog er mit aller Macht an dem Schutt, während der Nachtelf dagegen drückte.
Krach! Die Trümmer stürzten nach unten. Genn warf seinen Körper gegen den Türrahmen. Ein Seemann der Nachtelfen begann, zu fallen. Doch dann konnte er Halt fassen. Sie waren frei!
„Habt Dank. Wir hatten uns schon fast mit unserem Tod abgefunden.“
„Ihr solltet Unsicheres nicht so leichtfertig akzeptieren, Nachtelf. Folgt mir.“
Schnell hasteten einige der Seemänner mit ihm nach unten. Dicke Rauchschwaden wirbelten von unten auf.
„Wo sind meine Frau und meine Tochter?“
„Eure was?“ fragte ein Seemann mit blutverschmiertem Gesicht.
„Ihr ... seid König Graumähne?“ fügte ein anderer Nachtelf hinzu.
Graumähne nickte.
„Ihre Quartiere liegen unterhalb, aber wir haben sie nicht gesehen. Schildwachen waren damit beauftragt, sie in den Bug zu bringen, doch ...“
„Doch was?“
„Keiner hat sie mehr gesehen oder von ihnen gehört ... Sie waren in den Steuerbordkabinen.“
Genns Gedanken schwangen zu den zerfetzten Körpern der Schildwachen, die er gesehen hatte, als er das Schiff betrat. Dieses Bild wurde schnell von einer anderen einschneidenden Erinnerung verdrängt: eine Gruppe Schildwachen, die in Kielwasser in Gilneas in einer Blutlache lagen. Die Schildwachen waren von den Todeswachen der Verlassenen erschlagen worden. Diese untoten Monster, die der Bansheekönigin dienten, waren mit einem Kult abtrünniger Worgen, die sich der Einverleibung von Genns Ländereien verschworen hatten, im Bunde gewesen.
Genn und die Seeleute eilten durch einstürzende Gänge. Sie konnten fühlen, wie das Schiff mehr und mehr abrutschte. Alles passierte nun so schnell in langen, magenerschütternden Rucken. Beim Herunterklettern passierten sie die Körper der toten Schildwachen.
„Runter und dann links. Rettungsboote warten vor dem Fenster. Geht jetzt!“ Genn deutete in Richtung der rauchgefüllten Hallen zur Kabine, durch die er gekommen war.
„Die Kabine Eurer Frau liegt tiefer, in der Nähe des Achterdecks. Viel Glück und habt Dank“, sagte der Matrose.
Und so lockerte Genn seinen Halt und lies sich selbst fallen, durch den Gang, durch den Rauch. Es war ein seltsamen Gefühl, durch das Schiff zu fallen. Er konnte das Wasser unter sich steigen sehen wie es den Gang füllte.
„Helft uns!“ Es war die Stimme einer Frau. Es war Mias Stimme. Genn wusste es sofort. Er streckte seine Hand aus und ergriff einen Türrahmen, wodurch er seinen Fall stoppte.
„Ich komme, meine Liebste!“
Genn drängte sich durch einen durchnässten Korridor. Weißes Kielwasser spritzte durch die Bullaugen. Er konnte kaum sehen, ob der dicken Schicht aus Rauch und Asche, die seine Sicht erschwerte.
„Liebster!“ rief Mia. Sie befand sich vor ihm. Er musste sich nur weiter vorwärts kämpfen.
„Halte durch! Ich werde dich nicht verlieren!“ Die Erinnerungen überkamen ihn nun noch schneller, wieder waren es zerrissene Bilder von Liams verwundetem Körper in seinem Armen, ein Kelch der im Kriegsraum auf den Boden fiel, verschütteter Wein. Er schlug sie zurück — nein, nicht jetzt!
Mit den schwindenden Erinnerungen schlug er die Tür ein und drängte in die Kabine.
„Vater!“ Tess, seine wunderschöne Tochter, umschloss ihn eng. Hinter ihr lag Mia. Ihr Bein war seitlich gebogen, angeschwollen und blau: eindeutig gebrochen. „Mutter ... ihr ... ihr Bein ist gebrochen! Ich konnte sie nicht zurücklassen ... Als das Schiff getroffen wurde, stürzte die Kommode auf sie ...“
„Geht, beide. Geht, meine Lieben ... Geht solange noch Zeit ist. Lasst mich einfach zurück, bitte!“ Mia versuchte trotz der Schmerzen schlüssig zu bleiben.
„Ich werde Euch nicht zurücklassen, Mutter!“
„Wir werden dich nicht zurücklassen. Niemals!“ Genn eilte an Mias Seite und umschloss sie zärtlich mit seinen Armen. Sie schrie laut ob ihrer Schmerzen und ging Genn zu Herzen. Ihr Bein baumelte schlapp.
„Psst ... ruhig jetzt , meine Liebste. Ich werde dich hier raus bringen. Du musst durchhalten.“ Trotz ihrer Schmerzen lächelte sie Genn mit weiten Augen an. Ihr Lächeln erleuchtete wie immer ihr gesamtes Gesicht und kräuselte ihre Stupsnase. Es war dieses Lächeln, das ihn dazu brachte, sich vor diesen vielen Jahren, als sie sich zum ersten Mal auf dem königlichen Adreicbankett trafen, in sie verlieben ließ. Sie verfiel durch die Schmerzen in einen Schock, aber ihr Lächeln strahlte noch immer. „Halte dich an meinem Rücken fest, Tochter. Wir müssen uns sputen! “
Tess schloss ihre Arme um seine kräftige Statur und mit einer Konzentration, die er seit Tagen nicht mehr gekannt hatte, preschte Genn vorwärts in den Rauch und hielt mit jeder Faser seiner selbst an Mia fest. Die Decks waren nahezu überflutet und der Gang zum Bug stand unter Wasser. Mit einem Arm zog er sich vorwärts und schwerfällig nach oben. Tess half dabei, ihre Mutter festzuhalten. Langsam aber sicher kämpfte Genn sich und seine Familie nach vorne.
„Schneller, Vater. Das Wasser steigt!“
Genn blickte nicht nach unten. Er hörte die Dringlichkeit in ihrer Stimme und wusste, dass das Wasser sie bald einholen würde. Es zu sehen, wäre keine Hilfe gewesen.
Einen Korridor weiter passierten sie die Leichen der Schildwachen und stürzten in Richtung der Kabine, durch die er gekommen war. Doch bevor Genn noch einen Schritt weiter gehen konnte, sank ihm das Herz in die Hose. Die Schreie seiner Frau und seiner Tochter drangen ihm in die Ohren, gingen jedoch im lauten, krachenden Gejaule der Glanz der Elune unter, als diese tiefer sank. Die Zeit war gegen ihn und mit einem letzten Kraftschub hastete er so schnell er konnte zum Ausgang.
Außerhalb des Bullauges konnte er die Rettungsboote sehen, wie sie sich tummelten und die letzten Überlebenden aufnahmen. Die Strömung stieß die Ruderboote gegeneinander und Talar vollführte einen empfindlichen Balanceakt, als er die Geretteten an Bord führte. Genn konnte sehen, dass die Seeleute, die er zuvor gerettet hatte, jetzt an Bord der Ruderbote und am Leben waren.
„Talar! Die Königin ist verletzt. Ihr müsst Ihr und der Prinzessin helfen!“ schrie Genn mit einer durch die Winde dringenden Stimme.
„Lasst sie herab, ich nehme sie auf! Wir können sie heilen!“ rief Talar zurück, beeindruckt von dem Anblick, der sich ihm bot.
Genn sah nach links und rechts. Diese beiden Damen waren alles, wofür er jetzt noch lebte. Kein Volk, kein Sohn. Sie waren sein Ein und Alles. „Liebste, es wird furchtbar wehtun, wenn du fällst. Wenn ich die Schmerzen aufhalten könnte, würde ich es tun. Du musst stark sein.“
„Ich kann jeden Schmerz ertragen, wenn du bei mir bist, mein Liebster. Ich liebe dich ... für immer. Und nun lass mich gehen.“
Genn lächelte und lies sie dann durch das Bullauge sinken, bis sie in den Ozean platschte. „Tess, du musst gehen. Hilf deiner Mutter!“
Tess warf ihm ein schiefes Lächeln zu, Tränen formten sich in ihren Augen. Dann schob sie sich selbst durch das Bullauge und sprang ins Meer.
Beide schossen schnell an die Oberfläche, rangen nach Luft und ruderten mit den Armen. Talars Ruderboot schob sich neben sie, während Schildwachen nach ihnen reichten und sie hochzogen.
Erleichtert und stolz ob seiner Taten, begann Genn selbst, sich durch das Bullauge zu ziehen. Doch noch bevor er seinen Weg hindurch finden konnte ...
Wuschhhhhhhh!
Talar spürte einen Sog von unten. Die Ruderboote sprangen und knallten gegen einander. Als ob eine große Kraft an ihr ziehen würde, schoss die Glanz der Elune nach unten.
Genns Augen wurden weit als er schlagartig nach hinten geschleudert wurde. Er stolperte durch die Kabine in den überfluteten Gang. Ein Sog zog ihn nach unten in den Bauch des gefluteten Schiffes.
„Genn!“ rief Mia. Das Schiff war verschwunden. Alles, was noch blieb, waren schäumende, konzentrische Kreise, die in einem einzigen riesigen Punkt zusammenliefen.
Wasser füllte Genns Lungen und ließ ihn das letzte bisschen Luft aushusten. Er ruderte mit den Armen und versuchte, nach oben zu schwimmen und gegen den starken Sog von unten anzukämpfen.
Panik überwältigte ihn, sein Herz raste und klopfte in seinem Hals. Er merkte, dass er nicht mehr lang zu leben hatte.
Genn war von Panik ergriffen. Er konnte Godfrey, Ashbury und ein paar andere Edelmänner hören, wie sie in den Wäldern nach ihm riefen. Er wusste, es würde nicht lange dauern, bis man ihn fand. Vor ihm auf dem Boden lag eine dieser Bestien, einer dieser Worgen, die den Schwarzforst unsicher machten. Eine schreckliche Erinnerung daran, dass Arugal vor Jahren versagt hatte. Schreckliche Erinnerungen daran, dass Genn befohlen hatte, diese Bestien im Kampf gegen die Geißel einzusetzen. Noch schlimmere Erinnerungen daran, dass sich die Bestien gegen Genns eigenes Volk gewandt hatten. Sie war erschossen worden. Die Schüsse der Donnerbüchse waren nun Löcher in ihrer Brust. Wärme strömte aus dem Körper und Blutlachen formten sich.
Es war ein Geheimnis der Adligen, von dem die Bevölkerung niemals erfahren durfte. Bei jedem Vollmond gingen Genn, Godfrey, Ashbury, Marley und die anderen bis an die Zähne bewaffnet in den Schwarzforst und suchten nach Bestien, die die meisten seiner Bürger für nicht mehr als Mythen hielten, übertriebene Geschichten von Söldnern, die vom Graumähnenwall zurückkehrten. Die Edelleute jagten sie zum Sport und aus Rache, um die Plagegeister auszurotten.
Er griff in Richtung der feuchten Wärme seiner Schulter, wo seine Haut aufgerissen war und brannte. Seine Hand war beschmiert mit klebrigem, dickem, dunkelrotem Blut. Er war gebissen worden. Die Bestie hatte ihn in einen Hinterhalt gelockt und sich an seiner Schulter festgekrallt, bevor Genn einen Schuss lösen konnte. Furcht überkam ihn. Ihm wurde schlecht. Würde er sich in eines dieser Monster verwandeln, die er so hasste? Er wusste, wenn Godfrey, Ashbury und Marley den Biss sehen würden, würden sie genau das tun, was er von ihnen erwartete. Was würde er denn machen, wenn er an ihrer Stelle wäre? Sie würden ihn erschießen. Der Fluch durfte sich nicht weiter ausbreiten. Er beeilte sich, wischte das Blut von seiner Schulter und zog seinen Kragen hoch.
„Sire, wie geht es Euch?“ Es war Marley, der durch das Gestrüpp rief.
Hastig riss er mit seinen Händen ein Stück aus seinem Tornister und steckte es unter die Schulterpolster seiner Jacke. Er zog den Kragen seines Mantels noch höher und hielt sein Stöhnen zurück.
„Lord Graumähne. Wo seid ihr?“ rief Godfrey durch den Wald.
Genn zog den Kragen so hoch er nur konnte. Seine Wunde brannte und er rang vor Schmerzen nach Luft.
„Ja ... Ich bin ... Ich bin hier drüben. Ich habe die Bestie erwischt“, rief Genn zurück, in der Hoffnung, dass er sie täuschen könnte. Langsam trat er vom Körper zurück und atmete in kurzen, nervösen Zügen. Dann fiel er auf die Knie, um seine blutigen Hände am nassen Gras abzuwischen.
Die Zunge des Worgen hing heraus wie eine offene, rosafarbene Schleife und die glasigen Augen der Bestie bohrten sich verurteilend in ihn hinein.
***
„Vater!“ kreischte Tess, als sie sah, wie das Schiff im Meer versank.
„Kehrt zur Flottille zurück. Sofort. Ich schwimme ihm nach. Geht!“ brüllte Talar seine Befehle, als er im Rumpf des Rettungsbotes stand.
„Bitte ... bitte bring meinen Mann zurück“, bat Mia.
„Ich tue, was ich kann, Königin Graumähne.“ Mit diesen Worten sprang Talar ins Wasser. Unter der Wasseroberfläche verwandelte er sich in einen Seelöwen mit glatter Haut, eine Gestalt, die er über Jahrtausende hinweg perfektioniert hatte. Diese Gestalt war ihm in seinem Matrosenleben sehr dienlich. Er konnte sehen, wie die Glanz der Elune in die Tiefen glitt und von der Dunkelheit umschlossen wurde.
Genn schwamm mit aller Kraft, trat um sich. Der Druck in seinen Lungen war unerträglich. Er konnte fühlen, wie sein Geist zu entschwinden suchte, wie er um die süße Erlösung bat, wie er darum bat, das Brennen in der Brust oder den Druck auf seinen Ohren nicht länger fühlen zu müssen. Sein Geist kämpfte, brach zusammen, wiederholte Bilder aus Erinnerungen und tanzte am Rande der Bewusstlosigkeit. Der Schmerz war vielleicht das einzige, weshalb er sich noch vorwärts bewegte.
Er sah den Tag, an dem die Worgen Gilneas angegriffen hatten. Er sah die Silhouette der mysteriösen Nachtelfenpriesterin, die ihm erschienen war, um ihn vor den bevorstehenden Gefahren zu warnen. Er konnte sehen, wie sein Sohn voller Stolz das Volk dazu aufrief, die Verlassenen zu bekämpfen. Er konnte sehen, wie sich die Leute hinter dem jungen Prinzen versammelten, die Gesichter voller Inspiration. Er erinnerte sich sehr klar daran, wie stolz er auf den jungen Mann gewesen war, den er großgezogen hatte.
Doch er wurde schnell schwächer. Sein Griff um den Türrahmen, an dem er sich festgehalten hatte, lockerte sich. Er spürte, wie ihn die Strömung nach unten riss.
Steh auf eigenen Beinen, Junge. Du kannst erreichen, was immer du möchtest, wenn du nur den Schneid und die Motivation findest, auf eigenen Beinen zu stehen. Die Stimme seines Vaters hallte in seinem Kopf.
Ich weiß, Vater. Ich weiß. Als ob Genn einen dieser roten Tränke, die die Apotheker herstellten, eingenommen hätte, gab ihm die Stimme seinen Vaters neue Lebenskraft. Er schob sich selbst vorwärts, seine Augen zuckten, sein Geist fast leer ...
Du kannst dich auf Weisen anspornen, die du nicht einmal selbst kennst!
Er war schon fast am Bullauge. Draußen konnte er die Umrisse einer Kreatur sehen, die sich der Öffnung näherte. Es war sein Seelöwe, der seinen Körper mit der Strömung drehte.
Genn kämpfte gegen den Sog von hinten an, der versuchte, ihn in die Tiefe zu ziehen. Er kämpfte gegen das Dunkel in seinem Geist, das mit der gleichen Intensität wie das Wasser versuchte, ihn nach unten zu ziehen. Er schloss seine Augen. Als er sie wieder öffnete sah er eine ausgestreckte, violette Hand, die durch das Fenster reichte. Es war Talar. Seine andere Hand umklammerte fest den Fensterrahmen, als die Strömung versuchte, ihn hineinzuziehen.
Genn sah direkt in die glühenden Augen des Nachtelfen, dann hinunter auf die ausgestreckte Hand. Talar war seinetwegen gekommen. Er hatte sein Leben riskiert, um einen Mann zu retten, den er kaum kannte und kaum leiden konnte.
In einem letzten Anstrengungsakt sammelte Genn jedes bisschen Stärke, das er noch finden konnten und schob sich vorwärts, seine Hand ausgesteckt, bis er Talars festen Griff erreichte.
Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Das Sendschreiben lag entrollt auf dem Tisch. Liam schlug hart mit der Faust darauf, als er verzweifelt versuchte, seinen Standpunkt zu vertreten. Er war nur ein Jugendlicher, aber er würde nie wieder davor zurückschrecken, seine Meinung zu äußern. Er hatte Angst und war wütend, und er stimmte mit seinem Vater nicht überein.
„Du darfst jetzt gehen, Liam. Ich habe Deine Meinung zu dieser Angelegenheit gehört und ich weiß diese Vorstellung nicht zu schätzen.“ Genn nippte erneut an seinem Wein.
„Was, wenn die Seuche hierher kommt? Was dann?“ drängte Liam.
„Das ist der Grund, aus dem der Wall unsere große Nation von den Anderen trennt“, blaffte Genn zurück. Er begann, sich leicht angetrunken zu fühlen und dieses Gespräch bereitete ihm Kopfschmerzen.
„Und was, wenn diese Kreaturen durch deinen Wall gelangen? Was dann, Vater? Überdies, was wenn wir etwas hätten tun können, um sie schon vorher aufzuhalten?
In einer einzigen hastigen Bewegung stand Genn auf und warf seinen Kelch, noch immer voller Wein, mit aller Kraft auf den Steinboden. „Wie kannst du es wagen, deinen Vater in Frage zu stellen, Junge? Hinfort mit dir!“
Der Kelch schlingerte und schepperte und vergoss den Wein über den Boden wie Blut aus einer frischen Wunde. Liam starrte ihn an, erschrocken, bevor er erneut sprach.
„Nein, Sir. Ich werde nicht gehen, bis Ihr mir zugehört habt. Vollständig zugehört. Ein einziges Mal wirklich zugehört. Sie flehen uns in diesem Schreiben an, Vater. Lordaeron bittet nur in einer höchst verzweifelten Lage um Hilfe. Sie sterben von Minute zu Minute. Das sind keine Bitten um Zölle oder—…“
„Es sind Bitten der Schwäche! Willst Du da hinausgehen? Willst Du diesen Monstrositäten entgegentreten? Ist es das? Nein. Ich werde das Leben meines Sohnes nicht aufs Spiel stellen, genauso wenig wie das irgendeines Sohnes von Gilneas. Das hätte mein Vater nicht getan, und sein Sohn wird es auch nicht tun!“
„Immer wieder Großvater. Immer. Als wärst nicht du selbst König, nur irgendein Verwalter, der den Stuhl warmhält, bis er zurückkehrt.“
„Wie kannst du es wagen, Junge?!“
„Es gibt andere Methoden, deren Erwägung sich lohnt ... Dieser Sohn würde andere Entscheidungen treffen als sein Vater.“
„Als ich in deinem Alter war, war es mein größter Wunsch, so zu sein wie mein Vater. Das ist die Pflicht eines Prinzen.“
„Und ich dachte, es wäre die Pflicht eines Prinzen, eines Tages ein großer König zu sein.“ Liam wandte sich ab. Er wusste, dass er diese Auseinandersetzung verloren hatte; Sein Vater würde das tun, was er immer tat.
„Geh mir aus den Augen! Geh! Geh weit weg! ... der Wall wird uns schützen, Junge, “ rief Genn aus, in seinen Stuhl torkelnd. „Er wird halten, und Gilneas wird immer groß sein ... immer!“
Seine Worte hallten von den Mauern des leeren Raumes wider.
***
Genns Augenlider flatterten. Als sie sich öffneten, wurde er von stechenden Sonnenstrahlen geblendet. Schnell schirmte er seinen Blick ab. Er lebte. Er konnte keinen Regen hören oder spüren. Über ihm war eine Decke aus Schäfchenwolken an einem azurblauen Himmel.
„Ihr seid wach“, sagte eine fröhliche, bekannte Stimme.
„Talar,“ flüsterte Genn mit einem Lächeln. „Ihr habt mir das Leben gerettet.“
„Ihr habt geträumt, guter König, und dabei gesprochen.“
„Ich habe von meinem Jungen geträumt ... mein Sohn hätte einen guten König abgegeben, einen besseren als dieser störrische alte Mann es ist.“
„Genn ... Lord Graumähne, tut Euch das nicht an. Ihr seid–“
„Oh, nein, Talar, das ist weit entfernt von aller Trauer ... es ist wahr, es wird Zeiten geben, in denen dieser Verlust mich wie ein Stein auf die Brust trifft, aber jetzt kann ich mich trösten ...“
„Ich verstehe nicht.“
„Liam verstand, dass es immer andere Möglichkeiten gibt, die in Betracht gezogen werden können, dass verschiedene Zeiten verschiedene Handlungen erfordern. Ich bin als Vater stolz darauf, dass mein Sohn ein weiserer Mann war als ich.“
„Vielleicht können wir alle andere Möglichkeiten in Betracht ziehen ... Euer Volk ist störrisch und das seid Ihr auch, aber ohne diese Eigenschaft wären viele der Seeleute heute nicht mehr am Leben. Es wird mir eine Ehre sein, Euch nach Teldrassil zu befördern.“
„Ach ja, Teldrassil. Man sagt, es sei ein überwältigender Anblick.“
„Kommt, Eure Frau und Eure Tochter warten. Das Bein der Königin wurde verarztet.“ Talar reichte Genn die Hand, um ihn von Deck zu heben.
Genn starrte die Hand einen Moment lang an.
„Dieser alte König braucht weder Eure Hilfe noch die irgendeines Anderen, um aufzustehen, Talar Eichenklaue. Sagt mir, dass Ihr das nicht vergessen habt,“ sagte er, während er sich mit einem verschmitzten Grinsen aufrappelte.
Talar brach in herzliches Gelächter aus. „Wie Ihr wünscht, mein Freund.“ Talar lachte noch immer in sich hinein. Es war das erste Mal, dass Genn den Nachtelfen lachen hörte oder ihn lächeln sah.
Stehend sah Genn das Sonnenlicht auf dem ruhigen Ozean glitzern. Er hatte Schmerzen. Sein ganzer Körper tat weh, doch sein Geist war wacher als er es seit Wochen gewesen war. Er wartete einen Moment lang, sicher, dass seine Gedanken bald mit Erinnerungen erfüllt sein würden, die er lieber vergessen würde. Aber in diesem Moment wurde er von keinen davon verfolgt. Die Schiffe trennten sich von der Flottille. Jetzt, da die Gefahr vorüber war, löste jedes von ihnen sein eigenes buntes Segel und glitt weiter über die sonnenbefleckte See.
„Ihr habt mir gesagt, dass dieser Erzdruide Sturmgrimm glaubt, dass mein Volk ein wichtiger Gewinn für die Allianz sein würde.“
„Das habe ich.“
„Vielleicht hat er also Recht ... vielleicht hat er Recht.“
Lor'themar Theron: Im Schatten der Sonne von Sarah Pine
Lor’themars Schreibtisch war unter gewaltigen Papierstapeln begraben. Berichte, Sendschreiben, Befehle und Bestandslisten schwankten unsicher auf Türmen, die zu ordnen er schon vor langer Zeit aufgegeben hatte. Alle betrafen den kurzen, aber umso härter geführten Krieg um Quel’Danas und den Sonnenbrunnen. Doch für den Moment hatte er all das vergessen.
In seiner Hand hielt er einen einzigen, ungeöffneten Brief. Auf dem violetten Siegelwachs prangte ein großes Auge, das Zeichen Dalarans. Es schien ihn anklagend anzustarren und erinnerte ihn an all die anderen Briefe dieser Art, die er erhalten und sofort beiseitegelegt hatte. Er brach das Siegel und nahm das sorgfältig gefaltete Pergament heraus. Lor’themar erkannte sofort die ebenmäßige, akkurate Handschrift, welche die Seite zierte.
Mehrfach hatte Erzmagier Aethas Sonnenhäscher in letzter Zeit um eine Audienz beim Lordregenten ersucht, war von Lor’themar jedoch stets geflissentlich ignoriert worden. Seit den Ereignissen auf Quel’Danas hatte er verzweifelt versucht, den Rest der Welt zu vergessen, aber ihm wurde klar, dass sie sich ihm eines Tages von ganz allein wieder aufzwingen würde.
Lor’themar seufzte und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Dieser Brief war wesentlich kürzer als seine Vorgänger. Dieses Mal hatte Aethas keine Bitte geschickt, sondern einfach nur eine Nachricht mit dem Tag und der Zeit seiner Ankunft. Lor’themar strich mit dem Daumen die raue Kante des Pergaments entlang. Er hatte eine recht genaue Vorstellung davon, was Aethas ihm vorschlagen würde, und er war sich seiner Antwort darauf noch nicht sicher.
***
Am Tag der geplanten Ankunft Aethas' indes war Lor’themar sich seiner Antwort keinen Deut klarer. Als er vom Sonnenzornturm in Richtung der Eingangshalle schritt, wo der Erzmagier erscheinen würde, wurde er von Halduron angehalten, der ihm ein kleines Bündel weicher, purpurner Wolle entgegenhielt. Lor’themar nahm es an sich und hielt es hoch, um es zu entfalten. Zum Vorschein kam ein majestätischer goldener Phoenix: das Stadtwappen Silbermonds.
Mit einem schroffen „Nein“ reichte er das Gewand seinem Freund zurück.
„Du solltest es anziehen“, drängte Halduron.
„Wozu?“, antwortete er, während er seinen Weg fortsetzte. „Jeder im Dienste Silbermonds darf es tragen.“
„Es ist sein Staatswappen“, rief Halduron ihm hinterher. „Du bist das Staatsoberhaupt. Du solltest auch entsprechend aussehen.“
„Ich bin der Lordregent“, sprach Lor’themar, ohne anzuhalten. „Nicht der König.“
„Darum geht es nicht, Lor’themar. Du siehst aus wie ein Weltenwanderer.“
Lor’themar blieb wie angewurzelt stehen.
„Ich bin ein Weltenwanderer“, entgegnete er schärfer als eigentlich beabsichtigt.
„Du warst einer“, seufzte Halduron. „Du kannst nie wieder ein Weltenwanderer sein, Lor’themar. Darin sind wir uns nun sicher.“
Lor’themar senkte sein Haupt und nahm einen tiefen Atemzug.
„Wir kommen zu spät, Halduron.“
Er ging weiter und nach einem kurzen Moment der Stille hörte er, wie Haldurons Fußschritte ihm folgten.
Rommath erwartete sie bereits in der Halle. Schwer stützte er sich auf seinen Stab und starrte geistesabwesend auf die gegenüberliegende Wand. Als sie eintraten, warf er Lor’themar und Halduron einen flüchtigen Blick zu, ein Ausdruck des Missfallens durchzuckte sein Gesicht, doch dann wandte er sich wortlos wieder ab. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er Lor’themars Entschluss, sich im Aufzug eines Waldläufers zu präsentieren, weitaus heftiger widersprochen hätte als Halduron, aber das war vorbei. Trotz all der Dispute und des ständigen Streits mit Rommath empfand Lor’themar inzwischen nur noch Mitleid mit dem Magier. Kael’thas’ letzter Verrat hatte dessen treuesten Fürsprecher im Mark erschüttert.
Die Luft vor ihnen erglomm in violettem Glanz – das unmissverständliche Zeichen arkaner Magie. Nur einen Augenblick später wurde die Halle von einem bläulich-weißen Licht erfüllt und Aethas materialisierte sich vor ihnen. Er richtete sich auf, staubte seine Robe ab, und Lor’themar konnte nicht anders, als zu bemerken, wie lächerlich er aussah. Der elegante, tiefpurpurne Magiestoff der Kirin Tor biss sich schrecklich mit seinem kupferroten Haar und weigerte sich hartnäckig, seine schlanke Statur gefällig zu umhüllen. Aus seinen Briefen – und von den Gerüchten aus dritter Hand – hatte Lor’themar erfahren, dass Aethas ebenso idealistisch wie gerissen war und bei Weitem zu jung für die Position, die er in Dalaran erlangt hatte. Andererseits waren die meisten älteren Magi der Sin’dorei inzwischen tot. Letztendlich fand Lor’themar, dass Aethas Ehrgeiz etwas Gutes hatte. Immerhin einer hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben.
„Willkommen zu Hause, Erzmagier Sonnenhäscher“, begrüßte er ihn.
Aethas ließ ein kurzes Lächeln aufblitzen. „Habt Dank, Lord Theron“, antwortete er mit einer anmutigen Verbeugung. „Ich wünschte nur, meine Rückkehr wäre diesmal von Dauer.“
„Selbstverständlich“, erwiderte Lor’themar diplomatisch. „Eure Korrespondenz hat mich mit dem Anliegen Eures Besuches vertraut gemacht. Bitte hier entlang; meine Berater und ich werden Eurem Ersuchen Gehör schenken.“
Normalerweise hätte Lor’themar sie alle in die offizielle Versammlungshalle im Norden des Palastes geleitet. Sie war besonders beeindruckend gestaltet und speziell zu diesem Zweck entworfen worden. Doch es war ein klarer Tag und der Horizont so ungetrübt wie eine frische Gebirgsquelle. Man würde die Insel deutlich am anderen Ufer der Meerenge sehen können. Lor’themar wünschte fast, Quel’Danas niemals wiedersehen zu müssen, und so führte er sie in einen Nebenraum östlich des Haupthofes, von dem aus man die schattigen Kuppeldächer Silbermonds überblicken konnte. Sie setzten sich und Aethas ergriff das Wort.
„Angelegenheiten von größter Tragweite haben mein Kommen erforderlich gemacht – Angelegenheiten, die uns alle betreffen. Euch ist der Grund für die Umsiedlung der Kirin Tor nach Nordend sicher bereits bekannt.“
„Ja, Malygos“, antwortete Lor’themar. „Was wollt Ihr?“
Aethas schüttelte den Kopf. „Der blaue Drachenschwarm ist weitaus mächtiger und bedrohlicher als wir zuerst angenommen hatten. Ich möchte unsere Beziehungen zu den Kirin Tor auf offizieller Ebene forcieren. Es ist zwingend erforderlich, dass die Magi von Quel’Thalas und Dalaran wieder Seite an Seite streiten, wie dies schon in der Vergangenheit so lange Jahre der Fall war.“
„Nein.“
Aethas begann, wütend zu werden, und Zornesfalten verfestigten sich um seine Mundwinkel und zwischen seinen Brauen. Doch die Ablehnung war nicht von Lor’themar ausgesprochen worden. Zum Redner gewandt sprach er: „Ich habe den Lordregenten gefragt. Nicht den Großmagister.“
Rommath stieß ein Lachen aus, dessen Bitterkeit es mehr wie ein Husten klingen ließ. „Wohlan, dann lasst den Lordregenten mir gnädigerweise das Wort erteilen.“
„Ich denke, wir werden nicht umhinkommen, Eurer Meinung Gehör zu schenken“, sprach Lor’themar, wobei er den ironischen Unterton in seiner Stimme so gut wie möglich zu beherrschen suchte. „Sagt, was Ihr zu sagen habt.“
Obgleich der Raum gut beleuchtet war, war das Funkeln in Rommaths Augen nicht zu übersehen. „Wie großzügig von Euch, Lor’themar“, erwiderte er, ohne dabei auch nur eine Sekunde den Blick von Aerthas’ Gesicht zu nehmen. Seine Stimme klang wie das Zischen einer zusammengerollten Schlange: tief, böse und gefährlich.
„Hat Modera Euch vor Eurer Abreise instruiert, Aethas? Ihr klingt nicht ganz wie Ihr selbst. Eure Worte triefen von ihrer intriganten Diplomatie. Aber zumindest wagt sie es nicht, selbst einen Fuß hierher zu setzen. So viel Verstand besitzt sie gerade noch. Ich schätze, ich sollte auch für die kleinste Gnade dankbar sein.“
„Was diese Angelegenheit betrifft, ist Modera einer Meinung mit mir“, antwortete Aethas steif, ohne auf Rommaths Köder anzuspringen.
„Sie ist also einer Meinung mit Euch“, erwiderte Rommath nachdenklich, „oder seid nicht viel eher Ihr einer Meinung mit ihr? Denn ich glaube kaum, dass sie Euch hierher schicken würden, wenn Ihr auch nur den Hauch einer eigenen Meinung besäßet!“
„Verdammt noch mal, Rommath!“ Aethas riss der Geduldsfaden. „Habt Ihr auch irgendetwas von Belang beizusteuern, abgesehen von Euren persönlichen Beleidigungen?“
„Ihr seid blind“, entgegnete Rommath unbeeindruckt und mit fester Stimme. „Ihre Augen waren größer als ihr Magen und nun stehen sie Malygos und Arthas gleichzeitig gegenüber. Sie haben Angst. Und das sollten sie auch. Sie brauchen Hilfe, die ihre Macht bei Weitem übersteigt – und an wen haben sie sich in Fragen des Arkanen bisher immer gewandt? Oh ja, an uns. Die Mitglieder der Kirin Tor werden Stein und Bein schwören, dass Ihr unentbehrlich seid, dass Eure Fähigkeiten von unschätzbarem Wert seien. Und wenn sie Eurer dann überdrüssig sind, werdet Ihr beseitigt.“ Er drehte seinen Kopf zur Seite und ließ seinen Blick zuerst zu Halduron und dann zu Lor’themar schweifen, während eines seiner langen Ohren nahezu unmerklich zuckte. „Fragt sie. Sie wissen es. Aber bei Weitem nicht so gut wie ich.“
Aethas starrte mit leerem Blick auf Rommath zurück. „Quel’Thalas und die Kirin Tor waren mehr als zweitausend Jahre lang Verbündete. Seit unserem offiziellen Beitritt zur Horde gab es zwar einige Irritationen, aber ...“
Erneut lachte Rommath auf, dieses Mal sogar lauthals.
„Seit unserem offiziellen Beitritt zur Horde“, wiederholte er. „Ja. Ich verstehe, dass Euch dieses Thema unangenehm ist. Und könnt Ihr, Erzmagier Sonnenhäscher, Euch noch daran erinnern, weshalb genau wir uns der Horde angeschlossen haben?“
Aethas antwortete nicht, aber er sah Rommath fest in die Augen.
„Ein monumentaler Verrat“, fuhr Rommath fort, seine Stimme beinahe zu einem Flüstern gesenkt. In seinen Augen loderte ein Hass, den er nun seit fast zehn Jahren tief in sich trug. „In Dalaran“, fuhr er fort, „unter dem stets wachsamen Auge der Kirin Tor.“
„Sie hatten wirklich nichts zu tun mit ...“
„Ich nehme an, Ihr wolltet sagen“, fuhr Rommath dazwischen, „dass die Kirin Tor nichts taten. Nichts taten, um es zu verhindern und nichts, um ihm Einhalt zu gebieten. Und stattdessen“, seine Stimme wurde lauter, „habt Ihr uns in den Kerkern unter einer Stadt verrotten lassen, die viele von uns ebenso als Heimat bezeichneten wie Silbermond. Einer Stadt, der unser eigener Kronprinz mehr als ein Menschenleben lang so treu gedient hatte wie seinem Heimatland. Einer Stadt, für die wir gekämpft haben und gestorben sind, und zwar auf Bitten der Kirin Tor. Einer Stadt, innerhalb deren Mauern sie tatenlos mit angesehen hätten, wie wir alle am Galgen baumeln. Ihrer Stadt.“
„Die Kirin Tor haben ein neues Oberhaupt“, entgegnete Aethas, und Lor’themar fand, dass sein beherrschter Tonfall für den jungen Erzmagier sprach.
„Das ist eine Lüge, und das wisst Ihr auch“, hielt Rommath dagegen. „Rhonin mag ihr Repräsentant sein, aber Modera und Ansirem sind noch immer Teil des Rates. Dieselben, die so bereitwillig wegsahen, als Garithos uns zum Tode verurteilte. In der Hölle verrotten sollen sie oder noch besser, als Geißel in Arthas Armee“, fügte er verächtlich hinzu.
„Lasst uns hoffen, dass keiner des Rates der Sechs jemals unter Arthas Einfluss gerät, Rommath“, bemerkte Halduron leise.
„Trotz Eurer offensichtlichen Verachtung für die Kirin Tor, scheint Ihr äußerst gut informiert zu sein, Großmagister“, führte Aethas an.
„Was einer der Gründe dafür sein dürfte, weshalb ich der Großmagister von Quel’Thalas bin und nicht Ihr, möchte ich meinen“, erwiderte Rommath scharfzüngig. „Und als Großmagister werde ich meinen Magi niemals befehlen, im Namen der Kirin Tor zu dienen. Niemals.“
Lor’themars Finger zuckten gegen die glatte Tischplatte und sein Mund verhärtete sich. Rommath hatte sich auf einem schmalen Grat bewegt, den er nun überschritten hatte.
„Genug“, sprach Lor’themar mit kalter Stimme. „Ein derartiges Ultimatum auszusprechen überschreitet Eure Befugnisse. Ob unsere Truppen nach Nordend entsandt werden, obliegt allein meiner Entscheidung – und sollte ich mich dazu entschließen, habt Ihr und Eure Magi meinem Befehl Folge zu leisten.“
„Davon abgesehen“, fuhr er sich erhebend fort, „ist offensichtlich, dass all dies in nichts als kleinlichem Gezänk enden wird. Aber wenn Ihr zwei unbedingt so weitermachen wollt, wohlan, ich werde Euch nicht im Wege stehen. Ich allerdings habe nicht vor, noch mehr meiner kostbaren Zeit zu verschwenden. Und ich wage zu behaupten, dem Waldläufergeneral geht es ähnlich.“
„Ich muss mich um Angelegenheiten im Süden kümmern“, fügte er hinzu, „und ich hatte geplant, morgen aufzubrechen. Ich denke nicht, dass ich diesen Plan verwerfen sollte. Ihr dürft gerne hierbleiben, Erzmagier, aber meine Rückkehr könnte einige Tage dauern.“
Aethas gab zwar keine Antwort, vermochte aber trotzdem nicht, seinen Ärger zu verbergen. Und Lor’themar hatte nicht das Geringste dagegen, ihn noch ein wenig in seinem Zorn schmoren zu lassen. Er wandte sich um und wollte gehen.
„Wir werden nach Dalaran ziehen, ob Ihr nun mitkommt oder nicht, Lordregent“, schallte Aethas’ Stimme durch den Raum. Lor’themar hielt inne und wendete ihm seinen Blick zu, während Aethas weitersprach. „Gestattet mir zumindest, im Namen der Regentschaft von Silbermond sprechen zu dürfen, dann werde ich dafür sorgen, dass die Interessen der Sin’dorei gewahrt werden.“
Rommath schnaubte verächtlich, blieb aber stumm. Für einen Moment bedachte Lor’themar Aethas’ Ersuchen, aber der jüngere Elf befand sich in keiner guten Verhandlungsposition. Ihnen allen war klar, dass Aethas’ staatsmännische Fähigkeiten denen der anderen Männer im Raum bei Weitem unterlegen waren.
„Ich werde einen Diener anweisen, Euch zu Euren Gemächern zu führen“, erwiderte Lor’themar.
***
Aethas hatte sich hinlänglich höflich verabschiedet, nicht jedoch, ohne ein, zwei finstere Blicke in Rommaths Richtung zu werfen. Der Großmagister war energisch aufgetreten, aber Lor’themar entgingen keineswegs das leichte Schwanken in seinem Gang und die Zeichen der Erschöpfung, die von seinem Gesicht wieder Besitz ergriffen, nachdem Aethas außer Sichtweite war. Lor’themar hatte Rommaths Schwäche genau erkannt. Sein Wille konnte gebeugt werden.
Einst, vor langer Zeit, hätte Lor’themar es als unehrenhaft angesehen, eine solche Schwäche auszunutzen auch nur in Betracht zu ziehen. Jetzt sah er darin pure Notwendigkeit.
Er saß allein am Fenster seines Gemachs und ließ sich die nachmittägliche Debatte noch einmal durch den Kopf gehen. Gedankenverloren ließ er den langen Vorhang durch seine Hände gleiten, während sein Blick über den Turmgarten schweifte. In seinem Kopf hallte die entschlossene Stimme Aethas wider. Wir werden nach Dalaran ziehen, ob Ihr nun mitkommt oder nicht. Lor’themar konnte diese Wahrheit nicht bestreiten, doch persönlich war ihm Rommaths Verachtung näher. Wie konnte er Aethas vertrauen, die Regentschaft loyal zu vertreten, wenn dieser sich bereits jetzt schon in die Gewänder der Kirin Tor kleidete und seinen Briefen ihr Siegel aufdrückte. Aethas hatte sich dem Nexuskrieg verschrieben, so viel stand fest. Wie viele andere würde er überzeugen können, ihm zu folgen? Und inwieweit war er als Lordregent verpflichtet, sein Volk zu schützen, wenn es in umstrittenes Gebiet eindrang?
Der Stoff dehnte sich und begann unter Lor’themars unsanften, unbewussten Liebkosungen zu reißen. Er bemerkte es nicht.
***
„Ich bin mir unsicher“, gestand Halduron ihm später am Abend. Er hatte den Lordregenten am Fenster sitzend vorgefunden, wie er mürrisch in den Sonnenuntergang starrte. Ein kurzer Blick hatte genügt, um ihn wortlos zum Branntweinregal zu schicken und ein großzügiges Glas für seinen alten Freund einzuschenken. Nun saß der Waldläufergeneral ihm gegenüber.
„Ich halte seine Absichten für ehrlich“, fuhr Halduron fort. „Aber ich habe keine Ahnung, wie weit wir ehrlichen Absichten trauen können, selbst unter Angehörigen unseres eigenen Volkes.“
Lor’themar stand auf und schlenderte zum Regal, um sich nachzuschenken. „Ich befürchte, dass er mit der Befugnis, in unserem Namen zu handeln, für uns eine Verpflichtung eingehen könnte – absichtlich oder unabsichtlich – die ich nicht bereit wäre zu erfüllen.“ Lor’themar hielt inne und blickte zur stuckverzierten Decke empor. „Sollten ihm andererseits ausreichend Sin’dorei nach Dalaran folgen, würde er ohnehin de facto zu deren Anführer, und ich würde ihn nur ungern ohne Verpflichtung der Kro... Silbermond gegenüber agieren lassen.“
„Es wäre besser, wenn Rommath nicht so starrköpfig gewesen wäre“, sann Halduron nach. „Er hat lange in Dalaran gelebt. Er besitzt ebenfalls den Titel eines Erzmagiers. Er hat genug Erfahrung mit den Kirin Tor, um zu wissen, wie mit ihnen umzugehen ist, und ist seiner Nation treu genug ergeben, um unser Vertrauen zu rechtfertigen. Er wäre der ideale Mitstreiter für Aethas.“
Haldurons Worte ließen ein leichtes Lächeln über Lor’themars Gesicht huschen. „Ist es nicht überaus merkwürdig, Euch gut von Rommath sprechen zu hören?“
„Ich war stets gegen die Angelegenheit mit M’uru oder die Gründung der Blutritter, ja“, gab Halduron unumwunden zu. „Aber diese Dinge liegen hinter uns und wir haben keinen Grund mehr, an ihm zu zweifeln. Wenn er uns hätte hintergehen wollen, hätte er das längst getan, als Kael’thas ...“ Haldurons Worte stockten und blieben ihm im Hals stecken. Für einen langen Augenblick sprach keiner der beiden.
„Ich meine nur“, fügte er schließlich hinzu, „er hätte es damals getan.“
„Was denkst du?“, wechselte Lor’themar das Thema und kehrte auf seinen Platz am Fenster zurück. „Was sollten wir wegen Aethas und Dalaran unternehmen?“
„Aethas betrachtet sich als Mitglied der Kirin Tor“, erwiderte Halduron. „Und mir fallen eine ganze Reihe anderer Personen ein, die sich diesen Mantel nur allzu gerne wieder überwerfen würden. Wenn die Kirin Tor Blutelfen in ihren Reihen zulassen wollen, dann können wir nichts dagegen tun.“
„Nein, können wir nicht“, antwortete Lor’themar knapp. Dann schwieg er einen Moment lang. „Aber mein Bauch sagt mir, wir sollten jegliches offizielle Engagement im Nexuskrieg um jeden Preis vermeiden. Aethas sollte uns regelmäßig Bericht erstatten und wir sollten ihm eindeutige Grenzen setzen. Wer seine Dienste anbieten möchte, mag dies unter dem Banner der Kirin Tor tun – aber nicht unter dem von Quel’Thalas.“
Halduron hob einen Mundwinkel zu einem bitteren Grinsen. Lor’themar tat so, als bemerke er die Traurigkeit in den Augen seines Freundes nicht. „Was hast du heute Morgen noch mal über den Weltenwanderer gesagt? Du klingst jeden Tag mehr wie ein König, Lor’themar“, konstatierte Halduron.
Von seinem Platz aus konnte Halduron nicht sehen, wie Lor’themars Finger sich fest um sein Glas klammerten.
***
Einige Tage später suchte Lor’themar sich auf dem Rücken seines Falkenschreiters einen Weg durch die Östlichen Pestländer. Der Blick auf die Landschaft jagte ihm kalte Schauer über den Rücken. Er war ein Elf und zudem Waldläufer – ein Kind der offenen Wälder, des klaren Wassers und goldener Blätter. Der Anblick des zerfurchten, kalkigen Bodens und der verkrüppelten Bäume Ostlordaerons schnürte ihm das Herz zusammen und ließ ihn fast würgen. Dieses Schicksal wäre auch Quel’Thalas widerfahren, wäre da nicht die unablässige Wachsamkeit seines Volkes gewesen.
Lor’themar warf einen Blick über die Schulter. Drei Ehrengardisten der Weltenwanderer folgten ihm – Halduron und Rommath hatten darauf bestanden.
„Eigentlich“, hatte Halduron gesagt, „solltest du überhaupt nicht losziehen – ich war sicher, du würdest dieses alberne Vorhaben aufgeben, als Aethas seinen Besuch ankündigte. Aber da mir klar ist, dass keines meiner Worte dich davon abhalten kann, wirst du zumindest eine Eskorte mitnehmen. Keine Widerrede.“ Rommath wollte ihm sogar einige seiner Blutritter mitschicken, aber das stand völlig außer Frage. „Sie wären nicht willkommen“, hatte Lor’themar deutlich gemacht. „Und ich werde das auch nicht sein“, fügte er leise hinzu. Glücklicherweise hatte Rommath nicht darauf beharrt.
Endlich kam der Felsgrat in Sicht, den er gesucht hatte. Auf den ersten Blick schien es sich nur um eine weitere spitze Erhebung auf einer flachen Felsoberfläche zu handeln, aber er wusste es besser. Er zwang sein Reittier zu einer scharfen Wende und preschte die Anhöhe empor. Es gab keinen Grund zur Vorsicht, die Späher hatten sie wahrscheinlich bereits vor geraumer Zeit entdeckt.
Wie erwartet, traten auf halber Strecke des sich windenden Pfades plötzlich zwei Gestalten hinter den Felsen hervor. Ihre Klingen kreuzten sich, als sie den Weg versperrten, und das metallische Klirren hallte schallend in der gespenstischen Stille der Pestländer wider.
„Wer macht der Jagdhütte Quel’Lithien seine Aufwartung?“, ergriff einer der beiden das Wort.
Lor’themar schaute unbeeindruckt auf ihn herab.
„Seid kein Narr. Ihr wisst, wer ich bin.“
Der andere sah ihm direkt in die Augen.
„Das heißt jedoch nicht, dass Ihr willkommen seid, Lord Theron.“
Lor’themar zog die beiden Schwerter, die er auf dem Rücken trug, aus der Scheide. Aus den Knöcheln der quel’lithischen Wachen wich das Blut, als sich ihr Griff um die Hefte ihrer Waffen noch fester schloss, und er beobachtete, wie einer der beiden unmerklich mit den Fingern zuckte – bereit, jeden Moment den unzähligen anderen das Zeichen zum Angriff zu geben, die sich zweifellos in der Umgebung versteckt hielten. Schweigend warf der Lordregent seine Schwerter zu Boden, löste Bogen und Köcher und ließ diese ebenfalls auf die Erde fallen. Mit einer Handbewegung bedeutete er seiner Eskorte, es ihm gleichzutun, und als dies geschehen war, hob er eine Augenbraue.
„Reicht das, um Euch von meinen ehrlichen Absichten zu überzeugen?“
Der erste lithische Späher ergriff erneut das Wort.
„Sagt uns, was Euch hierher führt.“
„Ich habe Neuigkeiten für Waldläuferlord Falkenspeer und Hohepriesterin Himmelsrufer“, antwortete er. „Hinsichtlich ...“, er räusperte sich. „Hinsichtlich Prinz Kael’thas.“
Die Wachen überlegten kurz, wobei sie sich einen flüchtigen Blick zuwarfen, doch die meiste Zeit waren ihre Augen streng auf Lor’themar gerichtet – Augen, die noch blau und unverdorben waren, wie Lor’themar nicht umhinkam zu bemerken. Dann endlich deutete eine der Wachen mit dem Kopf in Richtung des Grates.
„Also gut“, sagte der Soldat, „soll der Waldläuferlord entscheiden, was mit Euch zu tun ist. Folgt mir.“
Der andere schnippte mit den Fingern und, wie Lor’themar geahnt hatte, sprang ein halbes Dutzend weiterer lithischer Späher aus Mulden und Felsspalten hervor, um die Waffen aufzusammeln, die er und seine Wachen in den Staub hatten fallen lassen. Schweigend folgte Lor’themar ihnen.
Am Ende des Pfades erhob sich vor ihnen, zwischen Felsbrocken und vertrockneten Sträuchern, die Jagdhütte Quel’Lithien. Ihre edle Holzfassade war ausgeblichen und zerfressen – zweifellos Spuren der verheerenden Pest – und die Weltenwanderer hatten ihre Streben mit altem Laub getarnt. Lor’themars Magen zog sich seltsam zusammen, als die Hütte in Blickweite kam, und er versuchte, nicht an die Tage zu denken, in denen ihre Umgebung grün und seine Besuche mit Freudenrufen anstelle von gezückten Klingen begrüßt worden waren. Diese Tage waren ein für alle Mal verloren.
Er übergab seinen Falkenschreiter einer Späherin. Sie nahm die Zügel und entfernte sich mit argwöhnischem Blick. Einer der Waldläufer, die sich ihm auf dem Pfad in den Weg gestellt hatten, war bereits in die Hütte vorgelaufen. Nun sah ihn Lor’themar in Begleitung zweier Elfen zurückkehren, die er viele Jahre nicht gesehen hatte.
„Lor’themar Theron.“ Die Stimme Hohepriesterin Aurora Himmelsrufers klang gemäßigt und keinen Deut abweisend. „Ich muss gestehen, es überrascht mich, Euch hier vorzufinden.“
„Ihr habt Nerven“, bemerkte Renthar Falkenspeer in bitterem Ton, „hier aufzutauchen. Ich hätte Euch von einem Dutzend Bogenschützen mit Pfeilen spicken lassen sollen.“
Die Worte trafen ihn, wenngleich er sie erwartet hatte. Er schloss sein gesundes Auge, um es langsam wieder zu öffnen.
„Ich habe Neuigkeiten“, sprach er einfach, „die Ihr erfahren solltet.“
„Hättet Ihr nicht einen Brief schreiben können?“, lautete Renthars höhnische Antwort.
„Hättet Ihr ihn gelesen?“, entgegnete Lor’themar, und das leichte Zucken um Auroras Lippen und die zunehmende Finsternis, die Renthars Miene umfing, verrieten ihm, was er bereits wusste: Sie hätten es nicht getan. „Ich habe den weiten Weg nicht wegen Belanglosigkeiten auf mich genommen“, sagte er schließlich. „Werdet Ihr zumindest anhören, was ich zu sagen habe?“
Renthar und Aurora betrachteten ihn wortlos, machten kehrt und gingen zurück in die Hütte. Lor’themar folgte ihnen, wobei er sich der hochelfischen Augen, die jeden seiner Schritte beobachteten, schmerzhaft bewusst war.
Die Außenposten der Weltenwanderer in den östlichen Königreichen waren nie besonders prächtig gewesen, doch Quel’Lithiens Schlichtheit war ernüchternd. Etliche Wände waren mit tiefen Kerben irgendeiner Klingenwaffe versehen und die dunklen, in die Bodenbretter eingetretenen Flecken waren mit Sicherheit Blut. Dessen ungeachtet war den Elfen der Zustand der Hütte keinesfalls gleichgültig: Die Vorhänge waren zwar abgenutzt, aber sorgsam mit gleichmäßigen Stichen genäht worden. Die alte, an die Wand genagelte Karte Lordaerons war übersät mit unzähligen Notizen, alle jedoch in eleganter Handschrift und ohne auch nur einen einzigen Tintenfleck auf dem vergilbten Pergament hinterlassen zu haben. Ein eigenartiger Schmerz stieg in Lor’themar herauf, als er seinen Blick über all diese Dinge schweifen ließ, als hätte er gerade den Brief einer vergessenen Geliebten wiederentdeckt. Einst hatte er das Leben eines Weltenwanderers geführt, in Tagen, die ihm nun so fern schienen, dass sie ihm wie ein Traum vorkamen.
„Hier“, sagte Renthar, während er mit dem Daumen in Richtung eines kleinen Zimmers zeigte und die Tür energisch aufstieß. „Schließt sie hinter Euch“, befahl er Lor’themar, ohne zurückzusehen.
Lor’themar nahm Aurora gegenüber Platz. Renthar wischte diverse Fetzen blutverkrusteter Lederrüstung von dem schmalen Tisch in der Mitte des Raumes, bevor er sich neben ihr niederließ, und Lor’themar musste sich ein leichtes Grinsen verkneifen, so wie die beiden ihn, wie Richter eines Tribunals, mit ihren Blicken durchbohrten.
„Ihr meintet, Ihr hättet etwas zu sagen“, durchschnitt Renthars Stimme die Stille. „Also sprecht.“
„Vor mehreren Wochen kehrten Truppen des Sonnenzorns zu uns zurück.“
Renthars und Auroras Augen weiteten sich in ungläubigem Staunen, was in Lor’themar ein selbstzufriedenes, aber leeres Gefühl der Befriedigung aufsteigen ließ.
„Beim Sonnenbrunnen“, sprach Aurora leise. „Ich kann nicht behaupten, dass ich das jemals für möglich gehalten hätte.“
„Und?“ In Renthars Augen bemerkte Lor’themar ein merkwürdiges Funkeln – er erinnerte ihn beinahe an Rommath. „Seid Ihr auf Befehl des Prinzen hier, um uns eine offizielle Entschuldigung anzubieten?“
„Vielleicht“, entgegnete Lor’themar, „wenn er noch am Leben wäre.“
Hatte einer der beiden Hochelfen vor ihm bisher schockiert ausgesehen, dann war dies nichts im Vergleich zu dem Ausdruck, der sich jetzt auf ihren Gesichtern niederschlug. Sie wurden blass.
„Erklärt Euch, verdammt“, verlangte Renthar.
Lor’themar nahm einen tiefen Atemzug und begann die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit zu umreißen. Er hatte nicht vorhergesehen, wie schmerzhaft es sein würde, die Geschichte darzulegen, besonders gegenüber zwei Personen, die ihn so abgrundtief verachteten. Er zwang die Worte aus seiner Kehle, eins nach dem anderen, manche sogar mit Gewalt. Er musste sie förmlich ausspucken, um sie überhaupt herauszubekommen. Als er endlich fertig war, blinzelte er einmal, als würde er gerade aus einem tiefen Schlaf erwachen.
„Der Sonnenbrunnen ist also zu uns zurückgekehrt“, sagte Aurora. Sie wandte ihr Gesicht zum Fenster.
„Ja“, antwortete Lor’themar.
Die vollkommene, tödliche Stille der Pestländer umfing sie. Lor’themar senkte den Kopf, als er noch einmal seinen persönlichen Moment der Erkenntnis durchlebte, der in dem Augenblick kam, als der letzte Staub der Schlacht über Quel’Danas sich gelegt hatte und der Sonnenbrunnen wieder in majestätischem und stolzen Glanz erstrahlte. Er hatte ihn mit demselben bewegungslosen Gesichtsausdruck betrachtet, der sich nun in Renthars und Auroras Mine gefressen hatte, und war nicht in der Lage gewesen, sich an seinem Schein zu erfreuen. Nie hätte er sich träumen lassen, dass der Preis seiner Rückkehr so hoch sein würde.
Auroras Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Ich hatte mich schon gefragt, warum die Schmerzen der Sucht in letzter Zeit so gelindert wirkten. Ich bedurfte keiner ... Hilfe, ... um mit ihnen fertigzuwerden.“
„Die Magie im Sonnenbrunnen hat sich verändert“, gab Lor’themar zurück. „Manche brauchen etwas Zeit, um sich daran zu gewöhnen.“
„Ja, manche“, Aurora hob ihren Arm und schien nach etwas zu greifen, das Lor’themar nicht sehen konnte, um es zwischen ihren Fingern zu drehen wie eine lange Kordel. „Ich bin eine Priesterin des Lichts. Ich kenne diese Magie.“
„Sie war ein großes Geschenk“, hörte Lor’themar sich selbst sagen. Aurora blickte ihn von der Seite an und er wusste, dass sein Mangel an Überzeugung nicht unbemerkt geblieben war.
„Wenn der Prinz tot ist“, sprach Renthar, „was wird dann aus der Krone von Quel’Thalas?“
„Kael’thas selbst hat verfügt, dass Anasterian für alle Zeit der letzte König Quel’Thalas sein wird. Es gibt niemanden, der Anspruch auf die Krone erhebt.“
Renthars Augen verengten sich zu Schlitzen. „Und was, wenn doch jemand Anspruch auf sie erheben würde?“
„Kein Lebender hat ein Anrecht auf sie.“
Renthar sah ihm direkt in die Augen. Lor’themar erwiderte seinen Blick mit derselben Entschlossenheit. Renthar Falkenspeer mochte alles, was er sagte, in Zweifel ziehen, aber dies nicht.
Aurora ergriff das Wort. „Ich vermute, das ist, was Ihr uns berichten wolltet.“
„Ja“, antwortete Lor’themar.
„Dann fühlt Euch frei zu gehen“, sagte Renthar.
Lor’themar schloss die Augen. „Da gibt es noch etwas.“ Das Schwerste lag noch vor ihm.
„Ist das so?“ Renthars Stimme klang schal. „Und?“
„Da der Sonnenzorn zu uns zurückgekehrt ist“, setzte Lor’themar an, „und unsere Position in den Geisterlanden inzwischen ... gefestigter ist ... werden die Weltenwanderer nicht mehr so in Anspruch genommen werden müssen wie bisher. Sie ... ich ... würde Euch gerne geregelten Nachschub zukommen lassen.“
Lor’themar war zwar inzwischen den Spott derer, die er nicht zufriedenstellen konnte, gewohnt, aber den stechenden Schmerz, den Renthars schallendes Gelächter nun in ihm hervorrief, hatte er nicht kommen sehen. Selbst Auroras Miene, sonst stets beherrscht und ruhig, errötete vor unumwundener Verachtung.
„Seit fünf Jahren verrotten wir hier, auf Euer Geheiß aus unseren Heimen vertrieben, weil wir uns weigerten, Lebewesen Magie auszusaugen wie Vampire!“ Renthar erhob sich von seinem Stuhl und beugte sich, buchstäblich zitternd vor Wut, über den Tisch. „Und jetzt wollt Ihr uns Hilfe anbieten? Nach allem, was wir durchgemacht haben, kommt Ihr jetzt? Nach dem, was die Horde uns im Namen dieses menschlichen Bastards angetan hat, der sich einen Waldläufer nannte? Für wie blind haltet Ihr mich, Lor’themar? Ich sollte Euch töten. Ich sollte Euch töten und Sylvanas Euren Kopf schicken!“
Durch Renthars ganze hassvolle Tirade hindurch hielt Lor’themar sich an einem einzigen Wort fest. Waldläufer, hatte er gesagt, und zwar nicht irgendeiner, sondern menschlicher. Soweit Lor’themar wusste, hatte es davon bisher nur einen gegeben.
„Ich dachte“, begann er bedächtig, „Nathanos Marris wäre durch die Geißel ums Leben gekommen.“
Sowohl Aurora als auch Renthar wandten sich langsam um, um ihn anzusehen. Ihre Mienen kalt wie Masken aus Elfenbein. Zum ersten Mal, seit er zu dieser Konfrontation angetreten war, hörte Lor’themar sein Herz in den Ohren hämmern und der Knoten in seiner Kehle ließ ihn kaum schlucken.
Aurora war die Erste, die wieder sprach.
„Das ist er auch“, sagte sie.
Lor’themar fixierte Auroras Gesicht. Da war noch irgendetwas anderes, das wie ein Schatten in den Winkeln des Raumes lauerte, und er würde herausfinden, was es war, bevor er sie verließ.
„Er wurde nicht selbst zur Geißel“, fuhr sie fort.
„Sylvanas hatte schon immer einen seltsamen Narren an ihm gefressen“, murmelte Renthar, den Blick abgewandt. „Es dürfte keine große Überraschung sein, dass sie ihn in ihren Dienst band, bevor Arthas Gelegenheit hatte, ihn umzustimmen.“
„‚Wir kommen im Namen der Bansheekönigin’“, zitierte er. „Das sagten sie bei ihrer Ankunft. ‚Ihr habt etwas, das ihm gehört.’“ Renthar wandte sich wieder Lor’themar zu. „Wir bewahrten eine Kopie der Akte auf, die Einzelheiten zu Marris’ Aufnahme bei den Weltenwanderern enthielt. Sie nahmen sie mit Gewalt an sich und erschlugen jeden meiner Waldläufer, den sie finden konnten. Die Horde, Lor’themar. Und Verlassene. Sylvanas Volk. Eure Verbündeten.“
Lor’themar war nicht in der Lage zu sprechen. Er hatte Angst, seine Stimme würde zittern.
„Einst hätte ich auf Befehl des Waldläufergenerals, ohne zu zögern, mein Leben gegeben.“ Renthars Stimme war von unerträglicher Bitterkeit erfüllt. „Wir sind nicht mehr ihr Volk. Genauso wenig wie das Eure.“
„Renthar“, hob Lor’themar an, „trotz all unserer Differenzen wisst Ihr, dass ich niemals ...“
Er wurde von Renthars Lachen unterbrochen.
„Ihr habt uns hierher geschickt, um uns loszuwerden, und habt dann die Stirn, schockiert zu tun, wenn wir leiden? Es gibt keine Flüche, die übel genug wären, um Euch zu beschreiben, Lor’themar. Ich weiß, wessen Soldaten in Tristessa stehen, Lordregent. Ich frage mich, wie viele Eurer eigenen Sin’dorei-Waldläufer sie direkt unter Eurer Nase ermordet haben. Paktiert mit dem Teufel, wie es Euch beliebt. Ich hoffe nur, Ihr bekommt, was Ihr verdient.“
„Geht jetzt“, fügte er leise hinzu. „Schickt Nachschub, wenn Ihr wollt. Ich werde Euch die Herzen seiner Träger zurückschicken, gewickelt in ihre eigenen Wappenröcke.“
Lor’themar stand auf und machte sich daran, zu gehen. Sie hatten ihn unvorbereitet erwischt und die Wände um ihn versprachen keinen festen Schutz mehr. Er sah Aurora aufstehen und mit herausfordernd hochgestrecktem Kinn auf ihn herabblicken. Weder sie noch Renthar sprachen auch nur ein einziges weiteres Wort, und es wirkte fast, als würde er von der schieren Kraft ihres Hasses aus dem Raum gestoßen.
Er hatte keinen Grund, sie zu bekämpfen. Allenfalls könnte er ihnen seine Hände in Buße entgegenstrecken, doch sie würden nur darauf spucken und, wenn er ehrlich war, könnte er es ihnen nicht einmal verdenken. Wenn er jemals auch nur einen Funken Hoffnung auf Vergebung besessen hatte – und das mochte durchaus der Fall gewesen sein – so hatte die Trostlosigkeit der Pestländer diesen ebenso erstickt, wie sie dies mit allem tat, was lebte und träumte. Diese Brücken waren schon vor langer Zeit in den Flammen aufgegangen, die er mit eigener Hand gelegt hatte.
Seine drei Leibwächter saßen wartend im Empfangszimmer, umringt von Quel’dorei-Waldläufern mit aufgelegten Pfeilen. Er ging forschen Schrittes hinaus, seine Waldläufer folgten ihm schweigend.
Auf dem Hof hielt ein quel’lithischer Späher die Zügel ihrer Falkenschreiter und ein weiterer ihre Waffen. Lor’themar nahm seine Ausrüstung an sich, schwang sich in den Sattel und blickte noch einmal dorthin zurück, wo Renthar und Aurora standen und sie beobachteten. Eine innere Regung drängte ihn, etwas zu sagen, irgendetwas, das die tiefe Kluft zwischen ihnen überwinden würde, aber jedes Wort, das ihm in den Sinn kam, verdorrte und zerfiel in seinem Mund zu Staub. Er ließ seinen Falkenschreiter kehrtmachen und blickte nicht mehr zurück.
***
Als sie Stunden später zum Thalassischen Pass heraufritten, begann es zu schneien. Sie passierten die Tore, die Quel’Thalas’ Südgrenze markierten, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Einst hatten sich ihre Bögen golden und weiß in den Himmel erhoben, als würden sie aus dem Fels selbst entspringen und sich zu Boden ergießen wie ein Wasserfall aus Marmor und Bernstein. Arthas hatte sie, wie alles andere, in Schutt und Asche verwandelt. Die düsteren Banner der Geißel hingen noch hoch von den Wällen und flatterten knatternd über ihren Köpfen im Bergwind.
„Lord Theron“, rief einer seiner Leibwächter, „Ihr solltet bei diesem Wetter Euren Mantel tragen.“
Lor’themar blieb stumm. Nichts könnte die innere Kälte lindern, die seinen Körper in eisigem Bann hielt. Die Schneeflocken schlugen ihm ins Gesicht und scheuerten seine Haut wund.
***
Halduron und Rommath erwarteten Lor’themar nach seiner Rückkehr in Silbermond. Auch Aethas war dabei, sehr zu Lor’themars Leidwesen. Halduron blickte ihn an. „Und?“ Lor’themar schüttelte nur den Kopf. Halduron zog die Augenbrauen hoch, als würde er fragen, „Was hast du erwartet?“ Rommath wich seinen Blicken aus.
„Wie haben sie auf Euch reagiert?“, wollte Aethas wissen. Lor’themar drehte sich um und sah ihn geradewegs an.
„Vor fünf Jahren habe ich sie aus ihren Heimen vertrieben, für die sie ebenso erbittert gekämpft hatten, wie dies jeder in Quel’Thalas heute tut“, antwortete er. „Was glaubt Ihr wohl, wie sie reagiert haben?“
Aethas fuhr zusammen.
„Vereesa Windläufer ist mit dem neuen Anführer der Kirin Tor verheiratet. Sie mag weder mich noch jene, die ich vertrete. Ich hatte gehofft ... weil Ihr doch selbst ein Waldläufer seid ...“, Aethas zuckte mit den Schultern. „Ich dachte, Ihr könntet uns vielleicht helfen, diese Kluft zu überwinden. Ich nehme an, es hat nicht funktioniert?“
Lor’themars Blick verfinsterte sich, als Vereesas Name fiel. „Ihr nehmt richtig an“, gab er zurück.
***
Am Nachmittag berichtete Lor’themar Halduron zwischen tiefen Zügen Immersangweins die Einzelheiten seiner Reise nach Quel’Lithien.
„Es war doch klar, dass sie dich mit Verachtung strafen würden. Das wusstest du von Anfang an“, ermahnte sein Waldläufergeneral ihn. „Ehrlich gesagt, begreife ich nicht, warum du die Reise überhaupt angetreten hast.“
„Du hättest dasselbe getan“, entgegnete Lor’themar, was Halduron ein Stirnrunzeln abrang.
„Du kennst mich einfach zu gut“, sagte er schließlich. Er rekelte sich auf seinem Stuhl und starrte aus dem Fenster.
„Sie wussten noch nichts vom Sonnenbrunnen“, fuhr Lor’themar fort. „Es war richtig zu gehen.“
„Wen versuchst du hier eigentlich zu überzeugen?“, erwiderte Halduron irritiert.
„Halduron“, fügte Lor’themar rasch an „erinnerst du dich an Nathanos Marris?“
„Natürlich.“ Halduron zog die Stirn in Falten. „Und?“
„Aurora hat mir erzählt, dass er als Untoter wiedererweckt wurde“, erwiderte Lor’themar. „Sylvanas hat ihn in ihren Dienst gestellt. Man nennt ihn den Champion der Bansheekönigin.“
Halduron lehnte sich in seinem Stuhl zurück, bis dieser nur noch auf den Hinterbeinen stand, und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. „Amüsant“, sagte er. „Sylvanas hatte doch immer für ihngestritten. Kae... äh ... einige ... waren nicht gerade erpicht darauf, einen Menschen bei den Weltenwanderern ausbilden zu lassen. Mich eingeschlossen.“
„Die Waldläufer in Quel’Lithien wurden von einem Trupp der Horde im Namen des Champions der Bansheekönigin angegriffen“, rückte Lor’themar endlich heraus. Er leerte sein Glas und stellte es auf den Tisch. „Viele von ihnen wurden getötet.“
Die Vorderbeine von Haldurons Stuhl schlugen mit einem Krachen auf den Boden.
„Weshalb sollte er Quel’Lithien angreifen?“
Lor’themar zuckte mit den Schultern. „Quel’Lithien besaß eine Kopie der thalassischen Akte, in der Sylvanas seine Zulassung zu den Weltenwanderern absegnete. Anscheinend wollte er sie haben.“
„Und deshalb hat er seine Schergen ausgesandt, um sie anzugreifen? Wegen eines Buches?“ In Haldurons Stimme schwang wachsende Ungläubigkeit.
„Das haben sie mir jedenfalls gesagt.“
„Bist du sicher, dass sie dich nicht angelogen haben?“
„Daran habe ich auch schon gedacht“, gab Lor’themar zu, „aber wenn Renthar Falkenspeer jemals etwas war, dann prinzipientreu.“
„Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Aurora ihren Lebtag auch nur ein einziges Mal unaufrichtig war“, ergänzte Halduron. Er stieß einen tiefen Seufzer aus. „Glaubst du, Sylvanas weiß davon?“
Lor’themar schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung.“
„Glaubst du, es würde sie kümmern, wenn sie davon wüsste?“
Das war die Frage, die Lor’themar die ganze Zeit gefürchtet hatte. „Das weiß ich genauso wenig. Was, wenn nicht?“ Er vergrub sein Gesicht in den Händen. „Das waren ihre Waldläufer.“
„Als du sie verstießt, waren sie deine“, sagte Halduron leise.
„Eigentlich waren sie deine“, warf Lor’themar zurück. Einen Moment lang drohte er vor Zorn zu explodieren, aber dann sanken seine Schultern wieder herab. Renthars Worte hallten gespenstisch in seinem Kopf wider. Ihr habt uns hierher geschickt, um uns loszuwerden, und habt dann die Stirn, schockiert zu tun, wenn wir leiden?
„Ich hatte nie vor, sie umzubringen“, sagte Lor’themar schließlich und das Flehen in seiner Stimme ließ ihn erschaudern, „aber ich konnte nicht zulassen, eine geteilte Nation zu führen ...“
Eine schwere Hand auf seiner Schulter ließ ihn den Kopf heben.
„Ich weiß“, sagte Halduron und stellte ein neu gefülltes Glas vor ihn. „Beruhige dich wieder“, seine Stimme war schroff, aber nicht unfreundlich. „Wir wussten von Anfang an, dass es riskant war, den Verlassenen zu vertrauen. Aber wer sonst hatte jemals zuvor angeboten, für Quel’Thalas in den Kampf zu ziehen?“
Lor’themar hob sein Glas. Die Nachmittagssonne schien hindurch und färbte den Inhalt rostrot wie der Boden der Pestländer.
***
Lor’themars Finger hämmerten unermüdlich auf die Schreibtischplatte ein, während er teilnahmslos seine Notizen aus den diversen Unterredungen mit Aethas durchging. Er würde dem Erzmagier heute oder morgen eine verbindliche Antwort geben müssen. Während Daumen und Zeigefinger seine Nasenwurzel massierten, wanderte sein Blick zu dem Wein, der im Regal stand. Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken.
„Ja?“, antwortete er.
Der Bote verbeugte sich hastig und begann zu sprechen.
„Lord Theron, in der Halle wird nach Eurer Anwesenheit verlangt.“
Lor’themar zog die Stirn in Falten. Halduron und Rommath wären persönlich erschienen und Aethas inzwischen wahrscheinlich auch.
„Ich bin beschäftigt“, erwiderte er entschieden.
„Mein Lord“, bestand der Bote, „die Bansheekönigin duldet keine Verzögerung.“
Lor’themar spürte deutlich, wie ihm das Herz in die Hose rutschte. Er erhob sich.
„Nein“, erwiderte er leise, „selbstverständlich tut sie das nicht. Führt mich zu ihr.“
Der Bote machte auf dem Absatz kehrt, jedoch nicht, ohne seinem Lordregenten einen besorgten Blick zuzuwerfen. Lor’themar wappnete sich geistig für die bevorstehende Begegnung, während er ihm folgte.
Er nutzte die Zeit, die sie bis zur Empfangshalle benötigten, um seine Gedanken zu ordnen. In all den Jahren, die er Quel’Thalas nun bereits regierte, hatte er es immer fast als körperlichen Akt empfunden, sich den Mantel der Autorität überzustreifen. Er konnte die Veränderung bis in seine Fingerspitzen fühlen. Wenn er Sylvanas gegenübertrat, würde er alle Entschlossenheit benötigen, die er aufbringen konnte.
Halduron und Rommath schlossen sich ihm schweigend an. Das Gesicht des Waldläufergenerals war hart. Rommath war etwas gelöster. Ihm war bewusst, was sie erwartete, aber seine Furcht war von distanzierter und unpersönlicher Natur, im Gegensatz zu Lor’themars und Haldurons. Für sie war Sylvanas Schicksal eine Wunde, die bei jeder Begegnung erneut aufgerissen wurde, und ihr Schmerz war noch nicht abgeklungen.
In der Halle, in der Sylvanas sie erwartete, schien das Licht verblasst zu sein. Es wurde weder gedämpft noch getrübt, vielmehr fiel es in sich zusammen und versank an der Stelle, an der sie stand. Selbst das Sonnenlicht geriet in ihrer Nähe ins Stocken. Das wilde, weiße Glühen ihrer Augen hob die bleiche Haut ihres verhärmten Antlitzes sogar noch mehr hervor. Ihre königlichen Schreckenswachen flankierten sie, geschwärzte Klingen in den skelettierten Händen.
Das Einzige, was Lor’themar vernahm, als er die Halle betrat, war der Widerhall seiner eigenen Schritte, und selbst dieser schien in Gegenwart der Bansheekönigin unnatürlich rasch zu verstummen.
„Was führt Euch nach Silbermond, Sylvanas?“, fragte er.
„Ich komme gerade aus Orgrimmar“, erwiderte sie. Ihre Stimme schabte die Wände entlang. Als ihr Mund sich bewegte, konnte Lor’themar das Fleisch darum reißen und abplatzen sehen wie eine lang abgelegte Schlangenhaut. „Arthas hat es gewagt, einen Streich gegen das Herz der Horde zu führen.“
Lor’themars Mund wurde trocken und eine Welle des Unbehagens stieg in seiner Brust empor. Sylvanas hielt einen Moment lang inne, um in seinem Gesicht nach einer Reaktion zu suchen. Er biss die Zähne zusammen, blieb aber stumm.
„Der Angriff wurde zurückgeschlagen“, fuhr sie fort. „Aber Arthas spielt nur mit uns – wir müssen den Krieg zu ihm tragen. Kriegshäuptling Thrall hat endlich erkannt, was wir schon lange wussten.“ Ihre Augen sprühten vor gefährlichem Verlangen. „Die Horde bereitet sich auf den Krieg vor. Und die Sin’dorei, Lor’themar, sind ein Teil der Horde.“
Ihre Worte trafen ihn wie ein Felsschlag. Er wusste, wonach sie ersuchte, und es war ihm immer klar gewesen, dass dieser Tag irgendwann kommen würde. Und dennoch war er in diesem Moment, da er inmitten der Halle stand und plötzlich gewahr wurde, wie deren schiere Größe ihn verschlang, nicht in der Lage, eine Antwort zu geben.
„Lor’themar.“ Sylvanas Worte prasselten ungeduldig auf ihn ein. „Wir werden Arthas vernichten – ein für alle Mal.“
Bedächtig schüttelte Lor’themar den Kopf.
„Ich weiß es zu würdigen, dass Ihr und Kriegshäuptling Thrall uns einladet, gemeinsam mit Euch an vorderster Front in Nordend zu stehen. Aber auf unseren Schultern lastet bereits zu viel. Gerade erst erhielt ich eine ähnliche Bitte der Kirin Tor, doch ich kann unsere Truppen nicht guten Gewissens nordwärts schicken. Seit den Geschehnissen auf Quel’Danas ...“
„Dies ist keine Bitte, Lor’themar“, fuhr sie dazwischen. Ihre Augen funkelten rot vor Zorn. „Ihr werdet Truppen aussenden. Sie werden die Verlassenen begleiten.“
„Sylvanas“, entgegnete Lor’themar mit ruhiger Stimme, „wir haben gerade erst einen Bürgerkrieg hinter uns. Was sollten wir Euch geben können?“
„Habt Ihr etwa schon vergessen, wer der Hauptverantwortliche für den Zustand von Quel’Thalas ist? Wem letztlich die Schuld zufällt?“ Sie durchforschte sein Gesicht nach einer Antwort, fuhr aber fort, als sie ausblieb. „Nun, ich immerhin nicht! Niemand wird mir meine Rache vorenthalten und Ihr werdet geben, was ich von Euch verlange: die Sin'dorei-Waldläufer und auch die Blutritter.“
„Wir können sie nicht entbehren, Sylvanas.“
Ihre schartigen Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Grinsen.
„Dann versteckt Euch hier wie ein geprügelter Hund, wenn dies tatsächlich Euer Begehr ist, Lor’themar. Doch wenn Ihr glaubt, dadurch etwas zu gewinnen, seid Ihr ein Narr. Denkt Ihr, Arthas wird Euch einfach ignorieren, während Ihr hier wartet und Eure Wunden leckt? Denkt Ihr, ich werde solche Feigheit tolerieren? Ich warne Euch: Wer nicht für die Verlassenen ist, ist gegen sie. Und wer gegen die Verlassenen ist, wird sich dieser zweifelhaften Ehre nicht lange erfreuen können.“
„Mein Volk steht nun schon geraume Zeit Wache in diesen Landen und Euer Platz in der Horde steht und fällt mit meinem Wort. Ihr werdet uns in Nordend unterstützen oder ich werde Euch meine Unterstützung in Quel’Thalas entziehen.“
Im Süden, nahe der Pestländer, wo die Geißel sich trotz aller Bemühungen immer noch ungezügelt über die Todesschneise verbreitete, konnten sie sich den Verlust von Sylvanas Truppen auf keinen Fall leisten. Er hatte Aurora und Renthar nicht angelogen, als er ihnen berichtet hatte, ihre Position in den Geisterlanden sei inzwischen gefestigter, aber er war keineswegs so naiv zu glauben, sie könne allein durch thalassische Truppen gehalten werden. Ohne die Verlassenen würde Tristessa fallen. Und was käme dann?
Zum zweiten Mal seit seiner Rückkehr aus Quel’Lithien hörte er in Gedanken Falkenspeers Worte.
Wir sind nicht mehr ihr Volk.
Wenn Lor’themar sich gegenüber ehrlich war, konnte er nicht abstreiten, dass er dies schon die ganze Zeit gewusst hatte.
„Schickt mein erschöpftes Volk in den sicheren Tod nach Nordend oder riskiert, Quel’Thalas erneut an die Geißel zu verlieren.“ Von fern drang sein Gelächter an seine Ohren, und es klang mehr wie das Rommaths. „Hier gibt es keine Wahl, Sylvanas.“
Die Bansheekönigin beäugte ihn emotionslos.
„Ich erwarte Eure Truppen in zwei Wochen in Unterstadt, Lor’themar“, entgegnete sie. „Ich dulde in dieser Angelegenheit keine Enttäuschung.“
„Gewiss, meine Fürstin.“
Sie wandte sich zum Gehen.
„Wie könnt Ihr das nur tun?“ Lor’themar registrierte die verzweifelte Wut in Rommaths Stimme mit einer Art dumpfer Überraschung. Irgendwie schien der Großmagister immer noch zu glauben, man könne Sylvanas zum Verhandeln zwingen.
„Das ist Erpressung!“, fuhr Rommath fort, die Knöchel seine Fäuste wurden weiß, als er sie um seinen Stab ballte. „Ihr wart es doch, die darum gefleht hat, uns helfen zu dürfen! Wir haben niemals um Eure Hilfe gebeten. Ihr habt sie aus freien Stücken gewährt! Wie könnt Ihr Euch in einem Atemzug als unsere Verbündete bezeichnen und im nächsten in Geiselhaft nehmen?“
Sylvanas betrachtete ihn einen Moment lang schweigend, wobei sie es irgendwie schaffte, auf ihn herabzublicken, obwohl er eigentlich größer war als sie.
„Niemand hat Euch gezwungen, mein Angebot anzunehmen“, entgegnete sie. „Es war allein Eure Wahl. Alles, was ich verlange, sind der Wille und die Stärke, unseren größten Feind zu besiegen.“
In Rommaths Augen stand der blanke Hass, doch Lor’themar ergriff das Wort, bevor er etwas erwidern konnte.
„Gibt es sonst noch etwas, worüber Ihr gerne diskutieren würdet, Sylvanas?“ Seine Stimme klang in seinen Ohren unterwürfig, jeden Willens und jeglicher Leidenschaft beraubt. Diskutieren, verhöhnte ihn eine leise Stimme. Als wenn man mit der Bansheekönigin diskutieren könnte.
„Nein. Ich bin hier fertig, Lor’themar.“
„Shorel’aran, Sylvanas“, sagte er. Ihre Augen blitzten auf, als sie den thalassischen Abschiedsgruß vernahm, aber sie verlor keine weiteren Worte. Lor’themar sah ihr teilnahmslos nach. Er tat es nur, weil es sonst nichts zu sehen gab. Er fühlte sich so zerbrechlich, wie ein gefrorener Grashalm.
Als Lor’themar sich umwandte, bemerkte er zu seinem Missfallen, dass Aethas irgendwann im Laufe der Unterredung erschienen war. Es ärgerte ihn, dass der Erzmagier Zeuge seiner Demütigung geworden war, er besaß aber kaum noch die Kraft, um sich mit Fragen des Stolzes zu befassen. Trotz seiner Benommenheit war sein Verstand bereits mit Listen beschäftigt. Er kannte den Krieg. Halduron würde Hauptmann Sonnenmal und Leutnant Dämmerflucht herbeizitieren. Rommath würde die Magi in Kenntnis setzen. Außerdem könnte er die Blutritter vertreten, wenn sie Liadrin verständigten. Aethas würde tatsächlich Gelegenheit erhalten, sich zu beweisen. Auf dem Rückweg wandelte Lor’themar den Korridor entlang, als würde er träumen.
„Lor’themar!“
Er hielt an und wandte sich dem Redner zu, wobei er versuchte, seine Züge aufmerksam oder interessiert erscheinen zu lassen. In Wahrheit aber war er erschöpft. Er wollte nur noch zurück an seinen Schreibtisch, um sich in Ruhe notwendigen, anspruchslosen Aufgaben widmen und dabei eine Weile vergessen zu können, was sich soeben ereignet hatte.
Doch wie gewöhnlich ließ Rommath ihn nicht gewähren.
„Lor’themar“, rief er erneut, als er zum Lordregenten aufschloss. „Ihr könnt doch nicht ernsthaft ... wir haben nicht ...“
„Ihr habt sie gehört, Rommath“, unterbrach Lor’themar ihn. „Wenn wir nicht nach Nordend gehen, verlieren wir die Unterstützung der Verlassenen – und den Rest der Horde wahrscheinlich gleich mit. Also gehen wir.“ Er wandte sich wieder zum Gehen.
„In den Spitälern von Quel’Danas liegen immer noch verwundete Soldaten!“, fuhr Rommath fort. „Wir haben noch nicht einmal eine anständige Gedenkfeier für die Toten abgehalten – beim Sonnenbrunnen, Lor’themar!“
„Wir haben keine Wahl, Rommath. Begreift Ihr das nicht? Entweder, wir folgen Sylvanas Geheiß oder verlieren wahrscheinlich das gesamte Quel’Thalas südlich des Elrendars!“
„Dann gebt es auf!“, schrie Rommath und Lor’themar erstarrte vor Schreck. Langsam drehte er sich noch einmal um und blickte in Haldurons gleichermaßen entsetztes Gesicht.
„Es aufgeben?“, seine Stimme begann, sich zu erheben. „Wisst Ihr, wie viele Elfen – Sin’dorei wie Quel’dorei – bei der Verteidigung dieses Landes den Tod gefunden haben? Wie viele dies noch jetzt tun? Und Ihr sagt, ich soll es einfach aufgeben? Was in aller Welt ist in Euch gefahren?“
„Sie wären lieber umsonst gestorben, statt ihr Leben zu geben, damit Ihr Euch im Namen ihres Opfers in die Marionette eines – eines Monsters verwandelt!“
Lor’themar traute seinen Ohren nicht. Rommaths Augen funkelten ihn an, nicht aus Zorn oder Verachtung, sondern in wilder und erschütternd untypischer Verzweiflung. Während Lor’themars gesamter Amtszeit als Regent, und obwohl er und Rommath bereits über zahllose Fragen gestritten hatten, hatte Rommath in seinem Beisein noch nie die Beherrschung oder Haltung verloren. Doch nun zitterte er nahezu am ganzen Körper. Aus den Augenwinkeln wurde Lor’themar gewahr, dass sich eine kleine Schar Zuschauer um sie versammelt hatte. Er wollte keinen Aufruhr provozieren.
„Fallt nicht auf ihre Drohungen herein“, sagte Rommath still, und Lor’themar wurde in entsetztem Staunen bewusst, dass er ihn anflehte. „Sie wird Euch nur benutzen.“
Lor’themar ballte zornig die Fäuste. „Ich werde tun, was auch immer zum Schutze Quel’Thalas und seiner Bewohner erforderlich ist“, erklärte er. „Selbst wenn das heißt, benutzt zu werden. Und Ihr werdet meinen Befehlen Folge leisten. Habe ich mich klar ausgedrückt?“
„Und wie lange, denkt Ihr, werdet Ihr dieses Spiel spielen können?“
„Solange es sein muss“, erwiderte Lor’themar unbeirrt. Rommath hatte seinen Starrsinn geweckt und der Lordregent würde nun nur noch schwerer eines Besseren zu belehren sein. Er richtete sich zu voller Größe auf und starrte Rommath nieder. Rommath hielt seinem Blick einen kurzen Moment lang stand, doch dann schien sein Körper einfach unter ihm wegzusacken. Er schloss die Augen.
„Ein anderer Anführer der Sin’dorei hat mir einst etwas sehr Ähnliches gesagt, Lor’themar“, sprach er sanft, den Blick abgewandt.“ „Ich habe ihm damals nicht widersprochen. Ehrlich gesagt, dachte ich sogar, er hätte recht.“
Lor’themars Blut gefror.
„Wir begruben ihn auf Quel’Danas“, fügte Rommath hinzu. Er stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ich werde Lady Liadrin und Magister Blutschwur von Eurem Entschluss unterrichten, Lordregent. Ich erstatte Euch dann Bericht über den Stand ihrer Vorbereitungen.“ Dann ging er mit gebeugten Schultern und ohne ein weiteres Wort von dannen.
Kaum eines Gedankens fähig, folgte Lor’themar der schwindenden Gestalt des Großmagisters mit leerem Blick, bis dieser hinter einer Ecke verschwand.
„Lor’themar.“ Haldurons sanfte Stimme erweckte ihn aus seinem Dämmerzustand. Er wandte sich zu seinem Freund um, doch der Waldläufergeneral betrachtete ihn befremdend, gerade so, als würde er ihn zum ersten Mal sehen. Lor’themar wollte ihn schütteln, ihn anschreien, ihn nicht länger so anzustarren.
„Wie lauten die Befehle des Lordregenten?“, fragte Halduron. Seine Förmlichkeit war niederschmetternd.
„Verständige die Zuflucht der Weltenwanderer und die Enklave“, antwortete er. „Teile ihnen unseren Entschluss mit.“
Halduron nickte und ließ ihn mit einem letzten unergründlichen Blick zurück.
Lor’themar sah sich um. Ein einziges böses Funkeln der Augen ließ die Diener und Palastwachen zu ihren Pflichten zurückeilen. Die einzige Person, die im Korridor zurückblieb, war Aethas Sonnenhäscher, der sich schlicht weigerte, ignoriert zu werden.
„Wenn Ihr nach Nordend geht, werdet Ihr dann auch die Kirin ...“
„Die Kirin Tor können tun und lassen, was sie wollen – es interessiert mich nicht!“, fuhr ihn Lor’themar an. „Aber da schon bald eine beträchtliche Anzahl an Sin’dorei-Truppen gen Norden aufbrechen wird, dürften viele von ihnen in absehbarer Zeit auf Eurer Türschwelle stehen. Ihr werdet sie nach besten Kräften unterstützen, Aethas. Nun geht und sucht Rommath. Ich bin sicher, dass er gute Verwendung für Euch haben wird.“ Lor’themars Verachtung brach endlich offen hervor. „Ich denke, Ihr solltet Euch freuen, Erzmagier.“
Aethas schüttelte den Kopf. „Ihr habt recht, es war mein Wunsch, Eure Unterstützung in Nordend zu gewinnen, Lordregent. Aber nicht zu diesem Preis. Bitte glaubt mir, wenn ich sage, dass ich sie Euch lieber hätte aus freiem Willen gewähren sehen, als wegen ...“
„Mein freier Wille ist unversehrt“, unterbrach ihn Lor’themar erneut, Aethas spitze Worte hatten ihn zutiefst getroffen. „Und es ist nach wie vor mein Wille, der Quel’Thalas regiert.“
„Gewiss, mein Lord“, erwiderte Aethas mit einer leichten, beschwichtigenden Verbeugung. Doch als er seinen Kopf wieder hob, konnte Lor’themar sehen, dass die Entschuldigung nicht bis zu seinen Augen gelangt war. Kochend vor Wut machte Lor’themar auf dem Absatz kehrt und ließ ihn allein zwischen den bleiernen rot-goldenen Bannern stehen.
***
Tagebuch des Lordregenten, 83. Eintrag
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt jemandem eine solch offene Lüge ins Gesicht gesagt habe, nicht einmal seitdem ich in die Politik gezwungen wurde. Aber ich habe Aethas angelogen, und er weiß es, und ich weiß es, und jeder, der sie mich hat aussprechen hören, weiß es auch. Mein Wille ist in Wahrheit von äußerst geringer Bedeutung. Ich kann so tun, als verfügte ich über tatsächliche Macht, aber letztendlich ist alles nur Schauspielerei und nichts davon hat mit Ehrlichkeit zu tun. Ich kann meine Hände in Unschuld waschen, den Märtyrer spielen, zum Opfer gemacht werden und damit nichts erreichen, oder ich kann kämpfen und selbst andere zu Opfern machen und so zum Wesen all dessen werden, wogegen ich gestritten habe. Würde ich meine Entscheidungen jemals anhand einer anderen Logik zu begründen suchen, würde ich mich nur selbst belügen. Falkenspeer hatte recht: Ich paktiere in der Tat mit dem Teufel, aber der Sonnenbrunnen wäre nie neu errichtet worden, wenn wir uns nicht auf diese Ebene herabbegeben hätten. Er und Aurora können ruhig schlafen, in der Gewissheit, dass sie ihre Moralvorstellungen niemals verletzt haben. Aber wenn sie bestreiten, im Schatten derer, die dies getan haben, zu gedeihen, dann betrügen sie sich in gleichem Maße wie ich.
Und hier finde ich mich nun also wieder, nur noch einen kleinen Schritt davon entfernt zu glauben, dass jeder Zweck die Mittel heiligt. Doch die Ruinen der Terrasse der Magister werden mich für alle Zeiten verfolgen und mich an das Schicksal erinnern, dass ich mit dieser Haltung herausfordere. Dies ist der schmale Grat, auf dem ich wandere, wissend, dass die Taten, die ich aus der Not heraus begehe, gleichwohl unentschuldbar sind. Diese Tatsachen sind zwar niemals miteinander in Einklang zu bringen, aber von Zeit zu Zeit kann ich sie nebeneinanderstellen und beinahe verstehen. Gut möglich, dass ich diese Offenbarung als tiefgründig betrachten würde, wenn ich ignorant genug wäre, nicht zu begreifen, dass ich gerade erst am Anfang der Lektionen stehe, die Kael’thas und vor ihm Anasterian auch gelernt haben. Uns bleibt nichts, als den Weg, der uns bestimmt ist, so würdevoll wie möglich zu beschreiten, jeder zu seinem eigenen Ruhm oder Untergang, und zu beten, dass wir uns letzten Endes noch ein Stück unserer Seele bewahren. Beim Sonnenbrunnen, ich hoffe, dass ich ein Stück meiner Seele bewahren kann.
Sylvanas Windläufer: Anbruch der Nacht von Dave Kosak
Eiskrone
Sylvanas Windläufer treibt in einem Meer des Wohlbefindens, in dem alle Körperlichkeit der Reinheit des Gefühls weicht. Seligkeit umspült ihre Hände, Glück erscheint vor ihren Augen, Frieden klingt in ihren Ohren. Dies ist ihr Leben nach dem Tod, ihr Schicksal. Das ewige Meer, in das sie abgetaucht ist, nachdem sie bei der Verteidigung von Silbermond gefallen war. Hier gehört sie hin. Mit jeder Erinnerung wird ihr Bild dieses Ortes blasser. Die Klänge rücken in weite Ferne, die Wärme kühlt sich langsam ab. Und bald schon ist ihre Vision nur noch das fahle Abbild eines halb vergessenen Traums. Doch die Erinnerung endet immer mit der gleichen, schrecklichen Klarheit: Sylvanas' Geist wird weggerissen. Der Schmerz ist so intensiv, dass er ihre Seele für immer zerreißt. Das grinsende Gesicht von Arthas Menethil mit seinem schiefen Lächeln und den toten Augen erscheint vor ihr, als er sie wieder zurück in die Welt zerrt. Sie verletzt. Sein Lachen ... dieses hohle Lachen ... Schon der Gedanke daran jagt ihr eine Gänsehaut ein.
***
„Du verdammter Hurensohn!“, schrie Sylvanas und trat ein zerschmettertes Stück der gefrorenen Rüstung des Lichkönigs fort. Ihre Stimme, leer und furchteinflößend, brach unter der Anstrengung ihres Hasses. Der Klang hallte von den Gipfeln Eiskrones wider und glitt durch die Täler wie die abscheulichen Nebel, die diesen schrecklichen Ort bis in alle Zeit heimsuchten.
Allein war sie hierher gereist, zum früheren Sitz seiner Macht. Bis ganz hinauf zur Spitze der Eiskronenzitadelle, wo sein Frostthron bedrohlich auf einer Ebene aus weißem Eis aufragte. Der egoistische kleine Junge von damals hätte sich keinen besseren Ort für seinen Sitz aussuchen können als hier, am höchsten Platz der Welt. Doch wo war er jetzt? Zerschlagen. Sie konnte seine Boshaftigkeit nicht mehr an den Enden ihres Bewusstseins zerren spüren. Seine zerbrochene Rüstung lag in Scherben auf dem weißen Gipfel vor seinem Thron, umgeben von schwarzen Lachen gefrorenen Blutes ... die Überreste derer, die ihn endlich in die Knie gezwungen hatten.
Sylvanas bereute tief, dass sie nicht da gewesen war, um seinen Fall zu beobachten. Sie nahm einen zerbrochenen Panzerhandschuh auf, der einst die Hand geschützt hatte, die Frostgram führte. Er ist endlich tot. Doch warum fühlte sie sich so leer? Warum tobte der Zorn nicht mehr in ihr? Sie schleuderte die Rüstung vom Gipfel und sah zu, wie sie in den wabernden Nebeln verschwand.
Sie war nicht allein. Neun glitzernde Geister umkreisten die Bergspitze. Ihre mit Masken verdeckten Gesichter waren ihr zugewandt, während ihre vergänglichen Gestalten auf anmutigen, körperlosen Schwingen in der Luft schwebten. Sie waren die Val'kyr, uralte Kriegsmaiden, die Arthas einst seinem Willen unterworfen hatte. Warum verließen sie diesen Ort nicht? Sylvanas wusste es nicht und scherte sich auch nicht darum. Sie kamen ihr nicht in die Quere, verharrten stumm und bewegungslos, während Sylvanas tobte und schrie. Beobachteten sie sie? Verurteilten sie sie? Sie ignorierte sie und ging mit knirschenden Schritten durch den Schnee auf Arthas Machtsitz zu.
Jemand saß darauf.
Zuerst dachte Sylvanas, dass es Arthas Leichnam sei, den man als Verhöhnung dieses ehrenhaften Ortes in einem Block aus Eis auf den Thron gesetzt hatte, doch die Silhouette stimmte nicht. Sie trat näher und wischte mit der Hand über die Oberfläche des Eises, um die verzerrte Gestalt im Inneren betrachten zu können. Ein Mensch, ja. Deutlich erkannte sie das Profil einer Schulterplatte der Allianz. Doch der Körper hatte schlimmer Verbrennungen erlitten und das Fleisch war aufgeplatzt wie bei einem Spießbraten. Er trug Arthas Krone und in seinen Augen ... dieses aufflackernde Bewusstsein ...
Man hat ihn ersetzt. Ein neuer Lichkönig saß auf dem Thron!
Erneut schrie Sylvanas auf, und ihr Schock verwandelte sich in brennenden Zorn. Mit der flachen Hand schlug sie auf das Eis, trommelte mit den Fäusten dagegen. Das Eis knackte. Hinter einem Netz aus Sprüngen brach das unbewegliche Gesicht auf. Ihr Heulen verebbte und verklang hohl in den Nebeln, die den Gipfel umschlossen. Man hat ihn ersetzt. Soll das bedeuten, dass es immer einen Lichkönig geben wird?Idioten. Wie naiv zu glauben, dass ihr Marionettenkönig nicht eines Tages die Welt nach seinem eigenen Willen formen würde. Oder noch schlimmer, dass er zu einer stumpfen Waffe für etwas noch Schrecklicheres werden könnte.
Es war ein herber Schlag. Sie hatte erwartet, hier ihren Triumph auskosten zu können, nicht eine weitere Niederlage einstecken zu müssen. Der Sieg hinterließ einen schalen Beigeschmack. Doch schließlich wandte sie sich vom Thron ab, richtete sich auf und akzeptierte, dass der Kreis sich nicht schließen würde. Arthas war tot. Was machte es schon, dass ein weiterer Leichnam seinen leeren Thron füllte?Sylvanas Windläufer hatte ihre Rache bekommen. Die Vision, die sie und ihr Volk so viele Jahre angetrieben hatte, war endlich wahr geworden. Und mit keiner Faser ihres vertrockneten, belebten Körpers kümmerte es sie, was von nun an mit der Welt geschehen würde.
Es war vorbei. Ein Teil von ihr war überrascht, dass sie überhaupt noch da war, nun, da seine Präsenz nicht mehr tief in ihrem Geist lauerte. Sie kehrte dem Thron den Rücken zu und betrachtete die kalte, graue Welt um sich herum. Ihre Gedanken wanderten an diesen Ort der Seligkeit, den kurzen Blick auf das Jenseits, an den sie sich nur noch halb erinnern konnte. Zuhause. Es war Zeit.
Langsam schritt sie zum zerklüfteten Rand der eisigen Plattform. Tausend Fuß unter ihr schlummerte ein Wald aus Saronitstacheln, den sie zuvor ausgekundschaftet hatte, unter dem Wolkenschleier. Der Sturz allein würde sie nicht töten. Ihr wiederbelebtes Fleisch war nahezu unzerstörbar. Doch die Stacheln, das gehärtete Blut eines alten Gottes, würde nicht nur ihren Körper zerreißen, sondern auch ihre Seele vernichten. Sie sehnte sich so sehr danach. Eine Rückkehr zum Frieden. Die Aufgabe, die sie in den Wäldern von Silbermond begonnen hatte, war mit Arthas' Tod endlich abgeschlossen.
Sie nahm ihren Bogen von der Schulter und warf ihn beiseite. Scheppernd fiel er auf das unebene Eis. Dann legte sie ihren Köcher ab. Pfeile fielen heraus und sprangen einer nach dem anderen an den Seiten der Eiskronenzitadelle hinab in den Nebel. Leise rutschte der leere Köcher zu ihren Füßen auf den Boden.
Ohne ihre Waffen flatterte ihr zerlumpter, dunkler Umhang im bitteren Wind um ihren Hals. Sie spürte die Kälte nicht, nur einen stumpfen Schmerz. Bald schon würde sie gar nichts mehr spüren. Schon merkte sie, wie ihr Geist zum ersten Mal seit fast zehn Jahren zur Ruhe kam. Langsam verlagerte sie ihr Gewicht zum Abhang hin. Sie schloss die Augen.
Gleichzeitig drehten die Val'kyr sich stumm zu ihr um.
Gilneas
„Vorwär—“, schrie der Marschall, als sein Befehl von einer Musketenkugel unterbrochen wurde, die seinen Unterkiefer zerschmetterte. Der Wall vor ihm war gebrochen, bot jedoch noch ausreichend Deckung für die Scharfschützen, die sich oberhalb im Regen verbargen. In weißen Schwaden stürzte das Wetter aus dem Himmel und durchnässte sowohl die Angreifer als auch die Verteidiger. Der Marschall stolperte und schlitterte einen Geröllhaufen hinab wie ein Sack Holzspäne, bis er schließlich im dicken Schlamm liegenblieb. Wie die im Schlick steckengebliebenen Verwüster und die Fleischwagen seiner Artillerie kamen auch seine Truppen nicht voran. Jeden normalen Mann hätte dieser Treffer getötet, aber da der Marschall bereits tot war, wuchtete er sich schon bald aus dem Schlamm und spuckte geronnenes Blut und Wundsekret aus den Überresten seines Gesichts.
Im Norden, jenseits eines breiten Streifens zerfurchter Felder auf der einen und einem undurchdringlichen Regenschleier auf der anderen Seite, versuchte Garrosh Höllschrei auszumachen, was an der Front geschah. Er erkannte die grauen Umrisse des gilnearischen Walls, der von riesigen, schrägen Rissen durchzogen war, die der Kataklysmus in ihn geschlagen hatte. Hätten seine Kor'kron an der Front gekämpft, wären sie einfach durch ihn hindurch marschiert. Er grunzte, als der Spähertrupp der Verlassenen zerlumpt und geschlagen durch den Matsch zurückgetrottet kam. Selbst im Sieg sahen die Verlassenen aus wie Leichen, doch in der Niederlage noch viel mehr.
„Eure Späher sind nutzlos. Ich habe sie losgeschickt, um den Verteidigern des Walls auf den Leib zu rücken, doch stattdessen kommen sie wie geprügelte Hunde zurückgekrochen“, schnaubte Garrosh, ohne seinen Begleiter auch nur eines Blickes zu würdigen. Der große, braunhäutige Orc hatte seine furchteinflößendste Kriegstracht angelegt. Unter den hauerbewehrten Schulterstücken quoll sein sehniger, tätowierter Bizeps hervor. Obwohl er direkt vor seinem Zelt stand, weigerte er sich, aus dem Regen zu treten. Tropfen rannen sein finsteres Gesicht und seinen schwarzen Kiefer hinab.
Neben ihm, im Schutz des Zeltvordachs, wirkte Apothekermeister Lydon regelrecht zerbrechlich. Unter dem stumpfen, grauvioletten Wirrwarr, das er Haar nannte, zuckte sein pockennarbiges Gesicht bei dem Versuch, eine Antwort zu formulieren, mit der er keine weitere Schimpftirade des Kriegshäuptlings auf sich ziehen würde. „Ich versichere Euch, dass sie ihr Bestes geben“, sagte er in einem wohlüberlegten Tonfall mit rauer und flacher Stimme. „Sicher stiften sie Verwirrung unter den gilnearischen Verteidigern.“
„Und warum kommen sie dann zurückgehumpelt, statt nach vorne zu drängen?“ Garrosh trat ein Fass beiseite. Hinter ihm harrten seine eigenen Truppen im Regen aus: vier Kompanien persönlich ausgewählter Elitekrieger der Orcs und Tauren, unterstützt von fünf Bataillonen der härtesten Kämpfer Orgrimmars. Sie waren über die Felder des Silberwalds verteilt, ein Meer aus grünen und braunen Gesichtern vor leuchtend roten Bannern. „Und wo sind die versprochenen Regimenter aus Lordaeron?Sie sollten den Riss überschwemmen. Wir verschwenden kostbare Zeit.“
Lydon wusste, dass er mit dem dickköpfigen Kriegshäuptling besser nicht über Taktik sprechen sollte, aber mit jeder Stunde, die der Angriff näher rückte, wuchs seine Verzweiflung. Er leckte sich mit der dunkelvioletten Zunge über die grauen Lippen und versuchte, ganz beiläufig zu antworten, in der Hoffnung, auf Vernunft zu stoßen. „Der Regen hält sie sicher auf, aber sie werden bald eintreffen. Sie sind ... mit Abstand ... die Besten Lordaerons. Das Herz unserer Infanterie und das Rückgrat unserer gesamten Unternehmung ...“
Garrosh fuhr sich mit den Fingerknöcheln über die Seite seines Gesichts. Während Lydon sprach, musterte er das Gebiet und stellte im Geiste die eintreffende Infanterie und Kavallerie auf.
„Aber man kann sie nicht einfach so durch den mittleren Riss im Wall schicken“, fuhr Lydon fort. „Es ist ein ... ein Flaschenhals. Sehr gut befestigt und streng bewacht. Schwer gepanzerte Truppen zu Pferd würden es nicht durch den Riss schaffen. Sie wären ein leichtes Ziel für die Musketenschüsse vom Geröll herab. Sicher erkennt Ihr, dass—“
„Natürlich erkenne ich das!“, antwortete Garrosh. „Die Tür ist einen Spalt weit geöffnet und muss nur noch eingetreten werden. Genau dafür ist Euresgleichen gut.“ Jetzt blickte der Kriegshäuptling den Apothekermeister direkt an, seine kühlen Augen fest auf das blassgelbe Licht gerichtet, das die Augenhöhlen seines Gegenübers erfüllte. „Ihr seid bereits Leichen und fast nicht umzubringen. Ihr erobert den Flaschenhals und macht den Weg für den Rest der Horde frei, die ihn dann frisch und unbehelligt durchdringen wird. Und wenn wir über eine Brücke zerschlagener Leichen marschieren müssen. So durchbricht man Befestigungen. So gewinnt man Kriege.“
Der Apothekermeister hob zwei knochige Finger. „Aber wenn wir nur einen ... nur einen Hauch der Seuche verwenden könnten. Nur um eine Lücke zu öffnen. Nicht einmal genug, um ... nur ein Tröpfchen!Mehr, um Furcht und Panik zu säen, als tatsächlich—“
Garroshs Rückhand schoss durch den Himmel und warf einen glitzernden Bogen Regenwasser auf das Zelt, als sie auf Lydons Wange krachte. Der Apothekermeister taumelte zurück, als hätte ihn ein Pferd getreten, ging aber dank schierer Willenskraft unter dem Schlag nicht zu Boden.
„Wenn Ihr vorschlagen wollt, auch nur ein Fünkchen dieses Drecks einzusetzen, den Ihr versteckt habt, werde ich Euch und Eure Abwasserkanalstadt dem Erdboden gleich machen“, grunzte Garrosh. Er drehte sich wieder dem Geschehen zu.
Erniedrigt murmelte Apothekermeister Lydon ein kaum hörbares „Ja, Kriegshäuptling“ durch seine zusammengebissenen Zähne. Doch im Inneren kochte er vor Zorn. Wo ist die Dunkle Fürstin Sylvanas?fragte er sich und richtete die leeren Augenhöhlen zum grauen Himmel. Warum ist sie nicht hier, um dieser Bestie die Stirn zu bieten?
Eiskrone
Sylvanas schwankte mit geschlossenen Augen am Rand des Eiskronengipfels. Sie hob die Arme. Obwohl die Winde schneidend kalt waren, fühlte sie nur einen dumpfen Schmerz.
Als sie eine Präsenz in der Nähe spürte, öffnete sie die Augen. Die Val'kyr waren näher an sie herangeschwebt, so nahe, dass sie die Waffen an ihren geisterhaften Schenkeln glitzern sehen konnte. Was wollten sie nur?
Ohne Vorwarnung erfüllte eine Vision ihren Geist. Eine Erinnerung. Sie befand sich in einem warmen, sonnendurchfluteten Schlafzimmer. Goldene Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster ins Innere, erleuchteten die tanzenden Staubpartikel und warfen Muster auf den Boden. Es war ihr Zimmer. Vor einer halben Ewigkeit. Sie war noch keine zwanzig Herbste alt, und doch war die junge Sylvanas bereits die vielversprechendste Jägerin ihrer Familie. Sie schlüpfte in ihre schenkelhohen Lederstiefel, maß gewissenhaft die Länge der Senkel ab und schlang sie elegant um das Schuhwerk. Sie glättete die blätterförmige Stickerei und stieß sich dann vom Bett ab, um sich im Spiegel zu bewundern. Ihr hüftlanges blondes Haar floss in Wellen herab und wirkte im Sonnenlicht fast durchsichtig. Sie starrte in den Spiegel und bändigte die Strähnen, bis sie sich perfekt um ihre langen, schlanken Ohren schmiegten. Die beste Jägerin in der Familie zu sein, reichte ihr nicht. Sie musste auf der Pirsch einfach jedem den Atem rauben. Sie war so eitel.
Diese merkwürdige, vergessene Erinnerung brachte Sylvanas dazu, einen Schritt vom Rand zurückzutreten. Was hatte sie ausgelöst? Dieses Leben war längst verloren.
Eine weitere Erinnerung strömte in ihren Geist. Jetzt duckte sie sich hinter einer Ausbuchtung aus glattem Stein im Immersangwald. Über ihr rauschte das Herbstlaub und übertönte die Schritte ihres Begleiters, als er vorsprang und neben ihr in Deckung ging. „Es sind so viele!“, bellte er und verstummte sofort, als sie einen Finger hob. „Wir haben nur zwei Dutzend Waldläufer da oben“, sagte er jetzt flüsternd. „Das überleben sie nie!“ Sylvanas wandte den Blick nicht von der dunklen Masse schlurfender Leichen ab, die sich immer näher an das Flussbett schoben. Der Dritte Krieg war im vollen Gange, und in nur ein paar Stunden würde Silbermond Arthas' Armee zum Opfer fallen.
„Sie müssen sie nur aufhalten, während wir die Verteidigung des Sonnenbrunnens verstärken“, antwortete sie gemessenen Tons.
„Sie werden sterben!“
„Sie sind Pfeile im Köcher“, sagte Sylvanas. „Wenn wir das hier gewinnen wollen, müssen wir sie opfern.“
Sie war unbesonnen. Leer? Nein ... eine Kämpferin. Sie hatte das Herz eines Kriegers.
Und plötzlich eine weitere Erinnerung, genauso unerwartet wie die letzte. „Rechtmäßige Erben Lordaerons!“, rief Sylvanas mit gespanntem Bogen. Ihr Unterarm, immer noch schlank und muskulös, hatte jetzt eine gräulich-blaue Farbe angenommen. Tot. Die Szene war deutlich anders als die restlichen. Diese Vision war von dem kalten Hauch einer Erinnerung benetzt, die nach dem Tod gesammelt wurde. Vor ihr wartete eine groteske, wabernde Meute von Leichnamen mit geschundenen Köpern in zusammengewürfelten Rüstungen, die von einem erbärmlichen Gestank umgeben waren. Ihre wehleidigen, verzweifelten Mienen erinnerten sie mit einem Mal an Kinder. Sie verabscheute sie. Und doch gab es Stärke, von ihnen gebraucht zu werden. „Die Macht des Lichkönigs schwindet. Euer Wille gehört nur Euch allein. Wollt Ihr zulassen, dass Ihr Ausgestoßene in Eurem eigenen Land werdet? Oder nehmt Ihr das grausame Blatt an, das das Schicksal uns ausgeteilt hat, um Euren Platz in dieser Welt zurückzuerobern?“
Ihre Fragen wurden erst mit einem Gurgeln, dann mit einem kratzigen, fast verzweifelten Jubel begrüßt. Knochige Fäuste wurden gen Himmel erhoben. Diese armen Leute: Bauern, Viehzüchter, Priester, Krieger, Edelmänner und Adlige ... Sie hatten noch nicht verstanden, was gerade mit ihnen geschehen war. Aber dass jemand – irgendjemand – ihnen versicherte, dass sie irgendwo hingehörten, war für sie elektrisierend. „Wir sind die Aufgegebenen. Wir sind ... die Verlassenen. Doch wenn sich morgen die Sonne erhebt, wird die Hauptstadt uns gehören“, verkündete sie. Und die Menge brüllte.
„Aber was ist mit den Menschen?“, fragte ein junger Alchemist, als das Getöse verebbte. Sylvanas erkannte ihn aus den Kämpfen in der letzten Nacht. In seinen Augenhöhlen leuchtete eine kühle Intelligenz. Sein Name war Lydon. Er hatte sich bereits mit der Situation arrangiert und bezeichnete die Menschen so, als wären sie ein anderes Volk. Sie machte sich eine gedankliche Notiz, dass er später vielleicht von Nutzen sein könnte.
„Die Menschen werden ihren Zweck erfüllen“, antwortete sie, während sie im Geiste bereits mit der Planung beschäftigt war. „Sie glauben, sie würden die Stadt befreien. Lasst sie an unserer Stelle kämpfen und sich für unseren Vorteil opfern. Sie sind ...“ – ihr fiel ein Vergleich ein, den sie zuvor schon einmal verwendet hatte – „Pfeile in unserem Köcher.“
Die schwankende Menge der Untoten klatschte und hustete und keuchte vergnügt zum Zeichen der Zustimmung. Sylvanas betrachtete die Meute kalt. Genau wie ihr, dachte sie sich. Pfeile, die ich auf Arthas Herz richten werde.
Immer noch das Herz eines Kriegers? Sie war eiskalt geworden.Nein, sie war die Gleiche. Im Tod wie zu Lebzeiten.
Sylvanas schüttelte den Kopf und mit ihm die Vision ab. Es waren ihre Erinnerungen, aber es war nicht sie, die sich an sie erinnerte. Die Val‘kyr hatten sie aus ihr hervorgezogen. Herausgelockt. Die stummen Geister schwebten um sie herum und betrachteten sie schweigend. Sie stellen mich auf die Probe! fiel es Sylvanas wie Schuppen von den Augen. Sie urteilen über mich!
Sie sog die kalte Luft in ihre Lungen ein, und mit einem Mal erwachten ihre Augen zum Leben. „Ich lasse mich nicht richten!“, schrie sie und drehte sich vom Abgrund weg, um ihren Richterinnen in die Augen zu blicken. „Von Euch nicht. Von niemandem.“ Zorn wallte in ihr auf. Würde ihr Wehklagen der Banshee etwas gegen diese ... Dinger ausrichten können?
Doch sie musste gar nicht kämpfen. Sie war fertig. „Bleibt zurück“, befahl sie. „Und bleibt aus meinem Kopf!“
Sylvanas trat einen Schritt zurück. Der Wind ergriff ihr Haar und spielte mit ihrem zerfransten Umhang. Die Erinnerungen daran, wer sie gewesen war und was aus ihr geworden war, hatten einen Knoten in ihrem Magen hinterlassen, den sie mit diesem Schritt lösen würde. Nie mehr würde sie die rachsüchtige Anführerin eines Bastardvolks aus verrottenden Leichen sein. Ihre Arbeit war getan und endlich sollte sie die lang erwartete Belohnung dafür erhalten. In süßer Sehnsucht nach dieser vergessenen Glückseligkeit ließ sie sich rückwärts von der Spitze der Eiskronenzitadelle fallen. Der Wind strich mit einem anschwellenden Klagen an ihr vorbei. Die Spitze und die stummen Val'kyr verschwanden ...
Mit einem Endgültigkeit verheißenden Schlag krachte ihr Köper auf die Saronitsteine unter ihr.
Gilneas
Wie in einem Traum stürmte das Herz der untoten Armee Lordaerons vor. Die Befehle, die aus allen Ecken kamen, wirkten sonderbar gedämpft. Skeletthufe fanden irgendwie Halt auf den zerschmetterten Überresten des Walls, als die schwere Kavallerie durch den Riss strömte. Die Verlassenen quetschten sich mit aller Gewalt durch die Lücke, die stellenweise nur vier Mann breit war.
Dann eröffneten die Verteidiger das Artilleriefeuer mit einem dumpfen, wiederhallenden Krachen. Wo die Geschosse auftrafen, zerfielen Männer und Pferde zu Staub und Blut. Musketenfeuer erklang wie die Schläge ferner Trommeln, als eine Reihe nach der anderen fiel. Doch diese Veteranen hatten die Schrecken von Eiskrone erlebt. Unnachgiebig drängten sie weiter vor, um den Kampf zu den Verteidigern jenseits des Risses zu tragen. Die zweite Welle traf ein und schleuderte Wurfanker auf den Wall, während heißes Öl nach unten geschüttet wurde. Und plötzlich ging die gesamte Front in Flammen auf. Das Gewehrfeuer donnerte, und die Verlassenen stürmten.
Einige gelangten auf den Wall, nur um dort niedergemäht zu werden. Die Verteidiger waren keine Menschen. Man hatte diese tollwütigen, wolfsartigen Wesen, die hinter jedem Baum im Silberwald lauerten, tatsächlich in eine kämpfende Streitmacht verwandelt. Wo Gewehre und Schwerter nichts ausrichten konnten, gruben Zähne und Klauen sich in die untote Armee.
Erneut bäumten die Verlassenen sich mit blutbefleckten Klingen und triefend vor Regenwasser auf. Der Nebel hüllte die kämpfenden Gestalten in ein stumpfes Grau und die Schreie der in Stücke Gerissenen hallten wider wie ein dumpfes Echo. Sogar die Verteidiger gerieten langsam ins Schleudern. Sie hatten schon so viele getötet. Konnte es denn noch mehr von ihnen geben?
Die erste Welle der Orcs traf die Gilneer völlig unvorbereitet. Mit Siegeslust in Augen und Kehlen schoben die Streitmächte der Orcs sich über einen Teppich aus Leichen. Jetzt war alles still. Und dann war es fort.
An seinem Ort stand das Bollwerk, die halb fertiggestellte Befestigung, die die Grenze Lordaerons zu dem Gebiet bildete, das als Pestländer bekannt war. Apothekermeister Lydon war da. Sein linker Arm fehlte und in seinem Gesicht klaffte ein riesiger Schnitt. Er redete eindringlich auf sein Volk ein, doch kein Laut drang nach außen. In letzter Minute organisierte er eine Verteidigung am Bollwerk, doch viel stand ihm nicht zur Verfügung. Das Herz der Armee der Verlassenen war in Gilneas geopfert worden.
Die traurigen Überreste stellten sich einer gut organisierten Streitmacht aus Menschen und Zwergen, die nach Westen marschierten und von ihrem Sieg in Andorhal noch ganz beflügelt waren. Es bestand kaum eine Hoffnung auf einen Sieg für die geschlagenen Kämpfer am Bollwerk. Der Rest der Horde war nirgends in Sicht.
Das ist nicht echt, bemerkte Sylvanas und wurde sich plötzlich bewusst, wie sie diese geisterhaften Ereignisse beobachtete. Sie war tot. Sie könnte es fühlen. Doch ihr Geist war in der Zwischenwelt gefangen. Was ist das?
Das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, was ihr Sturz in den Tod. Diese Visionen ... Sie erschienen ihr wie Erinnerungen an Ereignisse, die noch nicht eingetreten waren. Woher kamen sie? Wo war sie jetzt?
Plötzlich war die Hauptstadt unter Belagerung. König Wrynn stand vor den brennenden Überresten des Zeppelinturms und zeichnete Pläne von Unterstadt für seine Generäle. Er hatte die Stadt bereits zuvor gestürmt und war sich seines Sieges sicher.
Innerhalb der Stadtmauern brannten Lagerfeuer. Sylvanas kochte vor Zorn. Die Allianz war bereits dabei, die Leichen zu verbrennen. Nein. Halt. Sie versuchte, einen Sinn in dieser nebelhaften Vision zu erkennen. Die wenigen Verlassenen, die noch übrig sind, werfen sich selbst in die Lagerfeuer, erkannte sie, statt sich ihren Henkern zu stellen.
„Das ist nicht echt!“, verkündete Sylvanas. Ihre Stimme schallte in ihrem Kopf und klang, als wäre sie noch am Leben. War ihr Volk wirklich so schwach? Nein ... nein! Garrosh hatte ihre besten Truppen in seinen eigenen verschwenderischen Kriegszügen regelrecht ermordet. Die Führung der Verlassenen war ausgenommen worden. Das war es, was diese Visionen ihr zeigten.
Die Nebel schlossen sich völlig, als die Zukunft verschwamm. Sylvanas konnte ihren Köper nicht mehr spüren. Sie schwebte in einer Art Zwischenwelt. Sie bemerkte, dass sie sich selbst sehen konnte, und hob die Hände in schweigsamer Verwunderung. Ihre Haut schimmerte wieder in einem goldenen Rosarot, so fest und strahlend wie zu ihren Lebzeiten. Aber sie war nicht allein.
Mit einem Keuchen erkannte sie, dass sie umzingelt war. Neun Kriegerfrauen schwebten in einem Kreis im sie herum, noch viel schöner als sie selbst. Die Val'kyr erschienen ihr, wie sie ausgesehen hatten, als sie noch am Leben waren. Einige hatten rabenschwarzes Haar, das sonnengebräunte Gesichter mit juwelenartigen blauen Augen einrahmte. Einige hatten blonde Mähnen in der blassen, strahlenden Farbe eines Sonnenstrahls auf unberührtem Schnee. Ihre Gesichter waren sanft, doch ihre Kiefer hart. Ihre Arme waren glatt und muskulös, ihre Schenkel breit und stark. Jede von ihnen hielt eine andere Waffe: einen Speer, eine Hellebarde, ein großes zweihändiges Claymore, dessen schimmernde Schneide sich in poliertem Stahl vom Kinn bis zum Boden ergoss. Jede war die beste Kriegerin ihrer Generation.
Sie waren alle genau wie ich, sah Sylvanas. Eitel, siegreich und stolz.
„Ja, das waren wir“, sagte die blonde Val'kyr mit dem Claymore, ganz als hätte Sylvanas ihre Gedanken laut ausgesprochen. Ihre Stimme war voll und schwingend. „Ich bin Annhylde die Ruferin. Dies sind meine Schlachtmaidschwestern. Es sind nur noch neun von uns übrig. Zu Lebzeiten dienten wir den Kriegern des Nordens und haben auch im Tod unseren Dienst fortgesetzt.“
„Als Lakaien des Lichkönigs.“
Annhyldes Erscheinung erzitterte. „Habt Ihr Euch freiwillig entschieden, dem Lichkönig zu dienen?“, fragte sie.
„Was soll das hier? Was sind das für Visionen?“, verlangte Sylvanas zu wissen.
„Visionen der Zukunft“, erklärte Annhylde. „Jedes Leben, das schwindet, hinterlässt eine Spur. Dies ist die Eure.“
„Man braucht nicht gerade eine Kristallkugel, um vorauszusagen, dass Höllschrei die Ressourcen der Horde verschleudert und in seiner Lust nach Eroberung aufreibt.“ Sylvanas fühlte, wie der alte Zorn wieder in ihr aufflammte, aber ihr Körper reagierte nicht. Sie konnte nichts spüren. „Wohin habt Ihr mich gebracht? Ich sollte tot seid.“
„Das seid Ihr auch“, sagte eine Val'kyr mit kohlefarbenem Haar.
„Ich kenne die Vergessenheit “, protestierte Sylvanas. „Ihr haltet mich in der Zwischenwelt gefangen. Warum?“
Annhylde blieb ruhig und sprach mit entspannter und kontrollierter Stimme weiter. „Um Euch die Folgen Eures Ablebens zu zeigen und Euch vor die Wahl zu stellen ...“
„Ich habe meine Wahl getroffen“, unterbrach Sylvanas sie.
„Euer Volk wird untergehen!“ sagte die dunkelhaarige Val'kyr. Sie war zu Lebzeiten eindeutig die jüngste der Schlachtmaiden gewesen und war jetzt in ihrem Untod die ungeduldigste.
Sylvanas dachte an ihr Volk. Es hatte einen weiten Weg von seinen dezimierten Ursprüngen zurückgelegt und war schon lange nicht mehr die sehnsuchtsvolle, verwirrte Meute von frischen Leichnamen, die in den Ruinen der zerstörten Hauptstadt Lordaerons gekauert hatte. Die Verlassenen waren zu einer echten Nation herangewachsen, einer stinkenden, blutverklebten, widerlichen Masse von leblosen Hüllen, die geschickt im Kampf, vernichtend in der arkanen Kunst und befreit von den Fesseln der Sterblichkeit waren. Sie waren zu einer perfekten Waffe geworden. Ihrer Waffe. Und sie hatten den Todesstoß ausgeführt, für den Sylvanas sie geschmiedet hatte. Ihr Schicksal war ihr egal.
„Dann lasst es untergehen!“, schrie Sylvanas. „Ich bin fertig mit ihnen!“
Annhylde hob die Hand, um ihre jüngeren Waffenschwester zum Schweigen zu bringen. „Still, Agatha. Sie weiß es nicht. Sie muss mehr sehen.“ Die Anführerin der Val'kyr richtete ihre leuchtenden grünen Augen auf Sylvanas. In ihren Rändern schimmerte Trauer. „Sylvanas Windläufer, das Ende, nach dem Ihr strebt, soll das Eure sein. Wir werden Euch nicht aufhalten.“
Annhyldes Augen schlossen sich, und die Gestalten verschwammen schlagartig zu ihren gesichtslosen spektralen Erscheinungen.
Dann fühle Sylvanas, wie sie weggezogen wurden und ihre Sinne sich zu überschlagen schienen. Alles verschwand und die Zeit stand still.
„Sie ist verloren!“, klagte Agatha.
Gilneas
Der Regen prasselte erbarmungslos weiter und verwandelte den Boden vor dem gilnearischen Wall in einen Sumpf. Als Garrosh die Ränge der Verlassenen inspizierte, sanken die Pfoten seines großen Kriegswolfs tief in den Schlamm ein. Regenwasser tropfte von seinem Gesicht und dampfte in Schwaden von seinem stoppelig geschorenen Kopf.
„Die Gilneer verschanzen sich hinter ihren hohen Steinmauern“, rief der Kriegshäuptling. Seine donnernde Stimme erhob sich laut über das Getöse aus Regen und Donner. „Ihr, die Bürger von Lordaeron, kennt ihre Geschichte. Als ihre menschlichen Verbündeten sie brauchten, was haben sie da getan? Sie haben eine Mauer gebaut und sich verkrochen.“
Schwerter schlugen gegen Schilde. Nicht alle Verlassenen klammerten sich an die Erinnerungen aus ihrem Leben, aber diejenigen, die es taten, hatten keinerlei Sympathie für das Königreich, das der Welt in ihrer düstersten Stunde den Rücken gekehrt hatte.
Garrosh fuhr mit hoch erhobenem Kopf fort, und seine Worte erfüllten die Luft. „Sie leben in Schande. Wie glaubt Ihr wohl, dass sie kämpfen werden? Mit Ehre?“ Kehliges Lachen ertönte. „Nein! Sie werden als Feiglinge den Tod finden und auch so in Erinnerung bleiben. Aber Euer Ruhm wird in Wort und Sang weiterleben.“ Garrosh Höllschrei drehte sich zum zerborstenen Wall von Gilneas um und zog seine legendäre Axt Blutschrei vom Rücken. Mit ihrer schartigen Schneide zeigte er auf die zerschlagene Befestigungsanlage. „Wälle mögen fallen, aber die Ehre ist unsterblich!“
Apothekermeister Lydon fuhr sich mit den knochigen Fingern durch das wirre Haar. Das Brüllen der Orcs, Tauren und Verlassenen schallte lauter als der Donner. Wie macht er das? frage Lydon sich. Meine verlassenen Brüder jubeln ihrer eigenen Vernichtung zu.
Verzweifelt versuchte Lydon in einem letzten Flehen um Vernunft gegen Garroshs Plan die richtigen Worte zu finden. Er malte sich aus, was die Dunkle Fürstin sagen würde, wie sie seinen Blutdurst stillen würde. Sein Kiefer öffnete sich, aber es kamen keine Worte heraus.
Im hinteren Bereich des Vorpostens der Verlassenen Getöse aus.
Garrosh gab seinem Kriegswolf die Sporen und lenkte ihn an die Seite der Armee, um den Weg für den Ansturm freizugeben. „Helden der Verlassenen! Ihr seid die Spitze meines Speers. Erhebt Eure Arme! Erhebt Eure Stimmen! Und lasst nicht nach, bis Ihr das Banner der Horde auf diesen Wänden schwingt!“ Blutschrei fiel. „Aaaaangriff!“
„HALTET EIN!“ kreischte eine Stimme aus dem Norden. Der Ruf der Bansheekönigin schwang mit einer solchen furchteinflößenden Macht und Reinheit, dass selbst der Regen auf ihren Befehl hin stillzustehen schien. Der Himmel riss mit einem Blitz auf und Donner krachte wie ein Hammer auf Stein. Alle Köpfe drehten sich zu ihr um, der Dunklen Fürstin auf ihrem Skelettreittier. Ihr schwarzer Umhang wehte in ihrem zornigen Ansturm. Eine regennasse Kapuze bedeckte ihre Augen. Als die Verlassenen sie erblickten, senkten sie die Waffen in den Schlamm, knieten nieder und neigten das Haupt.
Apothekermeister Lydon fiel nicht auf die Knie, obwohl diese ihm beim Anblick der Retterin der Verlassenen zitterten. Seine langen Roben schliffen achtlos durch den Matsch, als er bebenden Schrittes auf sie zutrat, die Zügel ihres Rosses ergriff und es zum Halt brachte. „Dunkle Fürstin“, flüsterte er, vor Erleichterung ganz atemlos.
Dann blinzelte er überrascht. Fürstin Sylvanas wurde auf beiden Seiten von den abscheulichen Val'kyr flankiert, deren schimmernde Körper an durchscheinenden Flügeln in der Luft schwebten.
Garrosh näherte sich ihr auf der zerfurchten Straße. Die kniende Armee der Verlassenen schien wie ein Meer von schweigenden Statuen. Blutdurst flackerte in ihren Augen. Lydon wandte sich eingeschüchtert ab.
Doch Sylvanas blinzelte nicht einmal und nahm auch ihre Kapuze nicht ab, wie es der Respekt geboten hätte. In einer kaum merklichen Bewegung hob sie das Kinn. Dann erklangen ihre Worte. Sie waren für Garrosh bestimmt, aber laut genug, dass alle sie hören konnten.
„Höllschrei. Gilneas wird fallen. Und die Horde wird ihren Preis bekommen“, sagte sie. „Aber wenn Ihr mein Volk einsetzen wollt, dann tun wir es auf meine Art.“ Sie warf ihren Umhang über eine Schulter und gab den Blick auf ihre gefleckte graue Haut und die federgeschmückten Lederplatten ihrer schwarzen Rüstung frei. „Meine drei schnellsten Schiffe sind bereits auf dem Weg zur südlichen Küste, um die gilnearische Hauptstadt abzulenken. Und genau in diesem Moment sammle ich Verstärkung aus Todesend.“
Apotheker Lydon legte seinen Kopf nach dieser rätselhaften Bemerkung schief. Soweit er wusste, war in Todesend nichts außer einem Friedhof übrig.
Weitaus wichtiger jedoch war, dass sich etwas an der Präsenz seiner Herrscherin geändert hatte. In ihrer Stimme, die schon immer furchteinflößend war, schwang eine Entschlossenheit mit, als spräche sie das Urteil der Götter selbst. Und was hatte es mit diesen Val'kyr auf sich, die stumm neben ihr schwebten?
„Meine Fürstin“, flüsterte Lydon. „Wo wart Ihr?“
Sie blickte auf ihren Untergebenen hinab. Apotheker Lydon trat instinktiv einen Schritt zurück. Die Zügel ihres Hengstes rutschten aus seinen zitternden Händen.
Dunkelheit
Fürstin Sylvanas Windläufer stürzte im freien Fall. Jedoch nicht im körperlichen Sinn, da ihr Körper am Fuße der Eiskronenzitadelle sein Ende gefunden hatte. Es war ihr Geist, der stürzte. Verloren, wie ein ruderloses Schiff im Sturm.
Wie war sie hierhergekommen? Sie konnte sich nicht erinnern. Hatte Arthas sie getötet? Hatte sie Selbstmord begangen? Hatten die Val'kyr sie ins Fegefeuer geschickt? Zeit war hier ohne Bedeutung. Ihr ganzes Leben schien keine Abfolge von Ereignissen mehr zu sein, sondern ein einziger Moment, ein kurzer Blitz des Bewusstseins in einer unendlichen Leere.
Sie sah nur noch Dunkelheit.
Und dann fühlte sie, fühlte zum allerersten Mal seit einer langen Zeit wieder wahrhaftig. Sie wand sich. Vor Schmerz.
Da war sie nun, und ihr Geist fühlte sich wieder als Ganzes, nur um zu leiden. Fühlte ein letztes Mal, und fühlte doch nur erbärmliche Pein. Kälte. Hoffnungslosigkeit.
Angst.
Da waren noch andere in der Dunkelheit. Dinge, die sie nicht erkannte, da etwas so Schreckliches in der Welt der Lebenden nicht existierte. Klauen rissen an ihr, doch sie hatte keinen Mund, um zu schreien. Augen starrten sie an, aber sich konnte nicht zurückschauen.
Reue.
Sie spürte eine vertraute Präsenz. Erkannte sie. Die spottende Stimme, die sie einst in ihren Klauen gehalten hatte. Arthas? Arthas Menethil? Hier? Seine Essenz eilte zu ihr, verzweifelt, und zog sich dann erschreckt zurück, als er sie erkannte. Der Junge, der einst der Lichkönig werden sollte. Nur ein verängstigtes blondes Kind, das nun für die Folgen eines Lebens voller Fehler büßen musste. Wäre nicht jeder Teil von Sylvanas' Seele in diesem Moment zerrissen und gequält gewesen, hätte sie vielleicht zum allerersten Mal einen Funken Mitleid für ihn empfunden.
In der großen Weite des Leids der ganzen Welt und all des Bösen der Unendlichkeit war der Lichkönig jedoch ... bedeutungslos.
Jetzt hatten die anderen sie. Umzingelten sie. Jubelnd und quälend rissen sie an ihrem Bewusstsein und ergötzten sich an ihrem Leid.
Schrecken.
Das sollte ihre Ewigkeit sein: die endlose Leere, die Dunkelheit, das unbekannte Reich der Qualen.
Dauerte es nur einen Moment oder ein ganzes Leben, bis ein einzelner Lichtstrahl die Dunkelheit durchbrach? Dann kamen sie zu ihr, mit ausgebreiteten Armen. Die neun Val'kyr mit einer nach diesem Ort fast unerträglichen Schönheit hüllten Sylvanas in einen einzelnen Lichtschein.
Sie fühlte sich klein und nackt. In sich selbst zusammengerollt. Als sie ihre Stimme wiederfand, entfuhr ihr nur ein Schluchzen. Sylvanas Windläufer war gebrochen. Und dennoch verurteilten die Val'kyr sie nicht.
„Fürstin Sylvanas“, sagte Annhylde mit beruhigender Stimme. Sie strich sanft über die Wange der elfischen Waldläuferin. „Wir brauchen Euch.“
„Was ... Was wollt Ihr?“
„Wir sind an den Willen des schlafenden Lichkönigs gebunden. Eingesperrt auf dem Gipfel von Eiskrone, womöglich für alle Ewigkeit. Wir lechzen nach unserer Freiheit, so wie Ihr es einst getan habt.“ Annhylde kniete sich neben Sylvanas nieder. Die anderen versammelten sich dicht um die beiden und hielten sich an den Händen. „Wir brauchen ein Gefäß. Eine wie uns. Eine Schwester des Kriegs. Stark. Die Leben und Tod versteht. Die Licht und Dunkelheit gesehen hat. Die es wert ist ... der Macht über Leben und Tod wert ist.“
„Wir brauchen Euch“, wiederholte Agatha. Ihr schwarzes Haar wehte lose im Licht.
„Meine Schwestern werden frei sein, für immer frei vom Lichkönig sein. Doch ihre Seelen werden an Eure gebunden sein“, fuhr Annhylde fort. „Sylvanas Windläufer, Dunkle Fürstin, Königin der Verlassenen ... Mit der Schwesternschaft der Val'kyr könnt Ihr wieder unter den Lebenden wandeln. So lange sie leben, werdet auch Ihr leben. Freiheit, Leben ... und die Macht über den Tod. Dies ist unser Pakt. Nehmt Ihr unser Geschenk an?“
Sylvanas antwortete, jedoch nicht sofort. Die lauernde Vergessenheit erfüllte sie mit Schrecken. Selbst jetzt konnte sie das Gewitter um sich herum toben spüren. Dies war ihr einziger Ausweg. Doch sie wollte ihre Zustimmung nicht aus Furcht geben. Sie wartete, bis sie mehr spürte. Ein Bündnis. Eine Schwesternschaft. Schwestern. Getrennt waren sie alle gefangen. Doch gemeinsam waren sie frei ... und mit ihnen konnte sie ihr Schicksal aufschieben.
„Ja“, sagte sie. „Wir haben einen Pakt.“
Annhylde nickte entschlossen und erhob sich mit verschwommenen und geisterhaften Zügen. „Der Pakt ist geschlossen, Sylvanas Windläufer“, sagte sie. „Meine Schwestern sind Eure, und Ihr habt die Macht über Leben und Tod.“ Eine lange Pause ... und dann: „Ich werde Euren Platz einnehmen.“
Das Licht war blendend.
Dann erwachte Sylvanas mit verdrehtem aber unversehrtem Körper. Über ihr ragte die Eiskronenzitadelle wie ein Grabstein in die Höhe.
Annhylde war fort. Sylvanas war von den acht verbleibenden Val'kyr umgeben.
So lange sie lebten, würde auch sie leben.
Gilneas
„Wer seid Ihr, dass Ihr meine Befehle aufhebt?“, fragte Garrosh zornig und trieb seinen Kriegswolf nach vorne. Der riesenhafte Orc drängte seinen massigen Körper dicht neben sie und funkelte sie an.
Sylvanas bewegte sich nicht und schreckte nicht zurück. „Ich war einst wie Ihr, Garrosh“, antwortete sie mit ruhiger und fester Stimme, gerade laut genug, dass nur der Kriegshäuptling sie hören konnte. „Diejenigen, die mir dienten, waren für mich nichts als Werkzeuge. Pfeile in meinem Köcher.“ Sie griff nach oben und legte behutsam ihre Kapuze ab. Dann richtete sie ihren dunklen Blick direkt auf ihn. Ihre Augen lebten. Die übergroßen pechschwarzen Pupillen bebten vor Zorn und rote Glut flackerte in ihrem Inneren.
In diesem Moment wagte niemand, Sylvanas Windläufer in die Augen zu blicken. Niemand außer Garrosh Höllschrei.
Was er sah, war eine große, schwarze Leere, eine unendliche Dunkelheit. Furcht lag in diesen Augen, aber auch etwas anders. Etwas, das sogar dem großen Kriegshäuptling einen Schrecken einjagte. Sein Wolf wich instinktiv ein paar Schritte zurück.
„Garrosh Höllschrei. Ich bin im Reich der Toten gewandelt. Ich habe die ewige Dunkelheit gesehen. Nichts, was Ihr sagt, nichts, was Ihr tut, könnte mich auch nur im Geringsten einschüchtern.“
Die Armee der Untoten, die die Dunkle Fürstin umgab und beschützte, gehörte noch immer mit Leib und Seele ihr. Aber sie waren nicht länger Pfeile in ihrem Köcher. Sie waren ein Bollwerk gegen die Unendlichkeit. Sie mussten mit Bedacht eingesetzt werden. Kein närrischer Orc würde sie vergeuden, solange sie noch in der Welt der Lebenden wandelte.
Der Orc steckte seine Axt wieder in die Halterung auf den Rücken, während sein Reittier nervös von ihrem wegtänzelte. Nach einem langen Moment nahm er endlich den Blick von ihren Augen.
„Nun gut, Dunkle Fürstin“, sprach er laut genug, damit alle es hören konnten. „Wir werden Gilneas einnehmen ... auf Eure Weise.“
Er trieb seinen Wolf weiter und ritt durch den Schlamm zu seinen eigenen Truppen zurück. Doch ich werde Euch im Auge behalten, sagte er sich selbst.
Höllschreis Augen sind fester auf Euch gerichtet als auf jeden anderen.
Der Rat der 3 Hämmer: Feuer und Eisen von Matt Burns
Der Himmel über dem Nistgipfel lockte Kurdran Wildhammer wie das entfernte Leuchten eines Lagerfeuers in einer kalten Winternacht. Nach zwanzig langen Jahren, während derer er auf der höllischen Scherbenwelt gestrandet war, war er nun endlich zuhause. Er hatte seine Entscheidung, sich der Allianzexpedition anzuschließen, um die orcische Horde auf ihrer Heimatwelt zu bekämpfen, nie bereut. Doch während seiner kargen Zeit dort loderte in ihm die Sehnsucht nach diesem Himmel.
Sein Greif, Hori’zee, segelte in Formation mit dreien ihrer Brut über ihn hinweg, mit derselben Lebhaftigkeit, die sie sich über die letzten zwei Jahrzehnte bewahrt hatte. Er sehnte sich danach, mit ihr dort oben zu sein und die frische Bergluft im Gesicht zu spüren. Das Schicksal hatte beschlossen, dass er auf zwei Beinen durch die Welt ziehen sollte, aber frei fühlte er sich nur am Himmel. Das war Hori’zees größtes Geschenk. Fliegen zu können war für ihn noch wertvoller, als ihre Wildheit im Krieg und ihre Freundschaft im Frieden. Doch vorerst würde er sie allein durch die Lüfte ziehen lassen.
Kurdran atmete tief durch und ließ seinen Blick über seine Heimat schweifen: Üppige Wälder erstreckten sich in alle Richtungen; entlang der Berghänge wimmelte es zwischen Läden und Häusern nur so vor Wildhammerzwergen; und der riesige Greifenhorst, ein Gehege, das nach dem Ebenbild der Greifen aus dem Fels gemeißelt worden war, erhobt sich majestätisch über dem Nistgipfel. Es war alles noch so, wie er es zurückgelassen hatte.
Er griff nach einem kleinen eisernen Szepter, das an seiner Seite hing. Der mit Grashalmen und Greifenfedern verzierte Gegenstand war keine Waffe – seinen kampferprobten Sturmhammer trug er am Rücken – es war ein Andenken. In der Scherbenwelt hatte das Szepter eine beinahe mystische Rolle eingenommen, war zu einem Symbol dafür geworden, wer er war und für welche Heimat er kämpfte. Oftmals hatte er es sich an die Brust gepresst und neue Hoffnung in sich aufkeimen gespürt, die ihn vorantrieb. Doch nun, da er Zuhause war, schien die Kraft des Szepters ...
Ein schriller Schrei zerriss die Luft. Kurdran blickte nach oben und plötzliche Angst ergriff ihn. Hori’zee stürzte mit gebrochenen Flügeln dem Boden entgegen.
„Hori’zee!“, brüllte Kurdran.
Mit einem scheußlichen, dumpfen Geräusch schlug der Greif auf dem Boden auf. Zersplitterte Knochen ragten aus ihren zertrümmerten Hinterläufen hervor und aus einem fürchterlichen Schädelbruch floss Blut. Hori’zee versuchte sich zu erheben, doch sie sank vor Schmerz wieder zu Boden. Sie öffnete ihren Schnabel und ein schwacher Schrei entfuhr ihr.
„Nich‘ bewegen, Mädchen!“, rief Kurdran. Mit hämmerndem Herzschlag stürmte er auf seine gestürzte Begleiterin zu, als plötzlich seine Hand erstarrte.
Das Szepter in seiner Hand brodelte und verwandelte sich in etwas erschreckend Vertrautes ... Kristall ...Diamant. Glitzernde Auswüchse schossen hervor, rankten sich seinen Arm hinauf und ließen ihn steinhart gefrieren. Die zähflüssige Masse erreichte seinen Oberkörper und breitete sich weiter nach unten aus, bis sie seine Beine mit dem Boden verwachsen ließ.
Kurdran griff nach dem Sturmhammer auf seinem Rücken, doch der Diamant umschloss seinen Arm, bevor er die Waffe ziehen konnte. Er war bewegungsunfähig und konnte nur hilflos zusehen, wie der Greif, der sein Leben unzählige Male gerettet hatte, der ein unentbehrlicher Teil seines Lebens geworden war, vor seinen Augen langsam verblutete.
Das diamantene Gefängnis kroch eiskalt und schwer Kurdrans Hals hinauf, bis es seine Kehle hinab und in seine Lunge floss. Zuletzt bedeckte es seine Augen und Ohren und Hori’zee und der blaue Himmel waren verschwunden.
Doch Kurdran wurde die Erlösung des Todes nicht gewährt. Er schwebte in der Leere, während Schrecken wie geschmolzenes Metall in einer Schmiede durch seinen Geist strömten. Nach einer Weile hörte er ein schwaches rhythmisches Pochen, das immer lauter wurde.
BUMM. BUMM. BUMM.
Mit jedem Schlag durchliefen dumpfe Vibrationen seinen Körper, als ob jemand mit einem stumpfen Gegenstand auf seinen kristallenen Sarg einschlüge, um ihn zu befreien.
BUMM. BUMM. BUMM.
Die Starre seines Körpers ließ nach. Gefühl kehrte in seine Gliedmaßen zurück. Dann änderte sich das Geräusch.
TENG. TENG. TENG.
Dieses vertraute Geräusch reichte aus, um ihm bewusst zu machen, wo er war und dass er nur von einem Albtraum in den nächsten geraten war. Was da so unschön in seinen Ohren klang, war das metallische Dröhnen von Hämmern, die Tag und Nacht unablässig auf Ambosse schlugen. Der Herzschlag einer Stadt, die nicht die seine war, die so tief in den Berg gebaut war, dass sie niemals die Freuden eines grenzenlosen Himmels erfahren würde.
Es war Eisenschmiede.
***
Die Stadt von Kurdrans Vorfahren war ein kochender Schmelztiegel alter Vorurteile. Ständige Umwälzungen und giftige Dämpfe machten jeden Sinn und Verstand bei den Bronzebarts, Wildhämmern und Dunkeleisenzwergen zunichte, die das erste Mal seit über zwei Jahrhunderten Eisenschmiede miteinander teilten. Und Kurdran stand am Rande des Ganzen und starrte voller Verwirrung in den feurigen Abgrund, dessen Ausbruch kurz bevorstand.
Ihn beschlich das unangenehme Gefühl, als sei er noch immer in der Scherbenwelt gefangen und befände sich im Krieg mit der Höllenhorde. Doch hier in Eisenschmiede gab es keine eindeutigen Gegner. Keine rasenden Dämonen. Keine brandschatzenden Orcs, die alles Leben auf seiner Welt auslöschen wollten. Hier gab es nur Wortgefechte.
Als Kurdran nur wenige Wochen zuvor in Eisenschmiede angekommen war, hatte man ihn als Helden für seine Opfer in der Scherbenwelt gefeiert. Jetzt war das anders. In den spärlich beleuchteten Hallen der Stadt gingen haltlose Gerüchte über den Wildhammerklan um, die sein Volk wie Rachegeister aus dem blutigen Krieg der drei Hämmer heimsuchten, der vor so vielen Jahren die Einheit der Zwergenklans zerschmettert hatte. Die Verleumdungen reichten von Geschichten über Opferrituale auf dem Nistgipfel bis hin zu Schauermärchen, Kurdran hätte in der Scherbenwelt dutzende anderer Allianzsoldaten hinrichten lassen, weil diese sich in der Schlacht zurückgezogen hätten. Vor einer Woche hatte sich die Aufmerksamkeit der Zwerge einem neuen Thema zugewandt.
„Der Rat erwartet Euch, Than Kurdran.“
Kurdran schenkte dem Wachposten von Eisenschmiede keine Beachtung und hielt das Szepter der Wildhämmer fest in seiner Hand. Von seinem Aussichtspunkt im Greifenhorst der Stadt aus blickte Kurdran in die weit gewölbte Höhle der Großen Schmiede – das Herz von Eisenschmiede. Flüsse aus geschmolzenem Metall ergossen sich von der Decke hinunter in brodelnde, orange-gelb leuchtende Becken. Über diesen Becken ließen Zwergenschmiede ihre Hämmer auf Ambosse niedergehen. Die Hitze war besonders so nah an den Schmieden unnatürlich drückend, so als wäre man in einer Glasflasche gefangen und müsste in der sengenden Sonne ersticken.
An seiner Seite lag Hori’zee auf einem Heulager, ihre Beine unter ihrem wuchtigen Körper versteckt. Kurdran fuhr mit seinen vernarbten Händen durch ihre gefiederte Mähne und dachte über sein Schicksal nach.
„Warum bin ich bloß hergekommen?“, murmelte Kurdran zu sich selbst.
„Weil Ihr nicht mit anseh‘n wolltet, wie sich die blutige Geschichte wiederholt“, antwortete eine ruhige Stimme. Eli Donnerschlag trat neben Kurdran und harkte verstreutes Heu in säuberliche Haufen. „Weil König Magni ein ehrenhafter Zwerg war, auch wenn er ein Bronzebart war. Und weil Ihr, wie Ihr selbst ja zu Falstad gesagt habt, der einzige Zwerg seid, der der Aufgabe gewachsen ist“, fuhr Hori’zees Pfleger fort.
Elis Worte ließen schmerzhafte Erinnerungen in Kurdran aufkeimen. Bei seiner Rückkehr aus der Scherbenwelt hatte Kurdran seinen engen Freund Falstad, der während Kurdrans Abwesenheit über den Wildhammerklan regiert hatte, sehr respektlos behandelt. Doch jetzt über Falstad nachzudenken, würde nur noch mehr Sorgen auf Kurdrans Schultern laden und daher verdrängte er die Gedanken an seinen Freund.
Ein leises Gurren erklang aus Hori’zees Kehle und sie stupste Kurdran mit ihrem Schnabel an, als wollte sie Elis Worte bekräftigen.
„Mit Euch red‘ ich doch gar nicht.“ Kurdran winkte Eli ab und wandte sich Hori’zee zu. „Und mit dir auch nicht.“
Hori’zee machte es sich einfach nur auf dem Strohnest gemütlich, wobei sie für einen Augenblick drei cremefarbene Eier mit blauen Punkten sichtbar werden ließ, die sie kurz nach ihrer Ankunft in Eisenschmiede gelegt hatte. Kurdran hatte gewollt, dass sie mit dem Gelege zum Nistgipfel zurückkehrt, statt in der Stadt zu bleiben, aber sie wollte ihn nicht allein lassen. Sie war kein Haustier, sondern ein freier Geist und konnte sich ihr Schicksal aussuchen. Und das traf auch auf Kurdran zu.
Hori’zees Entscheidung, bei ihm zu bleiben, erfüllte Kurdran mit einer Mischung aus Freude und Ärger. Unmittelbar nachdem sie ihre Eier gelegt hatte, war sie so schwach und gebrechlich geworden, dass sie nicht mehr fliegen konnte. Die vielen Priester, Greifenmeister und Alchemisten, die sie untersucht hatten, waren alle zum gleichen Schluss gekommen. Hori’zees Zustand hatte nichts mit einer unbekannten Krankheit zu tun, mit der sie sich in der Scherbenwelt oder in Eisenschmiede angesteckt hatte. Es handelte sich um ein Leiden, gegen das es kein Heilmittel gab: die Zeit.
„Than Kurdran ...“
„Ich komm‘ ja schon!“, blaffte Kurdran und funkelte die Wache von Eisenschmiede an.
„Daraus wird aber nich‘ viel, wenn Ihr da auf dem Boden sitzt, nich‘ wahr?“, mahnte Eli und setzte seine Arbeit fort.
Kurdran brummte und stand auf. Die gepanzerte Wache der Bronzebarts machte auf den Hacken kehrt und schlängelte sich unbeholfen durch die Greifennester, die sich entlang der Promenade rund um die Große Schmiede erstreckten. Der Greifenhorst hatte sich seit der Ankunft der Wildhämmer mit ihren eigenen Greifen mehr als verdoppelt. Auf gewisse Weise hatte sich dieser Ort in ein Erinnerungsstück an den Nistgipfel verwandelt – eine zweite Heimat.
Kurdran folgte der Wache mit dem Szepter an seiner Seite und nickte den Greifenreitern der Wildhämmer zu, die zwischen den Strohhaufen saßen. So hoffnungslos, wie Kurdran sich fühlte, erschienen ihm die Gesichtsausdrücke der anderen Zwerge, als sähen sie ihm zu, wie er in seinen Tod ging.
Gewissermaßen stimmte das auch.
Kurdran folgte der Wache entlang der Promenade, bis sie den Hohen Sitz erreicht hatten. Eine lärmende Gruppe Zwerge stand vor der Kammer. Das Licht der eisernen Kohlenpfannen, die überall in der Stadt brannten, warf tanzende Schatten auf ihre Gesichter. Es waren Mitglieder aller Klans anwesend: Bronzebärte in polierten Silberrüstungen; tätowierte Wildhämmer, die sich mit Greifenfedern schmückten; und aschfarbene Dunkeleisenzwerge, die in rußbedeckte Schmiedeschürzen gekleidet waren. Die Versammlung stellte eine Miniatur von ganz Eisenschmiede dar, in deren mehrheitlich aus Bronzebärten bestehenden Bevölkerung sich hier und da ein paar Wildhämmer und Dunkeleisenzwerge mischten.
Als Kurdran sich seinen Weg durch die Menge bahnte, drangen Fetzen von hitzigen Diskussionen zwischen den Zwergen an sein Ohr.
„Wir Bronzebärte haben unser Stück von Modimus‘ Hammer belassen, wie es war. Und so war es auch richtig!“
„Ihr habt es in Eure Bücherei gestopft und Staub fangen lassen. Wir Wildhämmer haben wenigstens etwas Neues aus unserem Stück gemacht.“
„Ach Junge, hat doch keinen Sinn, sich mit ‘nem Bronzebart darüber zu streiten. Was an guten Waren aus Eisenschmiede kommt, haben die doch bloß aus irgendeiner alten Grabkammer geklaut“, rief ein Greifenreiter in der Nähe.
Jemand aus dem Pulk stieß den Sprecher in Kurdrans Richtung, die Menge wälzte sich um sie herum und versperrte Kurdran den Weg.
„Platz da!“, rief Kurdran.
Ein paar der Zwerge in seiner unmittelbaren Nähe machten Platz, aber andere starrten ihn aus wutverzerrten Mienen finster an.
„Macht Platz für Kurdran, den Abgesandten der Schmetterlinge!“, brüllte eine sarkastische Stimme diesen geringschätzigen Namen für Kurdrans Klan.
„Eine Runde geht auf mich, wenn Kurdran seinen Teil von Modimus‘ Hammer aufgibt!“
„Kein Zwerg mit einem klaren Kopf auf den Schultern würde es sich entgeh’n lassen, dagegen zu wetten!“
Kurdran stemmte sich den Weg durch die letzte Zwergenreihe frei und erreichte den Hohen Sitz. Die Kammer, die die Regierung von Eisenschmiede behauste, war wie der Rest der Stadt spärlich beleuchtet. Hohe, metallische Wände ragten im Schein hängender Lampen auf. An der anderen Seite des Raums standen die drei identischen Throne des Rates der Drei Hämmer auf einer erhöhten Plattform.
Kurdran durchfuhr ein Schauer, als sein Blick auf den mittleren Thron fiel, auf dem einst König Magni saß. Als Kurdran dem Rat beigetreten war, hatte Magnis Bruder Muradin ihn in die tiefsten Gewölbe der uralten Stadt mitgenommen. Dort bot sich Kurdran ein Anblick, der ihn in seinen Träumen heimsuchen sollte: Magni, der in eine diamantene Statue verwandelt worden war. Die Versteinerung hatte stattgefunden, als der König ein mystisches Ritual durchgeführt hatte, um mit der Erde zu kommunizieren. Er wollte Aufschluss über die besorgniserregenden Erdbeben, Stürme und anderen Katastrophen, die die Welt zu dem Zeitpunkt heimgesucht hatten, gewinnen.
Jetzt stand Muradin vor dem mittleren Thron. Kurdran warf dem Bronzebart einen flüchtigen Blick zu, der ihn unheilvoll erwiderte. Dies war eine völlige Abkehr von dem heiteren Willkommensgruß, den er Kurdran beim Betreten der Stadt erwiesen hatte. Während seiner ersten Tage im Rat hatte Kurdran viele Krüge Bier mit Muradin getrunken und Geschichten aus der Scherbenwelt erzählt, während der Bronzebart seine eigenen Abenteuer auf dem gefrorenen Kontinent Nordend zum Besten gab. Doch als die Tage ins Land zogen, war Muradin Kurdran gegenüber immer abweisender geworden. Den Grund dafür konnte sich Kurdran nicht erklären.
Zu Muradins Rechten stand Moira Thaurissan, Magnis Tochter. Obwohl sie ihren Vater mit ihrer Entscheidung erschüttert hatte, in den ehemaligen Rivalenklan der Bronzebärte – den Dunkeleisenklan – einzuheiraten, war sie noch immer rechtmäßige Erbin von Eisenschmiede und somit auch ihr Kind Fenran, der unbekümmert in einer Krippe zu ihren Füßen schaukelte.
Die Erbin trug ihr Haar in perfekt geflochtenen Knoten und verbeugte sich dezent vor Kurdran. „Willkommen, Kurdran.“
„Aye“, war alles, was Kurdran antwortete. Er stiefelte an einem Holztisch vorbei, der zu Füßen der Plattform stand. Auf dem Tisch lagen zwei Artefakte, die in der zurückliegenden Woche die Gemüter in Eisenschmiede zum Kochen gebracht hatten: ein knorriger Holzstab mit einem dunkelvioletten Edelstein an der Spitze und ein schartiger, verbeulter Hammerkopf.
Kurdrans Züge verdunkelten sich beim Anblick der Relikte und er nahm seinen Platz auf dem Thron zu Muradins Linken ein. Er fühlte sich nicht zum ersten Mal, seit er nach Eisenschmiede gekommen war, um gemeinsam mit Moira und Muradin zu regieren, fehl am Platze. Im Rat mochten die beiden Vertreter der Bronzebärte und, dank Fenran, der Dunkeleisenzwerge den Ton angeben – das galt allerdings nicht auf Kurdrans Seite der Thronreihe.
Das Stimmengewirr am Eingang zum Hohen Sitz verebbte und Berater Belgrum, ein Zwerg hohen Alters, der am Fuße der Plattform stand, verbeugte sich. Zwei weitere Historiker, die in der Nähe standen, imitierten Belgrums Respektsbezeugung. Einer von ihnen war ein kleiner Zwerg des Wildhammerklans, der eine hellrote Tunika trug – allen Berichten nach ein äußerst gründlicher Faktenüberprüfer.
Belgrum richtete sich wieder auf und trat vor. „Willkommen, Than Kurdran. Ich gehe davon aus, dass Ihr Eure Entscheidung getroffen habt?“
Kurdran ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Alles war noch genauso wie in den vergangenen Tagen. Dieselbe Frage. Dieselbe Menge zänkischer Zwerge. Dasselbe Gefühl, in die Ecke gedrängt zu sein. Jedesmal, wenn diese Frage an ihn gerichtet worden war, hatte seine Antwort gleich gelautet: nein. Doch erst vergangene Nacht waren ein Wildhammerzwerg und ein Bronzebart während einer belanglosen Kneipenschlägerei über das Szepter in Kurdrans Händen ums Leben gekommen.
„Ich glaub‘, ich hab gar keine Wahl“, erwiderte Kurdran.
„Ach ...“, seufzte Muradin. „Wie oft wollt Ihr denn noch über ...“
„Kurdran“, unterbrach Moira, „unter uns Dreien seid Ihr es, der das meiste zu opfern hat. Wenn Ihr Euch entschließt, Euren Teil des Hammers zu behalten, werden wir aufgeben, was wir geplant hatten.“
Kurdrans Aufmerksamkeit wurde von einer zerfledderten Schriftrolle in Belgrums alter und zitternder Faust in Beschlag genommen. Das Pergament, das vor einer Woche in der Bibliothek von Eisenschmiede gefunden worden war, beschrieb Teile des Bürgerkriegs der Zwerge, der nun Jahrhunderte zurücklag. Die Geschichte berichtete, dass zu der Zeit des Todes des Hochkönigs von Eisenschmiede, Modimus Ambossar, die Klans um die Herrschaft über die Stadt rangen. In den Irrungen und Wirrungen war Modimus‘ Waffe – der Hammer des Hochkönigs – auf mysteriöse Weise verschwunden. Über die Jahre hatte Kurdran genügend Gerüchte über den Verbleib des Hammers gehört. Das Pergament setzte all diesen Spekulationen ein Ende. Es besagte, dass Modimus‘ Hammer in drei Teile zerteilt worden war. Im Chaos des Krieges hatte jeder der drei Klans auf die eine oder andere Weise einen Teil des Hammers an sich gebracht. Kurdran nahm an, dass die Zwerge im Angesicht der ungewissen Zukunft von Eisenschmiede törichterweise die Wiederherstellung des Hammers als einen Weg zum Frieden sahen. Oder einfach nur als Ventil für ihre alten Rivalitäten und Streitpunkte.
Kurdran löste seinen Blick von der Schriftrolle.
„Ich hab‘ meine Entscheidung gefällt“, rief er und hob das eiserne Szepter über seinen Kopf. „Dieses Erbstück ist schon seit Jahrhunderten ein Teil des Wildhammerklans. Ich bin diesem Rat beigetreten, um Frieden zu gewährleisten und nicht, um darüber zu streiten, ob wir einen alten Hammer neu schmieden sollen!“
Wütende Rufe erklangen aus dem Gedränge der stämmigen Zwerge.
„Der Hammer gehörte ursprünglich Modimus! Er gehört der Stadt!“
„Wenn die Wildhämmer keinen Frieden wollen, dann haben sie im Rat nichts zu suchen!“
Kurdran sah aufgewühlt zu, wie die Menge sich um die wenigen Wildhammerzwerge in ihren Reihen schloss und bewaffnete Wachen herbeieilten, um für Ordnung zu sorgen.
„Doch einer meiner Sippe ist nun tot wegen dieses Hammers“, brüllte Kurdran über die Menge hinweg. „Das werde ich nicht noch einmal zulassen.“
Er umschloss das Wildhammerszepter ein letztes Mal mit seiner Hand und legte es mit einem dumpfen Geräusch neben die anderen Artefakte auf den Tisch. Die Menge verstummte.
Belgrum nickte und erhob seine Hände gegenüber der Versammlung. „So soll es nun sein, aufgrund der Entscheidung des Rates, dass der große Hammer von Modimus Ambossar, dem letzten Hochkönig von Eisenschmiede, neu geschmiedet werde!“
Tosender Applaus erhob sich aus der Menge und Kurdran blickte finster drein.
„Wie ihr nun sehen könnt,“ fuhr Belgrum fort, „kommt von den Wildhämmern der Griff von Modimus‘ Hammer, der von einem Mitglied des Klans zu einem Szepter umgeschmiedet wurde, das von Than Kurdran und vor ihm von Than Khardros getragen wurde.“
Kurdran betrachtete das Szepter. Seine Größe und Form wichen leicht von der Beschreibung des Hammergriffs in der Schriftrolle ab. Er erinnerte sich daran, wie er vor Jahren einmal Khardros gefragt hatte, woher das Szepter stammte. Der alte Zwerg hatte einfach nur geantwortet, dass die Herkunft des Erbstücks nicht wichtig sei; seine Bedeutsamkeit lag einzig und allein darin, was daraus geworden war. Kurdran hatte die ausweichende Antwort des Thans immer als eine seiner üblichen philosophischen Überlegungen verstanden, vielleicht sogar als Metapher für den Wildhammerklan. Jetzt fragte er sich, ob es Khardros gewesen war, der den Griff an sich gebracht, ihn neu geformt und nie wieder ein Wort über seine Herkunft verloren hatte.
Belgrum deutete auf den verbeulten Hammerkopf auf dem Holztisch.
„Von den Bronzebarts kommt der Kopf von Modimus‘ Hammer, der in einem Feuer während des Bürgerkriegs bis zur Unkenntlichkeit beschädigt und seitdem zusammen mit anderen Andenken an den Konflikt in der Bibliothek der Stadt aufbewahrt wurde.“
Anschließend zeigte Belgrum mit einer Hand auf den knorrigen Stab neben dem Hammerkopf.
„Und von den Dunkeleisenzwergen kommt der einst golden schimmernde Kristall, der in den Kopf von Modimus‘ Hammer eingesetzt war. Er wurde von einem Zauberer des Klans gefunden und seine Farbe wurde verändert, um seine Herkunft zu verhüllen.“
Lauter, ungezügelter Beifall ertönte von den anwesenden Dunkeleisenzwergen.
„Das Neuschmieden wird heute in drei Tagen beginnen. In der Zwischenzeit bittet euch der Rat, euch euren tagtäglichen Aufgaben zuzuwenden, während entschieden wird, wer die Einzelteile neu schmieden soll“, sagte Belgrum.
Die Zuschauer verstreuten sich nach und nach und nahmen ihre hitzigen Debatten wieder dort auf, wo sie sie abgebrochen hatten, als hätte die Versammlung nie stattgefunden. Kurdran starrte das Wildhammerszepter, das auf dem Tisch lag, lang an. Ein beunruhigender Gedanke nagte an ihm: Wie viel mehr noch würde Eisenschmiede ihm und seinem Klan entreißen?
Wortlos stieg er die steinerne Plattform hinab und ging in Richtung des Ausgangs des Hohen Sitzes.
„Kurdran“, rief Moira besorgt hinter ihm her, „wir müssen noch entscheiden, wer den Hammer schmieden soll.“
„Was kümmert mich das?“, knurrte Kurdran und verließ den Raum.
***
Seite an Seite spazierten Kurdran und Hori’zee im äußeren Ring der Stadt an Behausungen und Händlerstuben vorbei; dort, wo das Echo von Hammer auf Amboss aus der Großen Schmiede nur noch leise zu hören war. Der alte Greif nahm alles, was er sah, durch einen grauen Schleier war, sein Gang all zu auffällig schwer und schleppend. Kurdran missfiel es zwar, doch Hori’zee schien Spaß daran zu haben, jeden Winkel von Eisenschmiede zu erkunden.
Mehr als alles andere in der Welt sehnte sich Kurdran danach, Eisenschmiede zu entfliehen und auf Hori’zees Rücken durch die Lüfte zu fliegen, doch zu mehr als einem Spaziergang war der Greif nicht fähig. Zwar waren diese Spaziergänge eine willkommene Ablenkung, doch heute drehten sich seine Gedanken nur um Modimus’ Hammer. Nachdem Kurdran am Tag zuvor aus der Ratssitzung gestürmt war, hatten Moira und Muradin einen Schmied der Dunkeleisenzwerge damit beauftragt, den Hammer neu zu schmieden. Dieser Entschluss ließ Kurdrans Blut vor Wut kochen, obwohl er eigentlich selbst dafür verantwortlich war, da er nicht da gewesen war, um etwas gegen ihn vorzubringen. Er konnte den Klan der Dunkeleisenzwerge bis ins Mark nicht leiden. Verrat und Heimtücke waren in ihrer Kultur genauso tief verankert wie die Greifen in der Kultur des Wildhammerklans.
Leider hatten sich die Spannungen in Eisenschmiede dadurch nicht besänftigen lassen, sein Szepter zu opfern. Kurdran konnte die bösen Blicke der Passanten spüren, die seine gelbbraune, wettergegerbte Haut, seinen feuerroten Pferdeschwanz und seine Tätowierungen anglotzten. Er wusste, dass diese Blicke nicht nur an seinem Äußeren interessiert waren, sondern an dem, was dahinter war. Eisenschmiede war ein Ort, in dem verschiedene Kulturen aufeinanderprallten. Eine jede fühlte sich der anderen überlegen. Die Anhänger des Wildhammerklans wohnten lieber auf der Oberfläche und flogen auf den Rücken ihrer geliebten Greifen durch die Lüfte der nördlichen Lande. Die Anhänger des Bronzebartklans dagegen hausten lieber im Berg; so wie sie es seit jeher getan hatten. Und die Dunkeleisenzwerge ... nun, die Dunkeleisenzwerge suchten ihr Zuhause noch tiefer in den Schatten – um sie rankten ...
Eine mit stählernen Platten besetzte Schulter rammte Kurdran von der Seite und riss ihn aus seinen Gedanken. Als er sich umdrehte, sah er zwei Dunkeleisenzwerge mit einem großen Fass. Der Zwerg, der ihn angerempelt hatte, starrte ihn mit glühenden Augen an, Augen, wie sie unter seinesgleichen üblich waren. Sie erinnerten Kurdran an die dämonischen Augen, die er auf der Scherbenwelt gesehen hatte.
Der Dunkeleisenzwerg knurrte ihn an und ging dann gemeinsam mit seinem Partner seiner Wege. Gefolgt wurden sie von einer Schlange ihrer Klansleute, die in Zweiergrüppchen unterteilt jeweils ein Fass mit sich schleppten. Von den Behältnissen ging ein starker Geruch aus. Kurdran kannte ihn: Es war der Geruch von Alkohol, den die Dunkeleisenzwerge brauten. Das Gebräu war ganz anders als das Bier, das er mochte. Es benebelte einen schon nach dem ersten Glas und führte dazu, dass man alles vergaß. Kurdran hatte schon mehrmals beobachtet, wie Gruppen von Dunkeleisenzwergen mit dem Zeug durch die Stadt liefen und offensichtlich nach etwas suchen, das stärker war, als das, was man in Eisenschmiede angeboten bekam.
„Kurdran“, sagte jemand zu ihm, als die letzten Dunkeleisenzwerge mit ihren Fässern vorbeiliefen. Die Stimme klang unverwechselbar – sie war geschult, ruhig und majestätisch.
Kurdran drehte sich um und sah Moira auf ihn zukommen; neben ihr ein beleibter Dunkeleisenzwerg namens Drukan, den er schon des Öfteren an ihrer Seite gesehen hatte.
„Wir gehen also mit unserer stattlichen Hori’zee spazieren“, sagte sie mit einem höflichen Lächeln.
Kurdran versuchte, in Moiras Gesicht zu lesen, ob ihre Freundlichkeit von Herzen kam. Er hatte den Verdacht, dass sie und ihre Dunkeleisenverbündeten in gewisser Hinsicht verantwortlich für die Gerüchte waren, die um den Wildhammerklan kursierten.
Letzten Endes war es in erster Linie ihr aggressives Vorgehen gewesen, das zu einer Gründung des Rates der Drei Hämmer geführt hatte – nach Magnis Unfall hatte sie die Stadt mit bewaffneten Dunkeleisenzwergen besetzt und den Thron für sich beansprucht. Der Entschluss, Modimus’ Hammer neu zu schmieden, kam auch von ihr.
Doch immer und immer wieder hatte Moira sich als Kurdrans größte Verbündete in Eisenschmiede erwiesen. Wenn man sich – größtenteils unbegründet – über die Anhänger des Wildhammerklans beschwerte, sie seien für knappe Essensvorräte, fehlende Behausungen und den überfüllten Greifenhorst verantwortlich, war es Moira, die seinen Klan verteidigte. Doch ihre augenscheinliche Güte war Kurdran nicht genug.
„Sie hatte etwas Abkühlung gebraucht – weg von der Hitze“, sagte Kurdran und streichelte dabei Hori’zees löwenhafte hintere Flanke.
Moira näherte sich Hori’zee und fasste den Schnabel des Greifen: „Wundervolles Geschöpf. Wie geht es ihr?“
„Besser“, sagte Kurdran und log damit – er wollte mit Moira nicht mehr über diese Angelegenheit reden als unbedingt nötig. Er war überrascht, dass Hori’zee es an diesem Tag überhaupt aus ihrem Nest geschafft hatte.
„Ich denke, dass sie im Handumdrehen wieder in bester Form sein wird“, sagte Moira und streichelte dabei Hori’zees Mähne, worauf der Greif seinen Kopf niederbeugte und sanft gurrte.
Hori’zee galt Kurdran schon immer als Indiz dafür, ob jemand guten Charakter besaß oder nicht. Dass sie Moira solches Wohlwollen entgegenbrachte, ließ ihn im Zweifel darüber, ob seine Verdächtigungen der Anführerin der Dunkeleisenzwerge gegenüber gerechtfertigt seien.
Moira warf einen kurzen Blick auf Drukan, der etwas weiter entfernt mit einem mürrischen Gesichtsausdruck dastand. „Na kommt, Drukan. Hori’zee ist eine Legende. Sie hat schon Drachen gegenübergestanden, wusstet Ihr das?“
„Ich traue keinem Tier, das einen Geschmack für Zwergenblut hat“, spottete Drukan.
Moira war schockiert und machte große Augen, musste sich jedoch ein Lachen verkneifen. „Seid doch nicht albern.“
„Das ist es, was sie über die Lande des Wildhammerklans sagen“, fuhr Drukan fort, „Sie verfütterten ihre Gefangenen an die Greifen und Hori’zee hier, nun, man sagt, dass sie sich über den Hunger hinaus mit ihnen den Magen vollgeschlagen hat.“
Kurdran fühlte, wie sein Blut zu kochen anfing, und ging einen Schritt auf Drukan zu.
„Passt auf, was Ihr sagt, Kumpel.“
„Ihr wisst, wie sich diese absurden Gerüchte verbreitet haben“, sagte Moira und legte ihre Hand auf Kurdrans Schulter, die unter seiner Rüstung verborgen war. „Drukan ist, wie soll ich sagen, noch immer dabei, die feineren Formen des Anstands zu lernen.“
Mit einem bösen Ton in ihrer Stimme wandte sie sich Drukan zu: „Entschuldigt Euch.“
„Aber Hoheit ...“
„Sofort.“ Sie blickte Drukan aus kalten stechenden Augen an, die mehr als Worte sagten.
„Ich bitte um Verzeihung“, sagte Drukan zu Kurdran mit zusammengebissenen Zähnen.
„Ich möchte Euch und Hori’zee nicht weiter stören“, sagte Moira, nun wieder höflich. „Ich wollte nur sagen, dass Eure Entscheidung gestern von großer Bescheidenheit zeugte ... etwas, das ich erwartet hatte, nachdem ich von Euren Heldentaten auf der Scherbenwelt erfahren hatte. Den Hammer neu zu schmieden wird Einheit bringen, eine Einheit, die Eurer Entscheidung zu verdanken sein wird.“
„Ich bin keiner von den Zwergen, die nicht für sich selbst denken können“, erwiderte Kurdran hart. „Was getan ist, ist getan.“
Die Thronfolgerin von Eisenschmiede lächelte einfach und sagte: „Natürlich. Ich werde Euch und Eure mächtige Hori’zee nicht weiter beim Spaziergang stören.“
Er sah Moira und Drukan hinterher, als sie weitergingen. Die Ruhe, die er und Hori’zee genossen hatten, war nach diesem Gespräch vorbei. Er wollte Moira zum Feind haben, das würde die Verwirrung in Eisenschmiede zumindest verständlich machen. Kurdran spürte jedoch mit wachsendem Unbehagen, dass er an einem Ort nach Sinn suchte, der jede Art von Sinn eingebüßt hatte.
„Lass uns zurück zum Horst gehen, meine Gute“, sagte Kurdran und zog an Hori’zees Flügel.
***
Kurdran stand bei seinem Thron im Hohen Sitz und zwang sich, Ruhe zu bewahren. Er hatte all seinen Willen aufbringen müssen, um sich zusammenzureißen und nicht auf Belgrum, der vor ihm stand, einzuschlagen.
„Ich werde die volle Verantwortung auf mich nehmen“, sagte der Berater und verneigte den Kopf vor Kurdran und den anderen Ratsmitgliedern.
Der Hohe Sitz war zwar leer bis auf Belgrum und die drei Klansvertreter, doch der alte Zwerg sprach trotzdem leise. Zwischen seinen Sätzen wurde der Raum von einer angespannten Stille erfüllt. Seine Hand umklammerte ein Pergament über die Geschichte von Modimus‘ Hammer.
„Ein wohlkonstruiertes Lügenpapier.“ Belgrum hob die Schriftrolle hoch und verzog sein Gesicht. „Nach genauerer Untersuchung scheint es, als hätte man das Pergament mit magischen Kräften altern lassen und dann zu den Berichten gesteckt. Von außen betrachtet komplett unbedenklich.“
„Komplett unbedenklich?“, sagte Kurdran. „Einer meiner Klansbrüder ist tot!“
„Für den Fall, dass Ihr es vergessen habt: Von meinen Klansleuten ist auch einer gestorben“, erwiderte Muradin scharf. „Es wäre dazu nicht gekommen, wenn Ihr einfach Euren Teil des Hammers hergegeben hättet.“
„Seid Ihr taub, Kumpel? Das Ding gehört zu nichts!“
„Keine Ausreden! Ihr habt es von Anfang an nicht gewollt!“
„Muradin, Kurdran, ich bitte Euch“, sagte Moira und wandte sich Belgrum zu. „Noch ein Tag und der Hammer wird neu geschmiedet. Ihr wisst, was das bedeutet, oder?“
„Jawohl, Eure Hoheit. Das Pergament ist aber eine Fälschung. Dafür stehe ich mit meinem Leben. Irgendjemand hat sich viel Mühe gegeben, es wie echt aussehen zu lassen, doch die Handschrift stimmt nicht mit der auf den anderen Schriftrollen derselben Epoche überein.“
„Aus welcher Zeit also stammen diese Stücke?“, fragte Moira.
„Soviel wir wissen, tauchten das Szepter der Wildhammer und der Edelstein der Dunkeleisenzwerge nach dem Bürgerkrieg auf. Das Pergament beschrieb den Schaden auf dem Hammerkopf von Bronzebart bis aufs Detail und wir hatten ihn auch genauso vorgefunden. Wir wissen heute jedoch mehr darüber, weswegen es schier unmöglich ist zu bestimmen, wann er beschädigt und in die Bibliothek gelegt wurde.“
„Wer war das?“, brummte Kurdran und wischte sich dabei den Schweiß von seinem unbehaarten Skalp. Er war kräftig gebaut und trotzdem machte ihm die drückende Hitze in der Stadt schwer zu schaffen.
„Ach ... unmöglich zu sagen. Die Bibliothek wird jeden Tag von etlichen Zwergen besucht“, antwortete Belgrum.
„Das spielt keine Rolle. Wir müssen es durchziehen“, sagte Moira. „Unsere zwergischen Brüder und Schwestern erwarten ein Zeichen der Einigkeit. Wenn diese Geschichte ans Tageslicht kommt und das Neuschmieden des Hammers ausbleibt, werden sie jemanden dafür an den Pranger stellen wollen. Was hier gesagt wurde, darf nicht diesen Raum verlassen“, fügte sie hinzu und blickte Belgrum scharf an. Der Zwerg, dessen Haar schon leicht angegraut war, nickte.
Kurdran schlug mit seiner Faust auf die Thronlehne. „Ich werde etwas, das rechtmäßig meinem Klan gehört, nicht aufgeben, um diese Lüge aufrecht zu halten!“
„Für die Stadt ist es keine Lüge mehr“, sagte Muradin. „Nicht, nachdem schon tagelang darüber gestritten wurde.“
Kurdran erkannte die Weisheit in Muradins Worten und war äußerst verärgert darüber. Die Diskussion über Modimus‘ Hammer hatte die Spannungen in Eisenschmiede immer weiter getrieben, einer tosenden Lawine gleich, die erst mit dem Neuschmieden des Hammers ein Ende finden würde, egal, was der Rat auch sagte.
***
Kurdran saß im Greifenhorst und grübelte über die beunruhigende Situation nach. Die Wahrheit über Modimus‘ Hammer belastete ihn schwer. Er hatte gehofft, mit Hori’zee einen Spaziergang zu machen und seine Gedanken zu zerstreuen, doch sie hatte es nicht aus dem Nest geschafft. Sie lag einfach regungslos da und atmete kaum erkennbar.
Bestürzt über Hori’zees Zustand und die angespannten Atmosphäre in Eisenschmiede saßen sie da, die Greifenreiter der Wildhammer neben ihren geflügelten Begleitern. Selbst Eli der Greifenhüter mit seiner sonst heiteren Stimmung rechte lethargisch und ohne ein Wort zu sagen Heuballen zusammen. Viele der Greifenreiter, darunter auch Eli, waren Scherbenweltveteranen. Sie waren Kurdran bis nach Eisenschmiede gefolgt, genauso wie sie ihm bis in die Heimatwelt der Orcs gefolgt waren, ohne seine Entscheidungen zu hinterfragen. Zum ersten Mal in Kurdrans Leben hatte er das Gefühl, sie in eine Schlacht geführt zu haben, die keinen Sinn ergab und nicht zu gewinnen war.
Kurdran erhob sich und ging gemessenen Schrittes durch den Horst, als zehn Dunkeleisenzwerge mit Holzfässern in den Händen dabei waren, die Nester zu überqueren, die bis in den Gang reichten. Die Dunkeleisenzwerge starrten im Vorübergehen mit ihren beunruhigenden Augen auf die Mitglieder des Wildhammerklans. Einer der Dunkeleisenzwerge stolperte über einen Strohhaufen, der herumlag, und ließ ein Fass fallen. Das hölzerne Gefäß zerbrach und spie eine matte Flüssigkeit in den Horst.
Der ungeschickte Zwerg schlug mit der Faust auf den Boden und raffte sich mühselig wieder auf.
„Warum müsst ihr Wildhammerleute eure Vögel dort in der Gegend herumsitzen haben, wo wir entlanglaufen?“, schnaubte der Dunkeleisenzwerg und spuckte auf einen Greifen, der ihm am nächsten war. Dieser krächzte darauf, fuhr mit einer Klaue am Nestrand entlang und schleuderte einen Klumpen Stroh ins Gesicht des zornentbrannten Zwergs.
Eli legte seine Arbeit nieder und ging ruhig auf den Dunkeleisenzwerg zu.
„Es ist nicht ihre Schuld, mein Guter“, sagte er gleichmütig.
„Eure Biester haben nichts weiter als Ärger gemacht, seitdem sie hier sind. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dauernd über ihre Nester stolpern zu müssen, nein, ihr Gestank reicht sogar bis zu den Stadttoren.“ Der Dunkeleisenzwerg kochte vor Wut. Er knackste mit den Fingern und machte dann mit geballten Fäusten einen Schritt auf den Greif zu.
Instinktiv stieß Eli dem Dunkeleisenzwerg seine Heugabel entgegen. „Dass Ihr mir ja keine Hand an den Greif legt, Kumpel.“
Die Augen des Zwergs wurden größer, als ihm die Heugabel entgegen gestreckt wurde. „Seht ihr das, Jungs?“, sagte er zu den anderen Dunkeleisenzwergen. „Ein Wildhammerbursche erhebt gegen uns die Waffe!“
Schnell ließ Eli seine Heugabel herab. „Müsst das nich‘ zu etwas machen, das es nich‘ ist.“
Fünf Greifenreiter, die in der Nähe saßen, richteten sich auf. Einer von ihnen ging einen Schritt vor und stieß seinen Finger gegen die Brust des in Rüstung gekleideten Dunkeleisenzwergs.
„Nehmt den Rest Eures Gesöffs und macht Euch vom Acker“, sagte er.
Kurdran konnte es kommen sehen. Die Stimmung würde sich immer weiter anheizen und das Fass schließlich zum Überlaufen gebracht. Nach den besorgniserregenden Offenbarungen über Modimus‘ Hammer war eine Schlägerei das letzte, mit dem er sich herumschlagen wollte. Er ging auf die Dunkeleisenzwerge zu und hoffte darauf, das Unausweichliche abzuwenden.
„Ihr Wildhammerburschen würdet diese Stadt lieber brennen sehen, als diesen Biestern Schaden zukommen zu lassen!“, brüllte der Dunkeleisenzwerg und wandte sich seinen Kameraden zu. „Gebt ihnen etwas, um ihre Nerven zu beruhigen, Jungs.“
Ohne zu zögern warfen zwei der Zwerge ihr Fass in den Horst hinein. Es flog an Kurdrans Kopf vorbei, schlug neben Hori’zee auf und bespritzte sie und andere Greifen in der Nähe mit dunkeleisenzwergischem Alkohol.
Einen Moment lang überkam Kurdran die Wut, worauf er tief einatmete, um seine Fassung zu wahren. Er marschierte zum Anführer der Dunkeleisenzwerge, um ihn und seine Klansleute fortzuschicken, doch als dieser Kurdran erblickte, machte er unfreiwillig einen Schritt zurück, rutschte dabei auf dem Stroh aus und kam mit einem Bums auf dem Boden auf.
Die Greifenreiter brachen in lautes Gelächter aus. „Kurdrans Anblick allein hat dem Kleinen Angst eingejagt!“, schrie einer von ihnen.
Die Schmach war deutlich im Gesicht des Dunkeleisenzwergs zu erkennen und er warf einen verstohlenen Blick um sich. Schließlich stand er auf und trat vorwärts, bis er nur Zentimeter von Kurdran entfernt war. „Verehrter Than der Schmetterlinge ... warum geht Ihr nicht zurück und setzt Euch ins Stroh, wie die anderen Tiere auch?“, knurrte er und spuckte Kurdran ins Gesicht.
Dieser winzige Akt der Beleidigung hatte in Kurdran etwas ausgelöst, etwas, das sich schon seit seiner Ankunft in Eisenschmiede in ihm angestaut hatte. Der flüchtige Traum, den Himmel über dem Nistgipfel sehen zu können ... Hori’zees Verfassung ... alles brach auf einmal hervor und ließ ihn blind vor Wut werden.
Kurdrans Faust flog gegen den Kopf des Dunkeleisenzwergs und warf diesen zu Boden.
Ohne einen Befehl erhalten zu haben stürmten die Wildhammerzwerge an Kurdrans Seite auf die Anhänger des Dunkeleisenklans zu. Diese warfen ihre Fässer auf die Angreifer, die jedoch gekonnt auswichen, sich abrollten und keinen Schaden davontrugen. Die Greifen krächzten laut, Fässer wurden kreuz und quer durch den Horst geworfen und zerschlugen an Stellen, die lediglich mit einer dünnen Heuschicht bedeckt waren. Schließlich prallten die Anhänger der Wildhammer- und Dunkeleisenklans aufeinander und ergriffen jedes Glied oder Stück Rüstung, das sich ihnen bot.
Die beiden Seiten rangen miteinander, bis die Dunkeleisenzwerge letztendlich das Gleichgewicht verloren und in ein nahegelegenes Kohlebecken fielen. Aus dem eisernen Trog flogen brennende Glutstücke und entzündeten einen in der Nähe befindlichen Heuhaufen. Das Feuer, angefacht vom Alkohol der Dunkeleisenzwerge, verbreitete sich wie wild in den anderen Nestern drum herum.
Innerhalb von Sekunden stand der gesamte Horst in Flammen. Rauchschwaden stiegen bis zur Decke der Großen Schmiede empor. Mehrere Greifen stießen schrille Schreie von sich, schwangen sich in die Lüfte und wirbelten dabei einen Schwall aus Federn, Asche und Glut hinter sich auf.
„Wasser!“, brüllte Kurdran und stieg über das Knäuel Zwerge am Boden.
Aus anderen Teilen der Großen Schmiede eilten Zwerge herbei. Greifen kreisten nun in den dunklen Nischen der Höhle durch die Lüfte. Vier von ihnen blieben jedoch auf dem Boden: Hori’zee und drei weitere Greifen, die zusammengedrängt in Hori’zees Nest saßen.
„Hori’zee!“, schrie Kurdran. „Weg da!“
Aus ihrer Richtung kam ein Schrei, der Kurdran zusammenfahren ließ. Das letzte Mal hatte er ihn auf der Scherbenwelt gehört. Es war ein Kampfschrei, der in vielen Situationen schon ausgereicht hatte, um Hori’zees Feinde in Angst und Schrecken zu versetzen und in die Flucht zu schlagen.
Um sie herum tobten die Flammen. Kurdran konnte Hori’zee kaum durch die dicken Rauschwaden, die den Horst einnebelten, erkennen und gerade noch ausmachen, wie einer der Greifen an ihrer Seite nach oben schoss und dabei eine Spur angebrannter Federn hinter sich ließ. Die anderen beiden Greifen erhoben sich auch, flüchteten jedoch nicht. Sie schwebten über Hori’zee in der Luft, hielten sich mit ihren Vorderklauen krampfhaft an deren Flügel fest und warfen sich kurze Krächzer zu. Schließlich fingen sie beide gleichzeitig an, wie wild mit den Flügeln zu schlagen, um Hori’zee vom Boden zu heben, doch diese riss sich ruckartig los.
Die herbeigeeilten Zwerge fingen an, das Feuer mit Wassereimern zu löschen, während zwei gnomische Neuankömmlinge in langen wallenden Roben Zaubersprüche murmelten und Eiskristalle auf den Horst niederprasseln ließen. Das Feuer ließ sich jedoch nicht stoppen. Kurdran versuchte, seine Rüstung abzustreifen, schaffte in seinem Schockzustand jedoch nichts weiter, als an den Haltern rumzufingern. Er gab schließlich auf und raste in Richtung Flammen.
„Kurdran!“, rief Eli.
Der Greifenhalter und zwei weitere Wildhammerzwerge versuchten, Kurdran zurückzuhalten, doch selbst drei kräftige Zwerge konnten ihn nicht davon abhalten, Stück für Stück immer näher an die Flammen zu kommen. Es mussten zwei weitere mit anpacken, um ihn endlich niederringen zu können.
Sie hielten ihn am Boden fest und so konnte er nur dabei zusehen, wie die zwei Greifen in Hori’zees Nähe, da sie Hitze und Rauch nicht länger aushalten konnten, aus dem Horst flohen. Nach einigen qualvollen Sekunden sank Hori’zee auf dem Boden zusammen.
Nachdem die letzten brennenden Glutstücke gelöscht waren, ließen Eli und die anderen Kurdran frei. Er lief sofort in den schwelenden Horst hinein. Dort sah er Hori’zee, wie sie regungslos dalag. Ihr Äußeres war schwarz und es stieg Rauch von ihr auf.
Jemand fasste Kurdran bei der Schulter.
„Es ... es tut mir Leid“, sagte Eli heiser.
„Wieso hat sie sich gewehrt? Sie haben versucht, sie zu retten ...“, murmelte Kurdran fassungslos.
„Ach ... natürlich, Kumpel. Sie hat die Eier beschützt!“, sagte Eli plötzlich.
Die zwei Zwerge schoben Hori’zees Leichnam vorsichtig beiseite. Doch anstatt makelloser Eier waren dort angesengte Eierschalen und die halbgaren Überreste von Hori’zees Küken.
Der grausige Anblick verschlug Kurdran die Sprache. Er stand da und starrte nur.
„Sie ... sie hat es versucht“, sagte Eli, der vor dem verkohlten Nest kniete.
Die Menge stand still um den Greifenhorst herum. Selbst die Dunkeleisenzwerge, die zum Teil für das Feuer verantwortlich waren, schienen verwirrt und waren ohne Worte. Alle Augen waren auf Kurdran gerichtet. Der Rauch, der ihn umgab, hatte den Geruch von verbranntem Fleisch und Stroh. Ihm war schwindelig.
***
Kurdran stolperte aus der Großen Schmiede, während Greifen in der Luft kreisten und die Stadtbewohner versuchten herauszufinden, was passiert war. Nur mit größter Mühe konnte er sich auf den Beinen halten. Der Brand hatte in ihm eine Wunde zurückgelassen, aus der sein letzter Rest Hoffnung, Tatendrang und Freude geflossen war.
Stundenlang saß er allein in einer spärlich besuchten Taverne und starrte in seinen unangetasteten Bierkrug, während Erinnerungen an Hori’zee in ihm aufwallten. Jede dieser Erinnerungen verwandelte sich vor seinem geistigen Auge in den Anblick ihrer verkohlten Überreste. Sie hätte in der Schlacht sterben sollen, oder zumindest in der Behaglichkeit ihres Zuhauses auf dem Nistgipfel. Nicht im Herzen eines Berges.
Es war ein Fehler, hierherzukommen, dachte Kurdran. Seine Reue wühlte neue Erinnerungen an jemanden auf, an den er in den letzten paar Wochen fast nie gedacht hatte: Falstad.
Falstad hatte den Titel des Hochthans des Wildhammerklans von Kurdran übernommen, während er in der Scherbenwelt festsaß. Als er endlich zum Nistgipfel zurückgekehrt war, hatte er das überwältigende Verlangen verspürt, die Jahrzehnte wiedergutzumachen, die er von seiner Heimat getrennt war. Er hatte zwar seinen Status nicht offiziell wieder eingefordert, aber dennoch hatte Kurdran seinem Klan Befehle erteilt, ohne dabei Falstad einzubeziehen, was die Position des Hochthans untergraben hatte.
Kurdrans Reise nach Eisenschmiede war nur ein Beispiel für seine übereifrigen Versuche zu beweisen, dass er noch immer der gleiche Anführer wie eh und je war. Als amtierender Hochthan stand es Falstad zu, dem Rat der Drei Hämmer beizutreten, doch Kurdran hatte ihm diese Gelegenheit weggeschnappt und hatte unverblümt gesagt, dass sein Freund nicht die nötige Erfahrung besäße, solch eine Aufgabe zu bewältigen. Bei all dem Jubel über Kurdrans Rückkehr aus der Scherbenwelt hatte der Klan sich hinter seine Entscheidung gestellt. Kurdran konnte noch immer den Ärger und den Schmerz in den Augen des Hochthans nach all dem, was getan und gesagt worden war, sehen, als hätte Kurdran Falstads zwanzigjährigen Dienst an seinem Klan für bedeutungslos erachtet.
Nun wurde Kurdran klar, was für ein Narr er gewesen war. Zum ersten Mal wünschte er sich, dass Falstad an seiner Stelle in der Stadt wäre. Nicht etwa, weil er ihm die Spannungen in Eisenschmiede erdulden zu müssen wünschte, sondern weil er glaubte, dass Falstad der besser geeignete Zwerg war.
Nein, sagte sich Kurdran.
Falstad um Hilfe zu bitten, wäre selbst nach allem, was vorgefallen war, ein Zeichen der Schwäche gewesen. Es gab aber noch immer einen Weg, wie er Eisenschmiede daran hindern konnte, alles zu rauben, was ihm lieb und teuer war.
Es gab noch immer eine Sache, die die Stadt ihm noch nicht weggenommen hatte.
***
Der Hohe Sitz war verlassen als Kurdran sich zu Muradins Thron schlich. Neben dem steinernen Sitz stand eine große Eisenkiste, in der die drei Teile von Modimus’ Hammer verwahrt wurden. Jedes Ratsmitglied hatte einen großen, schweren Schlüssel für die Kiste erhalten. Kurdran steckte den seinen ins Schloss.
Langsam öffnete er die Kiste und entnahm ihr das Szepter seines Klans. Es sah jetzt kahl und besudelt aus, zur Vorbereitung auf das Neuschmieden seiner Verzierung aus Greifenfedern und getrockneten Grashalmen beraubt.
„Ich wusste, dass Ihr es Euch zurückholen würdet“, sagte eine hämische Stimme.
Kurdran fuhr herum. Moira stand, noch immer in ihre offiziellen Roben gekleidet, am Fuße der Rampe, die zu den Thronen hinaufführte und hielt Fenran in ihren Armen. Ein Lichtstrahl aus der halboffenen Tür zu ihrer Kammer an der Rückseite der Halle fiel quer über den Hohen Sitz.
„An dieser Lüge will ich nich’ beteiligt sein.“
Moira stieg anmutig die Rampe hinauf. „Ihr erinnert mich an Fenran, der sich an eines seiner Spielzeuge klammert und schreit, wenn ich es ihm wegnehmen möchte.“
„Ihr habt nie verstanden, was das hier für mich bedeutet ... und das werdet Ihr auch nie.“
Die Thronerbin von Eisenschmiede schlenderte hinüber zu Kurdrans Thron und sah ihn von oben bis unten an.
„Ich verstehe noch immer nicht, warum Ihr überhaupt hierhergekommen seid“, sagte Moira. „Ihr und Euer Klan gehören nicht nach Eisenschmiede. Auch scheint Ihr gar nicht hier sein zu wollen.“
„Man hat mich gebeten, hierherzukommen.“
„Ich war das ganz bestimmt nicht.“
Das stimmte. Als Moira mit ihren Dunkeleisenzwergen in Eisenschmiede angekommen war, hatte sie die Stadt völlig in Beschlag genommen. Einer der Besucher, die in der Stadt festsaßen, war Prinz Anduin von Sturmwind. Als Reaktion darauf hatte sein Vater, König Varian, ein Kommandotrupp des SI:7 nach Eisenschmiede begleitet und wollte Moira für ihre Missetaten eliminieren. Am Ende hatte er ihr Leben doch verschont, sich aber entschlossen, den Rat der Drei Hämmer ins Leben zu rufen, um den Frieden zu wahren. Dabei hatte Varian Falstad als Abgesandten des Wildhammerklans ernannt.
Einen Augenblick lang starrten die beiden Zwerge einander nur an, bis Moira das Schweigen brach. „Ich frage mich, wie es sich für einen Zwerg wie Euch anfühlt, der so viele Schlachten gewonnen hat, jetzt besiegt zu sein.
„Wovon sprecht Ihr?“
Moira setzte Fenran neben Muradins Thron auf den Boden und das Kind krabbelte ungeachtet des Gesprächs kichernd auf den steinernen Sitz.
„Das muss ein merkwürdiges und furchtbares Gefühl sein.“
“Wovon redet Ihr da?“, fragte Kurdran mit wachsender Ungeduld.
Ein Lächeln machte sich auf Moiras Gesicht breit. Es war dasselbe geübte Grinsen, das Kurdran schon unzählige Male gesehen hatte, doch in diesem Moment erschien es ihm bösartig. Eine eiskalte Einsicht überkam ihn.
„Als Ihr dem Rat beigetreten seid, war ich besorgt. Ihr wart ein Zwerg mit eisernem Willen, Stärke und Entschlusskraft, der alles zum Schutze unserer Welt geopfert hatte. Aber als Ihr endlich hier wart, sah ich, wie Ihr Euch an dieses alte Stück Metall geklammert habt. Das war ein merkwürdiger Anblick, ... als hättet Ihr all Euren Stolz auf diesen einen Gegenstand konzentriert.“
Kurdran hörte Moiras Worte kaum. Seine Gedanken waren in Aufruhr. Die merkwürdigen Gerüchte über die Wildhämmer. Die stetige Eskalation der Spannungen wegen einer gefälschten Schriftrolle, die in der Bibliothek gefunden worden war. Sogar Moiras Inschutznahme seines Klans. Das alles hatte die Wildhämmer als Querköpfe dargestellt und nach und nach ihren Ruf aufgezehrt. Aus all dem folgte, dass sich die Aufmerksamkeit in Eisenschmiede von dem üblichen Hassobjekt wegbewegt hatte: dem Dunkeleisenklan.
Wie einfach das alles war erfüllte Kurdran mit einem Gefühl der Schmach, das man nur verspürt, wenn man von jemandem besiegt wird, der sich eigentlich nicht mit einem selbst messen kann. Genau dieses hinterhältige Verhalten hätte er von Moira erwartet, aber er hatte seiner Eingebung nicht trauen wollen.
„Ihr wart es also, die die Schriftrolle in die Bibliothek geschmuggelt hat? Oder habt Ihr das dieser Ratte Drukan überlassen?“
Die Thronerbin von Eisenschmiede ignorierte die Frage, lächelte einfach nur hämisch und tätschelte Fenrans Rücken. „Ich habe Wachen vor der Bibliothek aufstellen lassen. Ich kann Euch versichern, dass so etwas nicht wieder geschehen wird.“
„Antwortet mir!“ brüllte Kurdran, zog seinen Sturmhammer und zeigte damit auf Moira.
Moira sah ihn ruhig und unbeeindruckt an. „Ihr habt mit diesem Hammer Drachen erschlagen, nicht wahr? Zahllose Orcs ebenso, nehme ich an? Ich kann mir nur vorstellen, was er mit mir anstellen würde.“
„Er würde Euch den Schädel einschlagen, bevor Ihr auch nur einen Mucks machen könntet.“
Moira unterdrückte ein Lachen. „Und meine Leute würden sich erheben und diese Stadt niederbrennen, bevor mein Blut erkaltet wäre. Ihr und Euer hitzköpfiger Klan wäret die ersten, die ins Feuer geworfen würden.“
„Wenn Ihr auch nur einen Funken Ehre in Euch hättet, würdet Ihr zugeben, was Ihr getan habt.“
„Es ist aus, Kurdran. Ihr seid ein Zwerg, der Taten den Worten vorzieht. Aber leider zählen in Eisenschmiede allein Worte. Dies hier ist nicht die Scherbenwelt, wo ein Sieg dadurch entschieden wird, wer mehr Blut vergossen hat. Hier zählt, wie viele Herzen man gewinnen kann. Und dabei habt Ihr überaus spektakulär versagt. Vielleicht wäre doch Falstad der bessere Zwerg gewesen, Euren Klan zu vertreten.“
„Die ganze Zeit habt Ihr von Einheit geschwafelt“, sagte Kurdran und ballte die Faust um den Griff seines Sturmhammers. „Ihr wisst doch gar nicht, was Ihr wollt.“
Moiras Züge verhärteten sich und es fiel ihr schwer, weiterzulächeln.
„Ich weiß genau, was ich will“, fauchte Moira. „Ihr wart nie gewillt, dem Dunkeleisenklan die Hand der Freundschaft entgegenzustrecken. Bevor Ihr überhaupt hierhergekommen seid, waren Eure von altem Hass gefärbten Ansichten schon in Stein gemeißelt.“
„Also habt Ihr mich und meinen Klan geopfert, damit die Dunkeleisenzwerge nich‘ wie der Abschaum behandelt werden, der sie sind?“, fragte Kurdran.
„Was ich getan habe, ist für die Zukunft. Damit mein Sohn, wenn er eines Tages diesen Thron erbt, nicht wegen des Blutes in seinen Adern wie ein Ausgestoßener behandelt wird.“
„Wenn Euch nur Magni hier sehen könnte. Ich kann mir den Schmerz vorstellen, den er fühlen würde, wenn er diesem degenerierten Trogg, der einmal seine Tochter war, dabei zusehen müsste, wie er alles, was er mühsam aufgebaut hat, in Schutt und Asche legt.“
„Maßt Euch nicht an, über meine Vergangenheit oder über Magnis zu sprechen.“ Moira explodierte vor Wut. „Ihr und Euer Klan seid in dieser Stadt Gäste. Je eher Ihr hier verschwindet, desto besser!“ Moira drückte geistesabwesend Fenrans Arm und das Baby fing an, zu schreien.
„Ich hatte immer erwartet, dass ...“ Kurdran brach ab. Ein fürchterlicher Gedanke war ihm plötzlich gekommen. Er trat einen Schritt auf Moira zu und richtete den Sturmhammer auf ihr Gesicht. „Ihr ... Ihr habt Hori’zee getötet. Ihr habt Euren dreckigen Klan geschickt, das Feuer zu legen.“
„Nein“, sagte Moira entrüstet, „beschuldigt mich nicht, wofür Ihr verantwortlich seid. Ich habe die Dunkeleisenzwerge bestraft, die an dem Streit teilgenommen haben, aber laut ihren Aussagen wart Ihr es, der zum ersten Schlag ausgeholt hat.“
Schuldgefühle ergriffen von Kurdran Besitz. Seit dem Brand hatte er versucht, zu vergessen, dass er die Handgreiflichkeiten hätte verhindern können. Er ließ den Sturmhammer an seine Seite sinken.
„Nehmt es und verschwindet“, sagte Moira mit Blick auf das Szepter der Wildhämmer. „Oder auch nicht.“
Sie nahm Fenran in den Arm und stieg die Rampe hinab, ohne sich nochmal zu Kurdran umzudrehen.
„Wir werden so oder so mit dem Neuschmieden fortfahren. Morgen früh wird ein Dunkeleisenzwerg den Klans Einheit bringen“, sagte Moira während sie ihr Privatquartier betrat und die Tür hinter sich zuschlug.
In Moiras Worten steckte eine schreckliche Wahrheit. Der Feind, den Kurdran aufzuspüren gehofft hatte, hatte sich offenbart, doch dennoch konnte er nichts gegen Moira unternehmen, ohne die ganze Stadt in Gefahr zu bringen. Er war genauso hilflos wie die Kristallstatue, die einst König Magni gewesen war. Ganz plötzlich überkam ihn das unvertraute Gefühl der Niederlage.
Er brach in Schweiß aus. Jeder Atemzug schien abgestandene Hitze in seine Lungen zu befördern, keine Luft. Kurdran stopfte das Szepter durch eine Öffnung am Arm seines Brustpanzers. Mit dem sicher versteckten Erbstück rannte er aus dem Saal und in Richtung der Tore von Eisenschmiede, während ihn die Mauern der Stadt zu umzingeln schienen.
***
Kurdran atmete die kühle Luft vor den Toren Eisenschmiedes tief ein. Sein schweißnasser Körper kühlte sich im Freien ab und er zitterte.
In einiger Entfernung entluden Gestalten, die von den Lichtern des Stadttores beleuchtet und von einem Schleier aus Schnee verhüllt waren, Kisten aus einem Wagen. Eine der Silhouetten blickte in Kurdrans Richtung. Sie stapfte durch den Schnee auf Kurdran zu.
Es war Muradin.
„Hab‘ nach Euch gesucht, alter Junge“, sagte der Bronzebart und wischte sich Schnee von den plattenbewehrten Schultern. „Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich Hori’zees Tod bedauere. Sie ist gestorben, wie sie auch gelebt hat – frei von Furcht. Hat sich immer für das eingesetzt, was am wichtigsten war… ihr Volk. Ihre Zukunft.“
„Ihre Zukunft ist mit ihr gestorben“, sagte Kurdran. Er seufzte tief und sein Atem war eine weiße Wolke in der Kälte.
Muradin verharrte einen Moment lang in Stille. „Aye… aber ich würde lieber für mein Volk einen Kampf kämpfen, den ich nicht gewinnen kann, als überhaupt nicht zu kämpfen. Aber vermutlich könnt Ihr das gar nicht nachvollziehen, oder?“
Kurdran funkelte Muradin wegen der Beleidigung an, aber nach der Begegnung mit Moira fühlte er sich entkräftet. „Seit ich Fuß in Eisenschmiede gesetzt hab‘, hab‘ für mein Volk gekämpft.“
„Ihr solltet Starrköpfigkeit nicht mit Heldenmut verwechseln. Die sind nicht dasselbe“, antwortete Muradin.
„Ihr würdet das nicht verstehen. Ihr unterscheidet Euch keinen Deut von Moira.“
Muradin seufzte und senkte den Kopf. „Als Ihr dem Rat beigetreten seid, dachte ich im Stillen ‚Endlich ein Zwerg, der dem Gezanke in dieser Stadt ein Ende setzt‘. Aber stattdessen habt Ihr alles nur noch schlimmer gemacht.“
„Aye, und zwar weil ich ganz allein dastand. Ihr habt mich mit offenen Armen willkommen geheißen, aber sobald ich mich für eine Sache eingesetzt hab‘, die mir am Herzen liegt, habt Ihr mir den Rücken gekehrt.“
„Wie oft habe ich Euch gesagt, dass diese Angelegenheit mit dem Hammer es nicht wert ist, sich darüber zu streiten? Ich habe mir die Mühe gespart, als klar war, dass Ihr für vernünftige Argumente kein offenes Ohr hattet“, erwiderte Muradin.
Kurdran musste dem Bronzebart zugestehen, dass er sich an mehrere Gelegenheiten erinnern konnte, an denen Muradin privat an ihn herangetreten war, um ihn zu überzeugen, das Szepter des Wildhammerklans herauszugeben. Aber jedes dieser Gespräche war Kurdran mehr wie persönliche Angriffe vorgekommen, als wie Ratschläge.
„Versteht Ihr’s denn nicht, Kumpel?“, fuhr Muradin fort. „Dieses alte Stück Blech ist doch nur eine Kette, die Euch zurückhält. Es hält die ganze Stadt zurück. Je mehr man sich darüber streitet, desto fester schließt sich die Kette um einen.“
„Und was, wenn ich morgen nicht beim Neuschmieden mitmache?“ entfuhr es Kurdran. Als die Worte seine Lippen verließen, spürte er, dass unter seiner Rüstung versteckte Szepter sich in seine Rippen bohren.
Muradins Stirn runzelte sich. Er blickte Kurdran voller Verachtung an. „Magni hat an Euren Kriegsgeschichten mit Hori’zee in der Scherbenwelt Gefallen gefunden. Ich bin nur froh, dass er nicht hier sein muss, um zu erkennen, was für ein Narr Ihr eigentlich seid.“
Kurdran hatte überlegt, Muradin von seiner Konfrontation mit Moira zu berichten. Jetzt aber fragte er sich, ob Muradin mit Magnis Tochter im Bunde stand. Und doch war an Muradins Verhalten etwas derart Aufrichtiges, dass Kurdrans Befürchtungen gemildert wurden. Auf gewisse Weise wurden die Worte des Bronzebarts dadurch umso schmerzhafter anzuhören.
„Dieses Szepter hat das Herz meines Klans in der Scherbenwelt am Leben gehalten!“, rief Kurdran.
„Das Herz Eures Klans schlägt in Eurer Brust!“, erhob sich Muradins Stimme, um mit Kurdrans mitzuhalten. „Es schlug in Hori’zee. Und es schlägt in all den Wildhammerzwergen in der Stadt, die jede Sekunde, die Ihr mit Streiten verschwendet, leiden müssen. Ich versuche, diese Stadt voranzubringen, anstatt sie mit irgendwelchem Unsinn über Altmetall zurückzuhalten.“
„Voranbringen?“, spottete Kurdran. „Der Hammer war schon zu dem Zeitpunkt, als wir noch dachten, dass er echt wäre, nicht der richtige Weg, die Stadt voranzubringen. Und jetzt noch weniger, da wir wissen, dass er eine Lüge ist.“
Muradin atmete tief durch und legte seine Hand auf Kurdrans Schulter. „Lasst gut sein, Kumpel. Für alles Gute müssen Opfer gebracht werden. Ihr wisst das besser, als alle anderen.“
Kurdran stieß den Arm des Bronzebarts weg. „Habt Ihr deswegen nach mir gesucht? Damit Ihr mir sagen könnt, wie ich meinen Klan zu führen habe?“
Muradins Gesicht verzerrte sich vor Wut. Er drehte sich kurz zu den schemenhaften Gestalten um, die in der Nacht arbeiteten. Die anderen Zwerge luden weiterhin Kisten aus und schenkten Muradin und Kurdran keine Aufmerksamkeit. Als sich der Bronzebart wieder umdrehte, schlug er Kurdran blitzschnell mit der rechten Hand ins Gesicht, wodurch der Wildhammerzwerg zurücktaumelte.
„Nein, Kumpel. Wollte nur mit eigenen Augen sehen, wo bei Euch die Grenze zwischen Wahrheit und Lügen liegt.“
Muradin befand sich schon auf seinem Weg zurück zum Wagen als die Benommenheit nach dem Schlag nachließ. Kurdran stand einfach nur vor den Stadttoren und starrte in die dunkle Nacht.
Das Wildhammerszepter fühlte sich merkwürdig schwer an. An ihm hefteten viele seiner Erinnerungen an die Scherbenwelt. Doch davor hatte er nur sehr wenige emotionale Bindungen an das Erbstück gehabt. Er erinnerte sich sogar, dass er es beinahe vergessen hatte, als er zur Heimatwelt der Orcs aufgebrochen war. Das Szepter hatte an einer Wand gehangen und dort Staub gefangen, als sich Kurdran spontan dazu entschlossen hatte, es in sein Reisegepäck einzupacken.
Auf einmal fühlte er sich wie ein Narr, das Szepter aus dem Hohen Sitz entwendet zu haben. Was hatte er denn damit vor zu tun? Die Stadt verlassen und seine Pflichten als Ratsmitglied vernachlässigen, wodurch nicht nur seine Ehre, sondern auch die von Falstad und dem Rest seines Klans beschmutzt würde?
Kurdran brütete über diesen Fragen als er zurück durch die Tore schritt und die Hitze Eisenschmiedes ihn wieder umschloss. Während er ziellos den äußeren Ring der Stadt entlang ging, rief eine Stimme hinter ihm her, „Kurdran!“
Eli kam ihm mit einem Bündel aus Pelzen entgegengeeilt.
„Bin nich‘ in der Stimmung“, murmelte Kurdran.
„Aye, aye. Das Gefühl kenn‘ ich. Aber das hier müsst Ihr einfach sehen, alter Junge!“ sagte Eli und verlor fast das Gleichgewicht.
Der Greifenhüter platzierte die Pelze auf dem steinernen Boden und kniete sich daneben hin. Kurdran kniete ebenfalls und sah mit plötzlicher Aufmerksamkeit zu, wie Eli das Bündel auspackte.
„Eins von ihren“, sagte Eli. Ein Lächeln, umsäumt von seinem dichten Bart, erstreckte sich von einem Ohr zum anderen.
Kurdran lehnte sich ungläubig näher an die Pelze. Ein rußgeschwärztes Ei saß wie in einem Nest aus Pelzen vor ihm.
„Wie ist das ...?“, Kurdran fehlten die Worte.
„Hab‘ einen der anderen Greife gefunden, wie er es getragen hat. Hat sich oben in einer Nische der Großen Schmiede versteckt. Muss sich das Ei wohl während des Feuers geschnappt haben. Keiner der anderen hat sich um irgendwelche Eier gekümmert“, sagte Eli. „Ich hab‘ schon die ganze Zeit nach Euch gesucht.“
Da erinnerte sich Kurdran, dass er zwischen dem Chaos des Feuers, der Asche, den Federn und den furchtbaren Schreien einen Greifen neben Hori’zee in die Luft hatte schießen sehen, dessen Vorderläufe eng an seinen Leib gepresst gewesen waren. Kurdran hob seinen Kopf und sah, dass sich Elis Augen mit Tränen füllten. Der Greifenhüter wischte sie sich schnell mit der Hand weg.
„Verratet niemandem was davon, dass mir hier die Tränen kommen. Die anderen Jungs würden mich das nie vergessen lassen.“
„Wäre nicht das erste Mal, dass Ihr mir in Tränen ausbrecht.“ Ein Lachen wallte aus Kurdrans tiefsten Inneren hervor, als diese Worte seine Lippen verließen. Doch die Freude war auch mit Ärger versetzt, als er wieder nach unten auf das Ei sah. Es war eine wundersame Wendung, aber hätte er die Wahl gehabt, hätte er das Ei ohne mit der Wimper zu zucken gegen Hori’zee eingetauscht.
„Es ist keine Hori’zee ...“, sagte Kurdran.
„Ach, so ein Gedanke vergiftet Euch nur den Kopf, alter Knabe. Lasst es jetzt gut sein, sonst verbringt Ihr Euer ganzes Leben damit, auf etwas zu warten, das nie passieren wird.“ Eli griff nach Kurdrans Unterarm. „Das hier wird niemals Hori’zee sein“, fuhr Eli mit einem ernsteren Gesichtsausdruck, als Kurdran ihn jemals bei ihm gesehen hatte, fort. „Aber es ist ihr eigenes Fleisch und Blut. Ihr Geschenk an Euch. Und ich kann Euch versprechen, dass es eines Tages zu einem Greifen heranwachsen wird, der genauso großartig wie seine Mutter sein wird.“
„Aye“, sagte Kurdran und spürte, wie der Knoten in seinem Hals sich löste.
Zögerlich legte er seine Hand auf das Ei. Es fühlte sich irgendwie warm an, und doch war es ein gänzlich anderes Gefühl als die drückende Hitze von Eisenschmiede. Die Wärme floss durch Kurdrans Adern und gab ihm das Gefühl, als stünde er unter dem blauen Himmel des Hinterlands und ließe sich von den Sonnenstrahlen wärmen. In diesem Augenblick wurde ihm alles klar. Er wusste, was er zu tun hatte, ganz gleich, wie die Konsequenzen aussehen würden, um König Magni Bronzebart zu ehren und seinen eigenen Pflichten als Mitglied des Rats der Drei Hämmer nachzukommen.
***
Die Große Schmiede war randvoll mit Zwergen, die dicht an dicht standen, als Kurdran ankam. Fast die ganze Stadt war auf den Beinen, um der Neuschmiedung von Modimus‘ Hammer beizuwohnen. Selbst ein paar vereinzelte Gnome, Draenei und andere Allianzmitglieder waren anwesend, wobei sie sich weit entfernt von dem gigantischen Amboss im Herzen Eisenschmiedes hielten.
Die Wachmannschaft Eisenschmiedes hatte die unmittelbare Umgebung um den Amboss abgeriegelt und nur Moira, Muradin sowie der Dunkeleisenschmied waren durchgelassen worden. Viele der anwesenden Zwerge waren bewaffnet und vor angestauter Wut ganz angespannt. Die Wildhammerzwerge hatten sich vor dem Eingang zum Hohen Sitz versammelt, weit entfernt von ihrem üblichen Aufenthaltsort beim Greifenhort. Nach dem Feuer hatten sie alle ihre geflügelten Gefährten aus der Stadt abgezogen. Der Hort war gesäubert und mit neuem Stroh bedeckt worden und beherbergte jetzt nur noch die in Eisenschmiede ansässigen Greifen.
Kurdran bahnte sich einen Weg durch die Menge zur Schmiede. Ein großer Tumult brach um Kurdran herum aus und zwischen dem unverständlichen Krach konnte er das Wort „Dieb“ mehrmals heraushören. Als er sich der Mitte der Halle näherte, konnte er Moira sehen, wie sie hinter den Wachen stand und eine Ansprache hielt.
„Wir haben unsere eigenen Vermutungen, wer den Griff von Modimus‘ Hammer gestohlen hat“, sagte Moira. „Eine Untersuchung wird anberaumt werden. Wir werden diesen Dieben allerdings nicht gestatten, uns von dem abzuhalten, was wir uns vorgenommen haben. Wir werden mit der Neuschmiedung fortfahren wie ...“ Moira hielt inne als Kurdran die Reihen der Wachen durchschritt, die um den Großen Amboss standen.
„Kurdran“, sagte Moira gelassen, als hätte ihre Auseinandersetzung am Vorabend nie stattgefunden, „es ist ein Dieb in unserer Mitte.“
Die Thronerbin von Eisenschmiede deutete mit der Hand in Richtung des Großen Ambosses, wo der Hammerkopf der Bronzebärte und der Edelstein der Dunkeleisenzwerge für jedermann sichtbar lagen.
„Könnt Ihr vielleicht Licht in diese missliche Angelegenheit bringen?“, fragte sie laut genug, dass die versammelte Menge sie hören konnte.
Unter ihrer Maske aus Höflichkeit konnte Kurdran ganz deutlich spüren, wie Moira jeden Augenblick dessen genoss, das sie sicher für ihre Überlegenheit dem Abgesandten des Wildhammerklans gegenüber hielt.
„Das kann ich“, erwiderte Kurdran und warf Muradin einen kurzen Blick zu. Der Bronzebart starrte Kurdran angewidert an, sagte jedoch nichts.
Kurdran schritt zur Kante des Großen Ambosses. Er zog das Erbstück des Wildhammerklans aus seiner Rüstung und stieß das Szepter in die Höhe, den zusehenden Zwergen entgegen.
„Eisenschmiede!“, brüllte er. „Ich war es, der das Stück des Hammers entwendet hat.“
Rufe wurden in der Menge laut und die Menge begann, sich gegen den Ring aus Wachen um den Großen Amboss herum zu stemmen. Andere traten einen Schritt näher auf die Wildhammerzwerge am Hohen Sitz zu.
Muradin näherte sich dem Amboss und ergriff Kurdrans freien Arm. „Kurdran!“ Der Bronzebart schnaubte vor Wut. „Ihr fangt hier noch einen Aufstand an!“
„Ihr sagtet, ich könne derjenige sein, der dem Gezanke in dieser Stadt ein Ende setzt. Und genau das habe ich vor.“
„Wie?“ fragte Muradin.
„Indem ich die Kette sprenge, Kumpel.“
Muradins Stirn runzelte sich vor Verwirrung. Aber einen Moment später erschien es Kurdran, als hätte der Bronzebart verstanden, was gleich passieren würde. Muradin wandte sich an die Menge und rief: „Lasst ihn sagen, was er zu sagen hat!“
Als der Tumult sich gelegt hatte, fuhr Kurdran fort: „Viele Jahre lang war ich in der Scherbenwelt gefangen und hatte nie Gewissheit, ob ich jemals nach Hause zurückkehren würde. Während all dieser Zeit hat dieses Stück Eisen mir und den Zwergen an meiner Seite Hoffnung gegeben. Es hat uns daran erinnert, wer wir sind und wofür wir kämpften!“
Kurdran richtete seinen Blick auf das Erbstück. In der vergangenen Nacht hatte er, als er neben dem Ei von Hori’zee kniete, endlich verstanden, was das Szepter wirklich war – ein altes Stück Eisen. Geschmiedetes Eisen, das Zwerg gegen Zwerg aufbrachte und Furcht und Hass in Kurdrans Herz entflammte. Er war kein bisschen anders als der gedankenlose, aufgebrachte Mob, der jetzt vor ihm stand. Ein Zwerg, der sich vor dem Ungewissen fürchtet, nicht gewillt, sich vom Fleck zu bewegen, wenn das bedeutete, etwas Vertrautes aufzugeben. Aber genau das hatte er in der Scherbenwelt getan. Er hatte seinen Titel als Hochthan an Falstad übergeben. Er hatte Jahre seines Lebens auf dem Nistgipfel aufgegeben, um seinem Volk eine bessere Zukunft zu sichern. Im Vergleich dazu war das Szepter unglaublich bedeutungslos.
„Aber dies hier ist nicht die Scherbenwelt“, fuhr Kurdran fort, „und dies hier ist auch nicht das Eisenschmiede unserer Vorfahren. Warum also versuchen wir, diesen Hammer wieder zusammenzuflicken, damit es so wird? Dies hier ist ein neues Eisenschmiede. Es wird niemals wieder das der Vergangenheit sein und daran wird auch das Neuschmieden von Modimus’ Hammer nichts ändern!“ Kurdran schmetterte das Szepter auf den Amboss nieder. „Ich und mein Klan werden uns nicht daran beteiligen, diese Ära damit zu beginnen, uns an einen Hammer zu ketten!“
Die Bewegungen der Menge wurden chaotisch. In den Schatten der Großen Schmiede sahen die Zwerge wie ein einzelner Organismus aus, der sich ausdehnte und zusammenzog und nur einen Augenblick davon entfernt war, aus allen Nähten zu platzen.
„Er wird das Teil wieder wegnehmen!“
„Endlich bekennen die Wildhämmer Farbe!“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zog Kurdran den Sturmhammer von seinem Rücken. In einer schnellen Bewegung holte er mit der Waffe aus und ließ ihn mit einem Lichtblitz auf das Szepter niederschmettern. Der darauffolgende Donnerknall klang in Kurdrans Ohren, obwohl er den Hammer jahrzehntelang benutzt hatte. Das Erbstück zerbarst in tausend Stücke.
Die Menge stand vor plötzlicher Verwunderung ganz still. Ratlosigkeit war in vielen der angespannten Gesichtern deutlich zu lesen.
„Hier fängt das neue Eisenschmiede an. Fragt Euch, ob Ihr wirklich einen Neuanfang damit beginnen wollt, diesen Hammer zusammenzusetzen, nur damit er eines Tages wieder auseinandergerissen werden kann! Der Wildhammerklan hat sich entschlossen, einen Schritt vorwärts zu tun, nicht rückwärts. Wer von Euch ist auf unserer Seite?“
Als Kurdran sich umdrehte und den Sturmhammer den anderen Ratsmitgliedern entgegenstreckte, war er überrascht zu sehen, dass Muradin bereits zum Amboss schritt.
„Die Bronzebärte stehen an Eurer Seite!“, rief Muradin und umschloss den Griff des Sturmhammers mit einer Hand.
Gemeinsam blickten Muradin und Kurdran Moira an und auch die Augen aller Versammelten richteten sich auf sie. Sie stand ganz allein.
Die Thronerbin von Eisenschmiede sah sich um, als suche sie nach einem Ausweg. Als die Stille in der Halle sich ausdehnte, bewegte sie sich endlich mit unsteten Schritten auf den Amboss zu, als würden ihr Geist und ihr Körper miteinander ringen. Ihren Blick auf Kurdran geheftet legte sie ihre Hand über Muradins auf den Griff des Sturmhammers.
Mit seiner freien Hand bewegte Kurdran den Hammerkopf der Bronzebärte und den Edelstein der Dunkeleisenzwerge zur Mitte des riesigen Ambosses. Gemeinsam ließen die Ratsmitglieder Kurdrans Waffe niedergehen. Ein weiterer Donnerknall verhallte in den Weiten des Raumes und die verbleibenden Artefakte lagen in Stücke zerbrochen. Und mit ihnen auch die Lüge.
Anschließend standen die drei Zwerge vor dem Amboss und hielten alle noch mit einer Hand den Sturmhammer in die Höhe. Die Menge applaudierte und brach bald in Jubel aus. Die ganze Zeit über funkelte Moira Kurdran an, als erwarte sie, er würde etwas zu ihr sagen. Er blieb still.
***
Im Laufe der folgenden Woche glich die Spannung zwischen den Klans immer mehr einer glimmenden Kohle; sie war noch immer spürbar, aber die drohenden Ausschreitungen schienen nun weit weg zu sein. Kurdran saß an seinem zweiten Becher Bier allein in einer Ecke der Steinfeuertaverne. Sein Alleinsein hatte aber nichts mit Ärger oder Schuldgefühlen zu tun. Er wartete in nervöser Anspannung auf jemanden.
Wenn er nicht kommt,, dachte Kurdran, wer könnte es ihm verübeln?
Wie als Antwort auf seine stille Frage betrat Falstad Wildhammer die Taverne. Sein rotes Haar war ähnlich wie Kurdrans zu einem roten Pferdeschwanz zusammengebunden. Er blieb im Eingang stehen und durchsuchte den spärlich beleuchteten Raum, bis er Kurdran fand. Ohne ein Lächeln oder Nicken ging Falstad auf Kurdrans Tisch zu und setzte sich.
„Schön Euch zu sehen, Kumpel“, sagte Kurdran.
„Euch ebenso“, erwiderte Falstad in neutralem Ton.
Es herrschte einen Moment lang eine peinliche Stille. Kurdran hatte Falstad kurz nach der Zerstörung des Wildhammerszepters nach Eisenschmiede gerufen und war sich nicht sicher gewesen, wie sein Freund auf die Einladung reagieren würde. Jetzt, da Falstad in der Stadt angekommen war, war Kurdran gleichzeitig erleichtert und verunsichert.
„Ihr müsst das nicht tun. Euer Anrecht auf einen Sitz in diesem Rat ist größer als meins“, sagte Falstad.
„Nein“, antwortete Kurdran. „Ihr seid zwanzig Jahre lang Hochthan des Wildhammerklans gewesen. Das einzige, das sich daran in der letzten Zeit geändert hat, ist ein Zwerg mit einem Dickschädel, der dachte, er könne die Sache besser machen als Ihr ...“
„Ich habe gerade mit Eli gesprochen. Offenbar habt Ihr in Eisenschmiede schon Eure Spuren hinterlassen.“
„Ich habe nur den Schaden behoben, den ich selbst angerichtet habe. Ein Schaden, der gar nicht erst passiert wäre, wenn Ihr hier gewesen wärt.“
Falstad sah Kurdran mit bohrendem Blick und zusammengepressten Lippen an. Kurdran bereitete sich darauf vor, dass sein Freund ihn wegen seiner Überheblichkeit beschimpfen, oder sich sogar über die Unruhen, die er in Eisenschmiede verursacht hatte, lustig machen würde.
„Wenn Ihr es nicht für mich tun wollt“, sagte Kurdran hastig, „dann nehmt Euren Platz im Rat zum Wohle des Klans ein.“
Falstad lehnte sich in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme und starrte Kurdran weiterhin an.
„Ihr erwartet also von mir, Euch zu vergeben und dem Rat beizutreten ... und dabei habt Ihr noch nicht einmal ein kühles Glas Bier für mich auf dem Tisch stehen?“, fragte Falstad und eine grinsende Zahnreihe kam zwischen seinem dichten Bart zum Vorschein.
Kurdran lachte aus voller Kehle und fühlte sich, als ob ihm eine große Last von den Schultern genommen worden war. In diesem Moment erkannte er die immense Weisheit und Fähigkeit zu vergeben, die Falstad besaß. Es waren Eigenschaften, die den Wildhammerklan zu großen Dingen führen würden, selbst bei all den Unsicherheiten, die die Gründung des Rates mit sich gebracht hatte.
Nachdem Kurdran ein Bier für Falstad bestellt hatte, erhoben die beiden Zwerge ihre Becher.
„Auf den Rat“, sagte Falstad.
„Auf den Hochthan des Wildhammerklans“, antwortete Kurdran.
„Auf Hori’zee.“ Falstad setzte den Becher an seine Lippen, bevor Kurdran noch einen weiteren Trinkspruch äußern konnte. Zweifellos hatte Eli Falstad über Hori’zees Tod in Kenntnis gesetzt. Kurdran wusste die Bescheidenheit des Gedenkens zu schätzen, denn er wusste genau wie Falstad und die anderen Greifenreiter, dass langatmige Beileidsbekundungen nichts an dem Schmerz ändern konnten, den der Tod eines Begleiters wie Hori’zee mit sich brachte.
Falstad stellte seinen Becher mit einem dumpfen Ton auf den Tisch und fragte, „Was wollt Ihr nun also machen?“
„Vielleicht reise ich in den Süden nach Sturmwind. Ich habe gute Erfahrungen mit Menschen gemacht und möchte diesen König Varian treffen. Außerdem ... habe ich gehört, dass sie gleich hinter den Stadttoren eine Statue in Gedenken an meinen Tod in der Scherbenwelt aufgestellt haben.“ Kurdran grinste.
„Aye ... ich habe die Plakette geschrieben. Das war ganz schön harte Arbeit, etwas Gutes zu finden, das man sagen kann“, scherzte Falstad und gluckste.
Im Laufe des Abends gesellten sich weitere Zwerge zu Kurdran und Falstad an den Tisch. Sie unterhielten sich über die großen politischen Umwälzungen, die in allen Königreichen Azeroths stattfanden, und über die Naturkatastrophen, die nach dem Kataklysmus die Welt neu geformt hatten. Eines der Themen, das Kurdran am meisten interessierte, waren die verstreuten Wildhammerzwerge im Schattenhochland. Sie hatten sich aufgrund ihrer leidenschaftlichen Unabhängigkeit lange der politischen Kontrolle, die vom Nistgipfel ausging, entzogen. In jüngster Zeit hatten sich Berichte gehäuft, dass etwas Dunkles sich in den grünen Hügelländern des Nordens eingenistet hätte.
Als die Zwerge sich anderen Themen zuwandten, hing Kurdran seinen eigenen Gedanken nach. Noch vor einer Woche hätte er sich Sorgen gemacht, dass seine Stellung im Rat aufzugeben seine Stärke aus Sicht des Klans geschmälert hätte. Heute kümmerte ihn das wenig. Ein persönliches Opfer zu bringen, gewillt zu sein, seine eigenen Ambitionen zum Wohle seines Volkes zurückzustecken, hatte etwas für sich, das Kurdran mit Feuer erfüllte. Es war dasselbe Feuer, das ihn in die Scherbenwelt geführt hatte, und das ihn dazu gebracht hatte, das Wildhammerszepter zu zerstören. Sein Schicksal lag nicht in Eisenschmiede, oder darin, auf dem Nistgipfel die Hände in den Schoß zu legen. Es lag hier und es lag dort: ein Leben, das sich von der Windrichtung leiten ließ. In dieser Unvorhersehbarkeit lag die Stärke, sich jeder Herausforderung zu stellen, standfest gegen unüberwindbare Barrieren anzutreten und selbst noch in der aussichtslosesten Lage weiterzukämpfen. Das war die Willensstärke eines Wildhammerzwerges.
Zum ersten Mal seit er in die Stadt gekommen war, – um genau zu sein, seit er aus der Scherbenwelt zurückgekehrt war – fühlte er sich frei, als würde er auf Hori’zees Rücken durch die Wolken fliegen. Vor seinem geistigen Auge tat er das auch. Kurdran war bei dem Geist des Greifen und segelte durch die wolkenlose, blaue Unendlichkeit des Himmels. Vor ihm lag etwas, das sich nicht greifen ließ, das wie eine Fata Morgana schimmerte. Aus tiefster Seele wusste er, dass es sich um Frieden für den Nistgipfel und den Wildhammerklan handelte. Ob ihn zu erreichen einen Tag, eine Woche oder zehn Jahre dauern würde, ließ sich unmöglich vorhersagen – und es war auch närrisch, sich darüber Gedanken zu machen. Er gab Hori’zee einen entschlossen Klaps auf den Nacken und ließ den Wind sie beide zum Horizont tragen.
Tyrande & Malfurion: Samen des Glaubens von Valerie Watrous
Es sah aus, als würde sie nur schlafen. Die Gesichtszüge der Nachtelfe wirkten vollkommen entspannt. Nur ihre Mundwinkel waren etwas verzerrt, als wäre ihr Traum nicht besonders angenehm. Ihr Körper war intakt und größtenteils unversehrt, ganz im Gegenteil zu den anderen, die sie in letzter Zeit gefunden hatten. Tyrande Wisperwind kniete neben dem Leichnam nieder, um ihn genauer zu betrachten. Die Haare der Frau waren von blutigem Tang durchzogen, und sie stank nach Meer und langsamer Verwesung. Tot. Schon seit mehreren Tagen. Wahrscheinlich war sie eines der ersten Opfer des Kataklysmus, von der Flut einfach weggespült. Keine Priesterin der Elune könnte sie je wieder zurückholen.
„Tyrande!“ Die Hohepriesterin hob rasch den Kopf, als eine Stimme die Stille durchschnitt. Sie gehörte Merende, einer ihrer engsten Vertrauten. Mit den Augen suchte sie das Ufer von Rut'theran ab und erblickte Merende schließlich, wie sie eine jüngere Priesterin tröstete, die herzzerreißend in ihre weißen Roben schluchzte. Als sie zu den beiden Frauen hinüberging, verstand Tyrande, warum. Vor ihnen lag der verdrehte Körper einer jungen Nachtelfe.
Ihre Schwester, formte Merende stumm mit den Lippen und deutete mit dem Kopf auf die trauernde Priesterin. Tyrande nickte und bedeutete ihnen, zu gehen. Als sie verschwunden waren, richtete Tyrande ihren Blick auf den Leichnam. Sie wusste sofort, dass keinerlei Hoffnung bestand. Ihre Gliedmaßen waren in Übelkeit erregenden Winkeln verdreht und die Wunden vollkommen blutleer. Doch Nachtelfen ließen ihre Toten nicht einfach so zurück. Sie würden ihren Körper waschen, die Wunden verbergen und die gebrochenen Glieder richten. Erst dann würde man die junge Nachtelfe der Erde zurückgeben.
Tyrande ging in die Hocke und wischte den Schlamm vom Gesicht des Mädchens, während sie leise die Mondgöttin bat, ihren Geist zu führen und das Leid der Schwester zu mildern. Kiesel rutschten weg und offenbarten eine helle, violette Haut und Wellen aus dunkelblauem Haar. Ihre mandelförmigen Augen waren noch immer geöffnet und starrten in den wolkenverhangenen Himmel. Das Gesicht erinnerte sie stark an eines, das sie zum ersten Mal vor vielen tausend Jahren erblickt hatte. Tyrande schloss die Augen, um gegen die aufsteigenden Tränen anzukämpfen.
Shandris… Wenn ich doch nur etwas von dir hören würde ...
***
„Wie weit konntet Ihr vorstoßen, Morthis?“, frage Malfurion Sturmgrimm, während er dem Späher einen Krug dampfend heißen Apfelweins reichte. Dankbar stürzte der andere Nachtelf ihn hinunter und unterdrückte ein Zittern. Er war bis auf die Knochen durchnässt von seiner Patrouille zurückgekehrt, doch bevor er sich erholte, musste er seine Erkenntnisse mitteilen. Die beiden Druiden zogen sich in den obersten Raum der Enklave des Cenarius zurück.
„Die Winde waren schrecklich. Ich habe es nur bis Maestras Posten geschafft, aber dort hatte man Berichte aus Astranaar und Feralas erhalten.“ Der Späher ließ sich auf einer der Holzbänke im Zimmer nieder und sah nervös zu den Ästen der Bäume Darnassus', die sich draußen im Wind wiegten.
„Astranaar steht noch?“, fragte Malfurion mit hörbarer Erleichterung. Seit Tagen schon hatte er Späherpatrouillen ausgesandt, doch die meisten Druiden waren trotz größter Anstrengungen nicht einmal bis zum Festland gekommen. Sie alle brannten auf Neuigkeiten, und viele hatten das Schlimmste befürchtet.
„Ja, Astranaar und die Nijelspitze wurden verschont, doch die Siedlungen entlang der Küste hatten nicht so viel Glück.“
„Was meint Ihr?“
„Dunkelküste ist vollkommen abgeschnitten. Keiner der Druiden, die dorthin entsendet wurden, ist zurückgekehrt“, antwortete der Späher mit vor Trauer brechender Stimme. Einige seiner Freunde waren unter den Vermissten. „Ich musste einen weiten Bogen fliegen, um nicht von den Sturmböen erfasst zu werden.“
„Was ist mit der Mondfederfeste?“, fragte Malfurion. Er hatte seine Frage gerade ausgesprochen, als Tyrandes schlanke Gestalt in der Tür erschien.
„Mondfeder?“ Morthis warf dem Erzdruiden einen fragenden Blick zu, als wäre er nicht ganz sicher, ob er fortfahren sollte. „Die Späher konnten leider keinen Kontakt mit den anderen dort aufnehmen. Aus der Entfernung sahen sie nur das aufgewühlte Meer und ... Naga.“ Seine Stimme erstarb zu einem Flüstern, als er bemerkte, dass Tyrande sich näherte. „… Hunderte von Naga.“
Die monströsen, schlangenartigen Wesen hatten schon in der Vergangenheit die Mondfederfeste immer wieder überfallen, aber einen ausgewachsenen Sturmangriff hatte es bisher nie gegeben.
„Haben sie irgendjemanden auf der Insel gesehen? Irgendwelche Überlebenden?“, fragte die Hohepriesterin scharf.
Der Späher schüttelte den Kopf. „Niemanden.“ Tyrandes Gesichtsausdruck war niederschmetternd, und er konnte ihren Schmerz förmlich spüren. „Aber der Himmel war dunkel und der Regen stark. Ich glaube nicht, dass die Generalin ...“ Er hielt inne und überdachte seine Worte. „Ich meine, die Schildwachen in der Mondfederfeste sind ausgesprochen gut, Hohepriesterin.“
Tyrande seufzte und legte beruhigend die Hand auf seine Schulter. „Dank Eures Mutes und Eurer Standhaftigkeit haben wir diese Nachrichten erhalten, Morthis. Dafür bin ich Euch dankbar. Das ist das Erste, was wir seit dieser Tragödie vom Festland hören. Wir werden jetzt nicht noch mehr von Euch verlangen. Bitte, ruht Euch aus.“
Der Späher nickte und schleppte sich mit langsamen, müden Schritten aus dem Raum.
Malfurion wandte sich seiner Frau zu. Auf ihrem wunderschönen, fast schon alterslosen Gesicht zeichneten sich Sorge, Angst und ein Hauch der unerschütterlichen Entschlossenheit ab, die er in all den Jahren ihres Zusammenseins so gut kennengelernt hatte.
„Es gab fünf Opfer in Rut'theran“, sagte sie. „Keines von ihnen konnte ich retten.“
„Tyrande ...“ Malfurion schloss tröstend seine Hände um die ihren.
„Ich muss zu ihr, Mal. Shandris ist wie eine Tochter für mich.“ Sie schwieg einen Moment. „Vielleicht die einzige Tochter, die ich je haben werde.“
Ihre Worte versetzten ihm einen Stich ins Herz. Einst hatte es eine Zeit gegeben, in der die Zukunft der Nachtelfen keine Grenzen kannte, doch die Opferung der Segen des Weltenbaums Nordrassil bedeutete auch das Ende dieses Traums. Welche Folgen die neue Sterblichkeit der Nachtelfen hatte, war immer noch unklar, doch viele fühlten die Bedrohung stumm wie eine Klinge über ihrem Kopf schweben. Die Kinder der Sterne waren nicht länger so alterslos, wie ihr Name es andeutete.
„Ich weiß, aber warum jetzt? Woher willst du wissen, dass das Schicksal der Feste nicht schon längst besiegelt ist?“, fragte er mit vor Sorge gerunzelter Stirn.
„Seit all dies begonnen hat, war Shandris immer in meinen Gedanken. Ich kann dir nicht sagen, woher ich es weiß, nur, dass ich keinen Zweifel habe.“
„Also hattest du eine Vision?“ Malfurion wusste, dass die Mondgöttin Elune Tyrande bereits in der Vergangenheit derartige Einblicke gewährt hatte.
„Nein, dieses Mal nicht. In letzter Zeit verbirgt sich Elune hinter den Schleiern. Meine Gefühle kommen tief aus meinem Inneren ... Eine Mutter weiß, wenn ihr Kind in Gefahr ist.“ Sie unterbrach sich, als er sie zweifelnd ansah. „Nicht alle Bande sind aus Blut, Mal.“
„Aber seit dieser Tragödie sagen wir unserem Volk immer wieder, dass sie in Teldrassil bleiben sollen, dass sie eben nicht nach ihren Verwandten auf dem Festland suchen sollen, da sie dort doch nur ihren eigenen Tod finden würden.“
„Dann glaubst du also, dass ich dem Tod in die Arme laufe?“ Ihre Augen funkelten wie Eis.
„Nein“, gab er zu. Es ließ sich nicht bestreiten, dass die Hohepriesterin zu den Lieblingen der Elune gehörte und selbst eine ausgezeichnete Kriegerin war. „Aber ich würde Darnassus in diesen finsteren Zeiten nicht verlassen. Ich weiß, dass ich selbst viel zu oft fort war, und es quält mich. Ich wünschte, ich wäre bei der Geburt Teldrassils dabei gewesen, da gewesen, als mein Bruder in der Scherbenwelt sein Ende fand ...“ Er seufzte. „Und doch kann ich die Vergangenheit nicht ändern. Aber jetzt kann ich hier sein.“ Und ich wünsche mir, dass du hier an meiner Seite bist, hatte er hinzufügen wollen, doch ihr Blick brachte ihn zum Schweigen.
„Illidans Schicksal war bedauernswert, Mal. Wir alle waren hilflos dagegen. Der Wahnsinn fraß sich in ihn, bis nichts mehr übrig war.“ Noch immer erinnerte sie sich daran, wie merkwürdig er ihr vorgekommen war, fast schon fremdartig, als Sargeras ihm vor Tausenden von Jahren die Augen ausgebrannt hatte. „Wir müssen unsere Anstrengungen auf diejenigen konzentrieren, die gerettet werden können ... sonst werden wir unsere Entscheidungen immer und immer wieder bereuen.“
Ihre elfenbeinfarbenen Roben wirbelten wie ein schnell aufbrausender Sturm um sie herum, als sie sich umdrehte und den Raum verließ.
Generalin Shandris Mondfeder suchte nach ihrem Gleichgewicht, während sie auf den regennassen Balken des Gasthausdaches balancierte. Ein Dutzend Schildwachen drängte sich um sie herum. Jede von ihnen sah mitgenommen aus, aber weit entfernt davon, aufzugeben. Sie hob den Arm zu einem vertrauten Signal.
„Salve!“ Die Pfeile der Schützinnen schnellten auf die Armee der Naga zu, die unter ihnen ausschwärmte. Die Kriegerinnen waren müde und nur die Hälfte der Pfeile tötete ihr Ziel. Darunter war Shandris' Pfeil, dessen Spitze sich in das Auge einer Nagasirene bohrte. Einige Sekunden lang wälzte sie sich heftig hin und her, bis ihre schlangenartige Gestalt schließlich in den Wellen verschwand. Doch zehn weitere traten vor, um ihren Platz einzunehmen. Im Wasser waren die Naga in ihrem Element, und ihre Verstärkung rückte schneller nach, als Shandris und ihre Schildwachen sie töten konnten.
„Haltet Euch fest!“, befahl Shandris, als eine Wand aus Wasser sich aus der tosenden See erhob. Die Welle krachte auf die immer schwächer werdende Fassade des Gasthauses und überschüttete die Generalin und ihre Streitmacht. Die Schildwache zu ihrer Linken, Nelara, wurde vom Aufprall voll getroffen und rutschte halb vom Dach. Nur mit Mühe gelang es Shandris, zu ihr zu eilen und ihren Arm zu packen. Mühsam zog die Generalin sie wieder nach oben und auf die Beine. Ein Blick nach unten verriet ihr, dass der Wasserspiegel im Erdgeschoss des Gasthauses rasend schnell stieg.
„Wir müssen die Überlebenden hier rauschaffen und uns einen höher gelegenen Ort suchen“, befahl Shandris. „Dieses Gebäude kann jederzeit in sich zusammenbrechen. Nelara, bringt sie zum Turm! Alle auf meiner rechten Seite, folgt ihr.“ Sie gab der Hälfte der Schildwachen ein Zeichen. „Dort werden wir bessere Chancen haben.“
Nelara nickte und schob sich vorsichtig zum Rand des Dachs vor, bevor sie sich auf den Balkon darunter hinabschwang. Die anderen folgten ihr. Es tat Shandris in der Seele weh, die Müdigkeit in ihren Schritten zu sehen.
„Was den Rest von uns angeht: Wir werden hier ein solches Chaos anrichten, dass unsere Feinde nicht einmal bemerken, dass die anderen fliehen. Ash karath!“, schrie die Generalin, legte den Bogen an und ließ voll Zorn einen Pfeil nach dem anderen auf den Feind herabregnen. Sie wusste, dass das Leben ihrer Streitmacht am seidenen Faden hing. Nur ein Moment der Unachtsamkeit würde alle anderen ins Verderben stürzen.
Doch zu ihrer Erleichterung rissen die Elfen sich zusammen. Pfeile zischten ins Wasser hinab und versprengten die vor Zorn fauchenden Naga. Die Angriffe der Eindringlinge wurden langsamer, und es schien tatsächlich, als würden sie sich zurückziehen. Nur Augenblicke später waren von ihnen nur noch Schemen unter den Wellen zu erkennen. Shandris erhaschte einen flüchtigen Blick auf die Rückseite des Gasthauses. Der Großteil der Insel war überflutet, aber die Schildwachen und Zivilisten kamen gut zum Turm durch. Als sie die Augen jedoch wieder auf das Meer richtete, wurde ihr schlagartig klar, wohin die Naga verschwunden waren.
Die Krieger hatten eine riesenhafte Muschel beschafft, groß genug, um mehr als zehn von ihnen Platz zu bieten. Mit der Muschel als Schild gegen die Pfeile, schoben sie sich Schritt für Schritt nach vorn. Shandris bedeutete ihren Schildwachen, das Feuer einzustellen. „Schließt zu den anderen auf. Ich kümmere mich hierum.“ Die anderen Nachtelfen warfen einander ungläubige Blicke zu und begannen dann zögerlich, sich zurückzuziehen. „Zu Nelara. Sofort!“, fügte sie hinzu.
Ohne auf eine Bestätigung zu warten, sprang Shandris vom Dach in die Fluten unter sich. Mit neu gewonnenem Elan schossen die Naga auf sie zu. Ohne es zu wollen, musste sie plötzlich an ihre lange, quälende Vergangenheit denken. Einst hatten die aristokratischen Hochgeborenen unter der Führung von Königin Azshara törichterweise die Brennende Legion in die Welt beschworen und zugelassen, dass die Dämonen Chaos und Verderben säen konnten. Eine Armee aus Nachtelfen und anderen Völkern hatte ihnen schließlich das Handwerk gelegt. Nach dieser Katastrophe waren die überlebenden Hochgeborenen von den Fluten verschlungen worden und hatten sich in abscheuliche Mutationen ihres früheren Wesens verwandelt ... die Naga.
Damals war sie selbst nur ein Mädchen gewesen, und dennoch hatte Shandris in diesem Krieg Seite an Seite mit Tyrande gekämpft. Es war den Naga zwar nie gelungen, den Ruhm ihrer Vorfahren wiederzuerlangen, doch sie hasste sie trotzdem mit einer Wildheit, die sie fast zu zerreißen drohte. Aber sie wartete und ließ sie näherkommen, bis der richtige Zeitpunkt gekommen war. Dann schloss sie die Augen und flüsterte ein uraltes Gebet an Elune. In jedem ihrer Worte schwangen tiefer Glaube und Verehrung mit, genauso, wie Tyrande es ihr vor vielen Jahren während ihrer Ausbildung zur Priesterin der Mondgöttin beigebracht hatte. Die Schlangen kreisten die Nachtelfengeneralin ein. Einige von ihnen lachten amüsiert, als sie die heiligen Worte zu Ende sprach.
Elunes Antwort kam schnell. Noch während die Naga sie ungläubig anstarrten, rafften Energieströme einen nach dem anderen dahin. Als der letzte rasselnde Schmerzensschrei verstummt war, betrachtete Shandris die Leichen mit kalter Genugtuung.
„Euer Glaube war schon immer schwach, Hochgeborenenabschaum.“
Es war ein riskanter Schachzug gewesen, aber er hatte funktioniert. Obwohl Shandris nicht einmal halb so mächtig wie ihre Mentorin Tyrande gewesen war, dachte sie voller Wärme an ihre ersten Tage im Tempel zurück. Dank ihrer Ausbildung verfügte sie über weitaus größere Macht als alle anderen Schildwachen, was ihr besonders zur Hilfe kam, wenn Bogen, Pfeile und Gleven versagten. Doch das Gebet hatte sie erschöpft. Der Preis, den sie dafür zahlen musste, war hoch.
Gegen die Wellen ankämpfend schwamm Shandris auf das Ufer zu, bis ihre Füße festen Boden spürten. Sie schleppte sich durch das Wasser in Richtung der flüchtenden Zivilisten und Schildwachen. Doch etwas stimmte nicht. Seit sie sie zuletzt gesehen hatte, waren sie kaum vorangekommen. Als Shandris näherkam, erblickte sie Nelara und ihre Begleiterinnen, die verzweifelt gegen eine deutlich überlegene Gruppe von Myrmidonen kämpften. Die Bewohner der Mondfederfeste liefen kopflos auf der panischen Suche nach einem Unterschlupf umher. Jeder einzelne von ihnen war ihr vertraut und so lieb wie ein Stück ihres eigenen Herzens.
Der Forscher Quintis Lebenshand spurtete nach Deckung suchend auf eine gefährliche Lücke zwischen den Schildwachen und einer zweiten Gruppe sich nähernder Myrmidonen zu. Shandris erinnerte sich an ihre langen Gespräche mit Quintis über Fandral Hirschhaupt. Sie beide hatten umsonst gehofft, dass Tyrande Hirschhaupt für seine merkwürdigen Taten ganz formell zurechtweisen würde, doch die Hohepriesterin hatte sie nur daran erinnert, dass der Zirkel des Cenarius außerhalb ihres Einflussbereiches lag. Quintis hatte die wachsende Dunkelheit in Hirschhaupt lange vor den anderen erkannt und in der Feste Unterschlupf gesucht, wohl wissend, dass er unter Shandris‘ Aufsicht vor dem Erzdruiden sicher sein würde.
Doch Quintins Verstand konnte ihn jetzt nicht retten. Der Anführer der Myrmidonen entdeckte den flüchtenden Nachtelf und erhob seine Waffe. Shandris schrie Quintis eine Warnung zu, doch als er aufblickte, bohrte sich der Dreizack des Nagas auch schon in seinen Rücken. Hilflos und entsetzt starrte er Shandris an und fiel zu Boden. Sein Blut trübte das Wasser, bis es sich langsam im Meer verlor.
***
Der stürmische Himmel verschluckte das Licht des Morgenrots, doch die Bürger von Darnassus zogen sich trotzdem zu ihrer gewohnten Zeit in ihre Kammern zurück. Manche suchten vielleicht Trost in vertrauten Gewohnheiten nach dieser schrecklichen Katastrophe. Für andere war es eine Möglichkeit, allein zu sein und sich ihrer Trauer hingeben zu können. Für Tyrande war es eine Gelegenheit zur Flucht.
Die Hohepriesterin sah sich hastig um und stahl sich dann aus dem Tempel. Ihr Ziel war ein einsamer Pfad, der sich hinter den hoch aufragenden Gebäuden Darnassus' entlang schlängelte. Es war nicht gerade der schnellste Weg, doch sie wollte an diesem Abend unbedingt vermeiden, von neugierigen Augen entdeckt zu werden. Nach einer weiteren Biegung gelangte sie zu der bescheidenen Unterkunft, die sie sich mit ihrem Ehemann teilte.
Tyrande öffnete die Tür. Ein breiter Lichtstrahl schob sich über den dunklen Fußboden. Die Zimmer waren leer. Sie vermutete, dass Malfurion sich noch immer in der Enklave aufhielt, und begann, für die waghalsige Reise zu packen, die vor ihr lag. Rasch tauschte Tyrande die Tempelroben gegen ihre Plattenrüstung, die der einer Schildwache glich. Nur der einfache Stirnreif mit der Mondsichel zeugte noch von ihrem Stand.
Tyrande durchwühlte eine große Truhe, fand schließlich Pfeil und Bogen und zog zuletzt ihre wundervoll gearbeitete Mondgleve hervor. Das gedämpfte Licht strich zärtlich über die drei Klingen der Waffe, die sie von ihrer Hülle befreit hatte. Sie spürte, dass alle Segen, die je auf sie gesprochen worden waren, nichts von ihrer Macht verloren hatten. Wenn Morthis' Berichte stimmten, würde sie sie – und jeden anderen möglichen Vorteil – dringend benötigen.
Tyrande wollte sich bereits abwenden, als ihr ein vertrauter Gegenstand ins Auge fiel. Vor ihr auf dem Regal stand eine große Topfpflanze, deren herzförmige Blätter die schmalen Zweige elegant umspielten. Es war eine Alor'el oder „Liebendenblatt“.Vor Tausenden von Jahren waren sie noch überall gewachsen, doch mittlerweile starben diese Pflanzen in ganz Kalimdor nach und nach aus.
Irgendwie war es Shandris gelungen, eine zu finden, um sie Tyrande und Malfurion an ihrem Hochzeitstag zu schenken. Mit einem gerissenen Lächeln auf den Lippen hatte Tyrandes Adoptivtochter den Gästen erklärt, dass die Alor'el nach einer uralten, jedoch völlig unbewiesenen Legende der Kaldorei nur für ein Paar blühen würde, dass sich aufrichtig und ehrlich liebte. Natürlich war sie sich sicher, dass Malfurion und seine Frau die idealen Kandidaten waren, um den Wahrheitsgehalt dieser Legende zu überprüfen. Die Gäste hatten gejubelt und Trinksprüche auf sie ausgebracht, die ihr Vertrauen widerspiegelten, und doch hat die Pflanze bis zum heutigen Tage nicht eine Knospe getragen.
Dennoch: Ein solches Geschenk konnte nur von Shandris kommen. Und Tyrande hoffte, dass es nicht ihr letztes sein würde.
„Ich werde Euch nicht sterben lassen. Nicht hier. Nicht heute. Ich schwöre es.“ Shandris ergriff Vestia Mondspeers Handgelenk, doch die Priesterin schluchzte weiter.
„Latro ... er ist zurückgefallen! Oh, Elune, wache über ihn. Er ist tot, er ist tot ...“ Ihr Schluchzen nahm zu, und Shandris bemerkte, dass die restlichen Flüchtlinge unruhig wurden. Sie alle rangen mit den gleichen überwältigenden Gefühlen, während sie verzweifelt versuchten, diese vom Krieg gezeichnete Insel zu verlassen.
„Euer Ehemann hätte gewollt, dass Ihr weitermacht, Vestia. Ihr müsst das für ihn tun. Für alle, die heute ihr Leben gegeben haben. Bitte.“ Shandris blickte die zögernde Nachtelfe flehend an. Sie konnte spüren, wie der Baumturm unter ihren Füßen bebte, und seine Wurzeln immer schwächer wurden. Viel Zeit blieb ihnen nicht mehr.
Zu ihrer großen Erleichterung hielt Vestia ihr Schluchzen zurück und gestattete Shandris, sie zu einem der Hippogryphen zu führen. Das dunkelblaue Gefieder des vogelähnlichen Wesens war vom Regen fast schwarz, doch seine Augen musterten die Umgebung wachsam.
„Bring sie zum Festland. Und achte gut auf die Winde“, warnte Shandris den Hippogryphen, dankbar über dessen beträchtliche Intelligenz. Kein normaler Vogel hätte bei so stürmischem Wetter fliegen können, aber das edle Wesen vor ihr hatte eine Chance.
Vestia und der Hippogryph verschwanden in den dichten Wolken. Nelara lief die Rampe hinauf. „Generalin! Ihr werdet unten gebraucht. Die Naga versuchen, den Turm einzureißen!“
„Schafft die restlichen Überlebenden ans Festland, Nelara. Es sind genügend Hippogryphen für Euch und einen Großteil der Schildwachen da. Fordert so schnell wie möglich Hilfe aus Thalanaar an.“
Überrascht fuhr Nelara sie an. „Ich gehe hier nicht weg. Nicht einmal Ihr könnt alle Naga ohne Hilfe besiegen ...“
„Ihr habt Eure Pflicht erfüllt, Schildwache“, antwortete Shandris steif. „Ihr habt den Befehl erhalten, Euch zurückzuziehen.“
„Ihr überlegt es Euch nicht mehr anders, oder ...?“ Nelara senkte den Kopf und Shandris glaubte, unter den Regentropfen auf ihrer Wange eine Träne aufblitzen zu sehen.
„Einst hat mir jemand das Leben gerettet, als alles verloren schien“, sagte die Generalin langsam. „Es wäre mir eine Ehre, dieses Geschenk weitergeben zu können.“ Sie machte sich an den Abstieg, den Kampfgeräuschen entgegen. „Ande'thoras-ethil, Nelara.“
„Ich schicke einen Hippogryphen zu Euch, sobald wir angekommen sind!“, rief die Schildwache ihr nach. „Wartet oben am Turm!“
Es fiel Shandris schwer, der jungen Schildwache zu verschweigen, dass dieser Plan nicht umsetzbar war. Als sie jedoch nach einigen Augenblicken hörte, wie Nelara nach den verbleibenden Hippogryphen rief, entschloss sie sich, die Sache auf sich beruhen zu lassen.
Während ihre letzten Befehle ausgeführt wurden, stürzte Shandris sich in die chaotische Schlacht, die am Fuße des Turms tobte. Das schmale Gebäude wirkte wie ein Flaschenhals. Bis jetzt war es selbst dieser Handvoll Schildwachen gelungen, es sicher von innen heraus zu verteidigen, indem sie einen Teil des Eingangs versperrt hatten und den von der anderen Seite angreifenden Naga mit Pfeilen zu Leibe rückten.
Shandris nahm ihren Bogen und begann, in einem gleichmäßigen, geübten Rhythmus zu schießen. „Ihr seid vom Dienst befreit, Schildwachen. Geht zur obersten Kammer. Dort warten Hippogryphen auf Euch.“
Die anderen Nachtelfen waren zu müde und zerschlagen, um ihre Befehle in Frage zu stellen. Es tat Shandris in der Seele weh zu sehen, dass einige von ihnen gefallen waren. Mit Schmerz erblickte sie die steifen Leichname auf dem Boden. Die überlebenden Elfen zogen sich zurück und hinterließen Blutspuren bei jedem Schritt. Sie gehen zu sehen, erfüllte Shandris mit neuer Kraft. Mit jedem Pfeil kämpfte sie um das Überleben ihrer Leute. Ein gefallener Naga bedeutete ein paar Sekunden mehr Zeit für die fliehenden Bewohner der Mondfederfeste.
Doch sie wusste, dass der Turm den Angriffen nicht mehr lange standhalten würde. Die Naga hieben beständig auf die Barrikaden ein. Ein Lichtblitz blendete Shandris, als eine Sirene einen Zauber auf sie wirkte. Die Generalin murmelte einen Fluch in der Sprach der Kaldorei und schützte ihr Gesicht, als die Barriere in Tausende kleine Holzsplitter zerbarst. Als sie ihren Arm wieder hob, blickte Shandris direkt in das Angesicht der Sirene, die links und rechts von zwei respekteinflößenden Myrmidonen flankiert wurde. Ihr feiner Ornat, ein Zeichen ihres Ranges, glitzerte im schwachen Licht. Hinter ihr strömten immer mehr Naga zusammen.
„Ihr müsst die Generalin sein. Ich diene der Lady Szenastra“, säuselte sie. „Es ist mir ein Vergnügen.“
Shandris' Faust schloss sich fester um den Bogen. „Das werden wir noch sehen.“
Die Nagakommandantin musterte sie boshaft. Hinter all den Schuppen und Stacheln erkannte Shandris noch immer den herablassenden Blick der Hochgeborenen. Er ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. „Wisst Ihr, das hier muss nicht so weitergehen. Meine Herrin hat mich berechtigt, Euch die Bedingungen für unseren Frieden zu unterbreiten.“
„Wie überaus großzügig von ihr. Also, was will sie?“
„Übergebt uns den Kopf Eurer Herrin, der falschen Königin Tyrande.“
Shandris ließ einen Pfeil in das kriecherische Lächeln der Naga schnellen. Das Wesen wand sich und griff nach seinem Hals, doch statt eines Schreis kam nur heißes Blut aus seiner Kehle. Würgend sank es zu Boden.
Shandris warf den Wachen einen eiskalten Blick zu. „Überbringt das Eurer Herrin.“
Eine Sekunde später hatten sie sich auf sie gestürzt. Shandris schwang ihre Gleve und fällte die ersten beiden Myrmidonen mit Leichtigkeit, doch ein Dreizack traf sie am Arm und schlug ihr die Waffe aus der Hand. Mit einem Klirren fiel sie zu Boden und rutschte außer Reichweite. Eine weitere Klinge bohrte sich tief in ihre Seite. Atemlos taumelte sie zurück. Die Naga waren überall und schlugen mit unbändiger Wildheit zu. Jetzt blieb ihr nur noch eine Verteidigung.
Shandris rief Elune an und zwang ihre gesamte verbleibende Kraft in das Gebet, auch wenn die Macht in ihr flackerte und zu erlöschen drohte, wie eine zitternde Flamme.
Glaube ist der Anfang aller Dinge. Dies war die erste Lektion, die sie als Schwester der Elune gelernt und sich eingeprägt hatte. Tyrande erinnerte sich noch gut daran, wie die Hohepriesterin Dejahna mit strengem Blick die Mädchen musterte, um alle halbherzigen Schülerinnen auszusieben, die sich den Schwestern nur angeschlossen hatten, weil ihre magischen Fähigkeiten zu wünschen übrig ließen. Wenn Euer Geschick in der arkanen Kunst annehmbar, aber nicht herausragend ist, könnt Ihr trotzdem eine Zauberin werden. Wenn Euer Geschick mit Nadel und Faden annehmbar, aber nicht herausragend ist, könnt Ihr trotzdem eine Schneiderin werden. Wenn Euer Glaube jedoch nur annehmbar und nicht herausragend ist, werdet Ihr niemals eine Priesterin werden.
Es war merkwürdig, wie deutlich sie die Worte in ihrem Geist hörte, während sie sich bemühte, nicht von ihrem Hippogryphen zu fallen. Die Winde hatten sich gegen sie verschworen und ihr regennasses tiefblaues Haar klebte an ihren Schultern. Ein Teil von ihr war jedoch noch immer im alten Tempel der Elune in Suramar, wo Dejahna sie mit scharfen Augen skeptisch betrachtete.
Warum habt Ihr diesen Weg gewählt, Tyrande Wisperwind?
Weil, so hatte sie geantwortet, ich andere beschützen möchte. Besonders diejenigen, die ich liebe. Die Hohepriesterin hatte sie lange schweigend angesehen. Tyrande hatte nie genau erfahren, was Dejahna von diesem Wortwechsel hielt, aber sie hatte seit langem das Gefühl, dass die Entscheidung, sie zur Nachfolgerin zu machen, genau in diesem ernsten Moment der Stille gefällt worden war.
Unzählige Male hatte sie ihre Ernennung zur Hohepriesterin durch ihre Vorgängerin in Frage gestellt. Welchen Weg hätte ihr Leben genommen, wenn sie diese Bürde nicht hätte tragen müssen? Hätte sie die Wächter töten müssen, um sich Illidans Hilfe gegen die Brennende Legion zu sichern? Wäre sie gezwungen gewesen, Tausende von Jahren zu warten, bis sie endlich den Ehebund mit ihrem Geliebten eingehen konnte? Hätte ihr Volk im Krieg der Urtume weniger leiden müssen, wenn seine Anführerin mehr Erfahrung gehabt hätte?
Dejahna hatte Recht gehabt: Der Glaube war ihre einzige Führung. Jetzt trieb er sie durch einen erbarmungslosen Sturm, um die fähigste Generalin, die sie je gekannt hatte, vor einer unsicheren und doch unvermeidlichen Gefahr zu retten. Und sie war allein. Keines ihrer Worte hatte Malfurion gerührt, obwohl sie sich ihrer gewiss war ... Offensichtlich war der Glaube in der Tat eine seltene Gabe.
Der Hippogryph krächzte und Tyrande blickte über seinen geweihbewehrten Kopf. Feralas lag direkt vor ihnen und die Insel Sardor war hinter der Nebelwand kaum erkennbar. Doch irgendwo unter ihr wartete Shandris. Tyrande musste einfach glauben, dass sie am Leben war.
Sie berührte den Hippogryphen am Hals und bedeutete ihm, im Süden zu landen. Bei diesem schneidenden Wind war es einfacher, sich mit Berührungen zu verständigen, und die Wesen verstanden die Gesten stets. Der Hippogryph schoss vor und breitete seine Flügel weit aus, um die Wirbel in der Luft auszugleichen. Trotz seiner Bemühungen schleuderte der Sturm ihn wie eine Puppe hin und her und hätte sie beide beinahe in die tosende See tief unter ihnen gestürzt. Tyrande rutschte ganz an den rechten Rand des Sattels und hoffte, dass die Gewichtsverlagerung dem Hippogryphen erlauben würde, seine Lage zu korrigieren. Einen Moment lang trieben sie wie ein Blatt im Wind, bis das Wesen sich seitlich fallen ließ und schnell auf das Ufer zustürzte.
Tyrande klammerte sich mit aller Macht an ihn. „Nun, das war waghalsig, aber effektiv.“
Der Hippogryph plusterte stolz die Federn auf, als er auf einem Stück trockenen Landes direkt vor der Mondfederfeste landete. „Gemeinsam werden wir es durchstehen. Bleib in der Nähe“, sagte sie. Dann stieg sie ab und machte sich mit vorsichtigen Schritten auf in die Siedlung.
Morthis hatte nicht gelogen. Mondfeder lang in Trümmern. Alle Gebäude waren eingestürzt und überflutet. Die Naga waren überall, plünderten die Ruinen und patrouillierten entlang der Küste, als würden sie jeden Moment Verstärkung erwarten. Bei dem ganzen Regen und Wind mussten sie übersehen haben, wie sie sich von Süden näherte. Vielleicht aber war eine einzelne Nachtelfe für sie auch kein Grund zur Beunruhigung.
Ihr kam in den Sinn, dass Shandris möglicherweise noch vor dem Einmarsch von der Insel geflohen war, aber sie würde sich nicht zufrieden geben, bis sie alles sorgfältig abgesucht hatte. Die Angst um Shandris zehrte an ihr und lenkte ihre Gedanken immer wieder zurück zu dem toten Mädchen am Ufer von Rut'theran. Tyrande zwang sich weiter. Langsam schlich sie zum nächstgelegenen Gebäude und behielt die Patrouillen dabei stets im Auge. Die Aussicht auf einen Kampf jagte ihr keine Angst ein, aber ohne unnötige Begegnungen würde sie ihre Mission schneller erledigen können.
Die Bodenbretter quietschten unter ihren Füßen und Wasser strömte aus den Rissen im Dach hinein, als sie den mitgenommenen Unterschlupf betrat. Tyrande ließ den Blick über die Wände gleiten und entdeckte einen lavendelfarbenen Fleck in der Nähe der Bücherregale. Vielleicht die Spitze eines Ohrs?Sie lief darauf zu und hoffte, dass sie nicht zu spät kam. Sie musste fest zutreten, um das in der Ecke eingeklemmte Bücherregal zu bewegen, aber schließlich konnte sie es beiseiteschieben und den Körper darunter sehen. Sie beugte sich nach unten und hob den Nachtelf aus dem schlammigen Wasser, das sich im Gebäude angesammelt hatte.
Tyrande erkannte ihn an seinem langen, geflochtenen Haar. Es war Latronicus Mondspeer, einer der wichtigsten Kämpfer gegen die Naga in der Mondfederfeste. Jetzt ruhte er in Elunes Armen. Sie schloss die Augen und murmelte ein Gebet für den Toten. In den letzten Tagen waren ihr die Worte zu vertraut geworden und zu oft über die Lippen gekommen.
Im Rest des Raums fand sie nur den Leichnam einer weiteren erschlagenen Schildwache, zweifelsohne ein Opfer der Naga, und ein Dutzend zurückgelassener Vorräte, die vom Regen zerstört worden waren. Als sie das Haus verließ, kamen gerade ein paar Späher der Naga um die Ecke und erblickten sie. Die Hohepriesterin streckte die Arme aus, sprach ein paar Worte und ließ Mondstrahlen auf ihre Feinde niedergehen, noch bevor sie angreifen konnten. Die Naga brachen unter ihrem Angriff zusammen und sie lief zum Gasthaus. Mit den Augen suchte sie beständig den Boden nach Spuren ab, nach irgendeinem Zeichen, das sie zu Shandris und den anderen Überlebenden führen würde. Doch die Flut hatte die Erde in klebrigen Schlamm verwandelt.
Ein Schatten fiel über ihren Kopf, und Tyrande hob alarmiert die Gleve. Über ihr im Himmel kreiste ein riesiger Vogel. Sie hielt inne und starrte das Wesen ungläubig an. Als es zu einem steilen Sturzflug ansetzte, erkannte sie das dunkle Gefieder und das Funkeln in den Augen der Sturmkrähe. Der Vogel landete und verwandelte sich binnen Sekunden in die vertraute Gestalt ihres Geliebten.
„Tut mir leid, dass ich dich habe warten lassen.“ Er lächelte.
„Mal ...“ Sie stürzte sich in seine Arme. „Du bist ja doch gekommen.“
„Wir kämpfen jetzt gemeinsam. Unser Freund Broll Bärenfell hat meinen Platz eingenommen und organisiert die Druidenspäher, während Merende sich um deine Pflichten in Darnassus kümmert.“
„Vielen Dank, mein Herz. Die Mondfederfeste hat unsere Hilfe dringend nötig. Ich konnte keine Überlebenden finden. In dieser Flut ist es unmöglich, ihre Spuren auszumachen.“
Er nickte. „Vielleicht kann ich dabei behilflich sein.“
Der Erzdruide schloss die Augen und begann zu meditieren. Er streckte die Arme aus und ließ seine Handflächen über das geplagte Land gleiten. Windböen tanzten um Malfurion herum, während er sie langsam zu einem riesigen Wirbelsturm zusammenrief. Das trübe Wasser begann sich zu kräuseln und zurückzuziehen, vom wilden Wirbel ins Meer getrieben. Und dann lag die leblose und geschundene Landschaft der Insel Sardor vor ihnen. Deutlich konnten sie eine Spur von Leichnamen erkennen, die zum riesigen Baumturm im Nordosten führte.
Der Zauber hatte jedoch auch die Aufmerksamkeit der Naga erregt. Sie strömten von allen Seiten herbei, um der Ursache des schwindenden Wassers auf den Grund zu gehen. Als sie die Nachtelfen erblickten, schrien die Wesen erschreckt auf und riefen ihre Truppen herbei. Sie machten sich angriffsbereit. In der Mitte der rasch größer werdenden Gruppe erschien eine Zauberhexerin der Naga, Lady Szenastra. An der Unterwürfigkeit, mit der sie von ihren Untergebenen behandelt wurde, erkannte Tyrande, dass sie die Anführerin der Armee sein musste.
„Die Insel Sardor gehört jetzt uns. Hier werdet Ihr den Tod finden, 'Majestät'“, höhnte Szenastra.
„Ich bin keine Königin“, erwiderte Tyrande scharf. „Und ich würde lieber sterben, als diesen Titel anzunehmen. Was habt Ihr mit den Kaldorei angestellt, die diesen Ort ihr Zuhause nannten?“
„Euer Volk schläft jetzt seinen ewigen Schlaf. Könnt Ihr es nicht sehen?“ Szenastra zeigte mit einer lässigen Handbewegung auf die verstreuten Leichname. „Wenn Ihr es wünscht, könnt Ihr Euch ihnen jetzt sofort anschließen. Meine Herrin Szallah würde es sicherlich begrüßen, wenn Ihr Euch fügen würdet. Wenn nicht, werde ich mich eben selbst um Euch kümmern.“ Auf ihr Zeichen hin, schob sich eine Formation von Myrmidonen nach vorn.
Tyrande und Malfurion warfen sich einen Blick zu.
„Wie schnell diese Narren ihre Niederlagen doch vergessen“, murmelte die Hohepriesterin mit zusammengebissenen Zähnen.
„Wir sollten sie dringend daran erinnern“, antwortete Malfurion. Tyrande nickte hastig. Blitze durchzuckten die Luft, als der Erzdruide seinen Zauber wirkte. Über der Insel verdunkelten sich die Wolken noch mehr, und die Naga blickten besorgt zum Himmel. Auf Szenastras zischenden Befehl hin, näherte sich die Nagaarmee dem Nachtelfenpaar.
Malfurion sah ungerührt zu, während er darauf wartete, dass die Energien miteinander verschmolzen. Als der Sturm fertig geformt war, neigte er langsam seinen geweihgeschmückten Kopf zum Himmel und entfesselte seinen Zorn auf die Naga. Blitze regneten auf die Erde herab. Jeder einzelne Schlag verzweigte sich und raste auf Dutzende hilflose Myrmidonen zu. Als die Truppen in Panik auseinanderstoben, näherte Tyrande sich der Zauberhexerin.
Lady Szenastra versuchte bereits zu fliehen, doch die Hohepriesterin entfesselte eine breite Säule aus Mondfeuer über ihr. Einen Moment lang wand sich die Naga, als die Energie sie durchfuhr, dann fiel sie zu Boden. Ihr glitzernder Zierrat versank im Schlamm.
Tyrande eilte weiter zum Turm. Geröll versperrte den Eingang, ganz als ob er von innen verschlossen worden war. Unerschrocken gelang es ihr, mit ein paar wütenden Streichen ihrer Gleve eine Öffnung freizumachen.
Dahinter lag Shandris Mondfeder in ihrem Blut.
Tyrande unterdrückte ein Schluchzen und eilte an die Seite der verwundeten Elfe. Sie fiel auf die Knie und begann zu beten, vor Kummer kaum in der Lage, die Worte zu sprechen. „Elune, bitte gewähre mir nur diesen einen Wunsch. Verschone sie. Bitte ... Sie ist meine Tochter. Sie glaubt, dass ich sie gerettet habe, doch in Wahrheit war sie es, die mich gerettet hat ... immer und immer wieder. Ohne sie wäre mein Leben leer.“ Tränen rannen ihre Wangen hinab und hinterließen glitzernde Spuren wie Sternenschweife.
Hinter ihr betrat Malfurion das Zimmer, doch sie war so abgelenkt, dass sie seine Anwesenheit erst bemerkte, als er nach ihrer Hand griff. Diese einfache Geste war wie ein Anker für sie. Tyrande spürte, wie seine Macht mit der ihren verschmolz, während sie gemeinsam versuchten, Shandris zu heilen.
Lange sahen sie die kaum noch atmende Frau an. Dann begannen Shandris' Wimpern zu zucken und sie öffnete benommen die Augen. Sie hob den Kopf ein wenig und versuchte, sich auf die Formen zu konzentrierten, die vor ihr schwebten ... die Formen von Personen, die sie kannte. „Min'da? An'da?“, fragte sie schwach mit vor Verwirrung gerunzelter Stirn.
Tyrande fand keine Worte. Ihre Tränen tropften auf den Boden und verdunkelten das fleckige Holz noch mehr. Sie legte ihre Hand auf Shandris' Schulter und atmete tief durch. „Deine Eltern ruhen noch immer bei Elune, Shandris. Doch dank Mals Hilfe bleibt dir dieses Schicksal erspart.“
„Tyrande wusste die ganze Zeit, dass du in Gefahr bist. Sie konnte an nichts anderes denken“, fügte Malfurion hinzu.
Shandris betrachtete sie. „Nun, vielleicht lag ich ja doch nicht so ganz daneben.“ Sie lachte und krümmte sich dann vor Schmerz. „W-wie es scheint ... hat Elune meine Gebete am Ende doch noch erhört.“
Tyrande sah Malfurion in die Augen. „Sie hat unser aller Gebete erhört.“
***
Shandris erwachte zu den Klängen einer uralten Begräbnishymne. Sie setzte sich vorsichtig auf und starrte aus dem Fenster in der Nähe, das den Blick auf das Herz Darnassus' freigab. Die vertrauten Wasserwege waren mit Kerzen erleuchtet. Jedes einzelne der runden Lichter glitt wie ein Irrwisch im Wald über die glitzernde Oberfläche. Malfurion und Tyrande standen feierlich in der Mitte der Geschehnisse. Die Bürger von Darnassus und die Flüchtlinge aus Kalimdor scharten sich um sie.
Viele der Nachtelfengesichter waren von Tränen geschwollen und gerötet. Einige sahen aus, als hätten sie seit Tagen nicht mehr geschlafen. Shandris verstand ihre Trauer nur zu gut. Sie suchte mit den Augen die Menge ab und erblickte Vestia, die allein am Rand der Zusammenkunft stand. Sie hatten so viele verloren. Fast jeder hatte in den vergangen Wochen des Aufruhrs einem Bekannten, Freund oder Geliebten Lebewohl sagen müssen.
Totenbahren wurden auf Wagen herangebracht, die von je zwei Nachtsäblern gezogen wurden. Die Tiere kämpfen schwer gegen das Gewicht der Leichname an. Tyrande trat vor, um die Toten ein letztes Mal vor der Bestattung zu segnen. Ihre wehmütige Melodie erfüllte die Luft. Ansonsten herrschte Stille.
Es schmerzte, dabei zuzusehen, doch wer heilen wollte, musste seiner Trauer freien Lauf lassen. Shandris wusste, dass ihr Volk diese Zeit benötigte, bevor es sich den Herausforderungen stellen konnte, die es erwarteten. Sie sah erneut zu Malfurion und Tyrande, die sich gemeinsam wie ein Fels gegen die Flut aus Schmerz und Verlust stemmten. Hoch über ihnen begannen die Wolken aufzureißen, und ein dünner Streifen Mondlicht erleuchtete ihre Gesichtszüge. Elune kennt die ihren, dachte Shandris. Wir kämpfen diese Schlacht nicht allein.
Zuversichtlich erhob sie sich und humpelte durch das Zimmer, um von den schmerzstillenden Arzneiwurzeln zu essen, die Malfurion ihr dagelassen hatte. Seit ihrem letzten Besuch war die große Alor'el-Pflanze, die sie dem glücklichen Paar zur Hochzeit geschenkt hatte, beträchtlich gewachsen. Eine ihrer Ranken hing vom Rand des Regals herab. Mit einem Aufschrei der Freude erkannte Shandris, dass sie über und über mit Knospen bedeckt war, die sich schon bald zur Blüte öffnen würden.
Varian Wrynn: Das Blut unserer Väter von E. Daniel Arey
Etwas hatte König Varian Wrynn aus einem tiefen Schlaf gerissen. Reglos stand er im Dämmerlicht, als ein schwaches Tropfen in der Ferne von den Wänden der Burg Sturmwind widerhallte. Schrecken überkam ihn, denn er hatte dieses Geräusch schon früher gehört.
Vorsichtig schob sich Varian zur Tür vor und presste sein Ohr gegen das polierte Eichenholz. Nichts. Keine Bewegung. Keine Schritte. Dann, ganz weit entfernt, das gedämpfte Geräusch einer Menge, die irgendwo außerhalb des Schlosses jubelte. Habe ich die heutige Zeremonie verschlafen?
Wieder dieses merkwürdige Tropfen, es hallte dieses Mal vom eisigen Boden wider, klar und nass. Varian öffnete langsam die Tür und spähte in den Gang. Der Korridor war düster und still. Selbst die Fackeln schienen in einem kalten Licht aufzuflackern, nur um sofort wieder zu erlöschen. Varian war ein Mann, der sich selbst nur wenige Gemütsregungen erlaubte, doch jetzt spürte er ein Gefühl in sich aufkeimen – etwas Altes oder ganz Neues, vielleicht auch etwas lange Vergessenes. Fast war es wie das Gefühl von kindlicher... Angst?
Er schüttelte den Gedanken schnell ab. Er war Lo'Gosh, der Geisterwolf. Der kriegerische Gladiator, der sowohl Feinde als auch Freunde mit Furcht erfüllte. Und dennoch wurde er dieses tiefsitzende Unwohlsein und die Vorahnung von Gefahr nicht los, die sich jetzt seines Körpers bemächtigten.
Als er in den Gang hinaustrat bemerkte Varian, dass seine Wachen nicht auf ihren gewohnten Posten standen. Sind denn alle mit den Vorbereitungen für den Tag des Gedenkens beschäftigt? Oder steckt etwas anderes, Schlimmeres dahinter?
Vorsichtig schlich er den schwach beleuchteten Gang entlang und betrat den großen, vertrauten Thronsaal der Burg Sturmwind. Doch jetzt schienen seine Wände anders zu sein, größer, düsterer und leer. Von der Steindecke hoch oben hingen mit dem goldenen Gesicht eines Löwen, dem Symbol für die Stärke und den Stolz der großartigen Nation Sturmwind, bestickte Wimpelketten wie protzige Spinnweben.
In der Finsternis hörte Varian einen gedämpften Schrei und dann ein plötzliches Schlurfen. Blitzschnell richtete er den Blick auf den Boden, wo eine deutliche Blutspur in die Mitte des Raumes führte. Mit Müh' und Not erkannte er im Dunkeln zwei Gestalten, die wild miteinander kämpften. Als seine Augen sich endlich an das mangelnde Licht gewöhnt hatten, sah er einen Mann auf den Knien, blutverschmiert und verwundet. Über ihm erhob sich die Gestalt einer Frau.
Varian erkannte sie sofort. Ihr deformierter Umriss verriet die Entstellung Ihres Körpers und ihrer Seele. Es war Garona die Halborcin, halb Draenei, halb Orc. Die Assassine, die Gul'dans kranker Geist erschaffen hatte.
Ungläubig starrte Varian sie an. Frisches Blut troff langsam die Klinge der Halborcin bis zur rasiermesserscharfen Spitze entlang und tropfte auf den Marmorboden, wo es fast anmutig wirkende karmesinrote Blüten bildete. Wie eine Flutwelle traf Varian die Erkenntnis. Die Rüstung. Das feierliche Gewand. Der Mann auf dem Boden war sein Vater, König Llane!
Garona schenkte Varian ein widerwärtiges, tränenverschmiertes Lächeln und stieß rasch ihre Klinge nach unten. Ein Blitz aus Stahl durchschnitt die Dunkelheit und grub sich tief in die Brust des knienden Königs.
„Nein!“, schrie Varian, warf sich nach vorne und zog sich über den blutgetränkten Boden, um zu seinem Vater zu gelangen. Das Gesicht der Halborcin verschwand langsam in der Dunkelheit, als er nach dem geschunden Körper des Königs griff und ihn in die Arme schloss.
„Vater“, flehte Varian und wiegte ihn sanft.
Llanes Lippen zuckten vor Schmerz, als er ihn ansah. Dann öffneten sie sich begleitet von einem Schwall frischen Blutes. Mit einem erschreckenden Rasseln gelang es dem alten König, ein paar wenige, brüchige Worte zu sprechen. „Dies ist das unvermeidliche Schicksal... der Wrynn-Könige.“
Mit diesen Worten verdrehten sich Llanes Augen und sein Kiefer fiel zu einem schrecklichen Gesichtsausdruck herunter. Tief in seiner Kehle entstand ein insektenartiges Vibrieren. Varian wollte den Blick abwenden, doch er schaffte es nicht. Im Schatten des gähnenden Mundes seines Vaters wand sich etwas schimmernd und wabernd nach oben in das schwache Dämmerlicht.
Und plötzlich brachen Maden aus der Kehle des toten Königs und verschlangen in Schwärmen von Tausenden und Abertausenden Llanes aschfahles Gesicht. Varian versuchte, sich loszureißen, aber die Maden kamen auch über ihn wie eine Welle und verzehrten seinen Körper, während ein letzter Schmerzensschrei seiner Kehle entfuhr.
***
Varian schreckte in einem Stuhl hoch. Ein schrecklicher Schrei hallte immer noch in seinen Ohren. Er blickte sich um und fand sich am Kartentisch in seinen Privatgemächern oben in der Burg Sturmwind wieder. Warmes Sonnenlicht untermalte das Dröhnen einer jubelnden Menge, das durch die hohen Fenster nach innen drang. Die Feierlichkeiten zum Tag des Gedenkens sind im vollen Gange.
In seinen Händen hielt er ein angelaufenes Silbermedaillon. Das Scharnier war fest verschlossen. Instinktiv versuchte Varian wie tausende Male zuvor, das Schmuckstück zu öffnen, aber er hatte wie immer kein Glück.
***
Die Tür flog auf und der Hochkommandant der Verteidigung von Sturmwind eilte herein. General Marcus Jonathans Gesicht war zu einer alarmierten Maske gefroren. „Stimmt etwas nicht, Eure Hoheit? Wir hörten einen Schrei.“
Varian steckte das Medaillon schnell ein und stand auf. „Es ist alles in Ordnung, Marcus.“ Der König versuchte, seine Rüstung gerade zu ziehen, und wischte eine Strähne dunklen Haares aus seinen müden Augen. Seine Finger fühlten die tiefen Falten, die die Sorge und der Schlafmangel der letzten Monate in sein Gesicht gegraben hatten. In den Wochen nach dem plötzlichen Angriff des Drachen Todesschwinge auf die Stadt und die Welt hatte er sich um einen Notfall nach dem anderen kümmern müssen.
Sowohl er als auch der General hatten für den Feiertag ihren vollen Ornat angelegt. Mit seiner hochgewachsenen Gestalt und seinen scharfen Gesichtszügen sah General Jonathan so würdevoll wie nie aus.
„Die Ehrenzeremonie findet in drei Stunden statt, Eure Hoheit“, begann Jonathan. „Seid Ihr fertig mit Eurer Rede?“
Varians Blick fiel auf das leere Pergament auf dem Kartentisch. „Ich arbeite noch daran, Jonathan.“ Und irgendwie finde ich nicht die richtigen Worte.
Der Hochkommandant musterte ihn aufmerksam. Schnell versuchte Varian, das Thema zu wechseln. „Ist mein Sohn schon eingetroffen?“
General Jonathan schüttelte den Kopf. „Niemand hat Prinz Anduin gesehen, Eure Hoheit.“
Varian bemühte sich, seine Enttäuschung zu verbergen, indem er aus den Fenstern der Burg auf den darunter liegenden Hof blickte. Dort wartete ein Meer von Leuten mit Flaggen und Wimpeln, die im Wind flatterten, und Kindern, die als ihre Lieblingshelden vergangener Tage verkleidet waren. Speisen und Met gesellten sich zu fröhlichem Gelächter. Der Tag des Gedenkens war zum Teil ein Trauertag, zum Teil eine Feier, doch Varian selbst hatte nie etwas Freudiges an diesem Ereignis finden können.
Während er zusah, schob sich die Traube langsam zum Tal der Helden und den Statuen der großen Helden der Menschen vor, die den Eingang der Stadt Sturmwind zierten. Die Bühne für die Ehrenzeremonie war im Schatten dieser beeindruckenden Anführer errichtet worden. Heute würde man ihnen Respekt zollen und ihnen für ihre großartigen Taten danken.
Jonathan fuhr fort. „Der Erzbischof wartet draußen und möchte Euch bezüglich der Reparaturen an der Stadt und unserer Pflege der Verwundeten informieren, wenn Ihr bereit seid, Herr.“
„Ja. Ja, gleich.“ Varian winkte ihn fort. Jonathan neigte den Kopf, ging leise rückwärts aus dem Raum und schloss die Tür hinter sich.
Varian versuchte, sich auf andere Gedanken zu bringen, zog das fein gearbeitete Medaillon wieder hervor und betrachtete sein verzerrtes Spiegelbild in der Oberfläche. Die Welt hat sich verändert, aber ich muss standhaft bleiben.
Varian blickte zu König Llanes Portrait über dem Kamin auf. Gerade heute musste der Anführer der Menschheit, der König von Sturmwind, der Fels der Allianz, sich von seiner besten Seite zeigen. Genau das würde sein Vater von ihm erwarten.
***
Erzbischof Benedictus hatte seine feinsten Roben und Schmuckstücke angelegt, um den Stolz des Volkes von Sturmwind an diesem herausragenden Tag zu repräsentieren. Neben ihm stand ein kleiner, schmuddeliger Mann, der ein großes Bündel zerknitterter Schriftrollen in den Armen trug.
Benedictus blickte erwartungsvoll auf, als Varian aus seinen Privatgemächern trat. „Das Licht segne Euch, König Varian.“ Er lächelte, als Varian die Treppe hinabstieg.
„Und Euch, Vater“, antwortete Varian. „Ihr seid gekleidet, als müsstet Ihr heute Eurem Schöpfer gegenübertreten.“
Benedictus schwang seinen Stab in einer gut geübten, ehrwürdigen Geste. „In diesen Zeiten müssen wir alle jederzeit bereit sein, dem Licht zu begegnen.“
An der Seite des Erzbischofs fingerte der schäbig und nervös aussehende Bursche an seinem schweren Bündel aus Papieren und Stadtplänen. Varian erkannte ihn plötzlich als Baros Alexston, den Stadtarchitekten. Mit dem ganzen Schlamm auf Gesicht und Kleidung war er kaum wiederzuerkennen.
Varian bedeutete ihnen, ihm die Treppe hinab zu folgen. „Wie verlaufen die Reparaturarbeiten an der Stadt, Baros?“
„Den Umständen entsprechend gut, Hoheit.“ Baros nickte und versuchte verzweifelt, die Schriftrollen nicht fallen zu lassen. Benedictus streckte die Hand aus und klopfte dem Architekten freundschaftlich auf den Rücken. „Er ist viel zu bescheiden, Eure Hoheit. Baros hier hat wahre Wunder gewirkt und einen Großteil von Sturmwind wieder in Ordnung gebracht, ja sogar beträchtliche Verbesserungen an der Stadt vorgenommen.“
Erleichterung überkam Varian. Es war schön zu sehen, wie seine Berater ihren Optimismus wiederfanden. „Also, was ist am dringendsten?“
Der Architekt nickte und ging nervös dazu über, eine seiner vielen Schriftrollen im Gehen auszubreiten, woraufhin drei andere sich seinem Griff entwanden und auf den Boden kullerten.
„Verzeihung, Herr... Ja, da ist es.“ Baros zeigte auf einen Ort auf der Karte und hinterließ mit seinen erdverschmierten Fingern hässliche Schmutzflecken. „Wir haben den Schaden an den beiden Haupttürmen am Eingang zur Stadt untersucht.“ Er schüttelte den Kopf und atmete pfeifend aus. „Dieser schwarze Drache muss sogar noch schwerer sein, als seine immense Größe es vermuten lässt. Wahrscheinlich liegt es an der Elementiumrüstung der Bestie. Wir haben uns nach unten gegraben. Der Schaden an den Turmfundamenten ist beträchtlich.“
Während er sprach, blätterte Baros durch weitere Zeichnungen. „Das gleiche gilt für den Ostflügel der Burg hier ... und hier, sowie für ein paar der größeren Gebäude über dem Hafen, darunter auch die Überreste der...“ Der Architekt hielt inne. Es schien ihm zu große Schmerzen zu bereiten, seine Liste fortzusetzen.
Benedictus sprang ein. „Und natürlich die Überreste der alten Kaserne und der schreckliche Krater, dort wo einst der Park war. Das Licht sei ihrer Seele gnädig.“
Ein Schatten der Trauer huschte über Baros' verschmiertes Gesicht. „Ich fürchte, es sind umfassende Reparaturen erforderlich, und sie werden nicht billig.“
Varian richtete einen zornigen Blick auf den Architekten, als lange vergrabene Schmerzen sich an die Oberfläche drängten. Er spricht von Geld? In Zeiten wie diesen? Weder Benedictus noch Baros schienen seine Reaktion richtig zu deuten. Varian beschleunigte seine Schritte, um den wütenden Knoten zu vertreiben, der in seinem Magen wuchs.
Auf dem nächsten Absatz hielt der König inne und betrachtete den Schaden an seinem Schloss. Geröll bedeckte die Treppe, wo ein klaffendes Loch in der Wand den Blick auf den Himmel und die Stadt unter ihnen freigab. Während Varian die Trümmer ansah, warf Baros einen schnellen Blick in seine Papiere.
„Wir haben bereits Ersatzsteine aus dem Steinbruch dafür angefordert, Hoheit.“ Der Architekt blickte auf und erkannte die wachsende Verärgerung seines Königs. Er versuchte, die Lage etwas aufzulockern. „Wir haben das im Handumdrehen repariert. Schlösser sind ja schon zugig genug, auch ohne fehlende Wände, nicht wahr?“
Varian ignorierte ihn. Gedankenverloren fuhr er mit der behandschuhten Hand über die rauen Steine, die wie von einem riesigen Biss aus dem Turm gerissen worden waren. Und genaugenommen lag die Wahrheit nicht weit entfernt.
Der Handschuh des Königs traf auf etwas Scharfes. Er griff nach oben und zog an einem dolchförmigen Obsidiansplitter, der aus der beschädigten Wand ragte. Es war ein Stück der Elementiumrüstung des Drachen, ein fast zwei Hände langer, mitternachtsschwarzer und rasiermesserscharfer Splitter. Er hatte sich tief in den Stein gegraben, doch mit etwas Anstrengung gelang es Varian, ihn zu lösen.
Er hielt ihn vor sich, damit die Männer ihn sehen konnten. „Dieses bösartige Wesen, dieser ... Todesschwinge ... ist nicht die erste Bedrohung, die die Mauern Sturmwinds heimsucht.“ Sein starrender Blick grub sich direkt in den Schädel des Architekten. „Wir werden alles wiederaufbauen und standhaft bleiben, so, wie wir es immer getan haben. Egal, was es kostet. Und wir werden dafür sorgen, dass die schwarze Bestie den zehnfachen Preis dafür bezahlt!“
Der König blickte durch das gezackte Loch auf seine beschädigte Stadt. Sein Plattenhandschuh knirschte, als er seine Hand im stummen Zorn fest um die Rüstung des Drachen schloss. Unter ihm wiegten sich die Schiffsmasten des Hafens von Sturmwind wie Bäume in einem dichten Wald. Unzählige Schiffsrümpfe in allen Farben, Größen und Formen drängten sich an den Stegen. Am Tag des Gedenkens kamen stets Massen von Pilgern in die Stadt, um die Helden der Menschheit zu ehren und zu feiern, doch so etwas hatte er noch nie gesehen.
Während er dastand und schaute, glitt ein weiteres Schiff langsam in den Hafen und warf den Anker. Es war ein großes Schiff der Kaldorei mit violetten, parfümierten Segeln, dessen silberne, geschmeidige Verzierungen in der Sonne glänzten. Varian steckte sich den Splitter von Todesschwinges Rüstung unter den Gürtel und drehte sich zu seinen Beratern um. „Sind sie dieses Jahr gekommen, um die Vergangenheit zu ehren, oder weil sie die Zukunft fürchten?“
Benedictus spähte an seinem König vorbei auf die vielen Schiffe. „Sicherlich suchen viele von ihnen nach Schutz vor der Bedrohung des dunklen Lindwurms, Eure Majestät. Einige halten ihn sogar für einen Vorboten auf das Ende aller Zeiten.“
Varian schnaubte. „Die wahnsinnigen Spinnereien einiger Schattenhammerkultisten sind nicht ein Wort und auch nur eine schlaflose Nacht wert, Vater. Oder könnt Ihr ihr Gewäsch für Eure leidenschaftlichen Predigten in der Kathedrale verwenden?“ Varian schenkte dem Erzbischof ein schiefes Lächeln.
„Was immer nötig ist, um die Leute zum Glauben zu bewegen ... und zum Handeln.“ Benedictus lächelte zurück. „Das Volk von Sturmwind braucht ohne Zweifel Hoffnung, doch noch mehr braucht es einen Plan. Ich vertraue darauf, dass unser König uns allen etwas geben wird, an das wir glauben können, wenn Ihr heute Eure Rede bei der Ehrenzeremonie haltet.“
Varian dachte an das, was er am Tag des Gedenkens sagen sollte. Welche Worte könnten die tiefen Wunden lindern, die diese Welt erlitten hat?
General Jonathan erschien, verneigte sich höflich vor dem Erzbischof und wandte sich dann dem König zu. „Verzeiht, Eure Hoheit, aber mir wurde aufgetragen, Euch daran zu erinnern, dass die Ehrendelegation Euch im Thronsaal erwartet.“ Jonathan versuchte zu lächeln, um seiner Nachricht die Schwere zu nehmen.
Varian zuckte zusammen. Er hasste seine offiziellen Pflichten, insbesondere den Prunk und das Gehabe an Feiertagen. Statt sich mit einer Delegation unerträglicher Diplomaten herumzuschlagen, wäre er lieber da draußen und täte, was einem Krieger am besten lag: den Hort eines Drachen zu überfallen oder sich durch ein Meer von Dämonen zu metzeln. Das wäre auch deutlich gesünder.
Varian seufzte und ergab sich seinem Schicksal. „Nun gut, General. Bringen wir es hinter uns.“
***
Jaina Prachtmeer stand im Thronsaal und betrachtete die illustre Versammlung von Adligen, Politikern und anderen Gesandten.
Die große Halle der Burg Sturmwind war in der Tat riesig, doch die parfümierte Meute aus Würdenträgern füllte den Raum fast zur Gänze aus und brachte die Luft zum Stehen. Ein Regenbogen aus Leuchtern ergoss sich über den großen Bogengang und verschwand aus dem Blick.
Als Regentin der Insel Theramore war Jaina Teil der Ehrendelegation und auserwählt, heute hinter dem König zu stehen, wenn er seine Rede zum Tag des Gedenkens hielt. Jetzt, da die Allianz an mehr und gefährlicheren Fronten denn je kämpfte, waren viele gekommen, um zu hören, was der große Anführer Sturmwinds gegen die jüngste Weltkrise zu tun gedachte.
Genn Graumähne stand in der Nähe und musterte die Menge mit dem gleichen Feuer in den Augen wie sie selbst. Jaina blickte sich um und hoffte, Anduins Gesicht unter den anderen zu erkennen, doch der Prinz war nicht in Sicht. Sie fragte sich, ob Varian und der junge Prinz ihren kürzlichen Streit hatten beilegen können, eine Meinungsverschiedenheit, die den Prinzen von der Seite seines Vaters fort zur Weisheit des Propheten Velen der Draenei getrieben hatte. Doch da sie die Sturheit Varians nur allzu gut kannte, wusste Jaina, dass der König das Kriegsbeil immer nur in den Schädeln seiner Feinde begrub. Nein, die verdächtige Abwesenheit Anduins war ein deutliches Zeichen dafür, dass der Bruch noch nicht geheilt war.
***
An ihrer Seite seufzte Graumähne ungeduldig. Die Versammlung hatte schon eine ganze Weile gewartet und um einen Blick auf das Zentrum der Macht Sturmwinds und den berühmten Sitz des Löwen, den fein gearbeiteten Thron der Wrynn-Könige, gewetteifert.
Jaina betrachtete die großen Katzen, die den erhobenen Sitz schmückten, als ob sie aufmerksam und wild ganz Azeroth bewachten. Sie fragte sich, wie tief dieses Ideal wohl Varian als Kind eingepflanzt worden war und wie dieser Druck sich auf sein Denken auswirken mochte. Es muss schwer sein, im Schatten von Helden aufzuwachsen. Zu glauben, dass ein einzelner Mann ein solches Gewicht tragen kann, ist Wahnsinn. Sie hatte einst einen Mann geliebt, der genau unter so einer unmöglichen Last zerbrochen war.
Jaina sah die rastlose Menge an und ließ das Bild auf sich wirken. Sie hatte die beneidenswerte Gabe, Personen mit einem unglaublichen Tiefblick zu lesen. Doch heute bedurfte es keines besonderen Talents, um die greifbare Angst und Frustration in der Luft zu spüren. Sie hatte eine Quelle der Unzufriedenheit in der Menge ausgemacht. Sie stammte vor allem von einer Gruppe von Adligen und Gesandten, die einen Bären von einem Mann mit einem unglücklichen und ziemlich geröteten Gesicht umringten. Lord Aldous Lescovar, Sohn des Verräters Gregor Lescovar, grübelte eindeutig über alles und jeden nach und seine Grübeleien schienen die anderen im Raum anzustecken.
Die Adligen hatten genug getrunken, um ihre Zungen zu lockern. So lauschte sie und vernahm immer wieder den Namen König Wrynns, der oft wie bitteres Gift ausgespuckt wurde.
Jaina wusste, dass Einiges, was diese Männer sagten, der Wahrheit entsprach. Varian konnte mitunter schwierig sein. Seine Hartnäckigkeit traf seine Freunde genauso wie seine Feinde. Doch sie wusste auch, dass der König im Herzen ein aufrichtiger Mann war. Er würde bereitwillig sein Leben geben, um sein Volk zu retten. Sein Antrieb waren uralte Glaubenssätze, die heute nur noch wenige verstanden, ein Verhaltenskodex, der mehr von seinen Anführern verlangte. Dieses Missverständnis hatte den König seinem Volk und selbst seinem Sohn langsam entfremdet, und die Feinde des Königs nutzten es für ihre eigenen, bösartigen Ziele.
Jaina war immer König Wrynns Verbündete und vielleicht treuste Unterstützerin gewesen. Das Licht weiß, dass Varian es einem nicht einfach macht, sein Verbündeter zu sein, und schon gar nicht sein Berater oder Freund. Wenn man es mit dem Geisterwolf zu tun hatte, dann musste man sich seinem Herzen statt seinen Fängen zuwenden, das war Jaina bewusst.
Sie selbst war heute erneut gekommen, um zu versuchen, den König von seiner unnachgiebigen Haltung gegenüber der Horde abzubringen, doch die angetrunkenen Gesandten um den hitzköpfigen Baron herum könnten ihrem Vorhaben leicht in die Quere kommen. Sie zwang sich, ein Lächeln aufzusetzen, als sie auf Baron Lescovar und seine Bagage zutrat.
„Gedenkt wohl.“ Jaina verbeugte sich vor allen und begrüßte sie mit den traditionellen Worten dieses Feiertags.
„Gedenkt wohl, Jaina Prachtmeer.“ Der Baron blickte zu seinen Verbündeten, dann wieder zu ihr, als könne er sich nicht entscheiden, ob die Gegenwart der Zauberin ein Zeichen von Unterstützung oder Gefahr sei. Jaina fühlte, wie sein Blick sie von oben bis unten maß, wie nur ein junger Baron es wagen würde. Sein Gesicht war grobschlächtig. Egal, in wie viele teure Pelze und Seide er sich hüllen mochte, seine kalten Augen machten all die Eleganz, die seine Kleidung darstellen wollte, zunichte.
Der Baron war argwöhnisch und sein Geist war so wankelmütig wie sein Körper. „Was führt Euch so weit über das Meer, wo Eure eigene Heimat in Flammen steht?“
Jaina sah nun, dass der Baron betrunkener war, als sie gedacht hatte, und ignorierte seinen Angriff. „Genau wie Ihr bin ich gekommen, um den Helden der Vergangenheit meinen Respekt zu zollen, jedoch auch, um einen weisen Plan gegen die neuen Gefahren zu finden, die die Allianz dieser Tage heimsuchen.“
Der Baron gab seinem Gefolge mit einer etwas ungeschickten Handgeste ein Zeichen. „In der Tat, diese neuen Gefahren treffen uns alle, Reich und Arm, Händler und Gesinde. Wie ist es dazu gekommen, Zauberin? Wem sollen wir die Schuld geben?“
Jainas Gesicht blieb regungslos und unlesbar. Nach einer bedachten Pause begann sie zu sprechen. „Die Führung der Allianz steht derzeit vor vielen Herausforderungen. Und ja, es gab einige Fehlentscheidungen und viele Lektionen, die es zu lernen galt. Doch wir haben auch große Siege errungen.“
Ein alter, sehniger Adliger drängte sich nach vorne und schüttelte frustriert das silberne Haupt. „Wir sind es leid, dass die Kriege der Allianz unser Gold und unser Blut erschöpfen. Waghalsige Abenteuer und persönliche Rachefeldzüge vermindern nur unsere Chancen auf Frieden und Wohlstand!“
Jaina hob sanft die Hand, um die aufbrausende Stimmung zu beruhigen. „Viele haben ähnliche Bedenken geäußert. Beispielsweise in Bezug auf die fehlgeleitete Feindseligkeit gegenüber der Horde. Ich für meinen Teil glaube, dass heutzutage gute Verbündete nur schwer zu finden sind, besonders, da unsere Feinde sich ohne Unterlass zu vermehren scheinen.“
Der Baron legte seine feiste Hand auf ihre Schulter. Bei seiner Berührung lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter. „Ich glaube, wir haben hier eine Orcliebhaberin, Freunde.“ Das daraufhin folgende Gelächter roch nach abgestandenem Met. Der Baron beugte sich zu ihr, viel zu nahe, bis sie seinen heißen und spöttischen Atem spürte. „Oder vielleicht steht Euch der Sinn eher nach stinkenden Tauren?“
Jaina entwand sich elegant dem Griff des Barons und setzte eine Maske des Mitgefühls für seine Bedenken auf. Die Allianz konnte sich derzeit keine weiteren Brüche erlauben, die sie schwächten. Azeroth hatte vor kurzem seine eigenen versteckten Sprünge gezeigt, die die Welt im wahrsten Sinne des Wortes auseinanderrissen.
Sie versuchte zu lächeln und der Baron lächelte zurück, was die schweineartigen Züge seines Gesichts nur unterstrich. Er zwinkerte ihr zu. „Wir wissen, dass Ihr dem König nahe steht. Ihr müsst ihn für uns zur Vernunft bringen. Sorgt dafür, dass König Wrynn auf seine Adligen hört. Bewegt ihn dazu, uns wo er kann Frieden zu bringen und sicherzustellen, dass der Drache beseitigt wird, bevor es keine Stadt mehr gibt, mit der wir Handel treiben können.“
„Ich verstehe Eure Sorgen. Viele von ihnen sind auch die meinen.“
„Dann tut Eure Pflicht und nutzt Euren Einfluss. Niemend profitiert von einem sinnlosen Krieg. Die derzeitigen Pläne des Königs sind...“
„Sind was?“ fragte eine tiefe Stimme hinter dem Baron. Alle Anwesenden drehten sich ruckartig um und erblickten König Wrynn, der in der Tür stand. Das Stimmengewirr verstummte, als Varian den Raum betrat. „Bitte, Baron Lescovar, erleuchtet uns alle. Sagt uns, was meine Pläne bringen werden.“ Varians Blick war wie ein aufflammender Blitz, der sich tief in die Augen des Barons grub. Lescovar trat in unbewusster Unterwerfung zurück.
„Verzeiht, meine Hoheit“. Der Baron verneigte sich. „Wir führten nur gerade eine lebhafte Debatte mit der geschätzten Anführerin Theramores.“
Varian ging auf den Baron zu und machte erst Halt, als er direkt vor dem Adligen stand. Nase an Nase sprach der König mit leiser Stimme, doch sein Grollen war laut und deutlich zu hören.
„Als Ihr noch ein Welpe im stinkenden Bau Eurer Familie wart, habe ich bereits die Armeen Sturmwinds zum Triumph geführt.“ Varians Augen tanzten im Raum zu den anderen umher und forderten sie heraus, sich ihm zu stellen. „Ich habe die Unseren über das Meer zu den kalten Hängen Nordends geführt, in die unheiligen Tiefen Unterstadts ... Sieg um Sieg, und doch zweifeln so viele von Euch an mir.“
Die Würdenträger scharrten voller Unbehagen mit den Füßen, doch niemand wagte es, auch nur ein Wort zu sagen. Jaina war vor unterdrücktem Zorn ganz außer sich. Soviel zu dem Plan, die Fänge des Königs aus dem Spiel zu lassen.
Varian blickte von Gesicht zu Gesicht. „Also, warum seid Ihr heute gekommen? Um meine Zeit zu verschwenden? Um zu fordern, dass ich mir Eure kindischen Beschwerden über meine Mühen, die Welt zu retten, anhöre? Um Euch zu beschützen?!“
Stille.
In den Augen des Geisterwolfes brannte jetzt das Feuer, ein sengendes Glühen, das furchtlos in der Nacht strahlte und die Schatten vertrieb.
„Oder seid Ihr gekommen, um Lo'Gosh selbst zu sehen? Um aus der Nähe denjenigen zu betrachten, der mit dem gleichen Genuss wie seine Feinde Krieg führt?!“
Viele begannen, unauffällig den Raum zu verlassen, aber Varian war noch nicht fertig.
„Einige sagen, ich sei nicht besser als die, die wir bekämpfen. Dass ich ein Monster sei. Nun, wenn dem so ist, dann bin ich genau das Monster, das Ihr braucht! Ich bin wild genug, um selbst der Dunkelheit Angst einzujagen! Ich bin der, der den Mut hat, alles zu tun, um die Menschheit vor dem Abgrund zu retten!“
Als Varian seine hitzige Rede beendet hatte, blickte er sich um und fand das vertraute Gesicht Anduins, das ihn vom anderen Ende des Thronsaals aus anstarrte. Sein Sohn war irgendwann während der Tirade des Königs eingetroffen. Der Schrecken auf dem Antlitz des jungen Prinzen zeigte deutlich, dass sich seit ihrer letzten Trennung im Streit nichts geändert hatte.
Anduins Blick war voller Angst und Bestürzung, und Varians Herz sank. Bin ich denn meinem eigenen Sohn zum Fremden geworden? Er versuchte, eine weichere Mine aufzusetzen, aber der König fühlte noch immer den Zorn unter seiner Haut brennen. Anduin ging langsam rückwärts, drehte sich dann um und verließ den Saal. Als Varian ihn gehen sah, verflog seine Wut wie Wasser in der heißen Sonne und hinterließ nichts als Leere. Varian setzte sich auf seinen Thron und bedeutete allen mit einer erschöpften Geste, zu gehen.
Die überraschten Zuhörer zogen sich langsam zurück, in ihren Herzen sowohl Angst vor der Zukunft als auch vor dem Anführer der Menschen. Nur Jaina und der Erzbischof blieben und musterten Varian argwöhnisch. Unbewusst griff der König in seine Tunika und berührte das silberne Schmuckstück in seiner Tasche. Die kalte Metalloberfläche kühlte die fiebrige Überzeugung, die noch immer in seinem Blut kochte. Varian wusste, dass niemand verstand, was er tun musste, was er sein musste. Niemand verstand ihn, und das würde sich niemals ändern.
***
Varian ging auf und ab wie ein Tier im Käfig, während Jaina und Benedictus ihn beobachteten. Er drehte das silberne Medaillon immer und immer wieder in den Händen. Mit demselben Zorn, der den König verzehrte, schlug die glänzende Kette um sich. Jaina und Benedictus standen hilflos daneben und versuchten, einen ruhigen Hafen im Sturm zu finden.
„Eines Tages wird der Prinz es verstehen, Hoheit“, begann Benedictus. „Seine Seele ist erleuchtet.“ Der Erzbischof wandte sich hilfesuchend an Jaina, doch bevor sie etwas sagen konnte, schnaubte Varian.
„Ich hätte ihn niemals gehen lassen sollen. Anduins Pflichten gelten seinem eigenen Volk, nicht den Draenei.“
„Aber er ist noch jung“, sagte Jaina. „Anduin ist noch auf der Suche nach seinem Platz im Kreis. Er ist bestrebt, herauszufinden, wer er wirklich ist.“
Varian hielt inne und starrte sie finster an. „Wer er ist? Er ist der Erbe des Throns von Sturmwind und schon fast ein Mann! In seinem Alter war ich bereits ein Meister der Schwertkunst und bereit, mich den Feinden der Allianz in der Schlacht zu stellen!“
Jaina schrak vor seinem Zorn zurück. „Ist denn das einzige Maß, wie früh er tötet, Varian?“ Sie versuchte, seinem wilden Blick mit ihrem eigenen standzuhalten. „Erkennt Ihr nicht, dass Anduin einen anderen Pfad gewählt hat?“
Varian dachte nach. „Ich ... ich habe mich mit Anduins Wahl abgefunden, doch ich fürchte noch immer, dass er zu schwach ist, um zu regieren. Wie Ihr selbst gesagt habt, Erzbischof, leben wir in gefährlichen Zeiten.“
„Es ist wahr, dass die Welt am Rande des Abgrunds steht.“ Der Erzbischof versuchte, seinen Worten vorsichtig mit den Händen Ausdruck zu verleihen. „Doch das Licht zeigt jedem von uns einen anderen Weg, wohin er auch immer führen mag.“
„Spart Euch Eure Predigten, Benedictus! Die echte Welt vergibt nicht so bereitwillig wie Eure Kirche. König zu sein ist eine gefährliche Aufgabe. Nur ein falscher Schritt und Menschen sterben!“
Benedictus trat vor und legte die Hand auf die Schulter des Königs. „Ich weiß, dass Ihr Euch am Tag des Gedenkens noch mehr als an anderen Tagen für viele Dinge die Schuld gebt, besonders für unsere Verluste ...“, fuhr er vorsichtig fort. „Für Eure Verluste.“
Der König griff in einem Wirrwarr aus Gedanken und Sorgen verloren nach seinem silbernen Medaillon. „Wenn Anduin nicht bereit ist, wenn er auf irgendeine Weise Schwäche zeigt, dann führt das ...“ Varian brach abrupt ab und versuchte, den Gedanken abzuschütteln.
Jaina sprang ein, um den Schrecken zu vertreiben. „Anduin hat dieser Welt eine andere Stärke zu geben, Varian. Er hat sich aus einem bestimmten Grund für die Priesterschaft entschieden. Er ist ein Heiler, der im Einklang mit dem Licht steht.“
Varian nickte. „Was Ihr sagt, ist wahr, Jaina. Anduin war nie ... wie ich.“ Mit einem Seufzen setzte Varian sich hart auf seinen Thron.
„Ihr habt zuvor selbst davon gesprochen, mein König“, begann Benedictus. „Die Zeiten haben sich geändert, und es ist offensichtlich, dass wir uns mit ihnen ändern müssen. Das Zeitalter, in dem Herzen wie Lothars der einzige Weg waren, um zu überleben, ist vielleicht bald schon vorbei. Die Welt scheint sich nach etwas Neuem zu sehnen.“
***
Varian blickte ihn an, in seinem Geist überstürzte sich die Ungewissheit so vieler Dinge. Die Grundfesten Azeroths waren vor kurzem bis ins Mark erschüttert worden, und Teile davon waren abgebrochen worden oder ein für allemal verschwunden. Jetzt waren seine einst festen Überzeugungen ins Wanken gekommen. Benedictus und Jaina schickten sich an, zu gehen, doch der Erzbischof hatte noch eine letzte Bitte.
„Da wir gerade über Erneuerung sprechen, Eure Hoheit. Ich habe ein Geschenk für Euch zu diesem Tag des Gedenkens ... eigentlich für Euch und den Prinzen.“
Varian seufzte. „Ich befürchte, dass ich heute alleine Eure Großzügigkeit entgegennehmen werde, Vater. Mein Sohn verspürt eindeutig kein Verlangen nach meiner Nähe.“
Benedictus lächelte. „Lasst die Sorge Euer Herz nicht berühren. Das Licht erhellt selbst die dunkelste Nacht. Sucht Ihr mich später auf? Ich glaube, mein Geschenk wird viele Eurer Leiden heilen.“
Varian war davon nicht sonderlich überzeugt. „Wo und wann, Vater? Wie Ihr wisst, bin ich heute sehr beschäftigt.“
Der Erzbischof beugte sich zu ihm und flüsterte ihm den Ort ins Ohr. Varians Züge wurden hart, als er den Treffpunkt vernahm, doch nach einer Weile nickte er widerwillig.
Als Jaina und der Erzbischof gingen, stellte Varian Benedictus eine letzte Frage. „Sagt mir, Erzbischof. Glaubt Ihr, dass Anduin ein guter König sein wird?“
Der Erzbischof drehte sich um und nickte inbrünstig. „Ohne Zweifel, Herr. Wenn er die Hitze dieser Zeiten überlebt. Verzweifelte Tage wie diese verbrennen alle Unreinheiten und lassen nur den stärksten Stahl zurück. Und Wrynn-Könige haben immer ihren Mut beweisen, Hoheit.“ Er verneigte sich und zusammen mit Jaina ließ er Varian in seinem Thronsaal zurück, allein mit der einsamen Bürde des Oberbefehls, die dem König nur allzu vertraut war.
***
Als Varian den Friedhof der Stadt betrat, versank die Sonne bereits langsam am Horizont und warf warme, goldbraune Strahlen über die hohen Türme der Kathedrale und die stillen Grabsteine.
Trauer überflutete ihn wie eine Woge, als er an den nur allzu vertrauten Gedenktafeln den Pfad entlang schritt, den er schon an so vielen Tagen des Gedenkens zuvor gegangen war. Der würzige Geruch frischer Veilchen drang an seine Nase und beschwor Erinnerungen an den wundervollen Duft seiner Frau Tiffin, ihr unbeschwertes Lachen, ihr liebevolles Lächeln.
Er näherte sich den Steinlöwen, die das Grab seiner Frau bewachten, setzte seine Schritte wie in Trance als lange verlorene Erinnerungen sich in seinem Geist überschlugen. Goldene Lichtstrahlen spiegelten sich auf der bronzenen Tafel des Grabmals wider. Varian las die letzte Zeile der Inschrift: Denn unsere Welt erkaltet ohne Euch. Er fühlte, wie die bittere Wahrheit sein Herz überflutete. Du und Anduin sind die einzigen Dinge, die mir je Wärme gegeben haben, Tiffin.
Er hörte Schritte hinter sich und drehte sich um. Verwundert sah er, wie Benedictus und sein Sohn sich näherten. Die Freude über den Anblick des Prinzen schwand schnell, als er die Bestürzung auf Anduins Gesicht und die schneidenden Blicke, mit denen der Prinz den Erzbischof bedachte, bemerkte.
Varian war überrascht, wie sehr Anduin doch gewachsen war. Oder spielte ihm das Licht einen Streich?Der Prinz legte seinen Bogen und Köcher frustriert auf die andere Schulter und sah den Priester verdrießlich an. „Als Ihr mich gebeten habt, Euch zu begleiten, Erzbischof, habt Ihr wohl vergessen zu erwähnen, dass mein Vater uns Gesellschaft leisten wird.“
Benedictus lächelte den Jungen an. „Manchmal, werter Prinz, müssen wir ein paar Geheimnisse wahren, um die Welt zu heilen.“
Varian fühlte, wie die Vaterrolle ihn übermannte. Er wollte dem Jungen sagen, dass er sich nicht so närrisch aufführen und erwachsen werden solle. Er wollte Anduin befehlen, in Sturmwind zu bleiben und seine Pflichten als Prinz und Erbe zu erfüllen. Doch er wusste, dass dies nur zu dem gleichen wütenden Ende führen würde, wie zuvor. Je härter er den Jungen anfasste, desto weiter trieb der Anduin von sich weg.
„Dies ist also Euer Geschenk zum Tag des Gedenkens, Erzbischof?“ König Wrynn gab sich Mühe, so sanft wie möglich zu sprechen. „Ein überraschendes Familientreffen?“ Unbewusst wanderten seine Augen zu Tiffins Grab, um sie mit einzubeziehen.
Der Erzbischof schaute die beiden an und schien zufrieden. „Zum Teil. Aber das ist noch nicht alles. Erinnert Ihr Euch an die Aufgabe, die Ihr mir vor langer Zeit direkt nach Tiffins Tod übertragen habt?“
Varian dachte einen Augenblick nach. Es war schon so lange her. So viel war nach dem Tod seiner Frau geschehen. So viel hatte sich verändert. Er hatte sich so sehr verändert. Würde Tiffin den Mann, der aus mir geworden ist, überhaupt lieben können?
Benedictus streckte die Hand aus und reichte Varian einen glänzenden Silberschlüssel. Varian war überrascht, wie schwer der kleine Gegenstand in seiner Hand wog. Anduin wusste sofort, was es war. „Der Schlüssel zu Mutters Medaillon.“
Varian war sprachlos. Er suchte nach Worten. „Ihr habt ihn gefunden! Wie?“
„Ja, Herr. Wie Ihr es befohlen habt. Verzeiht, dass meine Suche so lange gedauert hat, aber ich dachte mir, dass heute ein guter Tag wäre, um Euch beiden die Erinnerungen zurückzubringen.“ Benedictus tätschelte den Kopf des Prinzen.
Varian fühlte, wie etwas tief in seinem Inneren sich regte. „Vielen Dank, Benedictus. Ihr seid ein rechtschaffener Mann. Ich wage kaum mir auszumalen, was ich ohne Euch täte.“
Der Erzbischof neigte den Kopf. „Bitte, erlaubt mir nun, Euch alleine zu lassen.“ Er wand sich zum Gehen und hob seinen Arm ein letztes Mal zum Abschiedsgruß. „Friede sei mit Euch beiden“, sagte er und verschwand den Pfad entlang in einem Hain.
Varian stand da, drehte den Silberschlüssel wieder und wieder in den Händen und wunderte sich über die merkwürdige Verabschiedung des Erzbischofs. Schließlich bemerkte er, dass Anduin ihn beobachtete. All die schroffen Dinge, die er seinem Sohn sagen wollte, waren jetzt nicht mehr von Bedeutung. Er erkannte, dass nur eine Sache wahr war: Anduin war wichtiger als alles andere. Es war so klar und deutlich.
Der Prinz drehte sich zum Grab seiner Mutter und starrte es gedankenverloren an. Endlich unterbrach Varian die Stille. „Es ist schön, dich zu sehen, mein Sohn. Du bist wohl mindestens einen Kopf gewachsen, seit ...“ Varian riss sich zusammen. „Die Nahrung der Draenei scheint dir gut zu bekommen.“
„Meister Velen sagt, dass ich in alle Richtungen wachse“, antwortete Anduin, den Blick noch immer auf das Grab der Mutter gerichtet. „Velen erinnert mich stets daran, dass 'Jeder von uns in jede Richtung wachsen muss, jeden Tag'“.
Varian nickte. „Ein weiser und wertvoller Rat. Besonders für einen König ... oder zukünftigen König.“
Anduin zuckte bei diesen Worten zusammen und schaute seinen Vater aus blitzenden, tiefblauen Augen an. „Stirbt die Welt, Vater?“
Die Eindringlichkeit dieser Frage brachte Varian aus dem Konzept. Sie erinnerte ihn an die unschuldigen und doch tiefgründigen Fragen, die Anduin als kleines Kind immer gestellt hatte. Selbst damals war die tiefe Weisheit des Jungen offensichtlich.
Varian gab sich Mühe, vorsichtig zu antworten. „Ich bilde mir über derlei Dinge keine philosophischen Ansichten, aber ich weiß, dass die Welt sich immer weiter dreht, genau wie die Jahreszeiten. Alles hat seine Zeit, und im Kreislauf der Erneuerung müssen alle Dinge kommen und gehen.“
Er überlegte, wie er es besser beschreiben konnte, und zog sein Schwert. „Es ist wie bei einer großartigen Waffe, Sohn. Die Klinge muss ab und zu erneuert werden, damit sie ihre ganze Macht behält.“
„Velen sagt das gleiche. Er sagt, dass Tod und Wiedergeburt Teil desselben Sternenrads sind. Und sein Volk hat den Lauf der Zeit wie kein anderes verfolgt.“
„Dann weiß er sicher, dass Könige und Königreiche kommen und gehen, aber Wahrheit, Ehre und Pflicht ewig sind.“
„Und Liebe“, sagte Anduin, während er seinem Vater einen vorsichtigen Blick zuwarf.
Der König dachte darüber nach und nickte. „Ja, auch die Liebe.“
„Ich glaube, dass die Liebe alles überdauert“, fuhr Anduin fort.
Plötzlich wusste Varian, was er zu tun hatte. Er hielt das silberne Medaillon in der Hand und sprach, noch bevor er wusste, was er sagen würde. „Ich habe das Medaillon deiner Mutter all die Jahre als Erinnerung an meine Aufgaben als König aufbewahrt. Es sollte mich daran erinnern, dass jede Tat Konsequenzen hat und ein Anführer mit seinen Entscheidungen leben muss, ob sie gut oder schlecht sein mögen, denn so viele verlassen sich auf ihn.“
Er streckte Anduin das Medaillon entgegen.
„Ich will, dass du ...“ Er unterbrach sich. „Ich meine, ich dachte, vielleicht willst du es jetzt haben. Wenn du möchtest.“
Anduin nickte, und Varian legte Tiffins Medaillon behutsam um den Hals seines Sohnes. Der Prinz hielt das Schmuckstück in den Händen und fuhr mit den Fingern über die Gravur, genau wie Varian es so viele Jahre getan hatte.
Als Varian ihm den Silberschlüssel reichte, schien die Zeit stillzustehen. Selbst der Windhauch auf dem Friedhof hielt aus Ehrfurcht vor diesem Moment den Atem an. Varian hatte das Gefühl, als würde er eine Art Fackel weiterreichen, ein Gefühl der Zugehörigkeit, ein mächtiges Symbol des Wachstums und Erwachsenseins, das seinem Sohn auf irgendeine Weise in der Zukunft helfen würde. „Es gehört jetzt dir“, sagte er. „Du kannst es öffnen, wenn du dazu bereit bist.“
Anduin dachte einen Moment nach und steckte den Schlüssel dann in seinen Beutel. Er würde einen passenden Moment finden, um seinen Frieden mit der Vergangenheit zu schließen.
„Sie hat dieses Medaillon geliebt, Anduin“, sagte Varian. „Sie liebte die Schönheit und das Volk von Sturmwind ... doch am allermeisten liebte sie dich.“
Anduins Augen füllten sich im Licht der Nachmittagssonne mit Tränen. Varian sah seinen Sohn eindringlich an und erkannte in ihm mehr als je zuvor. „Ich war ein wenig ... blind ... den Mann zu übersehen, der aus dir geworden ist.“
Jetzt konnte der Junge die Tränen nicht mehr zurückhalten. Zusammen mit den Worten, die er immer hatte sagen wollen, schossen sie aus ihm heraus. „Ich wünschte so sehr, ich wäre dir ähnlicher, Vater. Ich will wirklich ein großartiger König sein. Aber ... ich bin nicht ... so stark.“ Wütend wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht, als seien sie ein Zeichen der Schwäche.
Varian legte den Arm um seinen Sohn. „Nein, Anduin. Du bist viel mutiger als ich, und dieser Mut stammt tief aus deinem Herzen. Weißt du noch, was dein Onkel Magni immer sagte? 'Stärke gibt es in so vielen Formen ...'“
Gemeinsam beendeten sie die Zeile. „' ... sowohl klein als auch groß'.“
Die warme Erinnerung zauberte ein Lächeln auf Anduins Gesicht. Varian fuhr fort. „Ich mag starr und unbeweglich dem Sturm trotzen, aber du spürst den Wind, biegst dich mit ihm und machst ihn dir zu Eigen. Und genau das macht dich unzerbrechlich.“
Varian drehte sich zu Tiffins Grabmal. „Deine Mutter war genauso. Sie war eine Meisterin der sanften Überredungskunst und ihre Liebe bewegte die ganze Welt.“
Der Prinz starrte auf die letzte Ruhestätte seiner Mutter und kämpfte gegen einen neuen Schwall aus Tränen an. Varian merkte, wie er ohne nachzudenken sprach, nicht als König von Sturmwind, sondern einfach als Vater zu seinem Sohn.
„Es ist gut, dass du um sie weinen kannst, Anduin. Diese ... Stärke ... hatte ich nie.“ Der Junge stand ein paar Augenblicke reglos da und betrachtete das Grab der Frau, der ihre Liebe galt und die sie noch fester verband als Blut.
„Ich vermisse sie“, sagte Anduin schließlich. „Ich weiß, dass ich nur ein Baby war, aber ich kann sie immer noch spüren.“
„Und genau deshalb wirst du der großartigste aller Wrynn-Könige werden“, antwortete Varian und klopfte seinen Sohn liebevoll auf den Rücken. Er wünschte, dass dieser Moment ewig währen könne, doch ihm war bewusst, dass dies nicht möglich war. Er schaute auf und beobachtete scharf seine Umgebung. „Also sag mir, aus welcher Richtung wird der Überfall deiner Meinung kommen?“
***
Anduin wischte seine Tränen fort. „Sie beobachten uns schon eine ganze Weile. Wer sind sie?“
Varian überlegte. „Wahrscheinlich Auftragsmörder. Bestimmt wollten sie sich den Trubel des Feiertags zunutze machen, eine gute Gelegenheit, wo die Anführer Sturmwinds sich gemeinsam in der Öffentlichkeit zeigten. Nun, wie lautet dein Plan?“
Anduin versuchte, sich unauffällig umzusehen. „Sie werden von Osten her zuschlagen und versuchen, den Hauptausgang zu decken. Wir werden es mit einem Angriff von reiner Stärke zu tun haben, nicht mit List. Wenn wir uns mit dem Rücken zum Westwall stellen, können wir ihnen ebenbürtig gegenübertreten.“
Varian konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. „Beeindruckend. Also hast du den langweiligen Lektionen, die ich dir erteilt habe, doch gelauscht.“
„Du hast mir mehr beigebracht, als du vielleicht weißt, Vater.“
Varian nickte und Anduin grinste. Etwas Unausgesprochenes geschah zwischen ihnen, etwas, das keiner Worte bedurfte.
Plötzlich durchschnitt das Donnern von Raketen die Stille. Magische Geschosse flogen über dem Tal der Helden hoch in die Luft und explodierten in blühenden Kaskaden aus Farben und Formen. Die Abschlusszeremonien des Tags des Gedenkens hatten begonnen.
Doch das Feuerwerk war gleichzeitig ein Signal für etwas anderes. Überall um sie herum traten gefährlich aussehende Männer aus ihrer Deckung. Jeder von ihnen trug hässliche Waffen und das grimmige Gesicht eines Auftragsmörders, dessen Klinge nach Blut dürstete.
Varian drehte sich zu seinem Sohn um und schien den Moment fast schon zu genießen. „Wie es aussieht, werde ich zu meiner eigenen Rede zu spät kommen.“
Die Angreifer schoben sich näher an die beiden Männer heran. Varian zählte zehn von ihnen. Kein Problem, dachte Varian, bis Anduin zum hinteren Bereich deutete, wo ein weiterer Mann hinter einem Baum hervortrat. Es handelte sich um einen mächtigen Zauberer, auf dessen dunkelvioletten Roben Schutzzauber glühten. Um seinen knorrigen Stab kreisten Energierunen.
„Der da gefällt mir gar nicht“, sagte Varian und zog sein Schwert. Anduin nickte, löste seinen Bogen und legte einen Pfeil auf.
Sie beobachteten, wie der Zauberer seinen Stab schwang, ein großes leuchtendes Oval in die Luft zeichnete und seine rituellen Worte der Beschwörung zu singen begann.
Weitere Raketen erhellten den Himmel über ihnen, als die Angreifer sich plötzlich auf den König und den Prinzen stürzten. Die Explosionen übertönten die rauen Kampfschreie der Auftragsmörder, als in einem heftigen Aufeinandertreffen von Stahl Funken und Blut sprühten. Und von jenseits des Sees von Sturmwind erschallten die stolzen Stimmen von Vater und Sohn im Einklang: „Für die Allianz!“
***
Eine bunte Masse von Leuten drängte sich um die großen Statuen entlang der Brücke über das Tal der Helden. Die Menge bejubelte das magische Feuerwerk der Zauberer enthusiastisch, während die Explosionen zwischen den Mauern der Stadt und im Burggraben widerhallten.
Schneider, Schmiede, Köche, Händler und Soldaten standen einmütig Schulter an Schulter auf der Brücke und bis hin zur Straße nach Goldhain. Alle genossen das Spektakel und amüsierten sich köstlich.
Doch die Gesandten der Ehrendelegation auf der Bühne konnten ihre Freude nicht teilen. Als nächstes sollte König Wrynn zum Volk sprechen, doch er war spurlos verschwunden! Jaina und Mathias Shaw warfen sich beunruhigte Blicke zu, als Feldmarschall Afrasiabi am Podium stand und der Menge zuwinkte. Dem Feldmarschall war die große Ehre zuteil geworden, König Wrynns Rede heute anzukündigen. Doch als das Feuerwerk sich dem Ende neigte und der König von Sturmwind immer noch nicht in Sicht war, gerat die Zeremonie aus den Fugen, und Afrasiabi gefiel es gar nicht, wenn ein Plan aus den Fugen geriet.
Der Feldmarschall drehte sich um und knurrte: „Verdammt nochmal! Wo steckt er denn nur?“ Alle auf der Bühne zuckten mit den Achseln. Afrasiabi warf dem Publikum ein flüchtiges Lächeln zu und drängte sich dann zu den Gesandten und Staatsoberhäuptern. Die Delegation selbst war aufgebracht und diskutierte erbost jede Möglichkeit und Eventualität. Einige der Adligen forderten, dass die Zeremonie weitergehen solle, ob mit oder ohne König. Andere bestanden darauf, auf ihren Anführer zu warten, ganz gleich, wie lange es dauern würde.
General Jonathan, ganz der Taktiker, hatte einen Kompriss erdacht. „Feldmarschall, ich schlage vor, dass Ihr eine kleine Verzögerungsmaßnahme einleitet. Täuschen und tricksen. Haltet die Stellung, während wir nach dem König suchen.“ Jaina und Mathias nickten zustimmend.
Diese neue Strategie sagte dem Feldmarschall noch weniger zu. „General, ich bin Kommandant der königlichen Armeen, kein Zirkusartist.“ Er blickte die anderen mürrisch an, doch fand nur verzweifelte Gesichter, die alle erwarteten, dass er sich zum Wohl der Allgemeinheit opferte.
„Aber ich habe nichts vorbereitet“, protestierte der Feldmarschall.
„Improvisiert einfach. Lenkt sie ab. Unterhaltet sie,“ scholl ihm ein aufmunternder Chor entgegen.
Hinter ihm rumorte die Menge erwartungsvoll, und schließlich gab Afrasiabi seufzend nach. Mit missmutigem Murmeln wand er sich der unruhigen Menge zu. „Immer diese verdammten Massenveranstaltungen ...“
Der Hochkommandant der Streitkräfte von Sturmwind zwang sich zu einem Lächeln, das selbst die glänzenden Medaillen an seiner Rüstung überstrahlte und begann, das Publikum mit einem seiner Lieblingsthemen zu ergötzen: der faszinierenden Geschichte der Dampfpanzerbelagerungstaktiken und deren Feinheiten.
***
Varian Wrynn bewegte sich so rasant wie ein Windelementar, sprang herum und wirbelte in alle Richtungen, um seinen Sohn um jeden Preis zu beschützen. Einen Moment stürmte er nach links und schwang sein Schwert in weiten Bögen, um die Reihe der Angreifer zurückzudrängen, und schon fing er eine weitere Gruppe ab, die Anduin von der anderen Seite auf den Leib rückte, wobei seine wilde Klinge Shalamayne tödlich herabsauste.
Sie hielten sich mit dem Rücken zur steinernen Mauer und bemühten sich, die Angreifer abzuwehren, doch trotz all ihrer Anstrengungen gelangten der König und der Prinz nicht in die Nähe des Zauberers. Dieser war eindeutig damit beschäftigt, etwas nach Sturmwind zu beschwören. Von Minute zu Minute wuchs sein Portal weiter.
Varian parierte die Axt eines Angreifers und nahm dem Auftragsmörder mit einem krachenden Gegenschlag sowohl die Waffe als auch den Arm ab, der sie hielt. Varian sprang vorwärts, um seinen Vorteil auszunutzen, doch sobald er in die Nähe des Beschwörers vorrückte, machten die Angreifer sich Varians Angst um seinen Sohn zunutze und bedrängten den Jungen. Dem König war klar, dass die Mörder nur mit ihm spielten, bis etwas weiteres durch das Portal gelangen konnte. Er wagte nicht, sich vorzustellen, was es sein mochte.
Varian warf einen schnellen Blick auf seinen Sohn und wurde von unbändigem Stolz erfüllt. Der Prinz hielt mutig die Stellung und schoss einen Pfeil nach dem anderen in die Reihen der Angreifer. Viele der Auftragsmörder waren bereits mit gefiederten Schäften gespickt, doch nur drei von ihnen waren gefallen. Hier war düstere Magie am Werk.
Anduin wich geschickt einem Dolch aus und landete neben Varian. „Auf ihnen liegt ein Schutzzauber, Vater! Achtung!“
Varian drehte sich zu seinem Sohn um. „Bleib dicht bei mir. Wir müssen diesen Zauberer erreichen, bevor er sein Werk vollenden kann!“
Anduin nickte. „Dieses Schutzspiel kann man auch zu zweit spielen!“, sagte er und hob die Hand. Er murmelte ein Gebet und sprach ein schützendes Machtwort. Wie ein Donnerschlag hallte es vom Himmel wider.
Varian spürte, wie die Haare in seinem Nacken sich aufstellten, als ein göttlicher Energieschild ihn umschloss. Er warf seinem Sohn ein wölfisches Grinsen zu und widmete sich dann zwei sehr unglücklichen Schurken, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren. „Mal sehen, ob Ihr auch dagegen geschützt seid!“, brüllte Varian. Er stürmte nach vorne, sprang heldenhaft in die Luft und führte sein Schwert in einem grausamen Schlag nach unten.
Shalamaynes glänzende Kugel zog einen gleißenden Lichtbogen durch die Luft, als die Klinge einen überraschten Assassinen von Kopf bis zum Magen durchtrennte. Der leblose Oberkörper fiel in zwei blutige Hälften auseinander. Doch noch bevor die Überreste des Angreifers den Boden berührten, hatte Lo'Gosh sich schon seinem nächsten Opfer genähert, schwang die Klinge und machte ihm so schnell wie dem anderen den Garaus. Anduin schoss weiter Pfeile und hielt seinem Vater die Flanken frei.
Gemeinsam bewegten die Herrscher Sturmwinds sich mit schneidender Klinge und schwirrenden Pfeilen vorwärts und durchbrachen die Reihe der Verteidiger auf dem Weg zum immer verzweifelter werdenden Zauberer. König und Prinz bildeten ein perfektes Team. Varian schlug mit einer unendlich scheinenden rohen Gewalt zu, während Anduin seine beißenden Pfeilspitzen genau da versenkte, wo sie den größten Schaden anrichteten.
Schnell erkannte der Zauberer, dass seine Erfolgsaussichten auf höchster Eile beruhten, also verdoppelte er seine Anstrengungen und jagte noch mehr violette Energie züngelnd in das glühende Feld. Und da nahm etwas Großes und Schreckliches im wirbelnden Nebel des Portals langsam Form an.
***
„Er ist nicht in der Festung. Ich habe alles abgesucht“, sagte General Jonathan von der Suche noch ganz außer Atem.
Jaina sah Mathias an und runzelte die Stirn. „Das sieht ihm nicht ähnlich. Wo könnte er denn sonst sein?Und wo ist der Prinz?“
Diese Frage versetzte den General noch mehr in Aufruhr. „Sowohl der König als auch der Prinz werden vermisst? Das ist eine Katastrophe!“
Shaw schüttelte den Kopf. „Weitet die Suche aus, General. Ich verständige den SI:7.“
„Ich sehe am Hafen nach“, sagte Jaina und verschwand in einem Blitz aus weißem Licht.
Jonathan blickte finster drein und wand sich zum Gehen.
„Und, General ...“, sagte Shaw mit tiefer Sorge in den Augen, als er nach Jonathans Arm griff. „Haltet Euch bereit, Alarm zu schlagen. Ich fühle, dass etwas Bösartiges auf uns zukommt.“
***
Der König war zum wilden Wolf geworden, der jeden Verteidiger zur Strecke brachte, der ihm in die Quere kam, manchmal auch zwei oder drei gleichzeitig. In seinen Augen flackerte Blutdurst, als er sich langsam zum Zauberer vorarbeitete. Nach einem wahren Hagel an Angriffen standen nur noch drei Verteidiger zwischen ihm und seinem Ziel.
Anduin spannte und schoss Pfeile mit der ruhigen und geübten Hand eines Meisters. Die schnellenden Schäfte trafen einen der letzten Verteidiger mit tödlicher Genauigkeit und gruben sich tief in sein Fleisch. Der Schurke brach noch an Ort und Stelle tot zusammen. Anduin blinzelte überrascht. Der Schildzauber war offensichtlich verblasst. Der Magier hatte sich voll darauf konzentriert, jedes kleine Bisschen seines Manas in das Portal zu pumpen, ohne sich länger um das Wohl seiner Kameraden zu kümmern. Die letzten beiden Assassinen schauten den Zauberer bestürzt an. Da erkannte Varian seine Chance.
Im blinden Rausch schloss er sofort zu den beiden auf und kreuzte mit beiden Schurken gleichzeitig die Klinge, schleuderte sie in wilder Raserei rückwärts. Sein Überraschungsangriff hatte die beiden verblüfft. Nur einen kurzen Moment lang ließen sie ihre Verteidigung sinken, doch dieser Moment war alles, was Varian brauchte.
Mit einem Kriegsschrei aus den Tiefen des Mahlstroms schleuderte Varian seine Klingen wie in einem Wirbelwind umher, zerriss ihre Rüstung und trennte beiden Auftragsmördern gleichzeitig die Köpfe ab. Noch immer waren Schock und Angst auf ihren Gesichtern zu lesen, als ihre Schädel auf den Boden fielen.
Varian hielt inne, atmete schwer und wand sich dann dem Zauberer zu, der nur noch ein paar Schritte entfernt war. Der Magier bleckte triumphierend die gelben Zähne. „Zu spät! Euer Untergang ist ...“
Bevor der Beschwörer seine Worte vollenden konnte, stürmte Varian erneut los und holte mit dem Schwert aus, während Anduin einen grausamen, direkten Pfeil über die Schulter seines Vaters schickte. Zu ihrer Überraschung versuchte der Zauberer nicht einmal, sich zu verteidigen. Seine einzige Sorge bestand darin, den Portalzauber zu beenden. Und so opferte er sein Leben, als die Pfeilspitze seinen Hals durchschnitt und Varians Klinge in seine Brust krachte.
***
Ein siegessicheres Lächeln prangte auf dem Gesicht des Zauberers, als er tot zu Boden fiel. Er hatte seine letzte Beschwörungsformel gesprochen. Das Portal pulsierte nun vor Energie und gab den Blick auf eine dunkle, massige Gestalt frei, die sich darauf zu bewegte!
„Zurück, Anduin!“, schrie Varian.
Mit einem Blitz aus gleißendem Licht trat das riesige Wesen aus dem Portal nach Sturmwind. Anduin keuchte erschrocken und Varian nahm sofort eine Verteidigungshaltung ein. Vor ihnen stand der größte Drakonide, den sie je gesehen hatten. Das hünenhafte Monster, halb Mann, halb Drache, war von Kopf bis Fuß in eine enorme violette Rüstung gehüllt, die das Zeichen des Schattenhammerkults trug. Schutzzauber zuckten um die dicken Platten.
Der Drakonide zog kolossale Zwillingsäxte hinter dem Rücken hervor und bellte eine Herausforderung, die die Bäume erzittern und Anduin das Blut in den Adern gefrieren ließ. Varian trat zwischen das Monster und seinen Sohn und blickte dann über die Schulter zum Prinzen. „Bleib hinter mir, Anduin. Egal was passiert. Verstanden? Bleib zurück. Dieses Wesen ... dieses Ding ... ist etwas anderes.“
Der Prinz hatte nicht einmal Zeit, um zu nicken, bevor der Drakonide vor Zorn aufheulte und auf den Jungen losstürmte.
***
„Und mit der Entwicklung der transversalen gnomereganischen Dampfkurbel“, brummte der Felsmarschall monoton weiter und blickte über die Schulter in der Hoffnung, der König wäre endlich eingetroffen, „äh ... mit dieser erstaunlichen neuen Ritzel-Welle-Verbindung konnte die druckgestützte Belagerungsmaschine sieben Zentner schwere Geschosse verschießen, sogar in den eisigen Weiten von Eiskrone.“
Feldmarschall Afrasiabi hielt inne und wartete, dass die Menge sich von dieser Tatsache genauso beeindruckt zeigte wie er selbst. Das Volk von Sturmwind verlieh seiner Begeisterung mit absoluter Stille Ausdruck. Selbst ganz weit hinten hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Der Feldmarschall drehte sich um und zuckte resigniert mit den Achseln.
Die Adeligen waren außer sich. Einer platze heraus: „Bitte, kann nicht jemand etwas unternehmen? Das ist ein Desaster! Wo ist der König?“
Die Gesandten begannen alle gleichzeitig zu sprechen. Sie hatten schon eine ganze Weile geflüstert und sich gestritten, doch nun waren sie sich einig. Sie wandten sich an Benedictus. „Wir haben beschlossen, dass der Erzbischof anstelle des Königs sprechen soll.“
Benedictus winkte ab. „Nein, nein. Ihr ehrt mich, aber das steht mir nicht zu. Lasst uns warten und schauen, was mit unserem König geschehen ist.“
Aus der Menge ertönten nun Buhrufe und verärgertes Zischen. Feldmarschall Afrasiabi verließ seinen Posten und setzte sich verärgert hin. „Pfff ... Ich gewinne Schlachten, keine Herzen!“
Eine beginnende Unruhe machte sich in der Zuschauermenge breit. Langsam dämmerte den Leuten, dass etwas nicht stimmte. Gesprächsfetzen beunruhigter Unzufriedenheit drangen an die Bühne, das Murmeln und Stimmengewirr der Menge schwoll immer weiter an.
„Wir verlieren sie, Vater. Tut etwas“, flehte einer der Adligen. „Bitte! Sie lieben Euch.“
Benedictus schaute die Delegation an und gab schließlich nach. „Nun gut. Es ist mir eine große Ehre, an diesem Tag ein paar Worte der Würdigung zu sprechen.“
Die Leute murmelten zufrieden, als Erzbischof Benedictus das Podium erklomm. Seine tröstliche Gegenwart schien die Leere im Tal zu füllen. Bald schon hatte die Besuchermenge sich beruhigt und wartete gespannt auf die Worte ihres geistigen Oberhaupts. Der Erzbischof hielt inne, um den Moment in sich aufzunehmen, dann hob er die Hände. Jubel ertönte, und Benedictus begann zu sprechen.
***
Helles Blut drang aus frischen Wunden, als Varian von einem mächtigen Hieb der klobigen Axt des Drakoniden getroffen zurücktaumelte. Das massige Wesen walzte vorwärts und holte erneut mit der zweiten Axt aus. Varians Schwert konnte den schmetternden Schlag kaum abhalten und er wurde rückwärts geschleudert. Er erblickte eine kleine Lücke in der Verteidigung, sprang geübt nach vorn und hackte in die Brustrüstung des Wesens, doch seine Klinge glitt unter einem grellen Funkenregen einfach ab. Der Drakonide schaute nach unten und lachte tief und kehlig. Dann umkreiste er den geschwächten Krieger, spielte mit dem Menschen.
Anduin schickte seine letzten Pfeile auf die Bestie, doch sie waren nicht mehr als Mückenstiche auf dicker Gnollhaut. Ungerührt führte Varian weitere Manöver gegen das Wesen und versuchte, seine Aufmerksamkeit vom Prinzen abzulenken, während Schlag um Schlag auf den König herniederprasselte. Anduin konnte nur voller Schmerz zusehen, wie sein Vater sich vergeblich bemühte, die enorme Macht des Monsters abzuwehren.
Plötzlich wirbelte der Drakonide herum und bewegte sich schneller, als seine Größe es für möglich halten ließ. Varian gelang es, seine Axthiebe zu parieren, doch der dornenbewehrte Schwanz traf den König mitten auf der Brust und warf ihn zu Boden. Varian schlug hart auf, kam rollend zum Stillstand und bewegte sich nicht mehr.
Entsetzt blickte Anduin auf den ausgestreckten Körper seines Vaters. Alles kam ihm wie ein Alptraum vor, aus dem er nicht aufwachen konnte. „Vater!“, schrie Anduin, doch Varian lang nur still da, über und über mit Staub und Blut bedeckt.
Anduin ging auf den König zu, doch dann spürte er, wie der Boden unter seinen Füßen erzitterte. Er blickte gerade noch rechtzeitig hoch, um zu sehen, dass der Drakonide wie ein wütender Stier auf ihn zustürmte, riesenhaft und gnadenlos. Seine riesigen Äxte schnitten bereits durch die Luft und hatten es auf den Schädel des Prinzen abgesehen.
Anduin ließ sich nach hinten fallen und hielt seinen Bogen wie eine Feder in einem Sturm vor sich. Die Axt des Drakoniden krachte auf die Waffe des Jungen, zerschlug sie und schleuderte ihn auf den Boden.
Anduin fand sich selbst mit dem Gesicht voran im Dreck wieder. Seine Arme und Brust fühlten sich vom Aufprall taub an. Er versuchte aufzustehen, doch sein betäubter Körper verweigerte sich ihm. Alles, was er vermochte, war, sich zur Seite zu rollen, doch das genügte, um ihm das Leben zu retten. Denn gerade in diesem Moment sauste die Axt an der Stelle auf den Boden, wo er eben noch gelegen hatte. Dreck und Kiesel stoben unter dem immensen Schlag in alle Richtungen und brannten ihm in den Augen.
Der Prinz brach zusammen und keuchte verzweifelt nach Luft, als seine Gedanken sich überschlugen. Anduin betrachtete den reglosen Körper seines Vaters und zwang sich dann, zu dem gewaltigen Drakoniden aufzublicken. Er versuchte, seine Furcht zu unterdrücken und den gebührenden Stolz eines Prinzen von Sturmwind zu zeigen, so wie sein Vater es getan hätte. Er starrte dem Wesen fest in die kalten blauen Augen und fühlte, wie ihn eine merkwürdige Ruhe überkam.
Der Halbdrache hob seine Äxte hoch über den Kopf und grinste. Die krummen Zähne der Bestie troffen vor Blutdurst. Anduin sprach ein kurzes Gebet in der Gewissheit, dass es bald vorbei sein würde. Die Äxte sausten mit einem fast schon frohlockenden Zischen abwärts...
Plötzlich tanzte über ihm ein Wirbel aus blauer und goldener Rüstung. Da war sein Vater, blutüberströmt und wankend. Mit ausgestrecktem Schwert gelang es ihm, den Hieb des Drakoniden in einem Blitz aus Licht und Funken aufzuhalten. Unter einem markerschütternden Kreischen von aufeinandertreffendem Metall riss der Aufprall sowohl die Axt aus den Händen des Drachenmenschen als auch das Schwert aus Varians Griff ... genau in dem Moment, als die zweite Axt des Drakoniden nach unten fiel.
Varian fühlte den brennenden Biss der Klinge, die seine Rüstung zerschlug und sich tief in seinen Brustkorb bohrte. Die Wucht des Schlags ließ den König zu Boden krachen, doch seine Augen ruhten auf Anduin, um sich davon zu überzeugen, dass sein Kind unverletzt war.
Ihre Blicke trafen sich, und Varians Augen wurden weich vor Erleichterung, als er sah, dass seinem Sohn nichts geschehen war. Doch als der Staub sich legte, ließ der Anblick Anduin vor Schreck erstarren.
Varian lag ausgestreckt und mit verdrehten Gliedmaßen auf der Erde. Die Axt des Drakoniden ragte aus seiner Brust. Anduin entfuhr ein gequältes Wehklagen. Der Moment schien sich bis in die Ewigkeit auszudehnen. Varian blickte tief in die Augen seines Sohns und ließ ihn wissen, dass alles in Ordnung war. Dies ist das unvermeidliche Schicksal der Wrynn-Könige...
Der Drakonide stand über Varian und lachte, als der geschlagene König hustete und mit seinen Blicken Anduin um einen letzten Gefallen anflehte.
„Lauf ...“, flüsterte Varian, als die kühle und sanfte Schwärze ihn umarmte. Lass mich der Letzte sein, der diesen Preis bezahlen muss. Das Wesen grinste auf den König hinab und zog die Axt aus Varians Brust. Es war ein merkwürdig dumpfes Gefühl. Aller Schmerz, alle Trauer waren vergangen. Varian wusste, dass er sterben würde, wie er gelebt hatte. Das Wesen hob die blutnasse Klinge über seinen Kopf. Ihre schartige Oberfläche glänzte im Schein der untergehenden Sonne. Wie friedlich es hier ist, Tiffin ...
Varian fühlte, wie die Welt davonglitt ... doch dann kniete plötzlich jemand neben ihm, betete und lies sich von dem drohenden Drakoniden nicht vertreiben. Der König kämpfte um sein Bewusstsein und erkannte langsam, dass es sein Sohn war. Die Arme des Prinzen waren hoch erhoben. Seine Rufe und Gebete beschützten den Vater und hielten das Wesen zurück. Jetzt stand Anduin auf und öffnete die Arme weit zum Himmel. Eine goldene Nova heiliger Energie zwang das Monster, sich zurückzuziehen, als der Prinz stark und furchtlos auf es zutrat. Wie ein König!
Als Anduin das Machtwort 'Barriere' rief, schien der Friedhof um den König und den Prinzen herum zu verschwimmen und zu schimmern. Der Drakonide war verwirrt und schwang die Axt nach dem Prinzen, doch die mächtige Waffe glitt wirkungslos mit einem himmlischen Klingen ab. Varian beobachtete erstaunt Anduins Ausdauer. Der Drakonide umkreiste ihn und bereitete sich auf einen Angriff vor, und Anduins einzige Waffe war sein Glaube! Varian versuchte, nach seinem Schwert zu greifen, aber es lag zu weit entfernt. Er fiel zurück und keuchte vor Schmerz. Er konnte kaum atmen, geschweige denn sich bewegen.
Anduin stand mutig und entschlossen wie ein Felsen da, selbst als der Drakonide sich auf einen letzten Ansturm vorbereitete. Varian rollte sich trotz der sengenden Schmerzen zur Seite und versuchte aufzustehen. Er musste etwas tun. Da spürte er plötzlich den schweren Splitter der Rüstung des Schwarzdrachens unter seinem Gürtel. Mühsam versuchte er, an ihn heranzukommen, und schließlich zog der die rasiermesserscharfe Spitze hervor.
Als der Drakonide auf ihn zustürmte, stand der Junge unbewegt da, umgeben von einer Aura heiligen Lichts. Er streckte die Handflächen zum Himmel und sprach die magischen Abwehrworte. Mit jedem Wort bebte die Erde vor Energie, unter der Grabsteine erzitterten, als sie Wogen über die glänzende Oberfläche des Sees sandte. Am Himmel explodierte ein feuriger Blitz, der den angreifenden Drakoniden traf.
Das Inferno blendete die Bestie. Als er auf Anduins gelassene Gestalt zustolperte, schrie das abscheuliche Wesen vor Schmerz und Zorn. Der Drakonide stürzte. Ohne den Schutz der dunklen Magie färbte sich seine Rüstung schnell grau und wurde stumpf.
Im letzten Moment sprang Varian mit aller ihm noch zur Verfügung stehenden Kraft nach vorne und erhob die hungrige Spitze des Splitters von Todesschwinges Rüstung.
Wie eine mächtige Lawine stürzte das immense Gewicht des Drakoniden auf Varian herab, als der rasiermesserscharfe Splitter sich durch die Rüstung des Monsters in seine Brust bohrte. Irgendwo in seinem Geist hörte Varian einen Schrei, halb Kriegsschrei, halb Schmerzensschrei. Er war sich jedoch nicht sicher, ob er von ihm oder dem Wesen stammte. Dann umfing ihn die gnädige Schwärze.
Irgendwo weit entfernt spürte Varian Anduins Gegenwart. Er öffnete die Augen und sah, wie sein Sohn ihn in den Armen hielt. Die Tränen des Jungen vermischten sich mit dem Blut des Königs, das unter ihm eine Lache bildete.
Jaina und Jonathan kamen auf den Friedhof gerannt, gefolgt von einer Reihe Wachen. Der General blickte finster drein und befahl seinen Männern, die Leichen der Auftragsmörder zu durchsuchen. Jaina fiel neben dem König und dem Prinzen auf die Knie. Sie sah sich Varians schreckliche Wunde an, dann blickte sie zu Anduin und schüttelte den Kopf.
Varian sah mit einer neu gefundenen Wärme und Bewunderung zu Anduin auf. „Du hattest Recht ...“, sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. „Liebe überdauert alles.“ Anduin wischte das Blut und den Schmutz vom Gesicht seines Vaters, doch Varian konnte seine Berührung kaum spüren. Sein Körper war so kalt. Die ganze Welt um ihn herum schien dahinzuschmelzen.
Die Sonne schien jetzt wie Blut am Horizont und tauchte den gesamten Friedhof in ein tiefrotes Licht. Der König schloss die Augen und ließ das Licht gewähren. Als die Ehrenwache von Sturmwind sich um den sterbenden König versammelte, wurde sein rasselnder Atem weicher und schwächer.
„Es tut mir so leid, Vater“, brachte Anduin unter Tränen hervor.
Varian öffnete noch einmal die Augen und versuchte zu lächeln. „Nein. Ich bin es, dem es leid tut ... dass ich nicht früher erkannt habe, was du bist ... was du schon immer warst. Ich bin so stolz ... dass du mein Sohn bist.“ Varian streckte die blutige Hand aus und berührte die tränenverschmierte Wange des Jungen. „Trauere nicht um mich, Anduin. Dies war schon immer mein Schicksal gewesen ... Lass es nicht auch das deine sein.“
Mit diesen Worten erschlaffte Varians Arm und sein Körper entspannte sich. Lange Zeit saß Anduin wie versteinert da. Sein Körper war taub, sein Leben wirbelte vor seinen Augen davon. Jonathan reichte dem jungen Mann die Hand, um ihm aufzuhelfen. „Kommt, Anduin. Wir müssen Euch in die Sicherheit der Burg bringen. Der Erbe muss beschützt werden.“
Anduin bewegte sich nicht, hörte die Worte des Generals nicht, sondern starrte nur ungläubig auf die sterbende Hülle seines Vaters.
„Lasst uns diesen Ort verlassen“, bat Jaina ihn und streckte die Hand nach ihm aus. Doch der Prinz stieß sie beide beiseite und wischte sich mit plötzlich aufwallendem Zorn die Augen trocken.
„Nein! So wird es nicht enden!“ Er schüttelte den König. „Hörst du mich, Vater?! Ein Wrynn-Prinz wird nie wieder zusehen, wie ein geliebter Mensch vor seinen Augen stirbt! Dies ist nicht dein Schicksal!“ Anduin schrie gen Himmel und die Wolken schienen sich zustimmend zu teilen.
Die anderen Anwesenden beobachteten staunend, wie der Prinz seine Augen schloss und einen Gesang anstimmte. Zuerst klangen seine Worte sanft und weich, doch bald schon stieg seine Stimme an und wurde zu einem wundervollen, mächtigen Lied. Und als seine Worte erklangen, begannen seine Hände zu leuchten. Erst mit einem schwachen Licht, dann heller und heller, bis sie sogar die untergehende Sonne verblassen ließen. Heiliges Licht umfing den Friedhof wie der schattenlose Mittag.
Das Lied schwoll zu einem fiebrigen Gesang an. Der junge Priester erhob die Augen und die Stimme zum Himmel und bat das Herz des Universums selbst um seine göttliche Macht.
Plötzliche brachen fließende Strahlen heller als tausend Sonnen aus Anduins Fingerspitzen, drangen in den Körper des Königs ein und hüllten alles in einen leuchtend gelben Schein. Die Wachen sogen erschrocken den Atem ein, traten zurück und schützen ihre Augen, als Varians gesamtes Wesen in einem Sturm aus reinem Licht erbebte. Und in der Mitte all jener Geschehnisse war Anduin und hielt seinen Vater dicht an sich gepresst, als ein Wirbel aus unendlicher Schönheit zwischen ihnen tanzte.
Ganz im Gegensatz zu der intensiven, wirbelnden Energie, die um sie herum waberte, sprach der Prinz mit melodischer und sanfter Stimme, legte seine Hände auf die Stirn des reglosen Königs und begann friedlich zu beten.
***
Benedictus war ganz in seinem Element. Die Menge jubelte jedem seiner Worte zu. Eines Tages würde das Volk von Sturmwind erkennen, dass dieser Tag unvermeidlich war, dass die Welt durch ihn endlich mit diesen großen Ereignissen gereinigt würde.
Er streckte seine Arme zu den Massen aus, die an seinen Lippen hingen. „In diesem Moment, in dem ich vor Euch stehe, erleben wir finstere Zeiten. Die Grundfesten dieser Welt sind erschüttert. Azeroth wird nun durch ein göttliches Feuer geläutert. Noch lange werden wir diese Tage der Prüfung als Schmelztiegel erkennen, in dem ein neues Zeitalter geboren wurde!“
Die Menge jubelte, ohne zu wissen, warum, Benedictus lächelte in sich hinein und schloss zufrieden die Augen. Plötzlich erscholl erneut Jubel aus der Menge, jetzt sogar noch lauter als zuvor. Überrascht öffnete Benedictus die Augen wieder. Ein weiteres Jauchzen, nochmals lauter als zuvor. Der Erzbischof drehte sich um, um zu sehen, was die Meute so in Freude versetzte.
Zerzaust und blutüberströmt humpelten König Varian und Prinz Anduin auf die Bühne. Vor Erschöpfung gelang es ihnen kaum, sich gegenseitig zu stützen. Als die Leute erkannten, in welch schlimmen Zustand sie sich befangen, ging ein besorgtes Murmeln durch die Reihen, doch Varian hob die Hand in einer beruhigenden Geste, und die Menge verstummte.
Benedictus war vollkommen sprachlos, als er sich verbeugte und die Bühne für den König von Sturmwind räumte. Varian schleppte sich auf das Podium. Anduin half ihm, sich trotz seines geschwächten Zustands aufzurichten. Varian klopfte seinem Sohn auf die Schulter und nickte ihm anerkennend zu, als Anduin sich zu Jaina und dem Rest der Ehrendelegation zurückzog.
***
Plötzlich dämmerte es Varian, dass er nie die Zeit gefunden hatte, um seine Rede zum Tag des Gedenkens vorzubereiten. Der König hielt einen kurzen Moment inne, versuchte, trotz der Schmerzen zu lächeln, und erkannte erstaunt, dass er mit absoluter Klarheit ganz genau wusste, was er zu sagen hatte. Er deutete auf die gewaltigen Statuen um sie herum.
„Hört mich an, Volk von Sturmwind! Euer König steht vor Euch mit immer noch schlagendem Herzen, eine Trommel, die jeden Tag stärker wird, wenn sie die Entschlossenheit erblickt, mit der Ihr gewillt seid, unser Leben nach der Tragödie wiederaufzubauen. Genau wie diese Statuen immer noch stehen und über uns wachen, so wird auch Sturmwind jetzt und in Ewigkeit bestehen!“
Als ob die ersten Strahlen der Morgensonne plötzlich am Horizont auftauchten, explodierte die Menge mit dem hellsten Jubel, der je vor den Toren der großartigen Stadt der Menschen erschallt war.
„Wir haben uns heute am Tag des Gedenkens versammelt, um die Helden zu ehren, die uns durch das Licht ihres Lebens und den Ruhm ihrer Taten den Weg gewiesen haben.“
Die Menge antwortete mit begeistertem Applaus.
„Uther Lichtbringer!“
Das Jubeln wandelte sich in ein wildes Gebrüll.
„Anduin Lothar!“
Die Ehrbekundungen überschallten alles, während Varian geduldig wartete, bis der Jubel nachließ. Er war überwältigt vom Stolz auf sein Volk und seine Stadt. Doch nun schlug seine Stimme einen traurigeren Ton an.
„Erneut stehen wir einer großen Gefahr gegenüber.“ Der König zeigte auf die beschädigten Türme. „Selbst jetzt tragen wir die frischen Narben böser Mächte, die unsere Vernichtung herbeisehnen.“ Varian erhob die Stimme, damit alle ihn hören konnten. „Doch die Menschheit lässt sich nicht so leicht einschüchtern! Wir stehen in der Bresche und halten die Front! Wir lassen uns niemals zu Sklaven unserer Furcht machen!“
Die versammelte Menge schrie in wilder Euphorie. Auf der Bühne hinter dem König applaudierten die Mitglieder der Delegation einmütig. Alle Streitigkeiten und Beschwerden schwanden in diesem furiosen Moment. Als die Menge weiter brüllte, blickte Varian zu Jaina und Anduin und musste gegen seine eigenen, tiefen Gefühle ankämpfen. Er richtete das Wort wieder an die Menge. Seine Stimme war weicher und väterlicher, so wie das Volk von Sturmwind sie noch nie gehört hatte.
„An diesem Tag dürfen wir nicht nur des Guten gedenken, sondern müssen uns auch an das Schlechte erinnern, denn nur Not und Fehlschlag können uns dazu bringen, unser Bestes zu geben. Ich selbst war ein ... abwesender König, der unsere Feinde mitten im Herzen der Unterwelt jagte. Eure Sicherheit ist meine wichtigste Verantwortung, und Euer Wohlergehen meine erste und einzige Pflicht. Denn die Wahrheit ist, dass nicht das Volk seinem König dient, sondern der König seinem Volk!“
Erneut brachen die Leute in Jubel aus. Rosen flogen auf die Bühne und Glückwünsche erschallen aus jeder Ecke der Menge. Es war klar, dass die Leute sich mehr um ihren König sorgten, als ihm bewusst war. Diese Erkenntnis bewegte ihn tief.
„Ich war nicht immer der beste Herrscher ... oder Vater ... oder Ehemann.“ Varians Augen wurden vor Erinnerungen glasig. Er drehte sich zu seinem Sohn um und nickte.
„Ein weiser Mann sagte einst: 'Jeder von uns muss in jede Richtung wachsen, jeden Tag'. Nun, es steckt noch immer ein wenig Kraft zu wachsen in meinen alten Knochen. Und hinter mir sehe ich eine Stadt, die sich aus der Katastrophe erhebt, mit neuer Hoffnung und glänzenden neuen Türmen!“
Jetzt jubelten die Architekten und Steinmetze am lautesten. Varian hob die Hand, um fortzufahren.
„Ja, wir ehren die Vergangenheit, aber unsere Augen blicken fest auf eine bessere Zukunft! Eine, die wir gemeinsam schmieden, für uns selbst, für unsere Kinder und für unserer Kindeskinder!“
Im nachfolgenden Aufbrausen vermischten sich Liebe und Hoffnung zu einem mächtigen neuen Gebräu. Varian ließ den Blick über die Menge wandern und sah so viele junge Gesichter, die zu ihm aufblickten, Kinder, die bald schon ihre eigenen Aufgaben bewältigen und die Welt auf ihre ganz eigene Art zu einem besseren Ort machen würden.
„Jeder Generation ist es bestimmt, ihr eigenes großes Versprechen zu erfüllen. Und ganz sicher wird jede Generation sich ihren eigenen Prüfungen und Widrigkeiten stellen müssen. Einige werden sich vielleicht sogar sicher sein, dass das Ende bevorsteht. Doch es ist nichts Wahres an der Lüge aus den Gasthäusern, dass die 'guten alten Tage' ein für allemal vorbei seien. Nein! Jeder Tag, an dem wir leben, ist ein großartiger Tag! Und jede Generation findet ihre eigenen Wege, um die großartigste Generation zu werden, die je auf dieser Welt gewandelt ist!“
Als die Meute toste, warf der König der Ehrendelegation einen verstohlenen Blick zu. Jaina lächelte und Anduin klatschte lauter als alle anderen Beifall. Das silberne Medaillon seiner Mutter tanzte freudig an seiner Kette. Das Gesicht des jungen Mannes strahlte vor Stolz und noch etwas anderem: Liebe.
Varian fühlte sich in seinem Kampf um die Sicherheit der Welt nicht mehr alleine. Das Blut seines Vaters floss in seinen Venen, und sein eigenes in Anduins. Varian fühlte die Wärme und den Trost seiner Ahnen über den großen Graben hinweg. Sie verliehen ihm die Stärke, König zu sein, und eines Tages würden sie Anduin die Macht verleihen, sein eigenes Schicksal zu erfüllen. Varian lächelte seinen Sohn an und wandte sich dann mit einem Gefühl der Gewissheit der Menge zu, die die leeren Stellen füllte, welche so lange an seinem Herzen genagt hatten.
„In der Vergangenheit haben wir uns auf Stärke und Stahl verlassen, um unseren Weg zu schmieden. Wir schützen, was wir können, und zerstören, was wir müssen. Doch das ist nicht der einzige Weg. Wenn wir diese Welt jemals wiederherstellen wollen, muss eine Zeit kommen, in der die Anführer Azeroths nicht mehr die Krieger sind, sondern die Heiler! Diejenigen, die lindern können, statt zu zerbrechen. Nur dann können wir die tiefsitzenden Krankheiten heilen und dauerhaften Frieden erreichen.“
Von allen Seiten erklangen Rufe des Zuspruchs. Sogar Baron Lescovar und seine adligen Speichellecker standen und jubelten, von der Macht und dem Stolz der königlichen Vision mitgerissen. Varian Wrynn erhob beide Hände, um die Zuschauer ein letztes Mal zum Schweigen zu bringen, und zeigte dann erneut auf die großen Statuen im Tal.
„Schaut hinauf! Unsere alten Helden stehen aufrecht, um am heutigen Tage ihre rechtmäßige Ehrung zu empfangen. Doch jetzt schaut neben Euch. An Eurer Seite, in dieser Menge, stehen all die Helden von morgen! Ihr ... und Ihr ... und Ihr. Jeder von Euch wird eine Rolle spielen. Jeder von Euch wird von Bedeutung sein, Einige werden an einem eigenen Gedenktag für Taten geehrt, die weitaus großartiger sind, als wir es uns heute überhaupt vorstellen können!“
Die jüngeren Generationen ließen ihr Brüllen in der Menge erschallen. Unschuldige Augen leuchteten mit dem Versprechen und der Aufregung von heldenhaften Abenteuern, die sie erwarten. Sogar der raue Feldmarschall Afrasiabi gab vor, dass das in seinem Auge eine Mücke und keine Träne war.
„Also, Bewohner von Sturmwind! Wir wollen uns an diesem Tag vereinen! Lasst uns unser Versprechen erneuern, das Licht zu bewahren und beschützen. Gemeinsam werden wir uns diesem neuen finsteren Sturm stellen und ihm widerstehen, wie es die Menschheit immer getan hat ... und immer tun wird!“
Den größten Jubel hatte die Menge sich für das Ende aufgespart. „Lang lebe König Varian! Lang lebe König Varian!“, stieg ihr Gesang voller Inbrunst und Überzeugung zum Himmel auf. Das Tosen fand kein Ende, hallte tief in die Wälder von Elwynn hinein und war sogar noch leise an den fernen Gipfeln des Rotkammgebirges zu hören.
Als Varian sich in der Wärme seines Volkes sonnte, fühlte er sich zum ersten Mal seit Jahren wirklich zuhause. König Varian Wrynn bemerkte seine Freude über sein großes Glück, ein Vater zu sein, die unglaubliche Ehre, der König von Sturmwind zu sein und – nicht zuletzt – den unbändigen Stolz, ein Mensch zu sein.
Velen: Die Lektion des Propheten von Marc Hutcheson
Die vom Sitz der Naaru aufsteigende Energie verlieh selbst den blutrünstigsten Kriegerpilgern inneren Frieden und ließ auch die abgestumpftesten Bewohner Azeroths vor Ehrfurcht erstarren. Die Gestalt, die vor dem Sitz schwebte, hatte schon lange in dieser Säule aus strahlendem Licht Trost gefunden. Velen hielt von seiner Meditationskammer aus Ausschau nach Erkenntnissen ... Er suchte nach Verbindungen, großen und kleinen, in denen er die Linien der Zukunft erkennen konnte. Doch in den vergangenen Monaten hatten diese Linien sich immer bruchstückhafter angefühlt.
Als der Prophet der Draenei meditierte – im Lotussitz und die Hände auf den alten Knien ruhend – glühten, pulsierten und wirbelten die Kristalle, die seine Energie widerspiegelten, um ihn herum, nicht in Mustern, sondern in wildem Chaos. Und die Visionen, die unendlichen Möglichkeiten der Zukunft, überfielen ihn wie eine Flutwelle.
Eine ebenso müde wie schmutzige Gnomin zog ein seltsames Gerät durch den Staub der Scherbenwelt und hinterließ dabei zwei Spuren, die sich scheinbar endlos hinter ihr durch die Dünen zogen. Ihre Energie in Tuch gehüllt, sahen einige Astrale zu, wie sie sich abmühte, ohne ihr zu helfen oder ihren hart erkämpften Fortschritt aufzuhalten.
Verteidiger Maraad kämpfte mit seinem gewaltigen Kristallhammer gegen einen unsichtbaren Feind und fiel auf die Knie, als ihm eine Lanze aus schwarzer Finsternis durch die Brust gestoßen wurde. Öliger, morbider Rauch umspielte die Schneide der Waffe.
Die riesige, gepanzerte Gestalt Todesschwinges flog über eine verbrannte Welt und landete auf einem verkohlten Baum, der so groß war, dass es sich nur um Nordrassil handeln konnte. Bittsteller in dunkelroten Gewändern standen aufgereiht da und stürzten sich in einen Vulkanspalt in der Erde.
Med'an – Wächter von Tirisfal – weinte und die Tränen in seinem Orcgesicht wirkten so fehl am Platz. Sein Blick war so verletzlich, dass er das Herz eines jeden gebrochen hätte.
Aber nicht das von Velen.
Der Prophet hatte bereits vor langer Zeit gelernt, sich von seinen Visionen zu lösen, um nicht wahnsinnig zu werden. Er besaß das dritte Auge der Prophezeiung schon so lange, dass diese Vorahnungen für ihn inzwischen so selbstverständlich waren wie das Atmen. Die Kristallsplitter von Ata'mal hatten aus ihm einen Wächter unzähliger paralleler Universen gemacht, manchmal bis zu ihrem Niedergang in Finsternis, Eis oder Flammen. Velen trauerte nicht um diese Versionen der Zukunft, trauerte auch nicht um deren Auslöschung und jubelte auch nicht vor Freude, wenn sie siegreich waren. Er las sie einfach, beobachtete ihre verwobenen Fäden, suchte nach dem Weg zum endgültigen Triumph, wo das Leben und das Licht die Dunkelheit zurückgedrängt und alles vor der Zerstörung bewahrt hatten. Was zählten schon die kleinen Ereignisse, die von den meisten Sterblichen gepriesen wurden – selbst von seinen Draenei – gemessen an der überwältigenden Verantwortung, das Überleben der Schöpfung zu sichern?
Velen suchte unter den schnell aufeinanderfolgenden Bildern einen Anhaltspunkt, einen Ausgangspunkt für den Weg. Aber er bekam ihn nicht zu fassen.
***
Anduin Wrynn kniete auf der weichen Erde. Seine Hände ruhten auf einem Peitscher, einer der wenigen übrig gebliebenen Mutationen vom Absturz der Exodar auf Azeroth. Zwei Draenei flankierten die Kreatur, bändigten sie für den Prinzen. Mit sanfter Kraft hinderten sie den Peitscher daran, sich zu befreien und vor dem kanalisierten Licht aus den Händen des Knaben zu fliehen. Die Draenei hatten es sich einst zur Aufgabe gemacht, die Zerstörung durch ihr Erscheinen in der Welt zu beseitigen, aber als sie es schon fast geschafft hatten, hatten sie bemerkt, dass ihre Kräfte anderswo gebraucht wurden – erst im Krieg gegen die Brennende Legion, dann auf dem Marsch in das eisige Reich des Lichkönigs und nun ... im Kampf gegen die Folgen des Kataklysmus.
Einige der deformierten Monster waren in dem großen Durcheinander übersehen worden und irrten nun verwirrt und von Schmerzen geplagt umher, da sie durch ein schreckliches Ereignis von ihrer eigentlichen Natur abgekommen waren. Das erste Mal, als Anduin ein solches Monster sah, empfand er keine Abscheu, sondern Bedauern. Ich muss helfen. Ich muss es versuchen. In der ersten Pause seiner Lektionen bei Velen stürzte sich der Prinz in die Wildnis der Azurmythosinsel, seine draeneiischen Wachen im Schlepptau. Jetzt dienten sie als einfache Fesseln, während er das Licht anflehte, den Mutanten zu heilen und dessen Wahn zu lindern. Anduin verstand nicht, was dem Geschöpf fehlte. Aber das brauchte er auch nicht.
Das Licht wusste es. Seine Kraft strömte durch den Körper des jungen Prinzen, benutzte ihn als Medium, um die sich unter seinen Händen windende Kreatur zu heilen. Beim Heilen fühlte sich Anduin immer wie der passende Schlüssel im Schloss, wie das richtige Werkzeug. Und er hatte in der Zeit, die er bei den Draenei verbracht hatte, sein Talent bereits unter Beweis gestellt. Sein Vertrauen war unter der Anleitung des alten Volkes gewachsen, ganz besonders unter der Anleitung des Alterslosen, des Propheten. Ob Ihr es nun so seht oder nicht, Vater, ich hatte recht. Magni hatte recht. Dies ist meine Bestimmung.
***
Der Gedanke stimmte ihn traurig. Er liebte seinen Vater, aber die Kluft zwischen Varian und Anduin war einfach zu groß, was Temperament und Erfahrung betraf. Warum könnt Ihr es nicht einsehen, Vater? Ich bin nicht wie Ihr. Und was ist daran falsch? Kann man denn aus Unterschieden nichts lernen? Könnt Ihr von mir nichts lernen?
Anduin bedauerte ihr Zerwürfnis. Sein Vater hatte darauf bestanden, ihn wie ein Kind zu behandeln, obwohl der Prophet, Magni und die anderen mehr in ihm sahen und seine aufkeimende Stärke erkannten. Anduin und sein Vater hatten bei dem Gipfeltreffen der Allianz in Darnassus einen Streit gehabt. Varian hatte ihm wehgetan, als er seinen Arm mit eisernem Griff umschlossen hatte. Der stolzeste Moment in Anduins Leben war, als der Prophet nach dem Streit mit seiner übernatürlich sanften Stimme zu ihm sprach und ihn einlud, in der Exodar als sein Schützling zu lernen.
Warum konntet Ihr nicht einsehen, dass ich gehen musste, Vater? Warum habt Ihr die Ehre dieser Einladung nicht erkannt?
Anduin konzentrierte seine Gedanken wieder auf die Gegenwart, auf die Bedürfnisse des Peitschers, und nicht länger auf sein Selbstmitleid. Beim nächsten Herzschlag versprach er sich, niemals die Ehrfurcht vor dieser Erfahrung zu verlieren. Das Heilen wurde häufig als etwas Gewöhnliches betrachtet, ein Wunder, das zu einer alltäglichen Sache geworden war, aber Anduin kannte die heilende Kraft des Lichts und war ganz anderer Meinung. Jedes Leben, jedes einzelne Leben, war ein Wunder.
Vor dem Prinzen stand nun eine wunderschöne, großblättrige Pflanzenkreatur, in violetten und grünen Farbtönen, aufrecht und stark. Die Draenei ließen sie los. Einer von ihnen verneigte sich vor ihm, in Anerkennung dessen, was der Junge vollbracht hatte.
Anduin vernahm ein Geräusch hinter sich und schreckte nun vollständig aus der Trance der Heilung auf, um zu bemerken, dass er mit seinem königlichen Hinterteil im Matsch saß. Wie würdevoll, dachte Anduin. Das würde Vater gefallen.
Der Prinz sprang auf die Beine. Ihm gegenüber stand ein schwer gerüsteter, großer Draenei – ein Schild, ein Mitglied von Velens Leibgarde. „Der Prophet wünscht Euch zu sprechen, Prinz Anduin“, war alles, was er sagte.
Zunächst waren die Flüchtlinge einzeln und zu zweit und voller Demut erschienen, in kaputten Booten und auf selbst gebauten Flößen, um den Sprung ins Unbekannte zu wagen und vor dem bekannten Grauen zu fliehen. Es hatte sich das Gerücht verbreitet, dass die Draenei dem Auseinanderbrechen der Welt standhalten würden, dass die Azurmythosinsel Schutz böte. Und für die meisten dieser Flüchtlinge war dieses Gerücht besser als die grausame Realität. Am Anfang halfen die Draenei so gut sie konnten, sie gewährten den Flüchtlingen außerhalb der Exodar Zuflucht, heilten sie und teilten Nahrung und Wasser mit ihnen. Aber dann schickten die Flüchtenden Nachrichten an ihre Freunde und Familien und in ganz Kalimdor war zu vernehmen: Der Prophet beschützt die Azurmythosinsel. Der Prophet hat den Kataklysmus vorausgesehen und wird alles in Ordnung bringen. Und statt ein oder zwei Flüchtlinge kamen zehn oder zwanzig ... und schließlich Hunderte. Das Lager platzte mit tausend Flüchtlingen aus allen Nähten und die Draenei hatten das Gefühl, nicht länger helfen zu wollen und zu können.
Die Stimmung im Lager wurde allmählich immer düsterer. Der Prophet möchte uns nicht sehen. Die Draenei halten ihn in den Kammern ihres Schiffes versteckt. Sie sehen mit ihren Hufen wie Dämonen aus, nicht wahr?
Anduin hatte viel Zeit unter den Flüchtlingen verbracht, hatte sie geheilt, so gut er konnte, und immer mehr Vertrauen in das unendliche Licht erweckt, hatte leise Ratschläge erteilt und Entscheidungen getroffen, sodass viele Erwachsene in seiner Anwesenheit verblüfft waren ... und ein wenig beunruhigt, wenn er nicht da war. Der Prinz hatte viele Male gefragt, warum sich diese verängstigten Seelen nicht in den Schutz seines Vaters und in die Sicherheit von Sturmwind begeben hatten. Sie antworteten ihm mit abgewandtem Blick, nannten seinen Vater einen großen und wahren König, sagten aber auch, dass ihm die Gabe fehle, wie der Prophet in die Zukunft blicken zu können. Wir wollen Euch nicht beleidigen, schwang es zwischen den Zeilen mit, aber Euer Vater ist nur ein Mensch. Der Prophet ist mehr. Nach einiger Zeit und vielen Gesprächen erkannte Anduin plötzlich, dass die Flüchtlinge nicht nur wegen der großen Ehrfurcht vor einem Propheten gekommen waren, den sie nicht kannten. Diese Leute stammten vom Rande der Gesellschaft. In ihren Augen war die Regierung eine Institution, die es eher zu fürchten galt, als dass man sich in ihren Schutz begeben würde. Irgendwann stellte der Prinz keine Fragen mehr.
Und so erkannten ihn viele wieder, als er für sein Treffen mit Velen durch das Lager geführt wurde. Er war zwar allen bekannt, doch er war keiner von ihnen. Er spürte die Distanz, die durch sein königliches Blut bestehende Kluft, seine Stärke des Lichts und das Trauma seiner Kindheit. Manchmal war ihm etwas wehmütig zumute, dass er nicht ... normal war. Aber er spürte trotz der vielen Herausforderungen und seltsamen Energien, welche die Pubertät mit sich brachte, dass diese Unterschiede notwendig waren. Er musste eine besondere Rolle erfüllen, er musste sein Volk anführen und beschützen und das war weder ein Privileg noch seine persönliche Stärke. Es war seine Pflicht.
Die Flüchtlinge waren alle Menschen. Die Zwerge waren ohne Zweifel zu stolz, um ihre Heimat zu verlassen; die Nachtelfen ließen sich von Todesschwinges Zorn nicht beeindrucken; und die Gnome waren ... nun, sie waren eben Gnome. Warum sollte ihnen geschmolzenes Feuer und Erdbeben Angst einjagen, wenn jede Fehlfunktion eine Explosion auslösen konnte?
Die Flüchtlinge waren verängstigt, hungrig und krank. Sie wurden regelmäßig von Fieber geplagt und der junge Prinz setzte sein Können ein, wenn Epidemien das Lager heimsuchten. Trotz aller Bemühungen konnte er die leisen Kommentare nicht vergessen, die er aufschnappte, als er an einer Flüchtlingsgruppe vorbeiging, die im Kreis saß und außer müßigem Schwätzen nichts Nützliches zu tun hatte. „Schoßhund der Fremden“, sagte einer. „Der Prophet empfängt den Jungen, uns aber nicht?“, war die Antwort. Der Rest der Unterhaltung ging im Vorbeigehen unter. Anduin verbrachte viel Zeit damit, die Leute zu beobachten. Er sah, wie sich ihre Seelen in den Gesichtern widerspiegelten. In vielen Augen der Flüchtlinge konnte er dieselben Anschuldigungen sehen, die er nur wenige Augenblicke zuvor gehört hatte. Das Gerede im Lager war gegen ihn und es fiel ihm schwer, seinen Ärger zu unterdrücken. Ich habe doch nur geholfen, dachte der Prinz.
Aber dann kamen ihm unliebsame Zweifel. Warum spricht Velen nicht mit ihnen?
***
Die Erinnerungen an die eisige Luft und an den toten Norden fielen langsam vom Reiter des Greifen ab, als er durch das warme Klima Kalimdors flog. Die Last des Greifen war schwerer und ruhiger, als es das Tier gewohnt war. Normalerweise waren die Erdgebundenen durch die neue Perspektive aus der Luft verängstigt oder sie fürchteten sich vor den schnellen Flugmanövern, die für die Fliegenden selbstverständlich waren. Selbst wenn der normale Reisende kaum laut redete, verrieten kleine Geräusche oder die Anspannung der Beine dem sensiblen und aufmerksamen Greifen alles. Im Gegensatz dazu strahle sein derzeitiger Reiter Ruhe und Gelassenheit aus.
Jemand, der viele Welten gesehen und am endlosen Kampf gegen die Brennende Legion teilgenommen hat, für den war ein Flug durch Azeroth nichts Besonderes. Verteidiger Maraad war so in Gedanken versunken, dass er die wunderbare Aussicht gar nicht wahrnahm. Der Norden war sicher, die Dunkelheit des Lichkönigs war besiegt und jetzt war die Zeit gekommen, seine Energien einem anderen Ziel zuzuwenden. Er hatte von der Rückkehr des Zerstörers gehört, von der Verheerung, der sich Azeroth stellen musste, aber er war ein Draenei – was bedeutete für ihn schon eine Welt? Die Legion, die Dämonenarmee, pirschte durch den Wirbelnden Nether heran und zerstörte wohl noch immer alles Leben, dem sie begegnete.
Als er im Mondschein über die Azurmythosinsel flog, schreckte er plötzlich auf, als er die vielen kleinen Lichter erblickte, die den Schein der Sterne nur schwach widerspiegelten. Einen Augenblick lang war Maraad von dem seltsamen Gedanken ergriffen, die kleinen Lichter seien eigene kleine Welten. Er bemerkte seinen Irrtum und blickte nach oben. Der Himmel war seine Aufgabe. Er war es schon immer gewesen.
War es ein Heer, das sein Lager bei der Exodar aufgeschlagen hatte? Warum habe ich davon nichts erfahren?
Der Greif flog durch das metallene Portal in den Rumpf der Exodar und sie wurden von Stephanos, dem Meister der Hippogryphen, begrüßt. Stephanos verbeugte sich leicht.
„Herzlichen Glückwunsch zu Eurem Sieg im Norden, Verteidiger. Es ist schön, dass ihr wieder zu Hause seid.“
„Zu Hause? Für uns gibt es kein Zuhause, Bruder. Nicht wirklich. Wir sind die Wanderer des Universums, die Vertriebenen der verlorenen Welt Argus. Das sollten wir nie vergessen. Was sind das für Lagerfeuer, die ich auf dem Weg gesehen habe? Wollte eine Armee unsere Insel angreifen?“
„Nein, Verteidiger. Das sind Flüchtlinge, die vor den Schrecken des Kataklysmus geflohen sind. Sie setzen ihre Hoffnung auf den Propheten.“
Maraad runzelte die Stirn, was sonst gar nicht seine Art war. „Das tun wir alle, Bruder.“
Der Verteidiger wartete keine Antwort mehr ab. Er ging zügig und ohne Umwege zum Sitz und dann, ohne anzuhalten, in Richtung von Velens Gemächern. Auf dem kristallinen Boden hallten seine Schritte laut wider und er ging an zwei Schilden vorbei, die vor dem Eingang Wache hielten. Maraad suchte nach Anzeichen, die auf ein Nachlassen der Wachsamkeit hindeuteten. Nie wieder, dachte er. Draenor war genug.
Erst als er die Tür zum Empfangszimmer des Propheten erreicht hatte, löste sich einer der Schilde aus seiner starren Position. Die Wache trat vor und verstellte ihm den Weg. Das kam nicht unerwartet.
***
„Ich bin Verteidiger Maraad, Mitglied des ehemaligen Befehlsstands der Allianz in Nordend“, sagte Maraad feierlich. „Ich wünsche eine Audienz beim Propheten.“
„Der Prophet empfängt niemanden, Verteidiger Maraad. Tut mir leid, dass ich Euch nach Eurer langen Reise nicht einlassen kann.“
Das kam wirklich unerwartet.
„Es ist immer noch früh am Abend. Ihr sagt also, dass der Prophet sich weigert, mich zu empfangen? Ich bin den ganzen weiten Weg aus Nordend gekommen und Ihr habt ihn nicht einmal gefragt.“
Dem Schild war das Unbehagen deutlich anzusehen. „Ich möchte mich erneut bei Euch entschuldigen, Verteidiger. Es lässt zurzeit niemanden herein.“
„Soll ich in der Frühe wiederkommen?“
„Davon rate ich Euch ab, Verteidiger. Der Prophet hat schon seit vielen Wochen außer dem Menschenprinzen niemandem eine Audienz gewährt. Ich werde Euren Besuch melden und Euch rufen, wenn sich an seinem Befehl etwas ändert.“
Maraad blickte den Schild mehrere Augenblicke lang mit unergründlicher Miene an, bevor er den Weg wieder zurückging, den er gekommen war.
***
Anduin stand in nachdenklichem Schweigen vor seinem Mentor. Es war ihm unmöglich, das Alter und die Weisheit von Velen zu begreifen, deshalb akzeptierte er ihn in seiner jugendlichen Unerfahrenheit als Naturgewalt – so wie die Sonne oder die Monde. Der Prophet hatte ihm den Rücken zugewandt und schwebte in einer Meditationshaltung, die der Junge schon viele Male in den Wochen zuvor gesehen hatte.
„Warum habt Ihr die Welt nicht vor dem Kataklysmus gewarnt?“, entfuhr es Anduin.
Der ihm zugewandte Rücken bewegte sich nicht. Weder ein Zusammenzucken noch ein Zusammensacken verrieten Velens Gedanken, aber in der Stille, die auf die Frage folgte, hing etwas in der Luft, etwas Schweres.
„Ich suche nach dem Weg, der an der Legion und ihrer Zerstörungswut vorbeiführt und vom Licht erhellt wird. Ich allein kann den Weg sehen. Ich allein kann ihn den Mächten des Lichts enthüllen!“
Anduin dachte über das gerade Gehörte nach. „Es scheint eine schreckliche Bürde zu sein. “
Der Prophet drehte sich langsam in der Luft, um den Prinzen anzusehen. „Deshalb wandle ich auf den Wegen der Zukunft. Die Legion und die Alten Götter brennen Löcher in das Gewebe der Zukunft, und wenn ich diese sehen kann, kann ich die sterblichen Völker vorbereiten. Noch können wir das Unheil womöglich verhindern.“
„Was, wenn Ihr versagt?“
Für einen Moment schwand Velens alterslose Gelassenheit und verwandelte sich für einen flüchtigen Augenblick in Schmerz und Trauer von überwältigendem Ausmaß, welche durch die vorausgehende und nachfolgende Ruhe nur umso schrecklicher wirkten.
„Lass mich dir etwas zeigen“, flüsterte der uralte Draenei. Er richtete sich auf und schwebte näher zum Boden. Immer noch einige Zoll über dem metallenen Boden der Exodar schwebend, näherte sich der Prophet nun vollends und legte seine Hand auf die Stirn des Prinzen.
„Es tut mir leid. Aber es muss sein“, sagte der Prophet.
Die Exodar verschwand. Zurück blieben nur gewaltige Flächen völliger Dunkelheit, durchbrochen von vereinzelten Lichtern und mystischen Energien. Dann, eine plötzliche Ruck, und Anduin fand sich auf fremdem Boden unter einem unbekannten Himmel wieder. Da waren vier unübersehbare Monde, welche um seine Aufmerksamkeit buhlten, eine bernsteinfarbene Atmosphäre und auf tausenderlei Arten gewundene Felsformationen aus demselben Gestein wie der blaugetönte Boden. Anduin konnte kein Wasser sehen, aber die farbigen Felsen wirkten wie kämpfende Wogen, plötzlich erstarrt durch die Laune eines gottgleichen Künstlers. Über das Gelände verstreut und durch die Luft wirbelnd waren Geschöpfe, so vielfältig und fremdartig, dass sie jeder Beschreibung spotteten. Farben und verschiedene Arten der Fortbewegung und Muster, geformt durch Tanz oder Spiel oder Krieg ... kaum etwas davon ergab einen Sinn, und Anduin rang einfach nur darum, dieses wundervolle, abstrakte Chaos zu begreifen.
Und das Licht! Er konnte fühlen, wie es ihn umgab, stärker noch als auf Azeroth, pulsierend und durch die fremden Kreaturen scheinend.
Der Himmel verfinsterte sich. Zuerst zu einem wütenden Rot, welches den bernsteinfarbenen Himmel überflutete wie eine Vorahnung des Untergangs. Nach einigen Augenblicken begann die Farbe, sich in ein noch widerwärtigeres Grün zu wandeln. Flammende Kometen stürzten brüllend aus den kranken Himmeln und trafen die Erde, und ließen sämtliche armen Geschöpfe panisch davonlaufen. Die Kometen erhoben sich dräuend und schrecklich aus ihren Kratern und begannen mit rücksichtsloser Grausamkeit, Tod herabregnen zu lassen. Ein Riss öffnete sich nahe dem Prinzen in der Luft und eine Flut des Schreckens quoll hervor: geflügelte Dämonen und verführerische Sukkuben, mit grüngelben Flammen und machtvollen Zaubern alles vernichtend, was sich ihnen in den Weg stellte. Nachdem die Armee der Finsternis Aufstellung bezogen hatte, durchschritt eine gigantische Gestalt den Riss, welche zu sehr einem Draenei ähnelte, als dass es der Prinz hätte übersehen können.
Dieses letzte Geschöpf machte die ihn umgebenden Felsformationen dem Erdboden gleich, räumte einen Platz frei, wo er im Staub seiner Zerstörung knien und Symbole schrecklicher Macht mit seinem Klauenfinger zeichnen konnte. Als er endete, gab es einen Moment vollkommener Stille, als das Gemetzel innehielt und die gesamte Welt in entsetzter Stille wartete.
Und dann – eine Explosion.
Die entfesselten Kräfte rissen die Oberfläche der Welt auseinander und Anduin fand sich wieder, wie er aufschrie und seine Arme im Schrecken in die Luft warf, aber die Zauber fuhren durch ihn hindurch, ohne ihn zu verletzen. Die Legion marschierte zurück in das Portal, kehrte heim in das dunkle Geflecht der Wohnstätte der Dämonen, und alles, was sie zurückließ, war ... nichts. Zumindest nichts Lebendiges. Sogar die wundersamen Felsformationen – Anduin würde nun nie mehr erfahren, ob sie natürlichen Ursprungs waren oder von den fremden Lebensformen erschaffen, welche er gesehen hatte – waren verschwunden. Es gab nur noch Asche und Trümmer. Selbst der Himmel hatte sich zugezogen und verbarg die vier Monde.
Dann endete die Vision barmherzigerweise.
Anduin stand wieder vor dem Propheten, und obwohl er sich gegen den Drang wehrte und wütend auf sich war, weinte er.
„Der Trauer über so viel Verlust muss man sich nicht schämen“, sagte Velen sanft.
„Welche Welt war das? Wann ist das geschehen?“, fragte der Prinz durch seine Tränen hindurch.
„Ich kenne ihren Namen nicht. Ihre Bewohner sprachen nicht auf eine Art, die wir verstehen, und keines der sterblichen Völker dieser Welt ist jemals dort gewesen. Ich nenne sie Fanlin'Deskor: Bernsteinfarbene Himmel über Wundersamen Felsen. Angesichts der Tatsache, dass ich bezweifle, dass die Legion ihre Opfer zählt – oder gar geruht, ihrer zu gedenken – sind wir wahrscheinlich die Einzigen im Universum, die wissen, dass sie überhaupt einmal existiert hat.“
„Wie traurig“, sagte Anduin.
„Ja. So das Licht es will, werde ich, wenn der letzte Sieg errungen ist, in einem Turm sitzen, erbaut auf einer der verlorenen Welten, und sie alle als Teil meiner Buße aufzeichnen.“
„Buße? Wofür? Was habt Ihr getan, außer zu helfen, Velen?“
„Vor langer Zeit habe ich darin versagt, meine Brüder auf den richtigen Weg zu bringen. Und die Schöpfung zahlte den Preis.“ Velen wechselte das Thema und kehrte zu dem Grund zurück, aus welchem er Anduin die Vision gezeigt hatte. „Meine Absicht war es, dir die Folgen einer Niederlage aufzuzeigen. Als wie schrecklich sich der Kataklysmus auch erwiesen hat, was für ein furchtbarer Feind Todesschwinge auch sein mag, unser Krieg ist ein weitaus größerer Kampf. Es ist nicht nur eine Welt, die wir verteidigen, sondern alle.“
Anduin wusste immer, dass seine Lektionen beendet waren, wenn der Prophet seine meditative Haltung wieder einnahm und die Energien des Sitzes anstarrte. Als der Prinz die Tür des Gemachs öffnete und sich daran machte, herauszuschlüpfen, drang eine letzte Verkündigung des Propheten aus dem Raum.
„Und, mein junger Freund, es ist eine schreckliche Bürde.“
***
Der nüchterne Tonfall dieser letzten Worte verfolgte Anduin für den Rest des Tages und bis spät in die Nacht hinein. Er warf sich von einer Seite auf die andere, gegen den Schlaf ankämpfend, der sich sonst so leicht einstellte. Als er der Müdigkeit endlich erlag, ereilten ihn seine Träume in gestochen scharfen, lebendigen Bildern.
***
Dämonische Feuer und zerbrochene Welten rasten über einen schwarzen, sonnen- und mondlosen Himmel. Alle Lichter des Universums waren dunkel, wie die Kerzen eines Heiligtums, ausgelöscht durch den kalten Kuss des Windes. Und dennoch – mehr noch als die Abwesenheit des Lichts – war es die Stille, die Anduin beunruhigte. Ein lebendiges Universum sollte – konnte nicht so ruhig sein.
Der erste Gedanke, der ihm in den Sinn kam, während er das Ende aller Tage betrachtete, war, dass er weder seinen Vater jemals wiedersehen würde ... noch die Gelegenheit dazu haben würde, die Kluft zu schließen, die sie trennte. Und dann, diesen Gedanken mit dem ihm innewohnenden Mitgefühl ausweitend, dachte Anduin daran, dass kein Sohn irgendwo im Universum jemals fähig wäre, einem Vater zu sagen, dass er ihn liebte, oder die heilenden Worte zu sprechen: „Es tut mir leid.“ Jenseits der Stille und der ausgelöschten Sterne war es der Tod der Möglichkeit, der Hoffnung, welcher den tiefsten Schrecken barg.
Und dann, ein Geräusch. Zuerst war es nur ein Erzittern der Nacht, aber sogar diese zarte Beunruhigung der Luft war stark und klar. Ein Glühen erhob sich, dann mehrere; aus einer Schwingung wurden viele, alle in verschiedenen Tönen, und die Bilder und Klänge verschmolzen zu einer steigenden Flut aus Regenbogen und Melodie. Lichtwesen umgaben Anduin, retteten ihn vor der Dunkelheit und sangen ihm von Hoffnung in einem Chor, der das Universum wiederherstellte.
Inmitten des Geschehens erschien das Gesicht eines der Flüchtlinge, ein Mann, welchen der Prinz viele Male gesehen hatte, aber dessen Name er nicht kannte. Die Wesen um Anduin sagten (sangen), „Jedes Leben ist ein Universum.“
Er erwachte schweißgebadet, seine Haare verklebt von der Intensität des Traumes (Vision, es war eine Vision gewesen ...), und dennoch fühlte er sich getröstet durch das, was er gesehen hatte. Er schlief wieder ein und versank in gnädig unbemerkenswerten Träumen.
***
Maraad stand in einem großen, runden Raum, in dessen geschwungene Wände glühende Runen gemeißelt waren. Drei uralte (obschon ungebeugte) Draenei beherrschten die Mitte des Raumes, ihre anmutigen, schönen Rüstungen hellglänzend poliert. Sie waren umgeben von mehreren Paladinen und Verteidigern, die sich den Dreien auf dezente Art fügten, ihr Gehorsam von einer Pyramide der Macht herkommend, welche kein Ego duldete, weder an ihrer Spitze noch ihrer Basis.
Diese drei waren das Dreigestirn der Hand – Boros, Kuros und Aesom – und die anderen im Raum waren die Elite der Draenei: die Hand von Argus. Maraad hatte seit seiner Ankunft erfahren, dass das Dreigestirn aus demselben Grunde wie er zur Exodar war: Im Bestreben, den Kontakt zu ihren Brüdern auf Azeroth wiederherzustellen und den weiteren Weg ihres Volkes im Angesicht der jüngsten Ereignisse zu bestimmen.
Es war viel zu lange her, dass Maraad vor dem Dreigestirn erschienen war, im Rat der Führerschaft der Draenei gesessen hatte. Er hatte vergessen, wie geordnet und gemessen ihre Rede untereinander war, wie tröstlich ihre Unterhaltung in ihrem vernünftigen Fluss – ohne die Wortspielereien und unvorhersehbaren Reaktionen der anderen Völker der Allianz. Der Gegensatz wurde mit voller Wucht in dem Moment klar, als die langwierige Diskussion über die Flüchtlinge und deren Notlage von Verteidiger Romnar sanft unterbrochen wurde. Romnar leitete den Reparatureinsatz des Dimensionsreiseschiffes der Draenei, derExodar, und als die Debatte sich in höflichen, aber unentschlossenen Kreisen um das Thema wand, wie man mit dem wachsendem Zustrom Fremder auf die Insel umgehen sollte, sagte er:
„Dies alles wird sich bald als unbedeutend herausstellen. Die Exodar ist so gut wie fertig.“
Eine Mitteilung, welche, hätte man sie an Bord der Himmelsbrecher unter der Führerschaft der Allianz in Nordend verbreitet, eingeschlagen hätte wie ein Blitz, und jeden veranlasst hätte, sich sofort in Wortgefechten zu verlieren. Stattdessen aber wurde die Nachricht mit zufriedenem Lächeln begrüßt und eine Hand legte sich auf Romnars Schulter. Gut gemacht, schien die Stimmung im Raum zu sagen.
„‚So gut wieʻ bedeutet wann?“, fragte Maraad.
„Eine Woche. Wir haben bereits alle Hauptsysteme repariert. Jetzt räumen wir nur noch auf und verstärken offensichtliche Schwachstellen.“
„Wir können unser Schiff in einer Woche erwecken? Was sagt der Prophet dazu?“, fragte Maraad.
Es herrschte unbehagliche Stille.
Maraad sagte ungläubig: „Er weiß es nicht?“
„Er weigert sich, auch nur irgendeinen von uns zu sehen“, erwiderte Aesom. „Eine Nachricht wurde bei den Schilden hinterlassen, aber wir haben keine Antwort erhalten.“
„Bin ich denn der Einzige, den das beunruhigt?“, fuhr Maraad auf. Innerlich wünschte er jedoch, noch während er die Worte sprach, er hätte geschwiegen. Ich war einfach zu lange fort von der Exodar, dachte er bei sich. Natürlich waren alle beunruhigt. Ihre Ruhe ließ keine Zustimmung erkennen, sondern Besorgnis.
Was tut man, wenn es aussieht, als wäre der Prophet vom Weg abgekommen?
Bevor auch nur irgendjemand etwas sagen konnte, wurden sie von einem Draenei unterbrochen, dessen Name Maraad nicht bekannt war.
„Die Flüchtlinge stehen vor unseren Toren. Sie verlangen, den Propheten zu sehen.“
Wie wir alle, dachte Maraad in einem Anflug schwarzen Humors.
***
Warum habt Ihr die Welt nicht vor dem Kataklysmus gewarnt? Die schlichte, logische Frage eines sterblichen Kindes hallte anklagend durch den stillen Raum und lenkte den Propheten von seiner Kontemplation des Lichtes ab. Velen war eher ausgewichen, als dass er geantwortet hätte, hatte eher verdunkelt als erhellt. Er war über sich selbst erstaunt. Bin ich noch in der Lage, zu täuschen? Nach all der Zeit? Innen wie außen?
Warum würde ein Prophet nicht vor einer Katastrophe warnen?
Er hatte ihn gesehen. Den gepanzerten Schatten der Nacht, der über Azeroth aufragte und die Welt mit Feuer und Schmerz verdunkelte. Doch ebenso hatte er Azeroths Ende in einem Dutzend verschiedener Untergangsszenarien gesehen, den Blick auf tausend kleinere Siege und Niederlagen durch die verschlungenen Wege der Zukunft erhascht. Und das Licht – der Leitstern, der Kompass, der Sinn, der ihm half, die unsicheren Meere seiner Visionen zu befahren – hatte nicht direkt auf den Kataklysmus gewiesen, ließ Todesschwinges zerstörerische Rückkehr nur eine Möglichkeit unter vielen sein. Welchen Nutzen hatte ein Prophet, der keinen Unterschied sah zwischen einer echten und einer falschen Vision?
Velen tat sein Bestes, um die Frage des Kindes aus seinem Bewusstsein zu drängen und seine Gedanken wieder auf die Genesung seiner Fähigkeit zu richten, die Wahrheit aus seinen endlosen Visionen herauszuschälen ... bevor er dem Wahnsinn anheimfiel oder es einfach zu spät war. Als der Schild, welcher seinem Raum als Wache diente, einmal mehr um eine Audienz für das Dreigestirn ersuchte, antwortete Velen nicht.
Er hatte die Exodar gesehen, repariert und in den Nether steuernd, von der Dunkelheit verschluckt und verloren.
Er hatte die Exodar gesehen, scheinbar repariert und beim Start explodierend, was den Großteil der Draenei tötete und die Azurmythosinsel in Schutt und Asche legte.
Er hatte die Exodar auf der Scherbenwelt landen sehen, und wie die Draenei ihre frühere Heimat im Exil heilten.
Er hatte gesehen, wie die Draenei ihr Dimensionsschiff reparierten, nur um es auf Azeroth vertäut zu lassen. Manchmal führte dies in den Schatten, und manchmal auch nicht.
Velen würde sich niemals dazu hinreißen lassen, Vermutungen auszusprechen, egal, wie wohlbegründet sie auch sein mochten. Ohne das wegweisende Licht fühlte er sich wie erstarrt. Soll das Dreigestirn entscheiden, dachte er bei sich.
Als endlich alle äußeren Störungen verschwunden waren, wandte er sich wieder nach innen, der verzweifelten Suche nach dem Weg zu.
***
Maraad stand einfach nur da und versuchte, seine Abscheu so gut wie möglich zu verbergen. Was Menschen anbetraf, so hatte er bisher zumeist mit den zwar gelegentlich ungestümen, aber doch immer mutigen Helden der Allianz in Nordend zu tun gehabt. Es war schwer zu glauben, dass diese liederlichen Kreaturen – vielen von ihnen fehlten Zähne und allen die Höflichkeit und Intelligenz, die man von einem bewussten Wesen erwartete – derselben Art angehörten, wie die Menschen, mit denen er Seit an Seit marschiert war.
***
„Wir woll'n den Prophet'n seh'n“, lallte eine der missgestalteten Fratzen in kaum erkennbarer Gemeinsprache. „Er wird alles in Ordnung bring'“
„Ist dies Euer gewählter Sprecher?“ Maraad konnte nicht anders, als die Frage laut zu stellen. Seine kaum verborgene Beleidigung blieb ungehört, oder zumindest unbeachtet.
„Der Prophet empfängt niemanden, mein Freund. Auch wir suchen seinen Rat in diesen dunklen Zeiten. Er wird sprechen, wenn er dazu bereit ist“, sagte ein Friedensbewahrer der Exodar.
„Das ist eine Lüge. Er empfängt den Prinzen von Sturmwind!“
„Prinz Anduin studiert unter Anleitung des Propheten die Wege des Lichts. Ihr solltet Euch geehrt fühlen – dankbar sein – dass der Alterslose einen der Euren lehrt. Wer weiß, welch großer Segen Eurem Volk dadurch zuteilwerden mag?“
„Hochmütiger Bastard! Wer seid Ihr, uns zu sag'n, dass wir dankbar sein soll'n, he? Wer'seid Ihr?Pferdefüßiger Dämon!“
Es konnte keine schlimmere Beleidigung für einen Draenei geben, als ihn an seine Verwandtschaft mit den Eredar der Legion zu erinnern. Die Augen des Friedensbewahrers verengten sich zu gefährlichen Schlitzen und seine Hand fuhr zu dem glänzenden Kristallschwert an seiner Seite. Unwillkürlich griff Maraad nach dem Schaft seines großen Hammers und diverse andere Draenei richteten sich auf und wandten sich der verlumpten „Gesandtschaft“ zu. Maraad sah, wie die Menschen instinktiv zurückwichen. Es mochte mit ihrem Verstand nicht weit her sein, das Tier in ihnen aber begriff den Ernst der Lage.
Der Friedensbewahrer entspannte sich zusehends und zog seine Hand zurück, als er die Furcht der Flüchtlinge erkannte. „Ich weiß, dass Ihr weit von Zuhause fort seid. Ihr seid hungrig und Eure Zukunft ist ungewiss. In solcher Not ist es ein weiser Entschluss, den Rat unseres Propheten zu suchen. Glaubt mir, mein Freund, dass ich aus tiefstem Herzen hoffe, dass er sich Eurer Sorgen annimmt. Doch eines müsst Ihr begreifen: Seine Wege sind unergründlich. Er wird zu Euch kommen oder auch nicht, ganz wie es ihm beliebt, aber man kann ihn nicht zwingen. Ich rate Euch, zu Euren Heimen im Lager zurückzukehren.“
„Welche Heime? Das sind nich' uns're Heime“, kam es unwirsch zurück. Das Aufgebot schlich murrend und mit finsteren Mienen davon. Die Menschen wären beinahe mit ihren Gastgebern aneinandergeraten und sie alle wussten es.
„Woher nehmen sie das Recht, uns über ein Leben im Exil zu belehren?“, fragte der Friedensbewahrer fassungslos.
„In der Tat, woher?“, pflichtete Maraad bei.
***
Umgeben von der Hand von Argus und deren Führerschaft, tat Maraad seine Meinung offen kund.
„Der Prophet wird seine Weisheit nicht mit uns teilen. Die Entscheidung liegt bei uns allein. Lasst uns den Krieg zur Legion tragen! Oder, sollte uns dies nicht gelingen, in unsere arme, gemarterte Scherbenwelt zurückkehren und ihre Heilung vollenden. Unsere zweite Heimat braucht uns, ebenso wie die Verirrten, die noch immer die Wüstenei durchwandern.“
Das Dreigestirn begegnete Maraad mit Schweigen, doch die kaum bemerkbaren Veränderungen in Mimik und Körpersprache der Anführer verrieten ihm, dass sie ihm insgeheim zustimmten. Trotzdem herrschte ein Gefühl des Unbehagens, dessen Ursprung dem Verteidiger nur allzu bekannt war ... denn er teilte es. Der Prophet sollte sprechen, unserem Beschluss seinen Segen geben.
„In einer Woche werden wir die Phasenkolben der Exodar erproben. Und sollte der Prophet bis dahin nicht gesprochen haben, werden wir Azeroth verlassen!“
***
„Wie gehen Eure Lektionen voran, Anduin? Macht Ihr Fortschritte?“
Seit Monaten schon erfreute der Prinz sich der ihm zuteilwerdenden Aufmerksamkeit, verzückt von der Gelegenheit, von dem zu lernen, der in ganz Azeroth dem Licht am nächsten stand. Doch nun, da Velens besonnene, gelassene Fragen in seinem Kopf widerhallten, flammte Wut in ihm auf.
„Wisst ihr nicht, was dort draußen geschieht?“, fragte Anduin erbost.
„Dort draußen geschieht immer irgendetwas“, kam mit sanfter Stimme zurück. Im gütigen Ton der Antwort schwang eine gewisse Schärfe mit. „Mir geht es allein um den Weg.“
„Was ist der Weg? Ein weit entfernter Krieg auf einer entlegenen Welt? Ihr werdet hier gebraucht. Und zwar jetzt. Habt Ihr deshalb niemals vor dem Kataklysmus gewarnt? War er Eurer Aufmerksamkeit einfach nicht wert? Sind wir für Euch alle nur niederes Gewürm? Oder, noch schlimmer, Figuren in einem Spiel?“
Seit einem ganzen Zeitalter hatte es niemand mehr gewagt, seine Stimme gegen den Propheten zu erheben. Überrascht davon – wie ihm dies im Umgang mit Menschen so oft ging – wie schnell das Kind, der Reife seiner Worte nach zu schließen, zum Manne zu werden schien, wandte er sich dem Prinzen zu. Und als er Anduin anblickte, veränderte sich die Welt.
Anstelle des Prinzen stand ein Krieger in Rüstung vor ihm, dessen Plattenhelm und Brustplatte von der Essenz des Lichtes selbst widerstrahlten. In der Hand des Kriegers war ein Schwert, geschmiedet aus demselben Material wie die Rüstung, das er, auf einem Felsvorsprung stehend, über sich reckte ... Ob es sich hierbei um Azeroth oder eine andere Welt handelte, vermochte Velen nicht zu erkennen. Und plötzlich war der dunkle Himmel von den vereinten Heerscharen der Völker Azeroths erfüllt. Die Blutelfen, Orcs, Trolle, Tauren und selbst die verfluchten Untoten und intriganten Goblins zogen auf allen nur erdenklichen fliegenden Reittieren über ihn hinweg. Sie führten magische Waffen und Rüstungen, die von so unbändiger Macht widerstrahlten, dass es Velens Augen Schmerzen bereitete, sie anzusehen. Neben den Legionen der Horde ritt das uralte Volk der Nachtelfen Seite an Seite mit Menschen, Zwergen und Gnomen, deren Ahnen die ursprüngliche Allianz gegründet hatten, und mit ihnen zogen die gestaltwandlerischen Worgen. Velens eigene Draenei verstärkten das Heer, ihre Reihen mit überirdischen Metallen bewehrt und kristalline Streitkolben und Schwerter schwingend.
Doch Allianz und Horde waren nicht allein.
Drachen tauchten herab und stiegen empor, in Formationen, die den Himmel wieden gigantischen, farbenprächtigen Flügel eines Reptils erscheinen ließen. Unter ihrer schieren Größe und Zahl verschwand der Horizont und als sie brüllend ihre Herausforderung erschallen ließen, erzitterte nicht nur der Boden unter Velens Füßen, sondern das gesamte Universum.
Doch all dies war nichts, gegen den Schock, der von Velen Besitz ergriff, als er gewahr wurde, was direkt hinter der Armee der Drachen heraufzog. Die Naaru zogen in die Schlacht, so viele, dass Velen unverständlich war, wie die Schöpfung sie überhaupt fassen konnte. Die Macht dieser Geschöpfe des Lichts erfüllte Velens Herz mit Hoffnung, schwemmte die Jahrhunderte der Einsamkeit hinfort und ließ ihn sich fragen, wie um alles in der Welt er jemals hatte glauben können, dass die Dunkelheit, wie schrecklich sie auch sein mochte, jemals hätte obsiegen können.
Und dann fiel ein Schatten über das Land.
Er war riesig und leer und verschluckte alles Licht, das in ihn drang. Velen wusste, dass er alles verschlingen würde, bis er zuletzt über sich selbst herfallen würde, bis in alle Ewigkeit im Dunklen Jenseits am Nichts nagend, bis er alles, was dem Universum Sinn gab, verzehrt hatte, von den herzzerreißendsten Sonaten bis zum ergreifendsten Sonnenuntergang. Es war so schrecklich, dass er es kaum ertragen konnte, hinzusehen, geschweige denn es zu verstehen vermochte, doch das Heer stürmte geradewegs darauf zu. Und das Licht begann zu verblassen ...
Vor dem Propheten stand ein einfaches Menschenkind, mit weit aufgerissenen Augen und feurigem Blick, das ihm irgendetwas Unverständliches entgegenwarf.
Der Prophet kehrte sich von Anduin ab, während sein Bewusstsein verzweifelt nach dem Licht zu greifen versuchte, dem Strang der Vision, die er gerade gesehen hatte, um zwischen all den zersplitterten Möglichkeiten den Weg zu finden. All dies erinnerte ihn eindringlich an die Wochen, die auf den Kataklysmus hinführten. Er bemerkte es nicht einmal, als der Prinz seine Gemächer verließ.
***
Für die Flüchtlinge verging eine Woche voller Anspannung. Die Draenei waren mit sich selbst beschäftigt, die Erprobung ihres geliebten Schiffes vorbereitend und voller Sorge wegen des Schweigens des Propheten. Die Flüchtlinge bemerkten den gesteigerten Eifer und spürten, dass etwas in der Luft lag. Doch ihre Unwissenheit um dessen Gründe nährte nur ihre finsteren Gedanken und ein Gerücht gab dem nächsten die Hand. Nur wenige Stimmen erinnerten die anderen an die Freundlichkeit, die ihnen die Draenei entgegengebracht hatten, aber es war schon immer das Wesen der Sterblichen, dem zu misstrauen und zu fürchten, was sie nicht verstanden, und die Hufe und blaue Haut ihrer Schutzherren zählten weit mehr als die Vorräte und Heilung, die sie ihnen hatten zukommen lassen. Nur die Allerwenigsten fragten sich in der Stille der Nacht, wenn sie sicher im Schutze der Azurmythosinsel dalagen, wie die Draenei wohl behandelt worden wären, wären sie an andere Gestade der Allianz geflohen und hätten dort um Hilfe ersucht.
Und so verriet den Flüchtlingen allein ihr Instinkt, was ihr Verstand nicht zu erkennen vermochte, als die gewaltige Struktur namens Exodar zu summen und vibrieren begann und die Luft um sie sich mit Elektrizität auflud: Das Schiff funktionierte.
***
Die Draenei verlassen uns! So dachten genug von ihnen, um das Lager in Panik zu versetzen. Sie nehmen den Propheten mit sich!
Der Ungesehene war den Flüchtlingen eine Art Heilsbringer geworden, ein Talisman gegen die Schrecken des Kataklysmus. Wie bei den meisten Massenpaniken gab es keinen einzelnen Anstifter und auch keinen bestimmbaren Moment, an dem man das Umschlagen von Furcht und Angst in Tat festmachen konnte. Und trotzdem fand sich auf einmal nahezu das gesamte Lager im blinden Sturm auf die Exodar wieder.
***
Wie sollte man dem Ruf der Jahrhunderte begegnen, der Herausforderung, jeden Tag als neu und einzigartig zu betrachten, statt als Wiederholung des Banalen, das nur in Leid enden konnte? Die schwerste Bürde für das Wesen, das einst nur Velen, doch nun der Prophet war – eine Urgewalt, ein Mythos, eine Abstraktion – war die Einsamkeit des höheren Verständnisses. Er konnte das Gesehene nicht ungesehen machen. Und er wusste, dass dieser Überdruss, dieser Mangel an täglicher Überzeugung, die stärkste Waffe seiner ehemaligen Brüder und Schwestern gegen ihn war.
Seid Ihr des Todes, den Ihr über die Welten bringt, müde geworden? , fragte Velen sich an seinen verlorenen Freund Kil'jaeden gewandt. Habt Ihr, bei aller Schwärze Eurer Seele, jemals an Euren Entscheidungen gezweifelt?
Doch dies waren Sorgen von gestern, alte Grübeleien.
In einer möglichen Zukunft hatte er einen Lichkönig auf den Frostthron nachfolgen und sich von ihm erheben sehen, gegen den der Schrecken Arthas' oder Ner'zhuls verblasste und der das Land mit Tausenden von Skelettkriegern überschwemmte. Als die Legion zurückkehrte, war die Welt bereits tot und die Dämonen lachten und spielten mit den unnatürlich auferstandenen Draenei, um sich an Velen für die Verfolgungsjagd durch das Universum zu rächen, die er angezettelt hatte.
Er hatte den wahnsinnig gewordenen Erdwächter, den Zerstörer, die Welt verbrennen und dann über den Tod seiner eigenen Kinder, des schwarzen Drachenschwarms, nachsinnen sehen, um sein krankes Verlangen nach dem Ende aller Dinge zu befriedigen.
Bitte, flehte er das Licht an. Zeige mir den Weg.
***
In der panischen Menschenmenge waren jeglicher Verstand und sämtliche Vernunft in blindem Herdentrieb untergegangen. Die Draenei versuchten, sie zu beschwichtigen, doch erfolglos, und als das Warnsignal erklang und die Paladine, Verteidiger, Priester und Magi sich der entfesselten Masse entgegenstellten, nahm die unvermeidliche Tragödie ihren Lauf. Die Bedrängten sahen sich vor eine ausweglose Entscheidung gestellt: Entweder, sie versuchten, die Angreifer zu überwältigen und zurückzudrängen, ohne jemanden zu verletzten und nähmen die Gefahr auf sich, durch einen unterlegenen Gegner getötet zu werden, oder sie müssten ihre Verbündeten töten. Einen Krieg musste man ganz führen oder gar nicht, und den Draenei wurde diese Tatsache nur allzu schmerzlich ins Bewusstsein gerufen, als der Verteidiger Romnar von der Menge einfach niedergetrampelt wurde, als er sich zum Tor aufmachte, um nachzusehen, welchen Aufruhr seine Erprobungen hervorgerufen hatten. Der Verteidiger wurde schwerstens verwundet, bevor die anderen Draenei ihn hinter ihre Linien in Sicherheit bringen konnten.
Der Fall Romnars ließ in Maraad Erinnerungen an die Kämpfe gegen die Untoten aufkommen und sein kristallener Hammer parierte nicht mehr nur, sondern fuhr nun mit verheerender Macht auf die Angreifer nieder. Befreit von den Ketten des Mitleids, folgte nun auch der Rest der Draenei seinem Beispiel und es begann ein Gemetzel, dessen Anfang im Blut der Flüchtlinge geschrieben stand.
***
„Prophet! Ihr müsst kommen! Ihr müsst!“, schrie Anduin Velens schwebendem Rücken entgegen. Die Panik in der Stimme des Knaben riss Velen aus seinen Visionen und er wandte seine Aufmerksamkeit mit einem Ruck der Gegenwart und seinem Mündel zu.
„Was ist geschehen?“, fragte Velen mit seiner alterslosen Stimme.
„Die Flüchtlinge versuchen, die Exodar zu stürmen. Euer Volk versucht, sie mit Waffengewalt daran zu hindern! Sie töten Unschuldige.“
Da spürte Velen es. Der Weg. Er gabelte sich und das Kind führt ihn auf den einen. Am Ende des anderen war nur Schatten. Was für eine Bürde war es doch, das so vieles von solch geringen Entscheidungen abhängen konnte. War dies also die Bedeutung der Vision, die er zuvor gehabt hatte? Dass der Schlüssel, um Velen aus der Wildnis zurück auf den Weg des Lichts führen sollte, in dem Kind lag?
„Was geht Euer Krieg die an, die da draußen gegeneinander kämpfen?“, schrie der Junge. Und dann, sich an seinen Traum erinnernd, fügte er hinzu, „Jedes Leben ist ein Universum!“
Habe ich mich selbst so sehr verloren?, wunderte Velen sich. Muss ich von einem sterblichen Kind belehrt werden?
Und dann stieg aus den Tiefen seiner Seele die Antwort empor: Die Lehren des Lichts sind immer ein Segen, gleich, welcher Quelle sie entspringen.
„Ich komme“, sagte Velen.
***
Die Gegner waren in einem verzweifelten Ringen ineinander verkeilt, das alle anderen Belange auslöschte. Den Flüchtlingen war klar geworden, dass sie einen schrecklichen Fehler begangen hatten und es zu spät war, ihn ungeschehen zu machen. Sie kämpften aus reinem Überlebenswillen, um ihren Irrtum danach vielleicht wieder gutmachen zu können. Die Draenei versetzte das Bewusstsein, nicht nur Verbündete, sondern auch noch Schwächere zu morden, in von Trauer und Selbsthass angetriebene Raserei. Es würde kein Leichtes sein, dem Blutbad Einhalt zu gebieten.
Aber Velen war kein Leichtgewicht.
Die Welt wurde in gleißendes Licht getaucht, das Menschen wie Draenei gleichermaßen blendete, eine runenartige, geometrische Sonneneruption, die die Figur in ihrer Mitte eher erstrahlen ließ, als sie zu verbergen. Neben dem Propheten loderte sein Kristall und seine Stimme war wie ein Sturm, der manche der Kämpfer auf die Knie zwang.
„Genug!“
Die Draenei ließen von ihren Gegnern ab, die meisten erleichtert, und nicht wenige ließen ihre Waffen vor Schreck zu Boden fallen. Die Flüchtlinge erstarrten beim Anblick des göttlichen Propheten, der plötzlich in Fleisch und Blut vor ihnen stand.
Velen stieg herab, bis er nur noch wenige Zoll über der blutgetränkten Erde der Azurmythosinsel schwebte.
„Behandeln wir so unsere Brüder?“, richtete Velen sich bekümmert an sein Volk. Viele der Draenei brachen vor Scham in Tränen aus, als sie seine Enttäuschung hörten. Maraad jedoch blieb unbewegt. „Und ihr, die ihr euch unserer Hilfe erfreut, unserer Gastfreundschaft, ihr erhebt grundlos die Hand gegen eure Freunde?“ Wie konnte auch nur einer der Widersacher sich der Anklage in diesen ewigen Augen entgegenstellen?
Der Prophet ließ sich herab, bis seine Hufe den schlammigen, zertrampelten, blutgetränkten Boden berührten.
Ein kollektives ungläubiges Keuchen entfuhr den anderen Draenei, als der Schmutz den Saum der Robe des Propheten befleckte. Velen ging zu einem der Gefallenen, kniete sich in den Dreck nieder und streckte seine Arme dem zerschmetterten Leib entgegen. Licht entströmte einer seiner Hände, als er sie in den zertrümmerten Brustkorb führte, einen kurzen Augenblick lang von dem ihm nur allzu bekannten Kennmal eines Kristallhammers bekümmert, und das Licht kanalisierte, um die Wunde zu säubern. Der Mensch schlug die Augen auf, geheilt von seiner tödlichen Verletzung.
Anduin hatte recht. Welche Hoffnung gab es denn für das Universum, wenn Velen nicht einmal jedes Leben schützen würde, so gut er konnte? Würden die Draenei ihren Krieg dann nicht auf Kosten dessen gewinnen, was allein zählte?
Velen stand da und seine schmutzigen Gewänder sprachen Bände. Er richtete das Wort an seine Brüder, seine Kinder.
„Wir werden bei den Sterblichen von Azeroth, bei unseren treuen Verbündeten bleiben, ihrer Sache dienen und die Welt vom Kataklysmus befreien.“
Es war Maraad, der sich zu Wort meldete. Nur er wagte es.
„Die Exodar ist endlich repariert, Prophet. Wir sollten den Krieg zur Legion tragen. Oder vielleicht in die Scherbenwelt zurückkehren und unsere Heimat im Exil heilen.“
„Das würde lediglich Euer Gewissen beruhigen“, erwiderte der Prophet. „Aber lasst Euch dies gesagt sein: Unser Krieg ist überall. In jeder Tat und in jedem Atemzug. Wir müssen den Völkern dieser Welt zeigen, dass sie zusammenhalten müssen. Wir müssen ihnen ein Vorbild sein und uns gegen das Böse verbünden. Wir werden sie alle aufwecken und eine endgültige Allianz gegen das Dunkel bilden. Mischt Euch unter das Volk, beschützt es vor den Folgen des Kataklysmus und stärkt es für die Zukunft.“
***
Die anderen Draenei waren von den Worten des Propheten tief berührt und gingen zu den verwundeten Flüchtlingen. Anduin setzte ebenfalls seine aufkeimenden Kräfte ein und auch Velen heilte und spendete Trost. Dabei kam er nicht umhin, den Prinzen voller Bewunderung zu beobachten, und er sah den beeindruckenden jungen Mann vor sich, zu dem der Prinz bereits geworden war.
***
Die Exodar war für die Draenei nicht nur eine Maschine, sondern ein lebendiges Wesen, eine Art Bruder, wie es andere Völker niemals verstehen würden. Ihr Schmerz war vergangen, ihre Essenz war geheilt. Der Prophet freute sich mit seinem ganzen Volk über diesen Triumph.
Die Flüchtlinge hatten sich beratschlagt und in großen Kreisen um die Hügel des Am'mentals versammelt. Sie hatten beschlossen, dass ihr Platz bei ihrem eigenen Volke sei. Durch Velens dramatisches Erscheinen tief beeindruckt, wollten viele Menschen nun dem Priesteramt beitreten und fast alle schlossen sich der Macht von Sturmwind an, um die Zerstörung, die Todesschwinge hinterlassen hatte, zu beseitigen. Wenn einer der Flüchtlinge nach seiner Erfahrung mit den Draenei gefragt wurde, würde er für den Rest seines Lebens behaupten, dass sie immer das Recht über alle Dinge besessen hätten – dass der Prophet ihnen die Antwort auf den Kataklysmus gegeben hatte.
Ergebenheit.
Doch das tragische Zusammentreffen mit den Flüchtlingen hatte beim Alterslosen und beim jungen Mann, der eines Tages König werden würde, den größten Eindruck hinterlassen. Als Anduin das nächste Mal vor seinem Mentor erschien, war dieser ihm zugewandt und seine gespaltenen Hufe berührten den Boden.
„Vielen Dank, dass Ihr mir den Weg gezeigt habt. Ihr habt mich gefragt, warum ich nicht vor dem Kataklysmus gewarnt habe. Ich habe die bevorstehende Bedrohung nicht erkannt, da mein Blick zu sehr nach innen gerichtet war ... und in bestimmter Weise auch zu sehr nach außen. Ich hatte die Bewohner der gegenwärtigen Welt aus den Augen verloren – hatte ihre Bedürfnisse nicht mehr erkannt – und deshalb konnte ich das Licht nur noch schwach sehen. Wenn ich mit den Geschöpfen des Hier und Jetzt nicht in Verbindung stehe, wie soll ich dann die Verbindungen zu ihrer Zukunft jemals erkennen?“
„Eines Tages werdet Ihr ein mächtiger Priester sein, Prinz Anduin. Und ein weiser König.“
Anduin wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sein Vater diese Worte hätte hören können.
Vol'Jin: Das Urteil von Brian Kindregan
Der junge Troll kauerte im Regen, er starrte geradeaus, dorthin, wo der Pfad vor dem dichten Unterholz des Dschungels kapitulierte. Das Sonnenlicht konnte das dichte Laubwerk nicht durchdringen, ebensowenig konnte es der Wind. Dieser Teil der Insel trug den Namen Erste Heimat, und niemand außer Schattenjägern und Narren begab sich je dorthin.
Vol’jin war kein Schattenjäger.
Er konnte das Wasser in Bächen zwischen seinen Zehen hindurchrinnen spüren. Es regnete heftig, und jeder Tropfen, der auf seinen Rücken klatschte, drängte ihn in Richtung Erste Heimat. Manchmal kehrte einer der Schattenjäger von hier zurück, doch niemals einer der Narren. Hinter Vol’jin suchte ein weiterer Troll Schutz unter einem großen Palmenblatt.
Zalazane war ebenfalls kein Schattenjäger.
„Wir sind nich’ bereit“, sagte Zalazane, während er geräuschvoll auf einem Stück Kommufleisch kaute. „Das Urteil is’ was für ältere Trolle, die schon mächtige Taten vollbracht hab’n. Wir sind junge Niemande.“
„Ich bin nur jung. Du bist ein Niemand.“ Vol’jin gluckste und stand auf. „Wir müssen weiter, Zal. Mein Vater hat letzte Nacht stund’nlang ins Feuer gestarrt, und jetzt tut er so, als ob das Verhängnis über ihm schwebt. Ich vermute, er hatte eine Vision. Es wird Veränderungen geben, und wir müss’n bereit sein.“
„Glaubst du, sie werd’n aus dir einen Schattenjäger machen?“
„Sie werd’n auf jeden Fall das Urteil über mich fäll’n. Mich testen. Ich weiß allerdings nich’, was das genau bedeutet.“
„Sie sagen, die Loa übernehm’n unsere Gedanken“, sagte Zalazane ernst. „Sie verdrehen und verbiegen uns und lassen uns Visionen seh’n.“
„Es gibt viele Tests, habe ich gehört. Wenn sie mich für würdig eracht’n, werde ich zum Schattenjäger“, antwortete Vol’jin. „Wenn sie mich nich’ für würdig eracht’n… Dann kann uns nichts retten.“
„Oh, von mir werd’n sie sehr beeindruckt sein.“ Zalazane lächelte wissend.
„Aber dich werden sie auslach’n.“ Er trat in den Schlamm und schlenderte herüber, um sich neben seinem Freund aufzustellen. Sie guckten sich für einen Augenblick an und begannen dann beide breit zu grinsen, ihre Hauer entblößt. Während ihrer gesamten Kindheit im Dorf der Dunkelspeere war dies das untrügliche Zeichen dafür gewesen, dass als nächstes eine ausgesprochene Dummheit von Vol’jin und Zalazane folgen würde.
Mit einem gewaltigen Schrei rannten sie Hals über Kopf los in die Erste Heimat. Sie durchbrachen Ranken und Wurzeln, die nach ihnen griffen. Der Ort versprach sowohl schnellen als auch qualvollen Tod, aber sie waren jung und überzeugt davon, nicht wirklich sterblich zu sein.
Doch hier gab es Loa. Die uralten Geister jener, die den Tod überwunden hatten, konnten zwar die fantastischsten Segen gewähren, doch ebenso auch die entsetzlichsten Strafen verhängen. Die Loa konnten einem Troll das zweite Gesicht verleihen - oder sie konnten ihn in den Wahnsinn treiben, so dass er sich die eigenen Augen aus dem Kopf riss. Ihr Urteil war teuflisch, rasch und unvorhersehbar.
Vol’jin und Zalazane rannten eine Zeit lang, und beide begannen sich zu fragen, ob die Legenden, die sich um die Erste Heimat rankten, übertrieben waren. Es schien kein besonderer Schrecken auf sie zu lauern. Zwei riesige Farnwedel blockierten den Weg vor ihnen. Mit einem Zucken teilten sie sich und gaben den Blick frei auf eine fleischfressende Pflanze: eine Nambu. Pelzige Lippen, weit geöffnet und wartend. Feinfaserige Zähne wanden sich erwartungsvoll in dem klaffenden Schlund, und Vol’jin konnte nicht rechtzeitig abbremsen. Er warf sich nach links und streifte dabei die Seite der Nambu.
Zappelnd und mit den Armen wedelnd schlidderte er in etwas Festes und Schuppiges. Er stolperte zurück, benommen, mit einem Kopfschütteln. Das Etwas drehte sich zu ihm um und entpuppte sich als ein sehr wütender, sehr großer Raptor - der größte, den Vol’jin jemals zu Gesicht bekommen hatte. Er wich weiter zurück, in dem klaren Bewusstsein, dass irgendwo hinter ihm die Nambu war. Er konnte hören, wie Zalazane eigenartige, gedämpfte Geräusche von sich gab, doch er hatte seinen Freund aus den Augen verloren.
Der Raptor schnellte seinen Kopf hinunter zu Vol’jin, und der taumelte nach links. Riesige Kiefer schnappten zu, genau dort, wo er eben noch gestanden hatte. Geiferfäden flogen vom Maul der Bestie. Die Nambu reagierte mit Lichtgeschwindigkeit auf die Bewegung und schloss ihre Zähne um den Raptor, wodurch sie in das verletzte Fleisch des Raptoren ihr Gift injizierte. Vol’jin hatte nur einige wenige Herzschläge lang Zeit, sich die Ablenkung zunutze zu machen: er zog seine Gleve und bewegte sich abwägend um die Nambu. Zalazane befand sich auf der anderen Seite der Pflanze, er zertrampelte ein Nest von Alchukäfern, die ausgeschwärmt waren und ihn mit Bissen und Stichen übersäten. Er würde wohl für eine Weile keine Hilfe sein.
Der Raptor riss die Nambu samt Wurzel aus dem Boden und schleuderte sie weit fort. Seine winzigen, zornigen Augen richteten sich auf Zalazane, durch die wilden Bewegungen des Trolls angezogen.
Es blieb keine Zeit. Vol’jin stieß einen Kriegsschrei aus und stach mit seiner Waffe zu. Fleisch teilte sich: Vol’jin hatte einen Strom von Blut auf dem Rücken des Raptors ausgelöst. Mit einem schrillen Wutschrei schwang dieser herum und versetzte Vol’jin einen heftigen Hieb mit dem Kopf, so dass er in den Büschen landete. Vol’jin konnte nichts mehr sehen, sein Gesicht war von feuchten, klebrigen Blättern bedeckt. Er spürte, wie der Boden bebte, als das Biest auf ihn zurannte. Vol’jin stolperte rückwärts und zur Seite, er spürte die Zähne ein weiteres Mal nur Zentimeter von ihm entfernt. Er konnte sein Gesicht gerade rechtzeitig von den Blättern befreien, um zu sehen, wie der Raptor wendete und wieder auf ihn zukam.
Hinter dem Raptor konnte er Zalazane hören, der schrie und lärmte.
Vol’jin kroch rückwärts, er wagte es nicht, dem Untier den Rücken zuzukehren. Er konnte sehen, dass Zalazane von der anderen Seite aus angriff, doch der Raptor schwang seinen Schwanz dicht am Boden und holte Zalazane so von den Füßen. Das Manöver brachte Vol’jin nur eine Sekunde, doch das musste genügen.
Er sprang auf den Raptor zu und warf seine langen Arme um dessen Hals. Für einen entsetzlichen Moment war sein Gesicht in den Unterkiefer des Tieres gepresst, sein hochstehendes Haar bewegte sich im Atemhauch des Monsters. Dann gelang es ihm, sich um den Hals zu schwingen und seine Knie um die Schulterblätter des Raptors fest zu schließen.
Der Raptor kreischte und buckelte. Zalazane sprang wieder auf die Füße und ließ seinen Stab auf den Klauenfuß des Biests niedersausen. Vol’jin konnte hören, wie der Knochen splitterte. Er klammerte sich noch fester an den Nacken und setzte seine Klinge an den Hals des Tiers.
Der Raptor hatte Vol’jin aufgegeben und näherte sich nun Zalazane, seinen gebrochenen Fuß hinter sich herziehend. Zalazane bewegte sich langsam rückwärts, doch Vol’jin konnte spüren, wie sich die Muskeln des Tieres unter ihm spannten und zusammenzogen. Es blieben nur Sekunden.
Vol’jin machte eine ruckartige Bewegung und konnte spüren, wie seine Gleve sich in Muskeln und Arterien grub. Blut spritzte in einer scharlachroten Fontäne, als er die Gleve in weitem Bogen wieder herauszog. Der Raptor wankte erst in die eine Richtung, dann in die andere, bis er schließlich zu Boden fiel, sein Maul nur Zentimeter von Zalazanes Füßen entfernt. Vol’jin strampelte sich frei.
„Was war das denn?“ keuchte Zalazane. „Das war der größte Raptor, den ich je gesehen habe.“
„Vielleicht war er von einem Loa besessen? Unser erster Test?“
„Das glaube ich nich’, Mann.“ Zalazane bewegte sich in Richtung der klaffenden Kehle des Raptors, wobei er die Todeszuckungen des Tiers ignorierte. „Wenn der Test kommt, werd’n wir es wissen.“ Er formte seine Hände zu einem Gefäß, um das Blut des Raptors aufzufangen und es sich dann über das ganze Gesicht zu schmieren.
„Was machst du da?“ fragte Vol’jin.
„Dunkle Magie, Mann.“ antwortete Zalazane und vollendete seine Blutmaske, um sich dann die Finger abzulecken. Er bedeutete Vol’jin, dasselbe zu tun.
„Ich möchte an diesem Ort nich’ nach Blut riechen.“ sagte Vol’jin. Zalazane pflückte ein Insekt von sich ab und warf es nach ihm. Ohne das geringste Zögern fing Vol’jin den Käfer und warf ihn zurück.
„Wir werd’n nach dem Blut eines großen, bösen Dings riechen. Wir werden nach Tod riechen, und nach Ärger“, sagte Zalazane, und warf ein weiteres Insekt. Er hatte kürzlich begonnen, mit Meister Gadrin zu arbeiten, dem ranghöchsten Hexendoktor der Dunkelspeertrolle, und klang sehr zuversichtlich.
Vol’jin klopfte das Insekt ab und kam herüber, um etwas von dem Blut aufzufangen, das noch immer aus dem toten Tier sickerte.
„Könnte uns vor einigem bewahren“, meinte Zalazane. „Aber nich’ vor den Loa.“
„Nich’ vor den loa“, stimmte Vol’jin zu, während er das warme, klebrige Blut in seinem Gesicht verteilte. Es besaß einen scharfen Geruch. „Aber wir werden das Urteil ohnehin nur übersteh’n, wenn wir uns den Loa stell’n. Und das annehmen, was kommt.“
„Ja, Mann.“
„Au!“ Vol’jin blickte an sich hinunter, er spürte plötzlichen Schmerz. Während er die Augen geschlossen hatte, um das Blut zu verschmieren, hatte Zalazane ihm drei aufgebrachte Insekten auf die Brust gesetzt.
„Wenn ich zum Schattenkrieger werde“, erklärte er Zalazane, „werde ich darum bitten, dass die Loa dich töten.“
„Bis dahin habe ich meine eigenen Kräfte.“ lachte Zalazane.
***
Die Nacht war hereingebrochen. Im Dschungel war es immer dunkel, und Vol’jin konnte die Nacht nur daran erkennen, dass die Luft kühler geworden war und Wolken aggressiv summender Insekten an ihnen vorbeiwogten. Moskitos von der Größe seiner Hand suchten nach Beute. Vol’jin und Zalazane saßen auf der Spitze einer kleinen Erhebung. Zu einer Seite fiel sie scharf ab und endete in zerklüfteten Felsen. Sie waren gelaufen, bis ihre Füße wund waren, und ihr Atem nur noch ein abgehacktes Keuchen. Die Luft war dicht und unbewegt.
„Was für ein merkwürdiger Test.“, sagte Zalazane mit leiser, vorsichtiger Stimme. „Wir laufen einfach hier herum und töt’n Tiere. Wo sind die Loa?“
Vol’jin wollte gerade antworten, als plötzlich ein kalter Schauer seinen Rücken hinablief und er eine Präsenz spürte. In diesem Augenblick war ein Loa hier bei ihnen auf der Anhöhe. Er konnte ihn weder sehen noch riechen, doch die Haare in seinem Nacken sagten ihm, dass er da war. Mit einem Blick auf Zalazane nahm er denselben grauenvollen Horror in den Augen seines Freundes gespiegelt wahr.
Als nächstes spürte er Schmerz. Schlimmer als ein gebrochener Knochen oder eine Stichwunde. Heftiger und intensiver als jeder Schmerz, den er in seinem Leben je gespürt hatte. Er überflutete sein Bewusstsein und machte jeden Gedanken zunichte.
Eine Stimme wisperte ihm zu. „Die Klippe“, sagte sie geräuschlos. „Die Felsen dort unten. Sie werd’n den Schmerz beenden. Ganz schnell. Ganz einfach.“ Vol’jin erkannte, dass dies stimmte: Nur ein Herzschlag und er könnte über die Kante gleiten, und der Schmerz hätte ein Ende. Seine einzige andere Wahl wäre, ihn zu ertragen.
Vol’jin schloss seine Augen und ertrug ihn.
Nach einer Ewigkeit versank sein Körper unter ihm. er schwebte, frei von allen Wahrnehmungen. Eine Vision floss in sein Sichtfeld. Dort war er, älter, selbstbewusster. Er betrachtete die Vision aus großer Entfernung und war gleichzeitig ein Teil von ihr. Eine Reihe von Dunkelspeertrollen folgte ihm. Sie gingen durch ein fremdartiges Land mit spärlicher Vegetation und ockerfarbenen Felsen. Eine enorme Stadt erhob sich in der Ferne, voller scharfer Zacken und Spitzen. Kriegstrommeln dröhnten und Rauch hing in dichten Wolken über der Stadt. Eigentümliche, vollkommen grüne Kreaturen in aufwendigen Rüstungen waren vor ihm aufgereiht. Einige andere Wesen, groß und zottig, mit Hufen, beobachteten ihn von der Seite.
Vol’jin näherte sich dem Anführer der grünen Wesen, dessen Gesicht harte, weise Züge besaß. Sie ergriffen gegenseitig ihre Hände, gleichberechtigt, und lächelten. Worte fanden ihren Weg in Vol’jins Bewusstsein. Orcs. Orgrimmar. Tauren. Thrall.
Die grünen Kreaturen vollführten Willkommensgesten und die Dunkelspeertrolle legten ihre Lasten ab. Sie wirkten erleichtert, doch gleichzeitig geschlagen.
„Warum?“ fragte eine Stimme ihn. Vol’jin spürte diese Stimme in seinen Knochen; sie dröhnte in ihm. „Warum führst du unser Volk in die Unterwerfung? Es wäre doch zweifellos der bessere Weg, allein und stolz erhobenen Hauptes zu kämpf’n, allein und stolz erhobenen Hauptes zu sterb’n.“
„Nein“, sagte Vol’jin, und dachte genau darüber nach. „Die Dunkelspeere sollten immer frei und stolz sein können. Doch um frei sein zu können, müssen wir am Leben bleib’n. Wenn wir sterb’n, haben wir bereits verlor’n. Es ist besser, abzuwart’n, zu ertragen. Wir sind ein uraltes Volk, und wir ertragen viel.“
Er spürte, wie die Wahrheit seiner gesprochenen Worte ihn durchdrang. Er war unter seinen Freunden immer der Stratege gewesen, derjenige, der ein Problem von allen Seiten betrachtete. Seine Entschlossenheit, zu überleben und zu gewinnen, war stark.
„Du bist weise für dein junges Alter“, sagte die Stimme. „Die Dunkelspeertrolle werd’n leiden müssen, sie werd’n kämpfen müss’n. Das Erdulden bedeutet für sie das Überleben.“ Die Vision schmolz dahin und enthüllte, was nur ein Loa sein konnte: eine glühende Kugel, die uralte Weisheit und Trauer ausstrahlte. Etwas Verblichenes und Trübes. Etwas, das sich in der Ersten Heimat aufgehalten hatte, schon lange, bevor Vol’jin geboren wurde. Bilder und Gestalten schwebten dicht unter seiner Oberfläche und verschwanden wieder. Vol’jin hatte kaum Gelegenheit, den Loa richtig wahrzunehmen, da verschwand er auch schon. Die Welt um ihn herum veränderte sich.
„Ich gewähre dir Sicht“, sagte die Stimme und verblasste. Vol’jin fand sich auf der Anhöhe wieder. Zalazane war da.
„Wir könn’n Loa sehen. Wir könn’n sie sehen!“, jubelte er. Die beiden Trolle lächelten sich an.
„Vielleicht erleben wir einen weiteren Tag“, sagte Vol’jin.
„Freu dich nur nich’ zu früh“, sagte Zalazane. „Wir sind noch nich’ fertig. Gadrin sagte mir, es gibt viele Lektionen zu lernen. Die Loa hab’n sicher noch mehr für uns parat.“
„Was hab’n die Loa dir gezeigt?“, fragte Vol’jin. Er und Zalazane saßen an einem Feuer und drehten ein Kommu auf einem Spieß darüber. Das Fett troff von den Knochen des Tieres und fiel zischend und brutzelnd ins Feuer. Es war bereits mehrere Tage her, soweit Vol’jin das beurteilen konnte, und das Feuer war ein unvernünftiger Luxus. Doch die wilden Tiere schienen sie in Ruhe zu lassen, als seien sie von den Loa gezeichnet worden. Das war keineswegs so beruhigend, wie es hätte sein sollen.
„Ich war ein großer Hexendoktor der Dunkelspeere“, sagte Zalazane. „Wir war’n in einem fremden Land, steckt’n in Schwierigkeiten. Unser Überleben war nicht gesichert, Mann. Wir hätten stark sein müss’n, und das war’n wir nicht. Harte Zeiten für alle, besonders für unseren Anführer. Ich weiß nicht, wer der Anführer war, aber er war nicht dein Vater, Mann.“, sagte Zalazane ruhig. Dann lächelte er. „Ich werde ein Hexendoktor!“
„Ich habe dich belogen, Zal“, sagte Vol’jin. Er spürte sofort Zalazanes gespannte Aufmerksamkeit, obwohl der andere Troll einfach abwartete, dass Vol’jin weiterreden würde. Die zwei hatten sich ihr ganzes Leben lang gekannt und sich niemals angelogen, wenn es um Dinge von Bedeutung ging. „Mein Vater hat mehr getan, als sich nur seltsam zu verhalt’n. Er hat mir von einer Vision erzählt. Er sagte mir, ich müsse gehen und mich dem Urteil stellen. Er sagte mir, wir hätt’n keine Zeit mehr.“
„Er sagte dir, dass wir gehen müss’n?“
„Nicht wir. Nur ich. Ich habe ihn nie zuvor so geseh’n, Zal. Er wollte nichts anderes von mir hören, als dass ich geh’n würde. Er hatte es so eilig, doch als ich ging… da blickte ich zu ihm zurück.“
„Ja?“
„Und er blickte mich an, als ob er mich niemals wiederseh’n würde. Als ob er mich in meinen Tod geschickt hätte.“
„Also dachtest du, du könntest mich gleich mittöt’n?“, fragte Zalazane mit einem verschmitzten Lächeln. Es war ihm schon immer leichtgefallen, Vol’jin aufzumuntern. Sie würden einander immer gegenseitig helfen.
„Ich war nicht bereit, Zal. Ich hätte es niemals alleine geschafft. Aber ich dachte, gemeinsam…“ Vol’jin konnte die Stimme seines Vaters in seinem Kopf hören, als er diese Worte aussprach. Schwach, hätte Sen’jin gesagt. Schwach und verweichlicht. Kein Anführer der Dunkelspeere kann sich diese Schwächen erlauben. Das Leben ist zu schwer, selbst hier auf unserer Insel.
„Zusammen sind wir stärker. Das ist okay, Mann. ich helfe dir, wenn du schwach bist.“ Zalazane grinste, wodurch er den Worten ihre Schärfe nahm. „Du hilfst mir immer. Wir übersteh’n das gemeinsam.“
Vol’jin öffnete seinen Mund, um zu antworten, doch er erstarrte, als er ein Leuchten im Dschungel erspähte. Ein weiterer Loa, noch urtümlicher und unberechenbarer, leuchtete durch das Laub. Er war weit entfernt, doch er rief nach ihm. Vol’jin sprang auf die Füße und stakste hinaus in die Bäume.
„Wo gehst du hin, Mann?“ schrie Zalazane, doch Vol’jin ging weiter. Er konnte den Loa nicht verschwinden lassen. Als er sich dem Leuchten genähert hatte, stolperte er über ein paar Zweige und das Licht des Loas verschwand. Vol’jin fand sich allein im Dunkel des Dschungels wieder.
Schließlich erhaschte er einen Blick auf das verräterische Leuchten zu seiner Rechten. Er begann zu laufen, wischte Blätter und Ranken beiseite und hechtete dem Loa nach. Als er den letzten Ast beiseite schob, war der Geist ein weiteres Mal verschwunden.
Er wartete, für einen Moment außer Atem, und erkannte, dass es keinen Sinn ergab, still stehen zu bleiben. Der Loa hatte ihn in der dampfenden Dunkelheit der Ersten Heimat allein zurückgelassen. Er würde sein Spielchen nicht mitspielen. Sollte er doch versuchen, Vol’jin an der Nase herumzuführen, während er nun durch die Bäume wanderte. Vielleicht würde er den Loa sogar schneller wiederentdecken als der ihn. Er bewegte sich mit größerer Aufmerksamkeit durch das dichte Unterholz und setzte seine Schritte sorgfältig. Er hatte keine Ahnung, wo er oder das Lager sich befanden, doch das spielte keine Rolle für ihn. Den Loa zu finden bedeutete das Überleben. Ihn nicht zu finden, den Tod. Der Loa war alles, was von Bedeutung war.
Er hielt auf einer Lichtung an. Er konnte kleine Fetzen des Himmels durch das Laubdach entdecken - dunklere Flecken im Gegensatz zu dem sanft gewölbten Dach des Dschungels. Er verlangsamte seine Atmung, bemühte sich, kein Geräusch zu machen und suchte mit den Augen die Bäume ab. Er sah nichts. Langsam, so als sei er gerade aus tiefem Schlaf erwacht, wurde er sich einer Hitze in seinem Rücken bewusst.
Er wirbelte herum der Loa war direkt hinter ihm. So nah, dass er die Bewegungen und das Winden der leuchtenden Tentakel auf seiner Oberfläche genau sehen konnte. Das Leuchten des Loas breitete sich aus und erfüllte sein gesamtes Sichtfeld.
Er fand sich in einer Höhle wieder, einer Art Tunnel, und der Pfad teilte sich vor ihm. Auf jedem der beiden Wege befand sich eine Vision seiner selbst.
In der einen saß er auf einem Thron aus purem Gold. Gigantische in Palmwedel gewickelte Braten gab es dort, überall Fässchen mit den edelsten Gebräuen des Dschungels, frischgezapft, Trollfrauen, die zu seinem Vergnügen tanzten. Er sah gesund und vergnügt aus. Eine winzige goldene Kette band sein Bein an den Thron. In der anderen Version war er verwundet und blutete, er sah ausgezehrt aus und war von Feinden umgeben. Das Bild war verschwommen und änderte sich stetig, doch immer mühte er sich, kämpfte ums Überleben. Manchmal führte er andere Dunkelspeertrolle an, manchmal kämpfte er allein, doch die Botschaft war eindeutig: ein Leben ständiger Anstrengung, ständigen Zwists, kein Verschnaufen, Kampf und Tod ohne Unterlass.
Vol’jin lachte. „Soll das ein Test sein, mächtiger Loa? Das is’ eine einfache Wahl. Ich wähle die Freiheit. Ich werde kämpfen und Mühen übersteh’n, vielleicht werde ich niemals glücklich sein, doch ich wähle die Freiheit.“
Aus der Ferne drang die tiefe, uralte Stimme des Loas zu ihm. „Die Wahl is’ nich’ der Test, kleiner Bruder. Doch wenn du gezögert hättest, wenn du zunächst hättest nachdenken müss’n… wenn du auch nur einen Herzschlag lang der Versuchung nachgegeben hättest, hättest du versagt.“ Vol’jin erzitterte, als er den Klang in der Stimme des Loas vernahm. Sie klang, als hätte das Versagen unweigerlich den Tod oder Schlimmeres zur Folge gehabt.
Die Höhle schmolz dahin und Vol’jin fand sich in den Zuschauerrängen einer Arena wieder. Er blickte auf seine Hände herab. Seine Hände, doch älter; sie trugen Narben und Schwielen von den langen Jahren harter Arbeit und Kämpfe. Um ihn herum reihten sich Urahnen und Kämpfer der Dunkelspeere. Hinter ihnen befanden sich Orcs, Tauren und andere. Alle beobachteten gespannt, wie sich zwei Kreaturen gegenüber standen. Ein braunhäutiger Orc mit einer mächtigen Axt und ein Tauren mit einem Speer. Beide waren nur mit Lendenschurz bekleidet und eingeölt für den Kampf. Ein weiteres Mal bildeten sich Worte in seinem Bewusstsein: Garrosh und Cairne. Blutschrei und Runenspeer.
Der Kampf zwischen den beiden wogte vor und zurück in der Arena. Der braune Orc blutete aus mehreren Wunden, während der Tauren unverletzt war. Mit seiner neuen Wahrnehmung konnte Vol’jin außerdem die Loa sehen, die sich überall befanden. Sie bevölkerten die Luft und schwebten am Rande seines Sichtfeldes. Sie hatten sich versammelt und waren aufgewühlt. Offenbar hatte dieser Moment große Bedeutung für Vol’jins Volk, vielleicht sogar für ganz Azeroth.
Während Vol’jin zusah, schwang der Orc seine Axt in weitem Bogen, die Waffe stieß ein wildes Kreischen aus, als die Luft durch die in ihre Seite gehiebenen Riefen brauste. Der Tauren erhob seinen Speer, um den Schlag abzuwehren, doch das genügte nicht: die Axt zerschmetterte den Speer und streifte den Tauren.
Beide Kämpfer hielten für einen Augenblick inne. Der Orc konnte dank seiner Verletzungen kaum noch geradestehen, während der Tauren so gut wie unversehrt war. Dennoch war es der Tauren, der nun wankte, seine Hände fielen an seiner Seite hinab. Ein Teil des Speeres hing lose in gefühllosen Fingern.
Der Orc erhob seine Waffe und griff an. Das Kreischen der Axt erfüllte die Arena. Der Orc hieb die Waffe tief in den Nacken des Tauren.
Vol’jin fühlte einen tiefen Schmerz in seinem Herzen angesichts des schrecklichen Wunde, die dem Tauren zugefügt worden war. Er begriff, dass dies ein Gefühl echter Trauer war, dessen Echo von dem Vol’jin in seiner Vision durch die Zeiten hindurch zu ihm drang, die Trauer über den Verlust eines Freundes und eines geachteten Urahnen.
Der Tauren brach zusammen. Bevor er auf dem Boden aufschlug, verlangsamte sich die Welt zu einem Kriechen. Vol’jins Sinne verschärften sich und er bekam ein Gefühl, als ob das ganze Universum den Atem einzog wie vor einem Schrei.
Die Loa rasten. Sie zischten und wisperten. Sie schossen vor und zurück, rumorten in seinen Ohren und tauchten durch ihn hindurch. Niemand sonst hatte bislang reagiert. Die anderen Zuschauer waren regungslos. Der Tauren fiel noch immer zu Boden, Blut spritzte.
Da verstand Vol’jin.
Gift. Es traf ihn ganz plötzlich: die Axt war vergiftet, und das war falsch. Das entsprach nicht den Gebräuchen dieser Völker. Der Tauren traf mit einem dumpfen Rums auf den Boden. Alles kehrte zur normalen Geschwindigkeit zurück. Die Menge toste in Bewunderungs- und Entrüstungsstürmen.
All das schmolz dahin, und eine neue Vision formte sich. Er sah sie und befand sich gleichzeitig in ihr. Er stand ein weiteres Mal an der Spitze einer langen Reihe von Trollen. Sie trugen ihre Habseligkeiten und sahen entschlossen aus. Er befand sich noch immer in der fremdartigen ockerfarbenen Landschaft. Mit einem Blick über seine Schulter sah er die große Stadt aus der früheren Vision. Sie war nun dunkler, auf irgendeine Art schärfer. Orcs waren auf dem Wall aufgereiht, sie beobachteten den Exodus der Trolle mit düsteren Mienen. Vol’jin spürte, wie sich das Gefühl der Unruhe verstärkte; es gab noch etwas anderes, was ihm an seiner Vision missfiel. Dann erkannte er es mit einem Schlag.
Zalazane war weit und breit nicht zu sehen.
Wo is’ Zal? fragte Vol’jin sich. Ich brauche meinen Freund jetzt mehr denn je.
Vol’jin spürte, wie Vorahnung und Unsicherheit sein Herz erfüllten, umhüllt von kalter Wut und der Entschlossenheit, mit den Dunkelspeertrollen die gefährlichen Zeiten zu überstehen.
„Du sagtest meinem Bruder, das Überleben wäre besser,“ sagte der Loa, „selbst wenn es Schwäche bedeutet, da man so an einem anderen Tag weiterkämpfen kann. Besser, etwas zu ertragen, als mit Ruhm unterzugeh’n.“ Die Stimme riss Vol’jin aus seiner Vision, sie flatterte in seiner Brust herum. Es war die Stimme von jemandem, der größeren Ruhm und größere Schrecken gesehen hatte als Vol’jin sie jemals sehen würde. „Nun reißt du die Dunkelspeere aus der Sicherheit von Orgrimmar heraus; du riskierst ein Bündnis, das Stärke bedeutet. Du bleibst nich’ bei deiner Meinung?“
Vol’jin zögerte. Ihm wurde eine sehr wichtige Frage gestellt, und er besaß keinerlei Hintergrundinformation. Aus welchen Gründen hätte er eine solche Entscheidung gefällt? Er blickte sich um. Sein Volk war wütend, besorgt, zielstrebig, aufgeregt. Er blickt wieder zum Wall hinauf. Dann fiel sein Auge auf Garrosh. Der eindrucksvolle Kriegshäuptling beobachtete sie von der Festungsmauer, demonstrativ ernst, doch um seine Lippen spielte ein winziges Lächeln der Zufriedenheit. Er hob sich in seiner Rüstung vom Himmel ab, das Licht fiel auf die leuchtend schwarze Tätowierung auf seinem Unterkiefer.
Er war ein Grobian mit einer Begabung für Krieg und Gewalt, doch ohne jedes Verständnis für Diplomatie und Kompromissbereitschaft.
Und dann wusste Vol’jin, warum.
„Ich habe die Dunkelspeere hierher geführt, um unsere Leiber zu bewahr’n“, sagte er. „Damit wir an einem anderen Tag weiterkämpfen können. Aber das sind nur unsere Körper. Das eine, das wir nich’ verlier’n dürfen, Loa, niemals verlier’n dürfen, das is’ unsere Seele. Die Dunkelspeere hab’n eine Seele, und wenn wir hier bei diesem Orc bleiben und uns seinen Anweisungen beugen, dann verlier’n wir unsere Seele. Und dann gibt es kein Zurück mehr.“
„Die Dunkelspeere müssen überleben, aber das Überleben bedeutet nichts, wenn sie ihre Seele dabei verlier’n. Die Dunkelspeere müssen sich treu bleiben. Bleib dir treu.“ sagte die Stimme. „Du wirst nun alle Loa hör’n. Du wirst uns jederzeit hör’n. Du musst lernen, zuzuhör’n.“
Vol’jin öffnete seine Augen. Er lag auf dem stets schlammigen Boden des Dschungels. Verschiedene Insekten bildeten fröhlich Schlammkokons auf seinem Körper. Er befand sich noch immer neben dem Feuer, das nun fast heruntergebrannt war. Weit und breit kein Zeichen von Zalazane. Ganz wie in seiner Vision. Vol’jin richtete sich mühsam auf.
Einen Augenblick später humpelte Zalazane aus der Dunkelheit und setzte sich neben ihn. Für einige Herzschläge starrten sie stumm in das Feuer.
„Ich sah…“ Zalazane zögerte. „Ich sah mich selbst die Dunkelspeerkämpfer vom Stamm wegführ’n. Unser Anführer, er war so schwach, er hatte uns verkauft, Mann. Ich wurde zum neuen Anführer und der Stamm teilte sich in zwei Hälften.“ Zalazane vermied es, Vol’jin anzusehen.
„Und wer war dieser Anführer, Zal? Du sagst, es war nich’ mein Vater, aber es muss jemand sein, den wir kennen.“
Zalazane blickte Vol’jin noch immer nicht an.
Vol’jin nahm einen Stock auf und schürte das Feuer. „Genug Tests.“ war alles, was er sagte.
***
Vol’jin lief um das Feuer herum. Er war rastlos und wütend, ihm war danach, etwas zu töten. Er war herumgeschubst worden, man hatte an ihm herumgezerrt und ihn herumgewirbelt. Mit jedem weiteren Augenblick ergab seine Welt weniger Sinn. Und nun geriet auch noch seine Freundschaft zu Zalazane – neben der Liebe seines Volkes das Einzige, auf das Vol’in immer hatte zählen können – zur Zerreißprobe.
„Genug“, verkündete er, ohne Zalazane anzusehen. „Ich gehe auf die Jagd. Wir könn’n was zu essen gebrauch’n, und ich kann den Kampf gebrauch’n.“ Er zog seine Gleve und verschwand im dunklen Unterholz. Sich allein in den gefährlichsten Bereich der ganzen Insel zu begeben fühlte sich einfach richtigan.
Es bedeutete Stärke.
Am Feuer setzte Zalazane zu einem tiefen Voodoogesang an. Vor sich in der Düsternis hörte Vol’jin das Knacken eines Zweiges. Ein großes Wesen, das sich um Lautlosigkeit bemühte. Vol’jin grinste, seine Lippen spannten sich über seine Hauer, seine Finger um die Gleve pulsierten.
Er bewegte sich vorwärts und spürte die feinen Härchen der großen Upkablätter, die über sein Gesicht strichen. er hörte das Geräusch erneut, diesmal zu seiner Linken. Er drehte sich um, bewegte sich im Kreis, um die Kreatur auf seiner Rechten zu halten.
Und ein weiteres Mal hörte er eine Bewegung in den Büschen links von ihm. Die Erkenntnis traf ihn. Die Kreatur belauerte ihn. Es gab nur einen Weg: Er griff an.
Zweige und Wurzeln griffen nach ihm, als er sich mit einem kehligen Schrei vorwärts warf. Vor ihm stand ein anderer Troll zu voller Höhe aufgereckt.
Vol’jin taumelte in ihn hinein, und beide fielen zu Boden. Er zückte seine Gleve und setzte sie an die Kehle des anderen. Jeder Troll auf der Insel war ein Dunkelspeer und ein Freund, doch Vol’jin war mit Geschichten über die blutrünstigen Gurubashi aufgewachsen, und an diesem Ort war alles möglich.
Der andere Troll blickte auf, auf sein Gesicht fiel ein Strahl vom fernen Feuerschein. Es war Sen’jin, Vol’jins eigener Vater. „Papa?“ fragte Vol’jin ungläubig und verlagerte sein Gewicht von dem hingestreckten Troll herunter. Sen’jin lächelte und schüttelte Vol’jin ab. Der junge Troll landete lachend im Schlamm. Sen’jin sprang auf die Füße, schwang seinem Stab und zielte auf Vol’jins Brust. Vol’jin konnte die mörderische Absicht in seinem Gesicht lesen und warf sich zur Seite, so dass er knapp einem Hieb entkam, der seine Rippen zertrümmert und in sein Herz getrieben hätte. Vol’jin kam auf die Füße, misstrauisch und wachsam, doch er griff nicht an.
„„Papa?“ fragte er. „Was ist denn?“ Sen’jin lächelte nur und schwang seinen Stab in einem tödlichen, niedrigen Bogen. Vol’jin konnte darüber hinwegspringen, doch Sen’jin nutzte den Schwung, um seinen Kopf in Vol’jins Brust zu rammen.
Vol’jin brach auf dem Boden zusammen, der Atem wurde ihm aus den Lungen gepresst. Er rollte auf den Rücken und schnappte nach Luft. Sen’jin glitt in seine Richtung, sein Stab wirbelte erneut.
„Papa, warum tust du das? Habe ich versagt? Ich verstehe nich’!“ bat Vol’jin.
Sen’jin hielt ein. „Du kämpfst nich’, weil du glaubst, mich zu kennen? Schwach.“
Mit diesen Worten ließ er den Stab auf Vol’jins ausgestreckte Hand niedersausen. Die gesamte Kraft aus dem Körper des älteren Trolls lag in diesem Schlag und Vol’jins Hand wurde zerschmettert. Sein Daumen, der an seine Hand gepresst war, bekam die volle Wucht des Schlages ab. Knochen splitterte, und der Daumen krümmte sich zusammen wie eine Kralle.
Vol’jin konnte das Geschehen nicht verarbeiten. Er rollte auf die Seite, seine linke Hand umklammerte die Rechte; ab dem Handgelenk war jeder einzelne Knochen gebrochen, der Daumen nur noch eine breiige Masse. Er stand unter Schock und spürte, wie ihm die Realität seiner Umgebung entglitt. Er sah Sen’jins große bloße Füße, die sich durch den Dschungel entfernten.
„Papa!“ rief er. Sen’jin machte nicht Halt, er wurde nicht langsamer, blickte nicht einmal zurück. Die Büsche bewegten sich, und er war verschwunden. „Papa!“ Vol’jin fiel hintenüber, die Augen zusammengekniffen, und hielt seinen Arm.
Nach einem Augenblick gewann er die Kontrolle über seine Gedanken zurück und blickte auf seine Hand hinunter. Der Daumen war zerstört. Seine Gleve lag im Schlamm, das polierte Metall voller Flecken, Schmutz und Blut.
Die Hand würde heilen. Doch der Daumen würde missgestaltet bleiben. Vol’jin würde mit dieser Hand niemals ein Messer werfen können, niemals eine Gleve halten. Niemals jagen, niemals das Signal zu einem Angriff geben.
Doch es gab einen Weg, das in Ordnung zu bringen. Er kannte den Weg.
Vol’jin holte tief Luft, griff mit der linken Hand nach seiner Gleve, hob sie hoch über seinen Kopf. Er würde es mit geöffneten Augen tun. Er schwang die Gleve in einem großen, eleganten Bogen herab. Sie glitt geschmeidig durch Haut und Knochen seiner rechten Hand; das zerschmetterte, verunstaltete Ding, das einmal sein Daumen gewesen war, flog in die Dunkelheit.
Er wollte zu den Sternen über ihm schreien, doch stattdessen biss er sich auf die Lippen, bis sie bluteten, und wiegte sich vor und zurück. Er gab keinen Laut von sich. Der Daumen würde sauber nachwachsen. Alle Trolle waren von den Loa mit ein wenig Regenerationsfähigkeit gesegnet. Sie konnten Finger und Zehen nachwachsen lassen, wenn auch kompliziertere Gliedmaßen und Organe jenseits ihrer Möglichkeiten lagen. Es würde eine Weile dauern, doch er würde wieder heil sein.
Er sah langsam ein breites Leuchten am Rande seines Sichtfeldes und fragte sich, ob er einer Ohnmacht nahe war. Doch das Leuchten wurde stärker und stärker.
Vol’jin blickte auf.
Ein Loa leuchtete in der Nähe. Sein Licht war hell und lebhaft. Stärker und irgendwie frischer als der uralte, zurückhaltende, den er zuvor gesehen hatte. Er schien irgendwie vertraut. Er hatte das Gefühl, als ob er den Geist einmal gekannt hatte, vor langer Zeit.
Während Vol’jin noch den neuen Loa wahrnahm, fand er sich schon in einer Vision wieder. Er war auf einer Dschungelinsel, die sich stark von seiner augenblicklichen Heimat unterschied.
Wiederum konnte er sich selbst von außen beobachten, während er gleichzeitig in seinem Körper steckte. Er war älter, weiser, abgehärteter und unendlich viel schwermütiger. Er führte eine Gruppe von Trollen durch die Vegetation.
Die Szene wandelte sich, und er kämpfte gegen einen anderen Troll. Ein Hexendoktor mit wilden Augen, geschmückt mit Fetischen und einem aus Klauen zusammengeknüpften Halsband. Sie kämpften um Leben und Tod, während um sie herum die Schlacht der anderen tobte.
Der Hexendoktor war Zalazane.
Der Loa sprach. „Du kämpfst gegen dein eigenes Volk? Gegen einen anderen Dunkelspeer? Den Freund deiner Kindheit?“
Vol’jin sagte nichts, er beobachtete einfach den Kampf. Er verblich langsam vor seinen Augen, die Farben verflossen, wie frische Farbpigmente eines Idols im Regen es taten.
Nicht Zalazane. Sie hatten ihre gesamte Kindheit gemeinsam verbracht, waren gerannt, hatten geangelt und Ringkämpfe ausgefochten. Sie hatten Festungen aus Schlamm gebaut, ihrer beider erstes Jagdopfer war das gleiche Tier gewesen. Zalazane wusste Dinge über Vol’jin, die kein anderer ahnte. Über seine Ängste und seine Erfolge. Als er als kleines Kind über ein totes Haustier geweint hatte, oder an dem Tag, als er einen älteren Rowdy bewusstlos geprügelt hatte – Zalazane war immer dabei gewesen.
Vol’jin blickte hinunter. Der Stumpf sagte alles.
„Ich werde jeden töt’n, der die Zukunft der Dunkelspeer bedroht.“ sagte er. „Spielt keine Rolle, wer es is’. Der Stamm ist alles; seine Zukunft… ist alles.“
„Du bist weise, Junge“ sagte der Loa mit dieser Vertrautheit, die Vol’jin nicht einordnen konnte. „Du hast den Daumen nich’ abgetrennt, um dein Leben zu retten; du hast es gemacht, um deine Zukunft zu retten. Die Dunkelspeere müssen kämpferisch sein. Sich treu bleiben. Ertragen. Es wird nie leicht sein, aber das is’ der einzige Weg.“
„Wer bist du?“ fragte Vol’jin. Er musste es einfach wissen.
Der Loa ignorierte seine Frage. „Ich gewähre dir die Macht, dich mit den Loa zu beraten“, sagte er. „Wir werden nicht immer mit dir übereinstimm’n, aber wir werden dir eine faire Chance geb’n. Du bist jetzt ein Schattenjäger, Troll.“. Der Loa verblasste.
***
Später wanderten Vol’jin und Zalazane gemeinsam durch das dichte Unterholz.
„Die Zukunft“ sagte Vol’jin, „steht nicht fest. Wir sind keine Spielfiguren auf irgendeinem Brett. Wenn ich etwas töte, ist es tot durch meine Entscheidung.“
„Ja, Mann“ sagte Zalazane. „In meiner Seelenreise is’ mir alles klar geword’n. Wir sehen Pfade. Keine sicheren, nur Möglichkeiten. Wenn ein Troll schwach is’, wenn wir stark sein müssen, dann wird vielleicht ein anderer Troll vortreten. Und der Schwache… “ Er blickt weg von Vol’jin. „Der Schwache wird dann vielleicht zum Bösewicht in der Geschichte des Starken.“
„Aber was, wenn der Schwache wieder zum Starken wird, Zalazane?“
„Ich weiß es nich’, Mann. In all dem steckt Dunkles Voodoo. Vielleicht werd’n beide zu großen Führern. Vielleicht werd’n sie zu Freunden. Oder vielleicht wird der andere Troll zum Bösewicht.“
„Zalazane, das werden wir nich’ zulassen. Wir sind Freunde, und wir lernen viele Dinge. Du und ich, Mann, wir müssen ertragen, und uns treu bleiben, und kämpferisch sein.“
„Ja“, sagte Zalazane, aber aus seiner Stimme klang wenig Hoffnung. „Wir werden schon einen Weg find’n, Vol’jin.“
***
Vol’jin und Zalazane bewegten sich vorwärts durch das Unterholz und ließen die Erste Heimat schnell hinter sich. Sie sahen erste bekannte Anzeichen, die ihnen sagten, dass das Gebiet der Dunkelspeere nah war.
Die Visionen und Offenbarungen der vergangenen Tage verblassten schnell. Vol’jin versuchte frustriert, die Details festzuhalten, doch mit jedem Schritt, mit dem sie sich weiter von der Ersten Heimat entfernten, wurden die Erinnerungen undeutlicher. Vielleicht war das genau das, was die Loa wollten – nur ein vages Gefühl dafür, was nötig war. Nur wenige Worte verblieben. Ertragen. Treu. Kämpferisch.
Vol’jin und Zalazane waren nun anders. Sie bewegten sich selbstsicher, tasteten unaufhörlich die Umgebung nach Gefahren ab. Sie hatten sich in der Ersten Heimat verändert. Sie waren als Welpen dort eingedrungen und waren nun als Raubtiere daraus wieder hervorgegangen. Sie waren gefährlich, stolz, stark; sie waren Dunkelspeertrolle.
Als sie sich dem Dorf näherten, sahen sie mehr und mehr alarmierende Zeichen. Zertrampelte Blätter, Blutspritzer. Qualm lag in der Luft.
Jede Faser seines Bewusstseins sagte Vol’jin, dass sich etwas Entscheidendes gewandelt hatte. Ein fundamentaler Bestandteil des natürlichen Lebensrhythmus der Insel war für immer verändert worden.
Er streckte den Arm aus und Zalazane hielt sofort inne. Sie standen auf dem Trampelpfad in kurzer Entfernung zum Dorf der Dunkelspeere. Es war noch nicht in Sicht, doch selbst die Geräusche klangen falsch. Vol’jin hörte Zeichen von Geschäftigkeit, er konnte Arbeiter hören, die Bäume fällten, und Gehämmer.
Vol’jin schloss seine Augen und atmete tief ein, er lauschte den Loa. Sie flüsterten ihm zu, doch es fiel ihm schwer, sie zu verstehen. Er würde es mit der Zeit lernen.
„Ich glaube, unser Dorf wurde angegriffen.“ sagte er zu Zalazane und bemühte sich, die Botschaften der aufgewühlten Loa zu verstehen.
Zalazane nickte einfach nur wissend. Er hatte nun seine eigenen Methoden, und ihre unterschiedlichen Perspektiven hatten eine Kluft zwischen ihnen geschaffen.
Sie bewegten sich weiter vorwärts, die Waffen im Anschlag, jeder Schritt wohlbedacht.
Sie ließen das Buschwerk hinter sich und konnten nun das Dunkelspeerdorf erblicken. Hütten waren umgestürzt worden, überall lagen Trümmer herum.
Am Rand des Dorfes waren Leichen ordentlich aufgereiht worden. Trolle bewegten sich zwischen den Toten und arrangierten sie in friedlichen Ruhepositionen. Frauen und Kinder knieten hier und da bei einem Troll, schluchzend und haareraufend. Ein Priester wiegte sich mit geschlossenen Augen vor und zurück und murmelte dabei.
Die Trolle, ob tot oder lebendig, waren alle Dunkelspeere.
Vol’jin und Zalazane fielen in einen schnellen Lauf und wandten sich Richtung Dorfmitte. Hier waren die Verwüstungen noch verheerender. Sie passierten viele Dunkelspeere, alle zu beschäftigt mit ihren eigenen Angelegenheiten, um auf die beiden zu achten.
In der Nähe der Lagune sahen sie Mannschaften von Dunkelspeertrollen, die Schiffe bauten. Viele Schiffe. Diese Geschäftigkeit in organisierten Teams war so ganz anders als das, was Vol’jin vom entspannten Inselleben gewohnt war.
Sein Herz begann schneller zu schlagen. Sein Volk war nicht erobert worden, doch in der kurzen Zeit seiner Abwesenheit hatten es sich verändert.
Vol’jin und Zalazane hielten in der Dorfmitte an, zwei bewegungslose Gestalten in einem Gewusel von Aktivität. Einige Trolle warfen ihnen im schnellen Vorbeigehen vorsichtige, verwirrte Blicke zu. Die Loa begannen, durchdringend zu lärmen. Nur Vol’jin konnte sie hören, doch er wusste schon, dass jetzt etwas geschehen würde. Er blickte sich um und sah einen Troll, der auf sie zukam. Vol’jin und Zalazane drehten sich um, um Gadrin entgegenzusehen, dem obersten Hexendoktor des Stammes, als er auf sie zuschritt.
„Jungs“, sagte er. „Wo seid ihr gewesen? Ich dachte, ihr wärt tot.“
„Was meint Ihr, Meister?“, fragte Zalatane. „Wir waren nur für eine Woche im Dschungel.“
„Eine Woche? Vol’jin, Zalazane… Ihr wart für drei Monate fort. Es is’ so viel passiert. Eigenartige grüne Wesen kamen über das Meer –“
„Orcs“ sagte Vol’jin.
„Ja, Mann“ sagte Gadrin überrascht. Er wurde nachdenklich, als er fortfuhr. „Dein Vater, Vol’jin… Er kämpfte gegen die Seehexe, und er…“
„Er ist hinübergegangen. Er ist jetzt bei Bwonsamdi, Meister Gad. Ich weiß es.“ Vol’jin wurde sich der Wahrheit seiner Worte bewusst, während er sie aussprach. Er wusste, sein Vater war nicht länger unter den Dunkelspeeren. Zumindest nicht als Troll.
„Wir werden den Orcs über’s Meer folgen.“ fuhr Gadrin fort. „Die Seehexe is’ zu stark; hier können wir nich’ bleiben. Dein Papa, er sagte, wir sollten gehen. Es dauert aber seine Zeit. Wir müssen uns vorbereit’n.“
„Ich verstehe“ sagte Vol’jin, und plötzlich erfüllte ihn Zuversicht. „Ich werde mich um die Evakuation kümmern.“
„Ich helfe dabei“ sagte Zalazane mit einem Lächeln.
Vol’jin grinste seinen Freund an. Es wäre am sinnvollsten, Zalazane vorauszuschicken, um den Weg zu ebnen. Zalazane war sein treuester Freund, er würde die Aufgabe gut ausführen. Doch ein Teil von ihm sträubte sich dagegen. Er wusste nicht, warum, doch er hatte das Gefühl, er sollte Zalazane im Augenblick an seiner Seite haben.
Sie würden sich gegenseitig helfen, zusammen konnten sie alles bewältigen. Sie würden sich treu bleiben, kämpferisch sein, und sie würden ertragen.
Die Aufgabe der Aspekte von Matt Burns
Ich habe einen der meinen getötet.
Der Gedanke traf Nozdormu den Zeitlosen in dem Augenblick, in dem er den ausgedörrten bronzenen Drachen erblickte. Zirion war zu einer Hülle geschrumpft, die nur noch der Hälfte seiner ursprünglichen Größe entsprach. Verletzungen bedeckten seinen Körper vom Kopf bis zum Schwanz. Anstelle von Blut floss goldener Sand aus seinen Wunden. Endlose Ströme, über denen geisterhafte Bilder seines Lebens schimmerten – eines Lebens, das noch nicht gelebt worden war. Seine Zukunft entströmte ihm.
Nozdormu eilte über einen der verlassenen Gipfel des Hyjal um an Zirions Seite zu gelangen und jeder Augenblick der Geschichte spiegelte sich auf den von der Sonne gefärbten Schuppen des Zeitlosen wider. Während er sich über den sterbenden Drachen beugte, überkam ihn eine Welle der Hilflosigkeit. Ein undurchdringlicher Schleier hatte sich über die Pfade der Zeit gelegt, ein Schleier, den nicht einmal er, der Aspekt des bronzenen Drachenschwarms und der Wächter der Zeit, durchdringen konnte. Die Vergangenheit und die Zukunft – Dinge, die er einst klar hatte sehen können – erschienen nun verworren.
„Wo sind die anderen?“ Nozdormu wandte seinen gewaltigen Kopf Tick zu, die sich in der Nähe befand. Der getreue Drache hatte Zirion vom Hort des bronzenen Drachenschwarms in den Höhlen der Zeit so schnell wie möglich auf ihrem Rücken herbeigetragen – ein Unterfangen, das nur durch den verkümmerten Zustand ihres Passagiers möglich gewesen war.
Ticks atmete noch immer schwer nach den Strapazen: „Er ist alleine zurückgekehrt.“
„Wie kann dasss sein?”, knurrte Nozdormu missmutig. „Ich habe zwölf von ihnen in die Vergangenheit entsandt. Zwölf!“
Er hatte seine Agenten den Auftrag erteilt, den beunruhigenden Zustand der Pfade der Zeit zu untersuchen, doch nun wurde er das Gefühl nicht los, sie bloß in ihren Tod geschickt zu haben. Nach ihrer Rückkehr in die Gegenwart hätten die Drachen den Zeitlosen auf der Spitze des Hyjal treffen sollen, genau zur Mittagsstunde. Es war bereits weit nach Mittag als Tick, die er nicht in die Pfade der Zeit entsandt hatte, eingetroffen war, mit Zirion auf ihrem Rücken.
„Wasss habt Ihr gesehen, Zirion?“, fragte Nozdormu, während er begann, Zauber zu wirken, die das Entströmen des Sands der Zeit rückgängig machen sollten.
„Ich fürchte, er hat nicht mehr die Kraft zu sprechen“, wandte Tick ein.
Der Zeitlose hörte sie kaum. Das Unmögliche geschah: Seine Magie zeigte keine Wirkung. Sein Vorhaben war vorhergesehen worden und wurde durch ein gleichermaßen mächtiges Zauberwerk reflektiert. Es existierte nur ein einziges Lebewesen, das über den Weitblick und die Fertigkeit verfügte, den bronzefarbenen Aspekt im Reich der Zeit zu übertreffen ...
„Direkt nachdem er aus den Pfaden der Zeit zurückgekehrt ist“, berichtete Tick zögerlich weiter, „hat er erzählt, was er gesehen hat. Egal, wohin er und die anderen in der Geschichte zu reisen versuchten, sie tauchten immer wieder am gleichen Punkt in der Zukunft auf ... Zur Stunde des Zwielichts.“
Nozdormu senkte den Kopf und kniff die Augen zu. Es war genauso, wie er es befürchtet hatte. Die Stränge der Zeit waren vereinigt und in Richtung der Apokalypse gerissen worden. In dieser grauen und leblosen Zukunft würde selbst der Zeitlose sein Ende finden. Zumindest glaubte er das. Vor undenklichen Zeiten, als der Titan Aman’Thul ihm die Herrschaft über die Zeit verliehen hatte, hatte Nozdormu darüber hinaus auch das Wissen über seinen eigenen Tod erlangt.
„Wer trägt die Verantwortung für seine Wunden?“ Der Zeitlose kannte die Antwort bereits und doch hoffte er mit aller Inbrunst, dass er sich irrte ... dass das, was er gesehen hatte, nur eine Anomalität gewesen war.
„Es war der ewige Drachenschwarm und sein ... Anführer.“ Tick wagte es nicht, Nozdormu in die Augen zu sehen.
Ich habe einen der meinen getötet. Die erdrückenden Worte hallten durch den Kopf des Aspekts.
Einst hatte er geglaubt, dass der ewige Schwarm lediglich das Symptom einer fehlgeleiteten Zeitlinie wäre. Und doch, so unvorstellbar es auch schien, hatte er erfahren müssen, dass er und seine bronzenen Drachen in der Zukunft ihre heilige Pflicht – die Integrität der Zeit zu schützen – aufgeben und daran arbeiten würden, sie zu untergraben.
Nozdormu ließ die Geschehnisse der letzten Wochen noch einmal Revue passieren, während er sich bemühte, seinen Ärger unter Kontrolle zu halten. Er war bis vor kurzem in den Pfaden der Zeit gefangen gewesen, bis der Sterbliche Thrall ihn an die erste Lektion erinnert hatte: Dass es sehr viel wichtiger war, im Hier und Jetzt zu leben als in der Vergangenheit oder der Zukunft zu verweilen. Der bronzene Aspekt war seiner Gefangenschaft mit einem neu gefunden Verständnis der Zeit entkommen ... nur um sich dann seinen finstersten Ängsten gegenüberfinden zu müssen.
„Vergebt mir“, flüsterte Nozdormu Zirion zu, obwohl er nicht wusste, ob sein geliebter Diener ihn überhaupt noch sehen oder hören konnte. Der verletzte Bronzedrache hob den Kopf, als Zeichen des Verstehens. Er sah von einer Seite zur anderen, bis seine trüben und traurigen Augen Nozdormus Blick trafen.
„Vergebt mir“, wiederholte der Zeitlose. Zirions Maul weitete sich und sein Körper erzitterte. Fast wirkte es so, als würde er lachen, doch Nozdormu erkannte schnell, dass der andere Drache schluchzte.
Als der letzte Rest seiner Zukunft aus Zirions Körper rann, nutzte dieser, was ihm noch an Kraft verblieben war, um sich von Nozdormu wegzustoßen, seine Augen erfüllt mit Entsetzen.
***
Über den Hyjal erklangen die Geräusche von Feierlichkeiten.
Nach einer Reihe von Rückschlägen hatten die Drachenaspekte Alexstrasza, Ysera, Nozdormu und Kalecgos ihre Magie mit der der Schamanen des Irdenen Rings und der Druiden des Zirkels des Cenarius verbunden, um den uralten Weltenbaum Nordrassil zu heilen. Vor kurzem war darüber hinaus die Kunde verbreitet worden, dass Ragnaros – der Elementarfürst des Feuers, dessen Günstlinge versucht hatten, Nordrassil niederzubrennen – durch die Hand Sterblicher gefallen war.
Und doch, dort wo Ysera die Erwachte in der Zuflucht des Cenarius am Fuße des Weltenbaums stand, war der Jubel nicht mehr als ein entferntes Flüstern. Der Aspekt des grünen Drachenschwarms vernahm nur die Geschichte einer Tragödie.
Sie war mit den anderen Aspekten zusammengekommen, um über ihre weiteren Schritte gegen Todesschwinge zu beraten, den wahnsinnigen Anführer des schwarzen Drachenschwarms, der die Verantwortung für die Zerschlagung der Welt während des Kataklysmus trug. Obwohl die Verteidiger Azeroths erst vor kurzem auf dem Hyjal und in anderen Regionen triumphiert hatten, schmiedete der gemarterte Aspekt selbst jetzt noch neue Pläne, die Stunde des Zwielichts herbeizuführen. So lange er atmete würde er niemals ruhen, bis er seine finsteren Vorhaben ausgeführt hatte.
Aber anstatt über Strategien zu sprechen, hatte Nozdormu von Zirions Tod und dem neusten Angriff des ewigen Drachenschwarms auf die Pfade der Zeit berichtet. Falten zogen sich über das ansonsten ebene Gesicht des Hochelfen. Genau wie seine Geschwister hatte auch er seine sterbliche Gestalt angenommen, etwas, was die Aspekte immer taten, wenn sie sich in der Nähe der kurzlebigen Völker befanden, die um Nordrassil herum weilten.
„Esss war meine Magie, die ihn getötet hat ... Ich habe ihn getötet“, murmelte Nozdormu. Ysera blickte beklommen vor sich hin. Trotz der entsetzlichen Notlage des Zeitlosen gelang es ihr nicht, darüber hinwegzusehen, wie alles um sie herum weit entfernt wirkte. Sie schwebte zwischen der wachen Welt und der der Träume, ohne Halt, weder in der einen noch in der anderen.
„Ich muss zum Treffpunkt zurückkehren“. Der bronzene Aspekt wrang unruhig die Hände und bewegte sich voller Ungeduld. „Meine anderen Agenten können noch immer zurückkehren, doch ich weiß es nicht mit Sicherheit. Ich kann nur hoffen.“
Während Nozdormu sich zum Gehen abwandte, suchte Ysera verzweifelt nach Worten des Trostes. Er hatte sich ganz eindeutig in sein Schicksal ergeben. Aman’Thul hatte ihm den Auftrag erteilt, die Reinheit der Zeit zu gewährleisten, unabhängig davon, welche grauenvollen Ereignisse stattgefunden hatten oder stattfinden würden. In mancher Hinsicht erschien die Aufgabe des Zeitlosen Ysera nicht richtig, aber es war nicht an ihr, seine Pflichten in Frage zu stellen.
Was soll man einem Lebewesen sagen, das alles tun würde, um die Drachen seines Schwarms zu beschützen, aber das sich jetzt selbst verantwortlich macht für den Tod eines von ihnen?, grübelte sie. In ihrem Kopf herrschte ein Sturm aus zersplitterten Gedanken. Es war, als würde sie in einer riesigen Bibliothek stehen, durch die ein Orkan tobte. Seiten, übersprudelnd mit Ideen und Bildern wirbelten vor ihren Augen vorbei, doch sie waren alle Teil unterschiedlicher Bücher.
Bevor der Erwachten irgendetwas Angemessenes in den Sinn kam, war Nozdormu bereits fort. Eine gespenstische Stille folgte. Die Nachtelfen, die den druidischen Zufluchtsort normalerweise bewohnten, waren so freundlich gewesen, ihn den Aspekten für ihre Treffen zu überlassen, aber durch die Abwesenheit von geschäftigem Leben fühlte sich der Ort kalt und leer an.
„Ob der ewige Schwarm nun mit Todesschwinge zusammenarbeitet oder nicht tut eigentlich wenig zur Sache“, ließ sich Alexstrasza die Lebensbinderin, Drachenkönigin ihres Volkes und Aspekt des roten Schwarms, sich zu guter Letzt vernehmen. „Der Grund, warum wir alle zugestimmt haben, auf dem Hyjal zu bleiben, ist, Strategien zu entwerfen, wie wir am besten mit ihm fertigwerden. Das Rätsel um die Pfade der Zeit ist nur ein weiterer Beleg dafür, dass wir rasch handeln müssen. Kalecgos, hat Euer Schwarm seine Untersuchungen fortgesetzt?“
„Das haben wir.“ Der Aspekt des blauen Schwarms räusperte sich und richtete sich auf. Kalec, sonst so liebenswürdig und freundlich, gab sich in letzter Zeit seltsam förmlich. Er war der jüngste der Aspekte und war erst vor kurzem zum Oberhaupt seines Schwarms erwählt worden, nachdem der frühere Anführer, Malygos, gestorben war. Ysera mutmaßte, dass Kalec versuchte, sich bei den anderen Aspekten zu beweisen, auch wenn sie ihn in Wirklichkeit längst als ihnen ebenbürtig betrachteten.
Kalec ließ seine Hand durch die Luft gleiten und eine Reihe von leuchtenden Runen erschien, auf denen die Experimente aufgeführt waren, die der Drachenschwarm durchgeführt hatte. Die Blauen hatten die uralten Wissensschätze durchforstet, die sie in ihrem Hort, dem Nexus, aufbewahrten, auf der Suche nach Todesschwinges Schwachstellen. Kalecs Drachen waren die Hüter der Magie und wenn es eine Antwort gab, die im arkanen Reich versteckt lag, so würden sie sie finden.
„Es ist uns gelungen, Spuren von Todesschwinges Blut in der Elementarebene Tiefenheim zu finden. Die Proben waren nur klein, aber sie genügten für unsere Tests.“
„Und wie sehen die bisherigen Ergebnisse aus?“ Alexstraszas Stimme klang erwartungsvoll. So hoffnungsvoll hatte Ysera ihre Schwester noch nie während eines dieser unergiebigen Treffen gesehen.
„Wenn wir das Blut mit arkaner Magie erfüllen – in einem Umfang, dass jedes andere Lebewesen in Stücke gerissen werden würde – so erzürnt dies die Proben nur. Das Blut teilt sich und beginnt zu kochen, aber letztendlich setzt es sich erneut zusammen.“
„Also hat nicht einmal arkane Magie einen Effekt.“ Die Lebensbinderin ließ die Schultern hängen.
„Aber das ist nur der Anfang unserer Tests“, fügte Kalec schnell hinzu. „Ich glaube, wir werden ein Werkzeug auf unserer Seite benötigen, wenn wir uns Todesschwinge stellen. Zahlenmäßige Überlegenheit, egal wie hoch, wird uns nichts nützen. Wir benötigen eine Waffe ... eine, die es vorher noch nie gegeben hat. Mein Schwarm wird nicht ruhen, bis wir dieses Problem nicht gelöst haben.“
„Habt Dank.” Alexstrasza wandte sich Ysera zu. „Habt Ihr in letzter Zeit besondere Visionen gehabt?“
„Bislang ... nicht“, antwortete sie, ein wenig beschämt. Während dieser Treffen fühlte sich die Erwachte häufig wie wenig mehr als eine Fliege an der Wand. Die Titanin Eonar hatte ihr die Herrschaft über die Natur und den üppigen Urwald, der als der Smaragdgrüne Traum bekannt war, gewährt. Für Jahrtausende hatte sie dort als Ysera die Träumerin gelebt. Unmittelbar vor dem Kataklysmus war sie aus dem Traum erweckt worden. Ysera die Erwachte wurde sie nun genannt. Ihre Augen, die so lange geschlossen gewesen waren, hatten sich geöffnet, doch sie fragte sich, was sie mit ihnen sehen sollte.
„Lasst uns wissen, wenn Euch irgendetwas einfällt.“ Die Lebensbinderin lächelte, aber Ysera spürte ihre Unruhe. „Wir werden morgen wieder zusammen kommen.“
Und damit endete das Treffen genauso wie es begonnen hatte: ohne Antworten.
Am nächsten Morgen wanderte Ysera durch die verstreuten Lager am Fuße Nordrassils. Der große Weltenbaum ragte hoch über ihr empor, seine Krone war in den Wolken verborgen. Hier und dort saßen Schamanen des Irdenen Rings und Druiden vom Zirkel des Cenarius, versunken in friedliche Meditation. Nach der Heilung Nordrassils hatte Ysera die Druiden gelehrt, wie sie ihren Geist mit den Wurzeln des Baums verbinden konnten, um ihnen zu helfen, in die Erde vorzudringen. Die Schamanen arbeiteten währenddessen daran, die Erdelementare zu beruhigen und den Wurzeln freies Geleit auf ihrem Weg in Azeroths Tiefen zu ermöglichen. Dies war ein beispielloses Zusammenarbeiten dieser beiden so unterschiedlichen Gruppen Sterblicher. So sehr ihre Einheit Ysera auch ermutigte, so wusste sie doch, dass all ihre edlen Unternehmungen bedeutungslos wären, sollte Todesschwinge nicht daran gehindert werden können, weiter seine Vorhaben zu verfolgen.
Die Erwachte setzte ihren Weg fort bis zu einem abgelegenen Ring aus Bäumen, nordöstlich des Weltenbaums. Als sie eine Lichtung in dem Hain betrat, fand sie Thrall vor, der bereits auf sie wartete. Er befand sich in tiefer Mediation. Ysera hatte tiefen Respekt für den orcischen Schamanen, vermutlich mehr, als er wusste. Vor einigen Wochen hatten Todesschwinge und seine Verbündete die grünen, roten, blauen und bronzenen Aspekte angegriffen – ein Angriff, der sie vernichtet hätte, wäre Thrall ihnen nicht zur Hilfe gekommen. Er hatte dabei geholfen, die Anführer der Drachenschwärme zusammenzubringen und sie an ihren Auftrag erinnert, Azeroth zu beschützen. Die Aspekte waren derzeit so einig wie seit über zehntausend Jahren nicht mehr.
„Thrall.“ Die Erwachte sprach leise. Die Natur reagierte auf ihre Worte. Der Wind zupfte an Thralls langen schwarzen Zöpfen. Das Gras raschelte unter seinen einfachen Gewändern. Und doch öffnete der Schamane nicht die Augen.
Sein Grad an Konzentration verblüffte sie, doch sie wusste, dass er ihn nicht auf leichte Art und Weise erreicht hatte. Während seines ersten Versuches, Nordrassil zu heilen, hatten Todesschwinges Diener Thrall angegriffen und seinen Geist, seinen Körper und seine Seele in die vier Elemente gerissen – Erde, Luft, Feuer und Wasser. Durch die Taten eines sterblichen Helden und Thralls Gefährtin, Aggra, war er gerettet worden. Seit dieser Zeit hatte Thrall eine neu gefundene Verbindung zur Erde demonstriert, die weit über die bloße Kommunikation mit den Elementen hinausging. Er konnte Azeroth fühlen als wäre es ein Teil seines Selbst. Er verband sich mit der Welt auf übernatürliche Art und Weise. Ysera glaubte, dass während der Neuzusammensetzung seines Seins die Essenz von Azeroth ihren Weg in ihn gefunden hatte.
„Thrall.“ Ysera legte sanft ihre Hand auf den Arm des Schamanen.
Der Orc erwachte endlich aus seiner Meditation und stand auf. „Ysera, Herrin, ich habe ohne Euch begonnen. Es tut mir leid.“
„Ich bin nur hier, um Euch zu helfen, solltet Ihr mich brauchen“, beruhigte der grüne Aspekt ihn.
„Darf ich fragen, wie das Treffen verlaufen ist?“
„Wir haben Fortschritte gemacht“, zwang Ysera sich zu sagen, bevor sie das Thema wechselte. „Sollen wir anfangen?“
„Ja.“ Thrall setzte sich erneut und Ysera tat es ihm gleich. Sie hatte vor langer Zeit gelernt, dass Demonstration das beste Mittel war, Wissen zu lehren. Während sich Thralls Geist mit der Erde vereinigte, würde sie sich mit Nordrassils Wurzeln verbinden. Die Magien waren unterschiedlich, doch das Prinzip der Konzentration war das gleiche.
„Habt Ihr in letzter Zeit dieselben Schwierigkeiten gehabt?“, fragte Ysera. Thrall hatte ihr berichtet, dass es ihm nicht gelungen war, mit der Erde jenseits des Hyjal in Verbindung zu treten, ganz so, als würde eine mentale Barriere seinen Geist blockieren. Der Orc war entschlossen, seine neuen Fähigkeiten zu erkunden, aber er schien zu zögern, sich zu weit nach Azeroth hinein zu wagen.
„Ja, habe ich.“ Thralls Brauen zogen sich in Frustration zusammen. „Es ist, als stünde ich in der Brandung eines großen Ozeans. Je weiter ich mich in seine Tiefen wage, desto weiter entfernt fühle ich mich vom Ufer ...“
„Thrall“, sagte Ysera, während sie eine Handvoll Erde aufhob und sie in die linke Hand des Orcs legte. „Das hier ist Azeroth. Wenn Euer Geist diese Erde durchdringen kann, dann kann er sich überall bewegen. Der Hyjal ist kein magischer Anker. Er besteht aus derselben Erde, die unter den Straßen Orgrimmars liegt oder in den Dschungeln des Schlingendorntals. Diese Welt besteht aus einem Körper.“
„Ein Körper ...“ Der Orc betrachtete die Erde und lachte herzhaft. „Oftmals lösen sich die schwierigsten Probleme durch die einfachste Antwort ... durch die Dinge, die direkt vor den eigenen Augen sind. Das hat mir mein alter Lehrer, Drek’Thar, einmal vor vielen Jahren gesagt. Ihr habt viel mit ihm gemeinsam. So weise und geduldig ... Egal, auf welche Hürden ich treffe, Ihr findet immer einen Weg, sie zu überwinden.“
Ysera zwang sich zu lächeln, als sie die Ironie in Thralls Worten erkannte.
„Dies wird mein Anker sein.“ Der Schamane schloss seine Hand um die Erde.
Thrall schloss die Augen und atmete tief. Ysera tat das gleiche und sagte dann: „Beruhigt Eure Gedanken. Löst Euren Geist von Eurem Fleisch und fühlt die Erde um uns herum. Wisset, dass die Steine unter Euch die gleichen sind wie die unter mir. Wisset: Wenn Ihr einen Schritt tun könnt, so könnt Ihr sicherlich noch einen weiteren tun.“
Ysera nahm sich ihre eigenen Anweisungen zu Herzen während ihr Geist sich mit den gewaltigen Wurzeln des Weltenbaums verband. Thrall glaubte, dass seine aufkeimenden Kräfte niemals für ihn bestimmt gewesen waren, dass er sie nur durch Zufall erhalten hatte. In Wahrheit war genau das Gegenteil geschehen. Seine Aufgabe war eindeutig, auch wenn er es nicht wusste. All die Jahre, die er sich dem Schamanismus gewidmet hatte, hatten ihn zu der außergewöhnlichen Fähigkeit geführt, sich mit der Erde vereinigen zu können. Die Erwachte sehnte sich nach einem ähnlichen Gefühl der Erfüllung.
Ihre Gedanken wanderten zu den Treffen mit den anderen Aspekten. Sie konzentrierte sich auf jedes Detail und fragte sich, ob vielleicht eine einfache Antwort unter den endlosen Diskussionen verborgen sein mochte. Die Aufmerksamkeit der Erwachten wandte sich Kalec zu. Etwas von dem, was der junge Aspekt gesagt hatte, schien sich immer wieder in den Vordergrund schieben zu wollen.
„Eine Waffe ... eine, die es vorher noch nie gegeben hat.“
In den Worten steckte Macht, eine Bedeutung, die gerade so außerhalb ihres Verständnisses lag.
Eine Waffe ...
„… wie keine andere. Sie muss sein wie keine andere.“ Eine bekannte Stimme dröhnte durch ihren Kopf. Sie verschlang sie wie eine Flutwelle und fegte die Millionen von zusammenhangslosen Ideen hinweg, die durch ihr Bewusstsein geschwirrt waren.
Schockiert öffnete Ysera die Augen, doch sie befand sie nicht länger auf dem Hyjal.
Sie schwebte durch einen dunklen und höhlenartigen Raum, den sie als die Kammer der Aspekte erkannte, die geheiligte Domäne der fünf Drachenschwärme. Unter ihr erblickte sie eine Versammlung von Drachen. Ysera – eine vergangene Version von ihr selbst – war darunter, zusammen mit Alexstrasza, Soridormi, Nozdormus Hauptgefährtin, dem vor kurzem verstorbenen blauen Drachenaspekt Malygos und ... Todesschwinge.
Nein ... nicht die narbenbedeckte und grässliche Kreatur der Gegenwart. Es war Neltharion der Erdwächter, der einst stolze Aspekt des schwarzen Drachenschwarms. Ohne dass seine Gefährten es ahnten war er bereits von den heimtückischen Alten Göttern verderbt worden – jenen unergründlich mächtigen Wesen des Wahnsinns, die von den Titanen in der Erde gefangen gesetzt worden waren – und hatte seine Aufgabe, Azeroth zu beschützen, verraten.
Ysera erkannte die Zeit sofort wieder. Dies war vor über zehntausend Jahren geschehen, inmitten des Kriegs der Ahnen. Die dämonische Brennende Legion war in Azeroth eingefallen und die Aspekte hatten sich versammelt, um eine Zeremonie durchzuführen, von der sie hofften, dass sie die Welt vor der Vernichtung bewahren würde. Sie umringten eine unscheinbare goldene Scheibe, die in der Luft schwebte.
Auf den ersten Blick wirkte diese wie ein einfaches Schmuckstück. Und doch war dies die Waffe, die die Einheit der Drachenschwärme zerstören würde ... die Waffe, die zahllose blaue Drachen das Leben kosten und Malygos in Jahrtausende der Einsamkeit treiben würde. Die Drachenseele.
Ysera sah mit Entsetzen zu, wie das Ritual abgeschlossen wurde. Jeder der Aspekte – mit Ausnahme von Neltharion – hatte einen Teil seiner oder ihrer Essenz geopfert, um das Artefakt zu stärken. Die Drachen hatten in dem Glauben, dass die Scheibe benutzt werden würde, um die Legion aus Azeroth zu vertreiben, zu dieser drastischen Lösung gegriffen.
„Es ist vollbracht“, verkündete Neltharion. „Alle haben gegeben, was zu geben war. Ich werde jetzt die Drachenseele versiegeln, damit ihr Inneres niemals verloren geht.“
Ein unheilvolles schwarzes Leuchten umhüllte den Erdwächter und das Artefakt, ein subtiler Hinweis auf seine wahre Natur.
„Soll dies so sein?“, fragte Yseras vergangenes Selbst leise.
„Ja, damit sie so ist, wie sie sein soll“, antworte Neltharion beinahe schnippisch.
„Es ist eine Waffe wie keine andere. Sie muss sein wie keine andere“, fügte Malygos hinzu.
Die Wände der Kammer splitterten und fielen zur Seite wie Glasscherben nachdem Malygos gesprochen hatte und gaben den Blick auf den smaragdfarbenen Boden der Lichtung frei. Thrall verharrte noch immer in seiner meditativen Haltung, er hatte Yseras Vision nicht bemerkt. Sie achtete kaum auf den Orc, als sie sich erhob und versuchte, dem, was sie gerade gesehen hatte, einen Sinn zu geben. Ist es falsch, zu glauben, dass die Drachenseele Azeroths Rettung sein könnte, nach all dem Leid und Tod, die sie verursachte?
Die Erwachte eilte aus dem Hain, auf der Suche nach Kalec und Alexstrasza. Die anderen Aspekte werden mich für wahnsinnig halten, wenn ich vorschlage, sie für unsere eigenen Zwecke einzusetzen. Trotz ihrer Besorgnis drängte sich ein einzelner Gedanke in den Vordergrund: Todesschwinges Tyrannei muss beendet werden wie sie begann.
***
Die Erde war kein Gegenstand in Thralls Hand. Vielmehr erkannte er, dass sie genauso ein Teil von ihm war, wie seine Finger ein Teil seiner Hand waren. Einzigartig in sich selbst, aber Teil des großen Ganzen.
Der Geist des Orcs stieg in die Erde unter ihm ab und dann weiter in die Tiefen des Hyjal. Er erlebte jeden Stein und jeden Sandkorn als wären sie eine Verlängerung seines Selbst. Die chaotischen Erdelementare, um deren Besänftigung er sich so lange bemüht hatte, umfingen ihn – hießen ihn willkommen – als einen der ihren.
Im Berg waren viele Aktivitäten im Gange. Schamanen – Aggra unter ihnen – flüsterten zu der Erde in harmonischem Chor, der auf Thralls Geist eine genauso beruhigende Wirkung hatte wie auf die Elemente. An anderer Stelle geleiteten die Druiden Nordrassils Wurzeln immer weiter in Azeroths Tiefen hinab. Die Essenz des Orcs bewegte sich an ihrer Seite, dorthin, wo Steine und Stücke von Granit zu weicher Erde zerbröselt waren, damit der Weltenbaum sich nähren und im Gegenzug die Erde stärken konnte. Er glitt durch den Kreislauf der Heilung, gekräftigt.
Thralls Geist erreichte das Hügelvorland des Berges. Dies war das Weiteste, wohin er sich bisher gewagt hatte. Sein Bewusstsein für seinen physischen Körper war so entfernt wie während seiner vorherigen Versuche. Der Orc konzentrierte sich auf die schwache Wahrnehmung der Erde in seiner Hand und wiederholte Yseras weise Worte. Dies ist Azeroth ... Diese Welt besteht aus einem Körper.
Ermutigt durch die Worte, verbannte Thrall alle Vorbehalte aus seinem Herzen und stürzte sich nach Azeroth.
Seine Essenz raste kopfüber durch Kilometer nach Kilometer an Erde, die sich um ihn herum ausbreitete. Er bewegte sich durch die sonnenverbrannte Erde von Durotar und dann durch die schlammigen Ufer der Sümpfe des Elends. Alle Länder, egal wie weit entfernt oder unterschiedlich sie voneinander waren, waren miteinander auf eine Art und Weise verbunden, die er zuvor niemals verstanden hatte.
Neben den Gebieten, die er kannte, entdeckte Thrall andere Orte und Eigentümlichkeiten in Azeroth, die ihm bis dahin unbekannt gewesen waren.
Irgendwo im Großen Meer lag eine mysteriöse Insel, verborgen im Nebel ...
Unterhalb der Östlichen Königreiche rührte sich eine Präsenz in den Bergen von Khaz Modan. Der Geist dort war stark, aber nicht elementarer Natur. Er war, seltsamerweise, wie Thrall: ein Sterblicher, der die Fesseln des Fleisches abgeworfen hatte. Das unbekannte Wesen patrouillierte die uralte Erde der Region als würde es stille Wacht über das Land halten. Es sprach mit einem zwergischen Akzent, der durch Azeroth hallte.
„Denn sieh, wir sind die Irdenen, die dem Land entstammen, und seine Seele ist die unsere, seine Qual ist die unsere, sein Herzschlag ist der unsere ...“
Thrall sah auch, dass die tiefen Orte der Welt durchlöchert waren mit geschmolzenen Verletzungen und anderen Wunden. Was ihn am längsten innehalten ließ waren die gewaltigen Höhlen, kalt und unnatürlich, verstreut über den Erdball. Sie waren Orte der Leblosigkeit, bei denen selbst die Erdelementare zögerten, sich ihnen zu nähern.
Einer dieser Hohlräume befand sich tief unter dem Hyjal. Thrall steuerte seinen Geist in die Richtung der unterirdischen Aushöhlung. Anders als beim Rest von Azeroth war das, was sich in der Höhle befand, vor seinem Blick verborgen. Als er sich näherte, drang eine einzelne Stimme aus der Kammer heraus, erzitternd vor unermesslicher Macht.
„Schamane.“
Die Stimme trommelte über den Geist des Orcs, als würde Azeroth selbst zu ihm sprechen.
„Komm.“
Thrall wurde von der Quelle der Stimme angezogen, er fühlte sich genötigt, sie ausfindig zu machen. Seine Essenz umkreiste das Äußere der Kammer bis er eine Öffnung in den scheinbar undurchdringlichen Wänden der Höhle fand. Während er seinen Geist in die Leere schob, drangen Steine und Erde mit ihm zusammen ein. Das Geröll verschmolz zu Beinen, einem Rumpf, Armen und einem Kopf; zwei facettenreiche Kristalle dienten ihm als Augen. Seine neue Gestalt ähnelte seinem wahren physischen Körper – von dem Umstand abgesehen, dass er aus Erde war.
„Wer seid Ihr?“, rief Thrall mit einem scharfen Poltern, das mehr nach dem Geräusch mahlender Steine klang denn nach einer verständlichen Sprache klang.
Teiche von aufgewühlter Lava boten die einzige Beleuchtung des Raums. Die Wände und der Boden waren bedeckt mit einer groben kristallinen Substanz, die so schwarz war, dass sie alles Licht um sie herum zu absorbieren schien.
„Hier“, kam die Antwort aus der Mitte des unterirdischen Lochs. „Hier liegt die Wahrheit dieser Welt.“
Thrall schleppte sich weiter in die Kammer, angelockt von der Autorität, die in den Worten mitschwang. Seine Verbindung mit dem Rest von Azeroth und seinem Körper auf dem Hyjal wurde mit jedem Schritt, den er tat, dünner. In der Mitte der Höhle stand eine humanoide Figur, ihre Gesichtszüge eingehüllt in fast fassbare Finsternis.
Er wankte näher heran, bis zwei Augen sich in dem statuenhaften Wesen öffneten, die in der Farbe von geschmolzenem Stein glühten.
Thrall stolperte zurück als die Schatten, die die Gestalt umgeben hatten, sich auflösten und den Blick auf einen grotesken Menschen freigaben. Eine gewaltige Metallplatte in Form eines Kiefers war an sein äschernes Gesicht geschraubt. Gezackte Hörner ringelten sich von seinen Schultern und seine Finger endeten in dolchähnlichen Klauen. Adern aus Magma schlängelten sich über seine Brust.
Der Orc erkannte den Menschen nicht, aber er spürte seine wahre Identität: es war Todesschwinge in seiner sterblichen Gestalt.
„Die Arroganz von Schamanen wird niemals aufhören, mich zu verblüffen“, rumpelte der schwarze Aspekt, mit einer Stimme, die wie das Zusammenstoßen zweier gewaltiger Steinbrocken klang. „Ihr strebt danach, eine Macht zu zähmen, deren Herrschaft euch von Rechts wegen nicht zusteht ... eine Macht, die euer Verständnis bei weitem übersteigt.“
Thrall rannte in die Richtung der Wand, durch die er die Höhle betreten hatte. Splitter schwarzen Kristalls lösten sich krachend vom Boden und schlossen sich über der freigelegten Erde. Der Orc rammte seine Schulter in die Barriere und flehte die elementaren Geister an, sich ihm zu öffnen. Die widerwärtige Substanz erhörte seine Rufe jedoch nicht so wie es die Erdelementare Azeroths getan hätten.
„Faszinierend, nicht wahr?“, knurrte Todesschwinge hinter ihm. „Das Blut der Alten Götter antwortet deinen Launen nicht, denn sie sind nicht von dieser Welt. Nur die Erwählten können es wirklich beherrschen.“
Thrall wirbelte in Erwartung eines Angriffs zu dem Aspekt herum, doch Todesschwinge war nicht nähergekommen.
„Ich habe dein Kommen erwartet, seit ich deinen Geist blind durch die Hänge des Hyjal tasten sah“, sagte Todesschwinge. „Ich hatte angenommen, dass du nicht mutig genug wärst, um dich jenseits des Bergs zu wagen, aber dein Fortschritt beweist, was ich bereits vermutet hatte ... Die anderen Aspekte haben vor, dir meine Kräfte zu gewähren. Sie planen, mich durch einen Sterblichen zu ersetzen.“
Thrall begriff den Sinn dieser Worte nicht. Obwohl er nun über erweiterte Fähigkeiten verfügte, hatten Ysera und ihre Kameraden ihm deutlich gemacht, dass er niemals ein Aspekt werden würde und daher auch nicht der Erdwächter.
„Sie haben nichts mit diesen Kräften zu tun.“ Thrall bewegte sich tastend an der Höhlenwand entlang, in der Hoffnung auf einen Riss oder eine Schwachstelle zwischen den aus dem Blut der Alten Götter gefertigten Platten. „Und die Entscheidung, sie zu nutzen, war ganz allein meine.“
Die Kammer erzitterte unter Todesschwinges Lachen. „Das wollte man dich glauben machen. Ich habe an vielen Orten Augen, die für mich sehen, Schamane. Ich weiß, dass die anderen Aspekte auf dem Hyjal zurückgeblieben sind um ihre Ränke zu schmieden und dass du mit ihnen zusammenarbeitest. Wie Feiglinge haben sie dich in dieses Schicksal gelockt, ohne dass du davon ahntest, darauf bedacht, meinen Fluch auf dich zu übertragen.“
„Was Euch gegeben wurde war ein Geschenk, kein Fluch“, erwiderte Thrall. Er hatte in letzter Zeit viel über die Titanen und die Aspekte erfahren. Vor langer Zeit hatte der Titan Khaz'goroth Todesschwinge die Herrschaft über die irdenen Weiten der Welt gewährt und ihm den Auftrag erteilt, sie vor Unheil zu schützen. Allerdings hatte diese Pflicht ihn anfällig gemacht für den Einfluss der Alten Götter, die im Inneren Azeroths gefangen waren. Die Probleme und Sorgen, mit denen die Aspekte im Laufe der Geschichte zu tun hatten – von Todesschwinges Verrat bis hin zur bevorstehenden Stunde des Zwielichts – waren alle Teil des großen Plans der Alten Götter, alles Leben in der Welt zu vernichten.
„Ein Geschenk?“, fauchte Todesschwinge. „Du bist genauso fehlgeleitet wie die anderen Aspekte, ein zu großer Narr, um zu erkennen, dass die uns auferlegten Aufgaben nichts anderes als Kerker für uns waren.“
„Die Titanen gaben Euch einen Sinn“, gab Thrall zurück. Seine Verbindung mit dem Hyjal war schwächer denn je. Er spürte, dass die Erde, die er in weiter Entfernung in seiner physischen Hand hielt, ihm durch die Finger rann.
„Nichts von dem, was sie tun, hat einen Sinn.“ Todesschwinge stampfte in Richtung Thralls, wobei jeder Schritt durch die Kammer donnerte. „Azeroth war für die Titanen ein Experiment. Ein Spielzeug. Als sie genug hatten, haben sie uns allen den Rücken gekehrt. Es war ihnen vollkommen egal, was mit der zerbrochenen Welt geschehen würde, die sie zurückließen.“
„Sie ist zerbrochen wegen dem, was Ihr getan habt. Weil Ihr Euer Geschenk zurückgewiesen habt!“, brüllte Thrall.
„Es ist kein Geschenk!“ Todesschwinges Körper erbebte vor Zorn.
Thrall bemerkte, dass seine Worte einen Effekt auf Todesschwinge hatten. Er fuhr damit fort, den Aspekt zu reizen, in der Hoffnung, dass dieser irgendeine Schwäche preisgeben würde. „Das Geschenk, für das Ihr nicht stark genug gewesen seid. Das Geschenk ...“
„Sei still!“, donnerte Todesschwinge. „Wenn du darauf bestehen möchtest, dass es ein Geschenk war, dann sei es so. Dann sollst du auch erfahren, wie es ist, ich zu sein, dieses gnadenvolle Geschenk zu erhalten ... wie es ist, das glühende Herz dieser Welt als dein eigenes zu spüren.“
Schmerz loderte tief in Thralls irdener Brust. Die unablässigen Flammen, die in Azeroths Kern brannten, wirbelten in seinem Geist. Seine Steinhaut zischte und dampfte, während sie in einem finsteren und zornigen rot glühte.
„Dann sollst du erfahren, wie es sich anfühlt, das Gewicht dieser sterbenden Welt auf deinen Schultern zu spüren.“
Thralls Beine zitterten, als jeder Stein in Azeroth ihn zu Boden drückte. Sein Körper splitterte und zerbarst. Es war jenseits körperlichen Schmerzes; sein Geist löste sich auf, erstickt von der unfassbaren Last.
„Schmeckt dieses Geschenk so süß, wie du es dir ausgemalt hast?“, fragte Todesschwinge amüsiert. „Das ist es, was die anderen Aspekte wollen: dich an diese Welt zu ketten, so wie ich es einst war. Dich zu einem Leben von unendlicher Marter zu verurteilen.“
Durch den grellen Schmerz erkannte Thrall, dass er nun über unglaubliche Stärke verfügte. Das Gewicht Azeroths unterstand seinem Befehl. War Todesschwinge so arrogant, dass er ihm diesen Vorteil verschafft hatte?
Der Orc hinterfragte seine Intuition nicht. Dies war der Irrtum im Urteilsvermögen seines Feindes, auf den er gewartet hatte. In einer einzigen schnellen Bewegung kanalisierte Thrall die Last Azeroths in seine Faust und stürzte auf Todesschwinge zu. Die Macht war berauschend. Er fühlte sich, als könnte er einen Berg in zwei schlagen.
Der schwarze Aspekt stand regungslos da, während Thrall sich näherte. In dem Augenblick, bevor seine Faust auf Todesschwinges Brust traf, wurde das Gewicht Azeroths – und all seine Kraft –dem Zugriff des Orcs entrissen.
Seine Hand schlug auf die menschliche Gestalt des Aspekt und Thralls Arm zerbrach bis hin zu seinem Ellenbogen in tausend Stücke. Er sank auf die Knie und heulte vor Schmerz auf als das Magma aus dem zerbrochenen Glied schoss.
Er spürte, wie in weiter Entfernung, in der Nähe seines physischen Körpers auf dem Hyjal, die Erde auseinander brach.
***
Es gab sterbliche Zauberer, und sogar Mitglieder des blauen Drachenschwarms, die die Regeln der arkanen Magie für absolut hielten. Doch wo sie Grenzen sahen, sah Kalec nur Potenzial für neue Erkenntnisse. Für ihn war Magie kein starres System kalter Logik. Sie war das Herzblut des Kosmos. Sie war unendlich in ihren Möglichkeiten. Für ihn war sie war das, was personifizierter Schönheit am nächsten kam.
Als Ysera zu ihm gekommen war und ihm aufgeregt von der Drachenseele und der Rolle, die sie spielen könnte, erzählt hatte, war er augenblicklich fasziniert gewesen von dem Problem, wie das Unmögliche zu schaffen wäre. Todesschwinge hatte seine Essenz nicht an die Waffe abgegeben, so wie es die anderen Aspekte getan hatten, und die Frage war, wie sie gegen ihn eingesetzt werden konnte. Ein ebenso großes Problem war die Annahme, dass jeder Drache, der das Artefakt in ihrem ursprünglichen Zustand nutzte, unwiderruflichen Schaden durch seine Macht erleiden würde. Die Drachenseele hatte selbst Todesschwinges Körper in Stücke gerissen und ihn gezwungen, seine rasende Gestalt mit Metallplatten zusammenzuhalten.
Trotz der vor ihnen liegenden Herausforderungen, betrachtete Kalec das Artefakt als eine Möglichkeit, seinen Platz unter den anderen Aspekten zu rechtfertigen, unter Wesen, zu denen er immer aufgeblickt hatte. Er war zu einem Zeitpunkt der Hüter der Magie geworden, an dem der blaue, grüne, bronzene und rote Drachenschwarm von Vernichtung bedroht waren. Die übernatürlichen Kräfte, die sein verstorbener Anführer, Malygos, von dem Titanen Norgannon erhalten hatte, gehörten nun ihm. Die blauen Drachen – das Herz des gesamten Schwarms – hatten ihn erwählt, sie hatten ihr Vertrauen in ihn gelegt. Er würde sie nicht enttäuschen.
„Die Drachenseele kann nicht gegen Todesschwinge gerichtet werden, da sie seine Essenz nicht enthält“, hatte Alexstrasza gesagt, obwohl in ihrer Stimme ein Hauch Unsicherheit mitschwang. Nachdem Ysera Kalec von ihrer Entdeckung berichtet hatte, waren die beiden Aspekte mit der Lebensbinderin an ihrem Treffpunkt in der Zuflucht des Cenarius zusammengekommen, um über den Plan zu sprechen.
„Das stimmt“, stammelte der blaue Aspekt. Er spürte, dass die Augen der anderen Aspekte sich in ihn bohrten, als würden sie jedes seiner Worte auf die Goldwaage legen. „Wir würden seine Essenz brauchen. Bedauerlicherweise ist sie in den von uns gefundenen Blutproben, die gleichwohl in sich selbst sehr wertvoll sind, nicht zu finden. Aber mit genügend arkaner Energie könnte es möglich sein, die Eigenschaften der Drachenseele so zu verändern, dass sie ihn betreffen würden ... jedenfalls theoretisch.“
„Theoretisch“, wiederholte die Lebensbinderin.
Kalec zuckte innerlich zusammen. Das Artefakt stellte zugegebenermaßen ein Risiko dar. Vieles von dem, was er über seine Wirkungsweise wusste, hatte er aus den Schriften der Magier der Kirin Tor, vor allem aus denen des Menschen Rhonin. Dieser hatte die Waffe selbst benutzt und einige seiner Eigenschaften in Erfahrung gebracht. Seine Abhandlung zu diesem Thema hatte sich als unbezahlbare Quelle der Informationen für Kalec erwiesen. Und doch: nur wenig war bewiesen.
„Wir haben keine Alternative.“ Ysera trat vor, zu Kalecs großer Erleichterung. „Ich weiß, dass es Euch schmerzt, aber es fühlt sich richtig an. Es war diese Waffe, mit der alles begann ... sie war es, die unsere Einheit auseinander brechen ließ. Diese finstere Zeit in unseren Leben muss enden wie sie begann.“
Alexstrasza schlug die Augen nieder. Kalec hatte den Aufruhr in ihnen gesehen. In Wahrheit war er besorgt gewesen, was die Lebensbinderin zu der List sagen würde. Er war sich der schmutzigen Geschichte des Artefakts bewusst. Am Ende des Kriegs der Ahnen war es den blauen, grünen, bronzenen und roten Aspekten gelungen, die Waffe zu finden und sie so zu verzaubern, dass weder Todessschwinge noch irgendein anderer Drache sie jemals wieder würde benutzen können. Jahrtausende Jahre später war sie in die Hände der Drachenmalorcs gefallen, die sie benutzt hatten, um die Lebensbinderin und ihre Brut zu ihren Sklaven zu machen. Viele rote Drachen waren während dieser entsetzlichen Zeit gezwungen worden, als Kriegsreittiere zu dienen.
„Dies ist die Antwort, auf die wir gewartet haben, Alexstrasza“, versicherte Kalec ihr.
„Ich weiß ...“ Die Lebensbinderin klang verzweifelt. „Ich werde also aufbrechen, um Nozdormu zu informieren. Setzt Eure Untersuchungen fort.“
Alles hing nun vom Zeitlosen ab. Selbst wenn es Kalec gelänge, einen Weg zu finden um das Artefakt zu verändern, so würden die Aspekte noch immer die Hilfe von Nozdormu benötigen, um es aus den Pfaden der Zeit zurückzuholen. Die Drachenseele existierte nicht länger in der Gegenwart. Vor mehr als zehn Jahren war sie durch Rhonin zum größten Teil zerstört worden. Danach hatte der schwarze Drache Sinestra die verbliebenen Scherben der Waffe an sich gebracht – zu diesem Zeitpunkt weitgehend ihrer Kräfte beraubt – und wurden von ihr für ihre eigenen Pläne eingesetzt. Auch diese letzten Fragmente der Drachenseele waren letztendlich zerstört worden. Das Artefakt zurückzubringen, war eine unmögliche Bitte an den Zeitlosen, und doch wussten Kalec, Ysera und Alexstrasza, dass genau das getan werden musste.
Nachdem die Lebensbinderin gegangen war, kehrte Kalec zu einem kleinen Tisch in der Zuflucht des Cenarius zurück. Seherkugeln, die er nutzte, um mit seinen Agenten im Nexus zu kommunizieren, waren auf seiner Oberfläche verteilt. Er hob eines der Geräte auf und drehte es in seiner Hand, während er über die Hindernisse, die die Drachenseele umgaben, nachdachte.
Ysera erschien an Kalecs Seite und öffnete ihren Mund, um etwas zu sagen, als die Erde sich plötzlich hob und die beiden fast zu Boden warf. Schreie waren vom Fuße Nordrassils zu hören, wo der Irdene Ring und der Zirkel des Cenarius ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Der blaue Aspekt wechselte einen argwöhnischen Blick mit Ysera. Erdbeben waren nicht ungewöhnlich seit dem Kataklysmus, aber dieses Beben hatte sich angefühlt, als würde es direkt unter ihren Füßen stattfinden.
Die Erde hob sich erneut, diesmal mit mehr Kraft als zuvor.
„Es kann nicht sein ...“ Yseras Augen weiteten sich, während sie sich an einer der Holzwände des druidischen Bauwerks abstützte. In ihrer Stimme lag eine Mischung aus Angst und Verstehen, die Kalec unbehaglich zumute werden ließ.
„Ist es Todesschwinge?“ Ein Anflug von Grauen begann, in ihm aufzusteigen. „Ist er hier?“
Der grüne Aspekt eilte aus dem Gebäude, ohne eine Antwort zu geben. Kalec folgte ihr auf dem Fuße, während sie in Richtung von Nordrassils Wurzeln hastete.
Zahlreiche Risse hatten sich rund um den Weltenbaum aufgetan. Die Schamanen und die Druiden waren damit beschäftigt, ihre Kameraden, die in die Spalten gefallen waren, zu retten. Ysera hielt allerdings nicht an. Zu Kalecs Verwirrung lief sie weiter, am Weltenbaum vorbei und bis zu einer Baumreihe, die eine friedliche Lichtung umgab. In deren Mitte saß Thrall. Er wirkte tief versunken in Meditation. Seine Gefährtin, Aggra, war an seiner Seite und schüttelte ihn an den Schultern.
Die braunhäutige Frau wandte sich Kalec und Ysera zu, als die beiden Aspekte die Lichtung betraten.
„Etwas stimmt nicht mit Go’el“, sagte sie und benutzte dabei den Geburtsnamen des Orcs. „Ich habe nach ihm gesucht, als das Erdbeben begann und habe ihn hier so vorgefunden. Er will einfach nicht aufwachen. Was ist passiert?“
Ysera kniete neben Thrall nieder. Der Orc wirkte, als würde er schreckliche Qualen leiden, sein Gesicht war vor Schmerzen verzogen, doch waren an seinem Körper keine sichtbaren Wunden zu erkennen. „Er ist es also ...“, sagte der grüne Aspekt.
Die Erwachte untersuchte Thralls linke Hand. Sie war leer, soweit Kalec das sehen konnte. Dies ließ den grünen Aspekt innehalten. Schnell ergriff sie eine Handvoll Erde und legte sie in die Hand des Orcs.
„Gibt es einen Zusammenhang zwischen Thrall und dem Erdbeben?“, fragte Kalec.
„Er hat mit der Erde auf eine Art und Weise gesprochen wie kein Schamane vor ihm. Die Erde ist ein Teil von ihm und er ist ein Teil von ihr. Irgendetwas hat seinen Geist gefangengenommen. Diese Risse ... sie sind seine Wunden.”
„Es muss einen Weg geben, ihn zu befreien“, flehte Aggra.
„Wenn sein Geist sich nicht zu weit vom Hyjal entfernt hat, gibt es eine Möglichkeit.“ Ysera stand auf und gab Aggra ein Zeichen. „Wir müssen die Schamanen und Druiden versammeln. Vor uns liegt viel Arbeit.“
Thralls Gefährtin zögerte. „Ich kann ihn nicht so zurücklassen ...“
„Ihr müsst mir vertrauen, wenn Ihr ihn retten wollt.“ Yseras Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und doch erfüllte sie Kalec mit einem überwältigenden Gefühl der Dringlichkeit.
Auch Aggra musste es gespürt haben. Zögerlich schloss sie sich dem grünen Aspekt an.
„Ysera, Herrin, gibt es etwas, was ich tun kann?“ Kalec fühlte sich kläglich fehl am Platz. Thralls Zwangslage befand sich im Reich der Elemente, einer Domäne, über die der blaue Aspekt keine Macht hatte.
„Bleibt an seiner Seite und stellt sicher, dass, was auch geschehen mag, er immer Erde in seiner Hand hat.“
Mit diesen Worten verließen Ysera und Aggra die Lichtung. Aggra blickte immer wieder besorgt zurück.
Es war nicht die Antwort gewesen, auf die Kalec gehofft hatte, aber er fügte sich. Kurz fragte er sich, ob Ysera ihm diese einfache Aufgabe gegeben hatte, weil sie ihm nichts Größeres zutraute, aber er wusste, dass die Erwachte niemand war, der andere auf solche Art beurteilte. In ihren Worten war keine verborgene Botschaft. Er wurde hier gebraucht. Das war alles.
Während er sich neben Thrall niederließ, erkannte Kalec, dass er vielleicht zu sehr nach einer Möglichkeit gesucht hatte, einen Weg für sich selbst zu finden, Todesschwinge zu besiegen und so andere, eher durchführbare Lösungen übersehen hatte. Wenn Thrall es wirklich geschafft haben sollte, seine Essenz mit der Erde zu verbinden – und andersherum – bedeutete dies dann, dass dieser Sterbliche einen Teil von Azeroth in seinem Geist aufgenommen hatte, auf dieselbe Art und Weise wie Todesschwinge?
Der blaue Aspekt zog eine Seherkugel aus einer Tasche an seiner Seite. Nach einem Moment verschwanden die Nebel in dem Objekt und gaben den Blick auf das Gesicht von Narygos frei, einem Mitglied seines Schwarms.
„Kalecgos.“ Der andere Drache neigte seinen Kopf.
Der blaue Aspekt erwiderte die Geste bevor er zum Sprechen anhob. „Einst gab es ein kurzlebiges Wesen, das die Drachenseele gegen den roten Drachenschwarm einsetzte, richtig?“
„Der Orc namens Nekros Schädelberster“, antwortete Narygos. „Eine widerwärtige Kreatur.“
„Ja, genau. Er war es. Wie viel Schaden hat ihm das Artefakt zugefügt?”
„Nach dem, was Rhonin zu dem Thema geschrieben hat, gar keinen“, stellte Narygos fest. „Die Drachenseele hat keinen negativen Effekt auf die kurzlebigen Völker, wie es ihn auf unser Volk hätte. Sie ist wirklich einzigartig, in dieser Hinsicht.“
„Ich danke Euch, mein Freund. Das wäre dann alles.” Kalec ließ die Kugel zurück in ihre Tasche gleiten.
Thrall, ein Sterblicher, hat sich die Essenz der Erde zu Nutze gemacht, überlegte der blaue Aspekt. Vor nicht allzu langer Zeit hatte der Orc dabei geholfen, die Erde an Kalec, Ysera, Nozdormu und Alexstrasza zu binden und es ihnen dadurch erlaubt, ihre Kräfte zu vereinen und einen Angriff von Todesschwinges Dienern abzuwehren. Zu dieser Zeit hatte der Schamane lediglich als Verbindung zu Azeroth gedient. Jetzt war er allerdings viel mehr als das. Er war die Antwort ... Er war der Hebel, mit dem die Drachenseele gegen ihren Erschaffer eingesetzt werden konnte.
Kalecgos fügte der Erde in Thralls Hand weitere hinzu und sah zu, wie sich das Gesicht des Orcs vor Schmerz verzog. Er fürchtete, dass die einzige Hoffnung der Aspekte, ihr Unternehmen erfolgreich abzuschließen, kurz davor stand, für immer verloren zu sein.
***
Todesschwinge schlug mit seiner Klauenhand nach Thralls Brust und riss dabei eine weitere Wunde in die irdene Haut des Orcs. Der Körper des Schamanen war übersäht mit geschmolzenen Furchen, doch keiner der Angriffe seines Gegners war ein tödlicher Treffer gewesen.
Der schwarze Aspekt strebte danach, Thralls Willen zu brechen, ihn in einen Agenten nach seiner eigenen Vorstellung zu formen. Das war die einzige Erklärung, die der Orc dafür hatte, dass sein Widersacher ihn noch nicht vernichtet hatte.
Todesschwinge hatte sein Ziel fast erreicht. Gefangen in der Höhle war Thralls Geist Azeroth gegenüber taub geworden, von den Schmerzen einmal abgesehen. Wäre er nur vor wenigen Wochen in dieser Situation gewesen, als seine Zweifel, seine Ängste und sein Zorn noch über sein Herz herrschten, so hätte er sich längst ergeben. Er hätte sich in diesem Gefängnis der Isolation verloren. Doch jetzt war er sich so sicher wie noch nie zuvor, was seine Bestimmung als Schamane war.
„Die Titanen glaubten, dass Ihr die Stärke hättet, zu bestehen“, sagte Thrall. Seine Kraft war nichts im Vergleich zu der des Aspekts, weshalb er die einzigen Waffen nutzte, die er hatte: seine Worte. „Sie haben Euch vertraut. Waren es Furcht und Zweifel, die Euch scheitern ließen und Euch dazu brachten, Euch mit genau den Wesen zu verbrüdern, die nach dem Ende alles Lebens in Azeroth trachten?“
„Deine Loyalitäten sind fehlgeleitet, Schamane. Wenn es ihnen beliebt, würden die Titanen die deinen und die anderen niederen Völker auslöschen ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Die Alten Götter wissen um die Sinnlosigkeit der Taten der Titanen. Sie haben versprochen, mich von den Fesseln meiner Pflicht zu erlösen. Wenn dieser Tag kommt, werde ich jeden Überrest der Präsenz der Titanen tilgen und aus der Höhe über diese Welt herrschen. Azeroth wird neu geboren.“
Todesschwinge rammte sein Knie gegen Thralls Brust, was den Orc gegen die Höhlenwand krachen ließ. Der Schamane bemühte sich, aufzustehen, als er eine Reihe von Stimmen durch die Erde außerhalb der Kammer hallen hörte. Es war der Irdenen Ring: Muln Erdenwut, Nobundo und ... Aggra.
Über die Geister der Elementare waren die Schamanen auf der Suche nach ihm. Thrall streckte sich nach seinem physischen Körper aus und fühlte zu seiner Überraschung einen frischen Haufen kalter, feuchter Erde in seiner Hand. Seine Verbindung mit den Tonnen von Erde zwischen dem Hyjal und der Höhle erwachte lodernd zum Leben. Der Orc fokussierte all seine Konzentration, um mental eine Antwort zu den Elementaren direkt außerhalb der Kammer zu rufen.
Stille folgte.
Er bereitete sich gerade darauf vor, erneut zu rufen, als Energie ihn durchströmte und sein irdener Körper zu heilen begann. Die Schamanen schlossen auch die Risse im Hyjal, erkannte er. Während sie das taten, heilten seine Wunden. Der Orc sprang auf die Füße, von neuer Stärke erfüllt.
„Ihr habt meine Frage nicht beantwortet“, sagte Thrall. „Waren es Furcht und Zweifel, die Euch scheitern ließen?“
Todesschwinges Augen loderten blutrot. Er stürzte vorwärts, ergriff Thrall an der Kehle und riss ihn in die Luft. Der schwarze Aspekt zog eine seiner bösartigen Klauen über den Bauch des Orcs.
„In einem System, das bereits im Kern verderbt ist, ist das einzige Scheitern, sich der Wahrheit zu verschließen. Wie viele elende Wesen du und die anderen Aspekte auch mit eurem irrigen Unterfangen blenden mögen, ist nicht von Belang. Der Sieg wird sich immer als trügerisch erweisen, wenn man sein Leben für eine hoffnungslose Zukunft fortwirft.“
Thralls Steinhaut schmolz, wo der schwarze Aspekt seine Kehle gepackt hielt. Todesschwinge verstärkte seinen Griff und seine Finger bohrten sich in den Nacken des Orcs. Seine Verbindung mit dem Hyjal flackerte erneut.
„Nein ...“, knurrte der Orc, während er gegen den Griff Todesschwinges ankämpfte. „Wir werden triumphieren ... weil wir uns den Herausforderungen ... gemeinsam stellen. Ihr seid gescheitert ... weil Ihr Euch entschieden habt ... Eure Bürde ... allein ... zu tragen!“
Die Erde um die Höhle begann zu beben, was Thrall auf eine Manifestation von Todesschwinges Zorn zurückführte. Doch anstatt seinen Angriff zu verstärken, warf der schwarze Aspekt ihn plötzlich zur Seite.
Todesschwinge stieß die Hände aus und brüllte vor Wut. Gewaltige Brocken des Bluts der Alten Götter rissen sich vom Höhlenboden los und bewegten sich zu einer höher gelegenen Ecke der Kammer, um dort eine dicke Barriere der kristallinen Substanz zu formen. Thrall brauchte einen Moment, um zu verstehen, was geschah und die Quelle der Beben zu orten. Nordrassils Wurzeln rasten in Richtung der Kammer und gruben sich mit unglaublicher Geschwindigkeit durch Stein und Erde.
Der Irdene Ring – und der Zirkel des Cenarius, so schien es – hatten ihn gefunden.
Thrall warf sich vorwärts und stürzte sich auf den Aspekt, wobei er ihn zu Boden riss und seinen Zauber unterbrach. Todesschwinge richtete sich mühsam auf, vor Wut kochend. Sein Körper pulsierte und Lavaranken zogen sich aus den Rissen in seiner Brustplatte. Der schwarze Drache begann, sich auf Thrall zuzubewegen, als eine von Nordrassils Wurzeln in einem Schauer aus Kristallscherben durch die Höhlenwand explodierte.
Todesschwinge suchte Halt mit den Füßen, als die Wurzel des Weltenbaums gegen ihn rammte. Für eine kurze Zeit gelang es ihm, sich gegen den lebenden Rammbock zu behaupten, dessen Umfang größer war als der eines Kodos. Drei weitere Wurzeln folgten kurze Zeit später. Sie brachen in die Höhle und trieben den schwarzen Aspekt durch den Boden der Kammer.
Eine fünfte Wurzel drang langsam in den Hohlraum ein. Sie wickelte sich um Thralls Taille und zog in aus dem Leerraum. Sobald er sich außerhalb befand, festigte sich die Verbindung des Orcs mit seinem physischen Körper. Er spürte die Erde, wie sie war und wie sie sein sollte, ohne den Einfluss der Alten Götter. Der Schmerz und die Qual, die er erlitten hatte, die geistmarternden Gefühle, die Todesschwinges ganze Existenz bestimmten, schmolzen dahin.
Alexstrasza fand den Zeitlosen wartend vor.
Er stand regungslos hoch auf dem Berg. So weit entfernt von den Lagern der Druiden und Schamanen hatte die Lebensbinderin ihre drakonische Gestalt angenommen. Es war erfrischend, ihre Schwingen auszustrecken, nachdem sie so viel Zeit in ihrem elfischen Körper zugebracht hatte. Nachdem sie neben dem geschuppten bronzenen Aspekt gelandet war, erzählte sie ihm von Yseras und Kalecs Plan im Hinblick auf die Drachenseele und von dem Part, den er darin zu spielen hätte. Die Lebensbinderin hatte angenommen, dass Nozdormu sie zurückweisen würde und sie hätte sein Verhalten nicht in Frage gestellt. Seine Stimmung war jedoch weit gedrückter als sie vorhergesehen hatte.
„Die Drachenseele ...“, sagte Nozdormu. „Esss hat Zeiten gegeben, da habe ich darüber nachgedacht, zurückzugehen und den Tag zu ändern. Ich könnte Malygosss‘ Schwarm retten ... und unsss allen diesesss schreckliche Schicksal ersparen.“
Der Zeitlose seufzte tief, ohne seinen Blick vom Horizont abzuwenden. „Und wenn ich so etwasss täte, dann wäre ich nicht andersss alsss der ewige Drachenschwarm und ... mein zukünftigesss Selbst.“
„Ihr wäret auf so viele Arten anders, als Ihr es Euch jemals vorstellen könntet“, erwiderte Alexstrasza. „Eonar hat mir den Auftrag erteilt, das Leben zu schützen. Als das Thema der Drachenseele an mich herangetragen wurde, habe ich mich gefragt, wie ich meine Pflicht erfüllen könnte, wenn ich gleichzeitig die zerstörerischste Waffe, die jemals geschmiedet wurde, in die Welt bringe.“
„Und doch habt Ihr vor, genau dasss zu tun“, stellte Nozdormu fest.
„Ja. Denn es gibt Zeiten, in denen man, wenn man Leben schützen will, das vernichten muss, was danach strebt, es zu beenden ...“
Die Lebensbinderin hatte lange über die Drachenseele und das unsagbare Leid, die diese nicht allein ihr und ihrem Schwarm, sondern auch anderen Lebewesen im Laufe der Geschichte gebracht hatte. Letztendlich war sie zu einer schwierigen Erkenntnis gekommen: Kein Preis war zu hoch, wenn es bedeutete, die Welt zu retten.
„Ich kann Euch nicht dazu zwingen, etwas zu tun, was Ihr für falsch haltet“, sagte Alexstrasza. „Aber fragt Euch dies: Hat Euch Aman’Thul die Herrschaft über die Zeit gewährt, damit Ihr dabei zusehen könnt, wie diese Welt stirbt?“
„Diese Zukunft, die vom ewigen Drachenschwarm bewohnt wird, wenn ich dort hinreisen würde ...“ Nozdormu brach mitten im Satz ab. Der Zeitlose strömte Besorgnis und Furcht aus. Die Lebensbinderin spürte, dass etwas an der Apokalypse über den Zustand der Pfade der Zeit hinaus den bronzenen Aspekt beunruhigte. Doch sie verlangte bereits so viel von Nozdormu – wenn er seinen Sorgen keinen Ausdruck geben wollte, so war das seine Entscheidung.
Alexstrasza neigte ihren Kopf zu Nozdormu und sagte mit leiser Stimme: „Für jeden von euch eine Gabe ...“
„Für jeden von euch eine Pflicht“, vervollständigte der Zeitlose die uralten Worte ohne zu zögern. Es waren die letzten Befehle der Titanen an die Aspekte, eine Erinnerung daran, dass zwar jeder Aspekt einzigartig war, ihre Kräfte und ihr Wissen jedoch nicht getrennt von den anderen existieren sollte. Sie waren eine Einheit.
„Die Zeit ist Eure Aufgabe, so wie das Leben die meine ist, aber was ist Eure Pflicht?“, fragte Alexstrasza.
„Diese Welt um jeden Preisss zu bewahren ... Die Stunde des Zwielichtsss zu verhindern“, flüsterte Nozdormu.
Der Zeitlose schwieg. Die Lebensbinderin folgte seinem Blick in den Himmel, während die Sorge schwer in ihrem Herzen wog. „Ist einer Eurer Agenten zurückgekehrt?“
„Nein. Keiner wird zurückkehren. Und doch warte ich. Einssst war ich in der Zeit verloren, bisss Thrall mir geholfen hat. Nun bin ich außerhalb der Zeit verloren.” Zu Alexstraszas Überraschung lachte der bronzene Aspekt schmerzlich erheitert.
Letztendlich wandte sich der Zeitlose vom Horizont ab und sah Alexstrasza an. „Zu lange bin ich meinem Kursss starr gefolgt. Ihr habt Recht. Die Zeit desss Abwartensss ist vorbei ...”
***
Die vier Drachenaspekte und Thrall hatten sich in der druidischen Zufluchtsstätte am Fuße von Nordrassil versammelt. Eine ätherische Darstellung der Drachenseele schwebte in der Luft zwischen ihnen. Es ließ Alexstrasza erschauern, hier zu stehen. Auf eine gewisse Weise erinnerte es sie an die Zeremonie, die vor Jahrtausenden stattgefunden hatte, um das Artefakt mit Macht zu erfüllen.
Obwohl es sich um eine arkane, von Kalecgos herbeibeschworene Reproduktion handelte, verfügte die Waffe über Macht. Gebadet in violettes Licht, das von dem Abbild der Drachenseele ausging, bemerkten die Aspekte, dass ihre Schatten zwischen ihrer derzeitigen sterblichen Gestalt und ihrer wahren drakonischen Körper hin- und herwechselten.
„Wenn wir die Drachenseele wiederbringen wollen, so müsssen wir zunächssst in die Zukunft reisen, die ich vorhergesehen habe: Dasss Ende der Zeit selbssst“, sagte Nozdormu. „Indem wir den ewigen Drachenschwarm und seinen Anführer vernichten, die über die Apokalypse wachen, werden die Pfade der Zeit erneut geöffnet. Diesss erlaubt unsss, in die Vergangenheit zu gelangen und die Drachenseele zu holen.“
„Wie kann die Geschichte vorangehen, wenn das Artefakt plötzlich aus den Pfaden der Zeit entfernt wird?“, fragte Thrall. Der Orc hatte still unter den Aspekten gestanden. Er hatte bereits so viel getan, um ihnen zu helfen. Die Lebensbinderin hätte ihm gerne seinen Frieden lassen, aber sie musste erneut zulassen, dass er sein Leben für die Sicherheit Azeroths riskierte.
„Die Zeit issst nicht so linear, wie manche glauben. Mein Schwarm wird den Flusss der Geschichte aufhalten, um den Effekt aufzuheben, den wir auf die Vergangenheit haben. Doch wir können die Integrität der Pfade der Zeit nur für einen bestimmten Zeitraum aufrechterhalten. Sobald unsere Arbeit getan issst, werden wir die Drachenseele an ihren angestammten Ort zurückbringen ...“
„Was den angestammten Ort betrifft“, warf Kalecgos ein. „So gibt es mehrere Punkte in der Zeit, an denen wir das Artefakt an uns bringen könnten. Allerdings haben sich seine Eigenschaften über den Lauf der Zeit verändert. Wenn unser Plan Erfolg haben soll, brauchen wir die Waffe in ihrer reinsten Form. Sobald Nozdormu die Pfade der Zeit geöffnet hat, werden wir uns die Drachenseele aus der Ära holen, in der sie erschaffen wurde: während des Kriegs der Ahnen.“
„Damit kommen wir zu demjenigen, der sie führen wird“, sagte Alexstrasza und gab Thrall ein Zeichen.
„Mein Freund“, Kalecgos legte seine Hand auf Thralls Schulter. „Aus meinen Forschungen ergibt sich, dass das Artefakt so erschaffen wurde, dass Drachen, die es anwenden wollen, durch seine Energien in Stücke reißt. Es erfüllt uns mit Schmerzen, die zu Wahnsinn führen. Kurzlebige Wesen allerdings, können es durch genau diese Beschaffenheit nutzen, ohne körperlichen Schaden zu erleiden.“
„In unserer Bitte liegt ein großes Risiko, Thrall“, Yseras melodische Stimme klang durch den Raum. „Nachdem die Drachenseele in die Gegenwart zurückgebracht ist, müsst Ihr sie zum Wyrmruhtempel bringen. Dies ist ein Ort großer Macht, der mit der Kammer der Aspekte verbunden ist, die Stelle, an der dem Artefakt ursprünglich seine Kraft verliehen wurde. Die Drachenseele wird bereits über Macht verfügen, aber wir werden sie ein weiteres Mal mit unseren Essenzen erfüllen und sie so noch mächtiger werden lassen, als jemals zuvor ... und möglicherweise auch instabiler. Ihr müsst Euch darüber im Klaren sein, dass Todesschwinge, sollte er von unserem Vorhaben erfahren, und seine Lakaien sich sicherlich am Tempel sammeln werden, um Euch um jeden Preis aufzuhalten.“
„Es steht mir nicht zu, Eure Weisheit in Frage zu stellen“, sagte Thrall demütig. „Aber die anderen Völker Azeroths haben ebenfalls unter Todesschwinges Zorn gelitten. Wir könnten eine Armee von Sterblichen aufstellen, die diese Welt noch nicht gesehen hat, um den schwarzen Aspekt zu vernichten. Wäre das nicht vielleicht der einfachere Weg?“
„Selbst wenn jedes einzelne sterblichen Wesen sich Todesschwinge stellen würde, so würde es keinen Unterschied machen“, erwiderte Alexstrasza. „Er ist durch die finsteren Energie der Alten Götter verderbt worden. Kein fassbarer Angriff, sei er auch noch so gewaltig, kann ihn vernichten. Er muss ... ungeschehen gemacht werden. Seine Essenz selbst muss auseinandergerissen werden und allein die Drachenseele hat die Macht, dies zu tun.“
„Doch nur, wenn Ihr an unserer Seite steht“, fügte Kalec hinzu. „Das Artefakt ist mit den Essenzen von vier Aspekten erfüllt worden, aber Todesschwinge hat niemals etwas von seiner hinzugefügt. Wenn Ihr diese Waffe einsetzen wollt, um ihn zu bezwingen, dann müssen wir sie mit der Kraft des Erdwächters erfüllen. Ihr, Thrall, verfügt über einen Teil dieser Kraft, sei er auch noch so klein: die Essenz Azeroths selbst.“
„Uns ist es unmöglich, die Drachenseele gegen einen der unseren einzusetzen“, sagte Alexstrasza zu Thrall. „Es obliegt Euch ... wenn Ihr die Aufgabe annehmt. Ich wünschte, ich müsste Euch nicht darum bitten, denn ich muss mehr von Euch verlangen als je zuvor, besonders, nachdem Ihr zuvor bereits Euer Leben riskiert habt, um uns zu helfen.“
„Ich fühle mich geehrt, dass Ihr mich um Hilfe ersucht“, erwiderte Thrall. „Aber im Gegenzug habe auch ich eine Bitte. Die kurzlebigen Völker haben Ragnaros bezwungen und vor ihm den Lichkönig und unzählige weitere Gefahren. Wieder und wieder waren wir maßgeblich daran beteiligt, Azeroth zu schützen. Wir haben genauso viel eingebracht wie ihr. Bei allem gebotenen Respekt, ich glaube, dass dieser Plan, so nobel er auch sein mag, nur mit ihrer Hilfe gelingen wird.“
Es bestand kein Zweifel daran, dass Thrall Recht hatte, aber Alexstrasza hatte gehofft, dass es sich vermeiden ließ, noch weitere Sterbliche in dieses gefährliche Unterfangen mit hinein zu ziehen. „Wenn sie willens sind, so sind sie willkommen.“
„Es finden sich immer welche, die willens sind“, sagte der Orc lächelnd. „Ich werde den Ruf erklingen lassen.“
Nachdem Thrall gegangen war, verweilten die Aspekte schweigend.
„Eine Frage quält mich“, sagte Kalec. „Wenn es unsere Aufgabe ist, die Stunde des Zwielichts aufzuhalten, wenn es das ist, wozu die Titanen uns erschaffen haben – was wird dann aus uns, wenn das Ziel erreicht ist?“
Eine kalte Brise war über der Zuflucht des Cenarius zu spüren, ganz so, als würde sie Kalecs Worte unterstreichen wollen. Die Aspekte bewegten sich unbehaglich und warfen einander verstohlene Seitenblicke zu. Sie hatten jeder über dieses beunruhigende Mysterium nachgedacht.
„Ja ... wenn wir unsere Pflicht erfüllen, wozu werden wir dann noch gebraucht?“, sinnierte Nozdormu. „Da die Pfade der Zeit entehrt sind, kann noch nicht einmal ich sehen, wasss die Zukunft für unsss bereithält ...“
„Werden unsere Taten in Verlust münden ... oder in Erfüllung?“, überlegte Ysera.
„Die Titanen hatten ganz offensichtlich einen Plan für uns”, argumentierte Kalec. „Magie, Zeit, Leben, Natur ... sie werden für immer existieren. Es ist nur logisch, dass wir dazu bestimmt sind, sie für immer zu beschützen.“
Alexstrasza sah zu, während Ysera, Kalec und Nozdormu diskutierten und ihren Hoffnungen und Befürchtungen Ausdruck gaben. Ihr Weg war ein geradliniger, doch über die Stunde des Zwielichts hinaus lag er in einem Nebel aus Unwägbarkeit. Die Lebensbinderin behielt ihre eigenen Ängste tief in ihrem Inneren. Sie war die Drachenkönigin und wenn es jemals eine Zeit gegeben hatte, in der ihre Kameraden ihre Führung brauchten, dann war es jetzt.
„Keiner von uns weiß es mit Sicherheit“, sagte Alexstrasza und zog damit die Aufmerksamkeit der anderen auf sich. „Und selbst wenn wir es wüssten – welchen Unterschied würde es machen? Dies ist der Grund, warum wir von den Titanen ausgewählt wurden. Die wundersamen Geschenke, die sie uns machten, müssen jetzt von uns eingesetzt werden.“
Die Lebensbinderin ergriff die Hände der beiden ihr am nächsten stehenden Aspekte, Ysera und Kalecgos. Sie taten dasselbe mit Nozdormu. Ihre Magien verbanden sich und flossen durch jeden der Drachen. Die friedvollen Energien beruhigten ihre Nerven und erfüllten sie mit einem Gefühl unerschütterlicher Entschlossenheit.
„Wir werden uns als Einheit in das Unbekannte wagen“, sagte Alexstrasza. „So wie es immer für uns bestimmt war."
Weg der Verdammnis von Evelyn Fredericksen
„Ich fange an, dieser fortwährenden Belästigungen überdrüssig zu werden. Ich befand mich gerade inmitten von wichtigen Studien hochempfindlicher Magie, deren Planung Wochen sorgfältiger Vorbereitungen und Rituale in Anspruch genommen hat.“ Seine Ankläger hatten Kel’Thuzad stundenlang warten lassen, bevor es ihm freundlicherweise genehmigt wurde, ihnen gegenübertreten zu dürfen. Diese Beleidigung erzürnte ihn bis aufs Äußerste. Bei den Sprechern der Gruppe handelte es sich anscheinend um Drenden und Modera, die schon immer zwei seiner lautstärksten Kritiker gewesen waren. Dennoch hätten sie es niemals gewagt, die neueste Inquisition ohne das Einverständnis von Antonidas durchzuführen. Dieser war allerdings nirgendwo zu erblicken. Was hatte der alte Mann vor?
„Das ist das erste Mal, dass ich Eure Art der Magie als ‚empfindlich’ bezeichnet gehört habe“, schnaubte Drenden.
„Die unwissende Meinung eines ungebildeten Mannes“, erwiderte Kel’Thuzad mit kalter Präzision.
Plötzlich sprach eine Stimme aus weiter Ferne zu ihm, die Stimme eines Freundes. Ihr Klang war ihm mittlerweile so vertraut, dass sie das Echo seiner eigenen Gedanken zu sein schien. Sie fürchten und beneiden dich. Schließlich erschließt sich dir dank deiner neuen Studien immer größeres Wissen und somit immer größere Macht.
Dann zuckte ein gleißender Lichtblitz auf und ein finster dreinblickender Erzmagier erschien in der Halle. Er hatte eine kleine hölzerne Truhe unter seinen Arm geklemmt. „Ich hätte es nicht glauben können, hätte ich es nicht mit meinen eigenen Augen gesehen. Ihr habt unsere Geduld zum letzten Male missbraucht, Kel’Thuzad.“
„Der ehrwürdige Antonidas erweist uns also endlich die Gunst seiner Anwesenheit. Ich glaubte schon, Ihr wäret vielleicht erkrankt.“
„Ihr fürchtet das Alter, nicht wahr? Und dennoch müsst Ihr Euch dessen bewusst sein, dass es unausweichlich ist.“
Soll er dies nur weiterhin glauben, wenn es ihn des Nachts besser schlafen lässt.
Antonidas schien sich etwas zu beruhigen und sagte: „Ihr hättet Euch keine Sorgen hinsichtlich meiner Gesundheit machen müssen. Ich war lediglich anderenorts beschäftigt.“
„Damit, meine Kammern nach Beweisen verbotener Magie zu durchsuchen? Ihr hättet es besser wissen sollen.“
„Es ist wohl wahr, dass Eure Kammern keinerlei solcher Beweise enthielten. Eure Lagerhäuser in den Nordlanden andererseits …“ Antonidas warf ihm einen angewiderten Blick zu.
Verdammt sollte er sein, für seine selbstgerechte Herumschnüffelei. „Ihr hattet keinerlei Recht …“
Antonidas ließ ihn verstummen, indem er mit seinem Stab auf den Boden pochte, und wandte sich den anderen Magiern zu. „Er hat diese Lagerhäuser in Laboratorien für eine Reihe von abscheulichen Experimenten verwandelt. Seht selbst, werte Kollegen, seht die Früchte seiner Arbeit.“ Er öffnete die Truhe und hielt sie so, dass alle ihren Inhalt sehen konnten.
Die verwesenden Überreste einiger Ratten befanden sich darin. Zwei bewegten sich noch mühselig, unbeholfen hoffnungslose Fluchtversuche unternehmend, an den Seiten der Truhe entlang. Einige der anwesenden Magier sprangen auf die Füße und eine allgemeine Bestürzung machte sich breit. Selbst der goldhaarige Hochelf, der bisher still im Hintergrund gesessen hatte, schien erschrocken. Und das, obgleich Prinz Kael’thas ein Mann war, dessen hohes Alter eine solche Regung fast unmöglich erscheinen ließ.
Kel’Thuzad wandte sich den gefangenen Ratten zu und sah, dass sie zusammengebrochen waren und sich nicht mehr rührten. Ein erneuter Fehlschlag, wie es schien. Egal – eines Tages würde er ein beständiges untotes Exemplar erschaffen, das seine harte Arbeit rechtfertigen würde. Es war nur eine Frage der Zeit.
Der Zauber, der dich verstummen lässt, enthält lose Fäden. Soll ich dir zeigen, wie du ihn auflösen kannst?
Die Zeit und sein unbekannter Verbündeter, dessen geheimnisvolle Stimme ihm hin und wieder weitergeholfen hatte, ließen ihn Schritt für Schritt seinem Ziel näher rücken. Zeig es mir, dachte er.
Eine junge Frau erschien, begleitet von einem weiteren Lichtblitz. Als sie sich an Antonidas’ Seite begab, folgte der Blick des Hochelfen ihr mit bewegter, nachdenklicher Intensität. Aber Jaina Prachtmeer schenkte ihm keine Beachtung; sie war völlig auf ihre Aufgabe konzentriert. Der gut aussehende Prinz hatte nicht den Hauch einer Chance.
Ihre klaren, blauen Augen warfen Kel’Thuzad einen neugierigen Blick zu, als sie die Truhe begutachtete. „Mein Lehrling wird dafür sorgen, dass die Truhe und ihr Inhalt verbrannt werden“, erklärte Antonidas.
Die Frau neigte ihren Kopf leicht und teleportierte sich aus dem Raum heraus, während der Hochelf dem leeren Platz, an dem sie noch vor Kurzem gestanden hatte, einen verbitterten Blick zuwarf. Unter anderen Umständen hätte Kel’Thuzad das lautlose Drama vermutlich amüsant gefunden. Doch Antonidas konnte nun seine Tirade wieder unangefochten fortsetzen. Stumm und vor Wut kochend versuchte Kel’Thuzad den Zauber abzustreifen, der ihn zum Schweigen verdammte.
„Wir haben diesen Zuständen lange genug tatenlos zugesehen. Dann und wann haben wir ihm für seine fragwürdigeren Bestrebungen eine Lehre erteilt. Wir haben versucht, ihn zu leiten. Und jetzt müssen wir feststellen, dass er die ganze Zeit hinter unseren Rücken schwarze Magie praktiziert hat. Die hiesigen Dorfbewohner fangen an, den Namen der Kirin Tor zu verfluchen.“
„Lügen!“, schrie Kel’Thuzad heraus, und hatte sofort einige der versammelten Magier wieder auf seiner Seite. Sie hofften begierig auf eine Erklärung. „Die Bauern erinnern sich so gut wie wir an den Zweiten Krieg. Wie sehr Ihr die Orcs auch verabscheuen mögt, Ihr könnt nicht leugnen, dass ihre Hexenmeister über große Macht verfügten. Eine Macht, der wir nur wenig entgegenzusetzen hatten. Es ist unsere Pflicht, diese Form der Magie zu erlernen und zu verstehen, damit wir sie bekämpfen können.“
„Um eine Armee untoter Ratten zu erschaffen, deren unnatürliche Existenz gerade einmal Stunden währt?“, fragte Antonidas in einem trockenen Tonfall. „Ja, mein Junge, ich habe auch Eure Tagebücher gefunden. Ihr habt Eure abscheulichen Experimente äußerst detailliert aufgezeichnet. Glaubt Ihr etwa ernsthaft, diese armseligen Kreaturen könnten etwas gegen die Orcs ausrichten? Gesetzt den Fall natürlich, dass sie überhaupt jemals wieder eine Bedrohung darstellen könnten, sollten sie ihre momentane Lethargie abstreifen und aus den Gefangenenlagern entkommen.“
„Bloß weil ich jünger bin als Ihr, macht mich das noch lange nicht zum Kinde“, erwiderte Kel’Thuzad. „Die Ratten sind lediglich der Maßstab, an dem ich meine Fortschritte messe. Eine völlig normale Experimentiertechnik.“
Antonidas seufzte. „Es ist mir bewusst, dass Ihr dieser Tage den Großteil Eurer Zeit im Norden verbringt. Eure immer länger währenden Abwesenheiten waren es schließlich, die überhaupt erst meine Aufmerksamkeit erregten. Aber selbst Euch kann es nicht entgangen sein, dass die neue Besteuerung des Königs zu Unruhen unter den Bürgern geführt hat. Eure selbstsüchtige Gier nach Macht könnte zu einem Aufstand führen. Ganz Lordaeron könnte von einem Bürgerkrieg verschlungen werden.“
Er hatte nichts von der Besteuerung gewusst, Antonidas übertrieb vermutlich maßlos. Davon abgesehen sollten wahre Magier sich wichtigeren Dingen widmen. „Ich werde in Zukunft diskreter vorgehen“, bot er zähneknirschend an.
„Selbst die größte Diskretion könnte ein Geheimnis dieser Größenordnung nicht verbergen“, sagte Dendren.
Modera fügte hinzu: „Ihr solltet selbst am besten wissen, dass wir schon immer die empfindliche Balance wahren mussten, das Volk zu beschützen ohne dabei selbst zu einer Gefahr zu werden. Wir können es nicht riskieren, unsere Menschlichkeit zu opfern. Weder dürfen wir diesen Anschein geben, noch dürfen wir zulassen, dass dies tatsächlich geschehen könnte. Eure Methoden werden uns noch alle als Ketzer brandmarken.“
Das war zuviel. „Wir werden schon seit Jahrhunderten als Ketzer gebrandmarkt. Die Kirche war noch nie mit unseren Methoden einverstanden. Aber all dem zum Trotz gibt es uns immer noch.“
Sie nickte. „Weil wir uns von der schwarzen Magie fernhalten, die nur zu Korruption und Chaos führt.“
„Weil sie uns brauchen!“
„Das reicht.“ Antonidas klang des Streitens überdrüssig. Zu Modera und Drenden sagte er: „Wenn Worte allein ihn noch erreichen könnten, hätten sie dies schon lange zuvor getan.“
„Ich habe Eure Worte gehört“, sagte Kel’Thuzad verbittert. „Gütige Götter, ich habe sie mir so lange anhören müssen, bis mir schlecht von ihnen wurde! Ihr seid es doch, die sich weigern, die meinen zu hören. Legt Eure veralteten Ängste ab und …“
„Ihr scheint den Grund unserer Anwesenheit hier misszuverstehen“, unterbrach ihn Antonidas. „Wir sind nicht hier, um mit Euch zu diskutieren. All Eure Besitztümer werden genau jetzt sorgfältig durchsucht und sämtliche Gegenstände, die von schwarzer Magie beschmutzt sind, werden konfisziert und zerstört werden.“
Sein namenloser Verbündeter hatte ihn davor gewarnt, dass dieser Fall eintreten könnte, aber Kel’Thuzad hatte es nicht wahrhaben wollen. Er fühlte eine seltsame Erleichterung darüber, wie sich die Dinge gewendet hatten. Das Bedürfnis nach Geheimhaltung hatte ihm Beschränkungen auferlegt, seine Fortschritte verlangsamt.
„Aufgrund der Beweislage“, sagte Antonidas mit schwerer Stimme, „hat König Terenas unserem Urteil zugestimmt. Solltet Ihr Euch nicht augenblicklich von diesem Wahnsinn abwenden, werden Euch Euer Rang und Eure Besitztümer abgesprochen werden und Ihr werdet nicht nur aus Dalaran, nein, aus ganz Lordaeron verbannt werden.“
Kel’Thuzad verbeugte sich und verließ die Halle. Seine Gedanken rasten. Zweifellos würden die Kirin Tor versuchen, diese so genannte Schande geheim zu halten, da sie die möglichen Auswirkungen fürchteten, sollten seine Experimente an die Öffentlichkeit dringen. Dieses eine Mal würde ihm ihre Feigheit zu seinem Vorteil gereichen. Seine Reichtümer würden niemals an den König übergehen.
Ein Rudel Wölfe verfolgte Kel’Thuzad schon seit Meilen, gerade außerhalb der Reichweite seiner Zauber, bis sie endlich von ihm abließen. Als er über seine Schulter schaute, konnte er sehen, wie sie die Zähne fletschten und mit angelegten Ohren davonrannten. Glücklicherweise hatten die arktischen Winde mittlerweile auch nachgelassen. In der Entfernung konnte er den Gipfel ausmachen, eine kahle Bergspitze, deren Anblick ihn mit einem großen Triumphgefühl und Vorfreude erfüllte: Der Gipfel von Eiskrone. Nur wenige Entdecker hatten sich diesen Gletscher empor gewagt und nur wenige von diesen hatten wiederum überlebt, um von ihren Entdeckungen berichten zu können. Aber er, Kel’Thuzad, würde die eisigen Höhen erklimmen und von seinem Gipfel auf den Rest der Welt herabschauen.
Unglücklicherweise existierten so gut wie keine Karten des frostigen Kontinents Nordend, und selbst die, die er gefunden hatte, waren äußerst inadäquat. Ähnlich verhielt es sich mit den Vorräten, die er mitgebracht hatte. Da er weder um seinen genauen Zielort wusste, noch den Weg dorthin kannte, war seine Teleportationsmagie nutzlos und er stapfte unbeirrt weiter. Er wusste schon nicht mehr, wie lange er unterwegs war, und trotz seines Fellmantels zitterte er bitterlich. Seine Beine fühlten sich wie Steinsäulen an, starr und unbeholfen, und sein Körper würde schon bald ermüden. Wenn er nicht bald einen Unterschlupf finden würde, wäre sein Tod unausweichlich.
Da erspähte er einen Lichtfunken, der von einem steinernen Obelisken ausging, in den allerlei magische Symbole hineingeritzt waren. Hinter dem Obelisken konnte er eine Zitadelle ausmachen. Endlich hatte er sein Ziel erreicht! Er rannte an dem Obelisken vorbei und passierte eine Brücke, die aus purer Energie zu bestehen schien. Die Tore der Zitadelle schwangen auf, als er sich ihnen näherte, aber er hielt inne.
Der Eingang wurde von zwei grotesken Kreaturen bewacht, deren Unterkörper dem von riesigen Spinnen glich. Sechs schmale Beine stützten das Gewicht der Kreaturen und ihre anderen beiden Gliedmaßen entsprangen Armen gleich einem menschenähnlichen Torso. Er war allerdings weit mehr vom Zustand der Kreaturen fasziniert, als von ihnen selbst. Ihre Körper waren von offenen Wunden übersät, die schlimmsten davon notdürftig bandagiert, und die Arme der einen Wache waren unnatürlich abgewinkelt. Der anderen Wache lief ein Sekret aus dem mit Fangzähnen besetzten Maul, sie machte aber keinerlei Bemühungen, es fortzuwischen.
Trotz des üblichen Gestanks des Untodes zeigten die Wachen keinerlei Anzeichen von Verwirrtheit, ganz im Gegensatz zu Kel’Thuzads Ratten. Die spinnenähnlichen Kreaturen mussten außerdem weiterhin über einen Großteil ihrer ursprünglichen Stärke und Koordinationsfähigkeit verfügen, ansonsten würden sie keine guten Wachen sein können. Ihr Erschaffer war eindeutig ein hochbegabter Nekromant.
Zu seiner Überraschung traten sie zur Seite, um ihn passieren zu lassen. Sein Glück nicht in Frage stellen wollend trat er erwartungsvoll in die Zitadelle ein, in der es deutlich wärmer war. In dem vor ihm liegenden Gang stand eine arg mitgenommen aussehende Statue eines der Spinnenwesen. Die Zitadelle als solches schien vor nicht allzu langer Zeit erbaut worden zu sein, aber die Statue war recht alt. Jetzt, wo er darüber nachdachte, fiel ihm wieder ein, dass er in den Ruinen auf seinem Weg nach Norden ähnliche Statuen gesehen hatte. Die Kälte musste seine Sinne abgestumpft haben.
Er nahm an, dass der Nekromant ein Königreich dieser Spinnenwesen erobert, sie in untote Sklaven verwandelt und ihre Reichtümer als Kriegsbeute an sich gerissen hatte. Er jubelte innerlich auf, hier würde er sicherlich mächtiges Wissen erlangen können.
Dann sah er am Ende der Halle eine gigantische Kreatur näher kommen, eine groteske Mischung aus einer Spinne und einem Käfer. Sie wankte mit bedächtiger Geschwindigkeit auf ihn zu und er konnte sehen, dass ihr mächtiger Körper von noch mehr Wunden und Bandagen übersät war, als die der Wachen. Die Kreatur war untot, genau wie die Wachen, allerdings verängstigte ihn ihre schiere Masse mehr, als dass sie ihm imponierte. Er zweifelte daran, dass er über ausreichende Fähigkeiten verfügte, ein solches Monster besiegen zu können. Davon, es von den Toten zu beschwören, ganz zu schweigen.
Die Kreatur begrüßte ihn in einer tiefen Bassstimme, die in ihrem schwerfälligen Körper wiederzuhallen schien. Obgleich sie perfekt verständliche Gemeinsprache sprach, jagte ihm der Klang ihrer Stimme einen Schauer über den Rücken. Seltsame surrende und klickende Geräusche schwangen in ihrer Stimme mit. „Der Meister erwartet Euch, Erzmagier. Ich bin Anub’arak.“
Die Kreatur hatte sowohl die benötigte Intelligenz als auch die motorischen Fähigkeiten, um kommunizieren zu können. Verblüffend! „Ja, ich möchte sein Lehrling werden.“
Die riesige Kreatur sah schweigend auf ihn herab. Möglicherweise dachte sie darüber nach, wie er wohl schmecken würde.
Er räusperte sich nervös: „Könnt Ihr mich zu ihm bringen?“
„Alles zu seiner Zeit“, brummte Anub’arak. „Bisher habt Ihr Euer Leben dem Streben nach Wissen gewidmet, ein bewundernswertes Ziel. Aber Euer Leben als Magier kann Euch nicht ausreichend darauf vorbereitet haben, dem Meister zu dienen.“
Was konnte der Grund für diese Rede sein? Sah der Majordomus Kel’Thuzad etwa als einen Rivalen an?Dieses Missverständnis musste er schnellstmöglich aufklären. „Als ein ehemaliges Mitglied der Kirin Tor verfüge ich über mehr Magie, als Ihr Euch auch nur vorstellen könntet. Ich bin mehr als bereit, jeden Auftrag zu erfüllen, den der Meister mir auferlegt.“
„Wir werden sehen.“
Anub’arak führte ihn durch ein Gewirr von Tunneln, denen sie in die Tiefen der Erde folgten. Dann traten Kel’Thuzad und sein Führer in einen riesigen Pyramidenbau ein, dessen Name Naxxramas war, wie Anub’arak ihm erklärte. Nach seiner Architektur zu urteilen, war er ein weiteres Produkt der Spinnenwesen. Die erste Kammer, die Anub’arak ihm zeigte, war von Untoten bevölkert, die sein Interesse schon nicht mehr zu wecken vermochten. Außerdem huschten auch einige normale Spinnen, die eifrig damit beschäftigt waren Spinnweben zu weben und Eier zu legen, zwischen den Untoten umher.
Kel’thuzad verbarg seinen Ekel, er wollte dem enormen Majordomus diese Befriedigung nicht gönnen. Er zeigte auf eines der untoten Spinnenwesen und sagte: „Ihr seht ihnen ähnlich, stammt ihr alle vom gleichen Volk ab?“
„Von dem Volk der Neruber, ja. Dann kam der Meister. Als sein Einfluss wuchs, führten wir Krieg gegen ihn. Wir waren dumm genug, anzunehmen, dass wir ihn besiegen könnten. Viele von uns fielen in diesem Krieg und wurden als untote Sklaven wiedererweckt. Zu meinen Lebzeiten war ich ein König – jetzt bin ich ein Gruftlord.
„Also habt Euch als Gegenleistung für Unsterblichkeit damit einverstanden erklärt, ihm zu dienen“, dachte Kel’Thuzad laut nach. Wahrhaft beeindruckend.
„‚Einverständnis’ setzt voraus, eine Wahl zu haben.“
Dies bedeutete, dass der Nekromant den Untoten seinen Willen aufzwingen konnte. Kel’Thuzad könnte das erste lebende Geschöpf sein, dass freiwillig hierher gekommen war. Etwas beunruhigt, wechselte er das Thema: „Dieser Ort ist von Wesen Eurer Rasse bevölkert, gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr hier herrscht?“
„Nach meinen Tod führte ich meine Brüder an, um diesen Pyramidenbau für unseren neuen Meister zu erobern. Ich habe außerdem die Arbeiten überwacht, die nötig waren, um ihn seinen Bedürfnissen anzupassen. Allerdings herrsche ich nicht über Naxxramas, und er wird auch nicht nur von meinem Volk bewohnt. Dieser Flügel ist nur einer von Vieren.“
„Dann führt mich weiter umher, Gruftlord, zeigt mir den Rest.“
Der zweite Flügel übertraf Kel’Thuzads kühnste Erwartungen. Er war voll von magischen Artefakten, Laboreinrichtungen und anderem Zubehör, gegenüber welchen sein eigenes altes Laboratorium verblasste. Riesige Räume waren dort, die ganze Heerscharen von Hilfskräften beherbergen konnten. Er sah untote Monster, die auf äußerst clevere Weise aus verschiedenen Tieren zusammengesetzt und wiederbelebt worden waren – und sogar einige untote Humanoide, die aus Körperteilen verschiedener Menschen bestanden. Die Körper der untoten Menschen zeigten keine Wunden. Anscheinend hatten sie, im Gegensatz zu den Nerubern, nicht gegen ihr Schicksal angekämpft. Der Nekromant musste sie sich von einem nahen Friedhof beschafft haben. Es war weise, zu versuchen, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Die Kirin Tor hätten sonst sicherlich sofort eingegriffen.
Bedauerlicherweise erwies sich der dritte Flügel als weniger interessant. Anub’arak zeigte ihm eine Rüstkammer und ein Areal für Kampftraining. Danach führte der Gruftlord ihn durch Kammern, die mit hunderten, nein, tausenden von verschlossenen Fässern und Kisten angefüllt waren. Wozu könnte Naxxramas solche Mengen von Vorräten benötigen? Nun ja, der Pyramidenbau musste vermutlich für den Fall einer Belagerung vorbereitet sein.
Dann erreichten er und Anub’arak den letzten Flügel. Hier wuchsen in einem gartenähnlichen Gebiet gigantische Pilze, die giftige Dünste absonderten, von denen Kel’Thuzad schlecht wurde. Die Erde, auf der die Pilze wuchsen, schien verseucht zu sein. Als er näher trat, um sie zu inspizieren, trat er auf etwas, das unter seinen Sohlen zermatschte: eine faustgroße Kreatur die einer Made ähnelte.
Er erzitterte und ging schnell weiter. Der nächste Raum enthielt einige kleine Kessel, die mit einer blubbernden, grünlichen Flüssigkeit gefüllt waren. Seine Neugier war trotz des abscheulichen Gestanks der Substanz geweckt und er trat einen Schritt näher, wurde allerdings von einer massiven Klaue am weitergehen gehindert.
„Der Meister wünscht, dass Ihr ihm lebendig dient, Eure Zeit ist noch nicht gekommen.“
Er hielt einen Moment den Atem an: „Es hätte mich umgebracht?“
„Es gibt viele, die sich weigern, dem Meister lebendig zu dienen. Die Flüssigkeit behebt dieses Problem.“ Kel’Thuzads verständnislosen Blick bemerkend, sagte der Gruftlord: „Kommt, ich werde es Euch demonstrieren.“
Anub’arak brachte ihn zu einer Zelle, in der zwei Gefangene waren. Dorfbewohner, nach ihrer Kleidung zu urteilen. Der Mann hielt die Frau in seinen Armen, sie war leichenblass und in Schweiß gebadet. Beide waren am Leben, obgleich die Frau ganz klar sehr krank war. Kel’Thuzad warf dem Gruftlord einen beunruhigten Blick zu.
Die verzweifelten, gläsernen Augen der Frau fanden Kel’Thuzad und leuchteten auf. „Gnade, mein Lord! Mein Ende steht kurz bevor und ich habe gesehen, was als Nächstes geschehen wird. Ein Flammenblitz, das ist alles, worum ich Euch bitte. Lasst mich in Frieden ruhen.“
Sie hatte Angst davor, zu einer Sklavin des Nekromanten zu werden. Anub’arak zufolge, hatte sie keine Wahl. Kel’Thuzad wurde mulmig zumute und er wandte sich von ihr ab. Sie hatte schließlich ohnehin nicht mehr lange zu leben.
Sie verließ die Umarmung des Mannes und umklammerte die Gitterstäbe. „Habt Gnade! Wenn ihr mir schon nicht helfen wollt, bringt wenigstens meinen Mann in Sicherheit.“ Sie begann hoffnungsverloren zu weinen.
„Sei still, Liebste“, flüsterte der Mann in ihr Ohr, „ich werde dich nicht verlassen.“
„Bringt sie zum Schweigen“, flüsterte Kel’Thuzad Anub’arak scharf zu.
„Ihre Geräusche verursachen Euch Unbehagen?“ Mit einer blitzschnellen Bewegung streckte Anub’arak eine seiner Klauen durch die Gitterstäbe und stach der Frau genau ins Herz. Dann ließ der Gruftlord den Leichnam beiläufig auf den Boden der Zelle fallen.
Ihr Mann heulte gequält auf. Sich seiner Erleichterung schuldig fühlend, begann Kel’Thuzad sich abzuwenden, erstarrte allerdings, als er sah, was als Nächstes geschah. Ihr toter Körper wurde auf einmal von heftigen Krämpfen geschüttelt. Der männliche Gefangene starrte sie schockiert an und verstummte.
Die Haut der toten Frau änderte ihre Farbe und nahm einen graugrünlichen Farbton an. Die Krämpfe ließen langsam nach und sie stand unsicher auf. Sie rollte ihren Kopf von einer Seite zur anderen und erzitterte, als sie ihren Mann sah. „Wachen, bringt diesen Mann hier heraus“, keuchte sie.
Die Wachen bewegten sich nicht. Sie fuhr sich stöhnend mit den Fingern durch ihre wirren, braunen Haare und Kel’Thuzad konnte nun ihr Gesicht sehen. Die Adern unter ihrer Haut verdunkelten sich und ihre Augen nahmen einen wilden, irrsinnigen Ausdruck an.
Ihr Mann fragte sie unsicher: „Liebste, bist du in Ordnung?“
Ein bitteres Lachen entsprang ihrer Kehle und wurde zu einem Knurren, als er einen zögernden Schritt auf sie zuging. „Komm keinen Schritt näher.“
Der Mann ignorierte ihren Protest und näherte sich ihr, aber sie stieß ihn mit solcher Kraft zur Seite, dass er mit voller Wucht gegen die Gitterstäbe prallte und sie benommen herabrutschte.
„Bleib zurück.“ Ihre Stimme entwickelte sich immer mehr zu einem kehligen Fauchen. „Dir wehtun.“ Sie schlang ihre Arme um sich und ging rückwärts, bis sie an die Gitterstäbe am anderen Ende der Zelle stieß. „Dir wehtun, dir wehtun“, heulte sie und etwas an der Art, wie sie es sagte, fing an, sich furchtbar falsch anzuhören.
Nicht verstehend, was hier vorging, beobachte Kel’Thuzad, wie sie langsam und unbeholfen mit ihrer Hand das Loch in ihrer Brust abtastete. Sie fauchte, verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse und fing an, ihre Finger abzulecken. Dann sprang sie auf einmal blitzschnell auf ihren Mann zu, fletschte die Zähne, holte aus und…
Der Mann schrie auf und Blut spritzte auf den Boden. Kel’Thuzad zuckte zusammen und schloss seine Augen. Aber es half nicht, er konnte immer noch die furchtbaren Geräusche hören. Reißen, Zerfetzen, Schmatzen. Aber am Schlimmsten war das leise Schluchzen, das unter all den anderen Geräuschen zu vernehmen war. Er realisierte voller Grauen, dass die Frau sich auf irgendeiner Ebene ihrer Taten bewusst war, allerdings nicht mehr dagegen ankämpfen konnte.
Von Übelkeit und Grauen ergriffen, teleportierte er sich aus Naxxramas heraus, wankte ein paar Schritte und übergab sich. Dann ergriff er etwas unbefleckten Schnee und schrubbte sich damit seine Hände und seinen Mund ab. Es fühlte sich an, als würden sie nie wieder sauber sein. Worauf hatte er sich da nur eingelassen?
Seine verstreuten Gedanken nahmen nach und nach Form an. Der Nekromant war kein einfacher Gelehrter, der ein Interesse an dem allgemein als schwarze Magie verurteilten Bereich der Magie hatte. Und er plante auch nicht, sein Heim gegen eine Belagerung zu befestigen. Er produzierte große Mengen einer Flüssigkeit, die Menschen in Zombies verwandelte. Außerdem gab es in Naxxramas Unmengen von Vorräten, Waffen, Rüstungen, Trainingsanlagen…
Dies waren keine Schutzmaßnahmen, es waren Kriegsvorbereitungen.
Ein plötzlicher Wind zog auf, begleitet von einem überirdischen Kreischen, und eine Gruppe kalter Gespenster nahm vor ihm Form an. Er hatte vor Jahren in der violetten Zitadelle über sie gelesen. Die wagen Beschreibungen in den Büchern dort hatten neben ihren unklaren, durchsichtigen Formen allerdings nicht die eiskalte Bosheit in ihren Augen erwähnt.
Eines der Gespenster schwebte auf ihn zu und fragte: „Zweifel? Wie du sehen kannst, kann dein kleiner Trick dich nicht retten. Vor dem Meister gibt es kein Entkommen. Und selbst wenn, was könntest du schon ausrichten? Wohin könntest du fliehen? Und was noch wichtiger ist, wer würde dir schon Glauben schenken?“
Die Flucht oder der Kampf. Diese beiden Möglichkeiten wären die heldenhafte Entscheidung gewesen. Heldenhaft, aber sinnlos. Sein Tod würde nichts ändern. Indem er sich einverstanden erklärte, der Lehrling des Nekromanten zu werden, konnte Kel’Thuzad vielleicht etwas Zeit schinden. Zeit, die er benutzen konnte, um seine eigenen Fähigkeiten zu verbessern. Nachdem er genügend Training erhalten hatte, konnte er den Nekromanten vielleicht sogar übertreffen und auf eine günstige Gelegenheit warten, um …
Er nickte den Gespenstern zu: „Nun gut, bringt mich zu ihm.“
Die Gespenster teleportierten ihn in die Zitadelle zurück und eskortierten ihn durch eine Reihe von Hallen und Räumen, von denen Kel’Thuzad genau wusste, dass er sie sich nicht einprägen könnte. Dann betraten sie endlich eine riesige Höhle tief unter der Erde, deren feuchte Kälte seine Knochen gefrieren ließ. Im Zentrum der Höhle war eine schwindelerregend hohe Felsnadel, zu der mit Schnee bedeckte Stufen hinaufführten.
Die Gespenster und er begannen den Aufstieg. Sein Herz pochte vor Aufregung und Schrecken. Er bemerkte, dass seine Schritte immer schwerer wurden und versuchte, sich mehr zu beeilen. Seine Entschlossenheit hielt allerdings nicht lange an. Es fühlte sich an, als würde er von einem Gewicht herabgezogen. Seine lange Reise durch Nordend musste ihn mehr erschöpft haben, als er angenommen hatte.
Hoch über ihm, auf der Spitze der Felsnadel, konnte er einen großen Kristallbrocken ausmachen. Kein Schnee haftet auf ihm und er hatte einen leichten blauen Glanz. Der Nekromant war nirgendwo zu entdecken.
Eines der Gespenster trieb ihn mit einem eiskalten Windhauch an, er war wieder langsamer geworden. Gereizt zog er seinen Mantel enger zusammen und zwang sich dazu, die Stufen schneller zu erklimmen, obgleich es ihm immer schwerer fiel zu atmen.
Die Zeit verging und ein plötzlicher Graupelhagel brachte sein Bewusstsein wieder zurück. Er hatte, ohne sich dessen bewusst zu sein, in der Mitte der Stufen angehalten, um sich auf seinen Stab zu lehnen. Die Luft war verdorben und drohte ihn zu ersticken. Er rang nach Luft, alles was er herausbringen konnte war: „Gebt mir einen Moment.“
Eines der Gespenster hinter ihm sagte: „Wir können nicht ruhen. Warum solltest du also?“
Grimmig setze Kel’Thuzad den Aufstieg fort und zog unter der wachsenden Erschöpfung seine Schultern zusammen. Unter großer Mühe hob er seinen Kopf an und sah, dass der schimmernde Kristall näher rückte. Auf diese Entfernung sah er wie ein gezackter Thron aus, auf dem er unscharf glaubte eine Gestalt wahrnehmen zu können. Eine spürbare Aura der Bedrohung ging von dem Thron aus.
Eines der Gespenster streifte ihn und veranlasste ihn zu einem erschreckten Aufschrei. Echos seines Schreis hallten durch die Höhle. Er umklammerte seinen Fellmantel mit klammen, zitternden Händen. Sein Atem stockte in seiner Kehle und er verspürte das plötzliche Bedürfnis, umzukehren und davonzulaufen. „Wo ist der Meister“, fragte er mit einer hohen, zittrigen Stimme.
Keine Antwort, stattdessen peitschte ihm ein weiterer Graupelhagel entgegen. Er stolperte und schaffte es gerade so, nicht völlig den Halt zu verlieren. Die Aura des Thrones schien mit jedem Schritt schwerer auf ihm zu lasten, seinen Kopf zum Boden hin zu drücken, sein Rückgrat zu krümmen. Er konnte nur noch mit Mühe aufrecht gehen und fiel schon bald auf die Knie.
Dann sprach der Nekromant zum ersten Mal direkt zu ihm, allerdings enthielt seine einst so vertraute Stimme nun keine Spur von Güte mehr. Dies soll deine erste Lektion sein. Ich hege keine Sympathie für dein Volk. Ganz im Gegenteil, es ist meine Absicht, diesen Planeten für immer von der menschlichen Rasse zu reinigen. Sei dir dessen gewiss, dass dies in meiner Macht steht.
Die unerbittlichen Gespenster gönnten ihm keine Rast. Bis aufs Äußerste gedemütigt, ließ er seinen Stab zurück und kroch auf Händen und Füßen weiter. Die Bosheit des Nekromanten strahlte auf ihn herab und drückte ihn tiefer in den Schnee. Kel’Thuzad zitterte und wimmerte. Er hatte falsch gelegen, furchtbar falsch. Was er fühlte, war keine Erschöpfung – es war der pure Schrecken.
Die günstige Gelegenheit, auf die du hoffst, wird niemals kommen. Ich schlafe nicht und außerdem kann ich deine Gedanken so mühelos lesen wie ein Buch, wie du mittlerweile sicherlich festgestellt hast. Und du wirst mich niemals übertreffen können. Dein kümmerlicher Verstand wird niemals dazu in der Lage sein, mit den Mächten umzugehen, die mir zur Verfügung stehen.
Kel’Thuzads Roben waren zerrissen und seine Beinkleider boten keinen Schutz gegen die eiskalten, rauen Felsstufen. Seine Hände und Füße hinterließen blutige Spuren im Schnee hinter ihm, als er die letzten Stufen empor kroch. Der Thron strahlte eine eisige Kälte aus und war von Nebel umgeben. Ein Thron, nicht aus Kristall, sondern aus Eis.
Unsterblichkeit kann ein großer Segen sein. Sie kann auch Qualen bedeuten, wie du sie dir in deinen schlimmsten Alpträumen nicht vorstellen könntest. Widersetze dich mir, und ich werde dir zeigen, was ich über Schmerzen gelernt habe. Du wirst um deinen Tod betteln.
Er konnte sich dem Thron nur bis auf ein paar Meter nähern, bis die von ihm ausgehende Aura unmenschlicher Macht und unerbittlichen Hasses ihn niederdrückte. Eine unsichtbare Kraft presste sein Gesicht gegen den unnachgiebigen Fels. „Bitte …“, wimmerte er, „Bitte!“ Mehr brachte er nicht heraus.
Dann gab der Druck endlich nach und die Gespenster huschten hinfort. Aber er wusste, dass es keine gute Idee wäre, aufzustehen. Er bezweifelte ohnehin, dass er es könnte. Er konnte dem Drang nicht widerstehen, seinen Peiniger anzusehen.
Eine Plattenrüstung schien sich eher inmitten des Thrones zu befinden, als auf ihm zu sitzen. Zuerst dachte Kel’Thuzad, die Rüstung wäre einfach nur schwarz, aber bei näherer Betrachtung stellte er fest, dass ihre Oberfläche das Licht überhaupt nicht reflektierte. Je länger er sie anstarrte, umso mehr schien sie alles Licht und alle Hoffnung zu verschlingen und nur Wahnsinn zurückzulassen.
Der kunstvoll gefertigte und mit Stacheln besetzte Helm ähnelte einer Krone. Er war mit einem einzelnen, blauen Edelstein besetzt und strahlte dieselbe Leere aus wie der Rest der Rüstung. Einer der Panzerhandschuhe umschloss ein massives Schwert, in dessen Klinge Runen eingeätzt waren. Hier gab es große Macht – und unendliche Verzweiflung.
Als mein Leutnant werden sich dir Macht und magische Kräfte erschließen, die du dir nicht einmal in deinen kühnsten Träumen ausmalen kannst. Als Gegenleistung wirst du mir auf ewig dienen – lebendig oder tot. Solltest du es wagen, mich zu hintergehen, werde ich dich in einen meiner geistlosen untoten Sklaven verwandeln. Du kannst deinem Schicksal nicht entkommen.
Diesem spektralen Wesen zu dienen, Kel’Thuzad sah es als einen Lich-König an, würde ihm zweifellos große Macht verschaffen… Und ihn bis in alle Ewigkeit verdammen. Aber diese Einsicht kam zu spät, viel zu spät. Er konnte seiner Verdammnis nicht entkommen, denn der Tod würde ihm keine Erlösung bringen.
„Ich bin Euer ergebener Diener, ich schwöre es“, sagte er mit rauer Stimme.
Daraufhin schickte der Lich-König ihm eine Vision von Naxxramas. Er konnte in schwarze Roben gehüllte Figuren sehen, die in einem weiten Kreis draußen auf dem Gletscher standen. Ihre sichtbar von schwarzer Magie umgebenen Arme hoben und senkten sich im Rhythmus eines dröhnenden Gesanges, den Kel’Thuzad nicht zu verstehen fähig war. Die Erde unter ihren Füßen bebte unter heftigen Stößen, doch sie erhielten den Gesang aufrecht.
Du wirst in die Welt hinausziehen und allen von meiner Macht verkünden. Du sollst mein Botschafter unter den Lebenden sein und wirst eine Gruppe von Gleichgesinnten zusammenstellen, die meine Pläne vorantreiben werden. Durch Illusion, Überredungskunst, Seuche und Waffengewalt wirst du dafür sorgen, dass ich Azeroth mit eisernem Griff in meine Gewalt bringe.
Zu Kel’Thuzads großem Erstaunen, fing das Eis auf einmal an sich zu verschieben und zu bersten. Dann brach die Spitze des Pyramidenbaus durch den gefrorenen Boden. Der Pyramidenbau wurde quasi durch den Erdboden hindurch in die Höhe gezogen. Die in Roben gehüllten Figuren verdoppelten ihre Anstrengungen und der Pyramidenbau setzte seinen unmöglich scheinenden Aufstieg fort. Erd- und Eisbrocken wurden mit explosiver Kraft in alle Himmelsrichtungen davon geschleudert. Schon bald hatte sich das gesamte Bauwerk aus der Einbindung in den Erdboden befreit. Langsam aber sicher erhob sich Naxxramas in die Lüfte.
Und dies soll dein Gefährt sein.
Vor den Toren von Ahn'Quiraj von Micky Neilson
Die Mittagssonne brannte gnadenlos über den sandigen Weiten von Silithus, ein stiller Zeuge der Heerscharen, die sich vor dem Skarabäuswall formiert hatten.
Langsam zog sie ihre Bahn, doch der gewaltigen Armee am Boden erschien es, als ob das Feuer und die Hitze der Sonne nicht bis zu ihren Reihen vordringen würden.
Inmitten der ruhelosen Truppen stand eine einsame Nachtelfe, tief versunken in Gedanken. Ihre Gefährten blickten mit sichtbarer Verehrung zu ihr auf; manche sogar mit wahrer Ehrfurcht. Die anderen, die sich an diesem Ort eingefunden hatten, unter ihnen Vertreter aller Völker der bekannten Welt, beobachteten sie aus der Ferne, immer noch nicht gänzlich frei von ihren eigenen Vorurteilen. Die alten Feindschaften zwischen Elfen, Trollen und Tauren waren tief verwurzelt; trotz der Ereignisse der jüngsten Vergangenheit weigerten sie sich immer noch, ihren Verursachern ins Grab zu folgen.
Doch ungeachtet dessen, auf wessen Seite sie standen, hatten alle Kämpfer an diesem Tag vielleicht zum einzigen Mal in ihrem Leben eine Sache gemeinsam: unverholenen Respekt vor der Nachtelfe. Shiromar glich der Sonne über ihren Häuptern – unbeugsam, unerschrocken und unbeirrt. Diese Unbeirrbarkeit war es, die ihr in den letzten Monaten Kraft gegeben hatte, selbst als sie alles verloren geglaubt hatte. Selbst als die Aufgabe unlösbar schien. Selbst als ihre Gefährten aufgegeben hatten, einer nach dem anderen.
Sie dachte zurück an den Wächter und die Höhlen der Zeit; den bronzenen Drachen, den Brutfürsten und die sich windenden Insektenschwärme. Die Splitter und ihre Behüter, die uralten Drachen, die ihre Schätze niemals freiwillig herausgeben würden. Sie hatte Druck, Gerissenheit und manchmal auch rohe Gewalt anwenden müsssen, um ihre Aufgabe zu erfüllen.
Und all dies für einen einzigen Gegenstand, das Objekt, dass sie nun in ihren Händen hielt: Das Szepter der Sandstürme, nach so eintausend Jahren endlich wiederhergestellt.
Letztenendes hatte sie ihr Weg hierher zurückgeführt, wo alles begonnen hatte. Hierher zurück, zum Skarabäuswall. Hierher zurück, wo das Szepter einst zerbrochen war.
Shiromar blickte hinauf zum Himmel und rief die Erinnerung wach an eine Zeit, als die Sonne von den Schwingen gewaltiger Drachen verdeckt worden war, und als die Qiraji zusammen mit den Silithiden die Legionen der Nachtelfen in einer unendenden Flut von Körpern, Klauen, Mandibeln und Blut überschwemmten. Niemals hätte sie damals zu glauben gewagt, dass irgendeiner von ihnen Lebend aus dem Chaos des Krieges entfliehen konnte. Doch nun stand sie hier, nach all den Jahrhunderten, vor der heiligen Mauer, die bereits einmal ihr Leben gerettet hatte. Damals, während des Kriegs, als die wehenden Sande von Silithus sie beinahe alle verschlungen hätten ...
Fandral Hirschhaupt führte den Sturm, sein Sohn Valstann an seiner Seite. Sie hatten die Schlucht bewusst als den Ort dieser Schlacht gewählt, damit ihre Flanken gegen die unendliche Flut der Silithiden geschützt sein würden. Shiromar ritt ein kurzes Stück hinter ihnen und fokussierte ihre gesamte Energie auf ihre Zauber, mit denen sie die Kämpfer an vorderster Front unterstützte.
Sie hatten sich bis zum Ausgang der Schlucht vorgekämpft. Fandral und Valstann drängten ihre Gegner Schlag um Schlag weiter zurück, dicht gefolgt von den mächtigsten und tapfersten Kriegerinnen, die die Armee der Schildwachen zu bieten hatte, sowie einer Vielzahl von Druiden und Priesterinnen, die alle ihr bestes gaben, die Kämpfer an vorderster Stelle am Leben zu halten. Es schien fast, als ob auf jeden gewaltigen Silithidenschwarm, der vor den Nachtelfen fiel, hunderte mehr an seine Stelle traten. So hatten sie bereits die letzten Tage gekämpft, seit die Nachricht der Invasion der Silithiden eingetroffen war und Fandral die Armee zu den Waffen gerufen hatte.
Priesterin Shiromar und ihre Gefährtinnen hatten alle genug Energie gesammelt, um gemeinsam den Segen Elunes herbeizurufen; eine Säule aus blendendem Licht stürzte auf den Ausgang der Schlucht herab und vernichtete innerhalb eines einzigen Augenblicks den gesamten Schwarm, der ihnen zuvor den Ausgang verwehrt hatte.
Augenblicklich wurde die Luft erfüllt vom Sirren unzähliger Insektenflügel. Einer nach dem anderen erschienen am Rand der Schlucht die geflügelten Qiraji und stürzten sich nach kurzem Zögern unvermittelt mitten in die Reihen der Druiden unter ihnen.
Fandral führte die Front aus der Schlucht heraus und in die offene Wüste vor ihnen, über Berge von Silithidenkadavern. Hinter sich hörten sie das Summen der Qiraji und die Todesschreie ihrer Heiler, während die rasiermesserscharfen Klauen der Qiraji den Wüstenboden mit dem Blut der Nachtelfen tränkten. Fandral beschleunigte sein Vordringen, um den unterstützenden Rängen mehr Raum zum Ausweichen zu bieten.
Als sich ihr Blick einer fernen Hügelkette zuwandte, sah Shiromar eine gewaltige Welle flügelloser Qiraji über den Hügel rollen, bis vom Boden unter ihnen nichts mehr zu sehen war. Inmitten der Fußsoldaten der Qiraji bewegte sich eine Monstrosität von gigantischen Ausmaßen auf sie zu, die unablässig mit ihren klauenbewehrten Gliedmaßen Zeichen gab und in der schrecklichen Sprache der Insektenvölker Befehle brüllte.
Unter all dem Lärm und dem chaotischen Summen, das über dem Schlachtfeld ertönte, schien sich in der Gegenwart des Ungeheuers ein Wort herauszukristallisieren: Rajaxx, Rajaxx, Rajaxx ... Shiromar konnte zwar die Worte ihrer Gegner nicht verstehen, doch es schien ihr, als sei dies der Name der Kreatur.
Als die Welle auf die Nachtelfen niederging, ertönte in der Ferne ein großes Horn. Von Ost und West stürmten zahllose Nachtelfen auf das Feld, um ihren bedrängten Gefährten zu Hilfe zu eilen. Mit einem markerschütterndem Schrei stürzten sich Fandral und Valstann mitten ins Herz des heranrückenden Schwarms, und beide Seiten prallten mit Wucht aufeinander, genau als die neu eingetroffenen Kämpfer auf beiden Flanken der Qiraji jeden gefallenen Elfen mit dem Leben hunderter Qiraji vergolten.
Shiromar war sich gewiss, dass die Schlacht gewonnen sei; doch selbst als die Schatten lang wurden und sich die Nacht über Silithus senkte, hörten die Kämpfe nicht auf. Inmitten der Schlacht trafen Fandral und Valstann schließlich auf den General der Qiraji selbst.
Einigen Angriffen der geflügelten Qiraji knapp entkommen blickte Shiromar dorthin, wo Vater und Sohn verzweifelt gegen den Anführer der Qiraji kämpften. Die Reihen der Qiraji fingen endlich an, sich zu lichten, und ihr Anführer schien dies zu bemerken. Mit einem gewaltigen Sprung entzog sich die Kreatur dem Zugriff ihrer Gegner und verschwand jenseits des Hügels, wo Shiromar sie zum ersten Mal gesichtet hatte. Die verbleibenden Insektoiden fielen kurze Zeit später unter dem Ansturm der Nachtelfen.
An diesem Abend wurden Wachen aufgestellt, und die elfischen Streitkräfte rasteten. Fandral wusste, dass die Bedrohung durch die Qiraji noch nicht gebannt war; der nächste Tag würde mit Sicherheit eine weitere erbitterte Schlacht bereithalten. Shiromar konnte nur in kurzen Intervallen schlafen. Die Schreie der Toten hallten immer noch in ihren Ohren, doch die Wüste um sie herum schwieg.
Als sich die Truppen am Morgen neu formierten und den Hügel erklommen, legte sich eine unheilvolle Stille über das Land. Shiromar suchte den Horizont ab, doch von den Qiraji und den Silithiden war weit und breit nichts zu sehen. Fandral hatte gerade den Befehl gegeben, auszurücken, als ein Bote mit einer dringenden Nachricht eintraf: der Südwindposten wurde angegriffen.
Fandral dachte darrüber nach, seine Truppen zurückzuziehen um den Posten zu verteidigen, doch er war sich der Tatsache bewusst, dass dieser Zug dem Feind die Tür für eine erneute Invasion weit öffnen würde. Sie wussten immer noch nicht, wie groß die Zahl der feindlichen Armee war, oder was dieses unbekannte Volk sonst noch an Einheiten auf das Feld führen konnte.
Valstann erriet die Gedanken seines Vaters, und bot ihm an, eine Abteilung zu dem umkämpften Posten zu führen, so dass Fandral hier bleiben und die Qiraji weiter zurückhalten konnte.
Aus der Nähe konnte Shiromar den Rest des Gespräches belauschen:
„Was, wenn es eine Falle ist?“ fragte Fandral.
„Wir müssen dieses Risiko eingehen, Vater.“ entgegnete Valstann. „Ich werde gehen. Ich werde die Stadt verteidigen und siegreich heimkehren. Ich werde die Ehre deines Namens aufrechterhalten.“
Fandral nickte, zögerlich. „Wenn du lebend zurückkommst, soll mir das Lohn genug sein.“
So sammelte Valstann seine Abteilung, und Fandral ließ seinen Sohn nach Südwind ziehen. Shiromar machte sich Sorgen über die Teilung der Streitkräfte, doch sie verstand die Notwendigkeit der Entscheidung.
Während der nächsten Tage kämpften Shiromar und die anderen gegen Welle um Welle von Silithiden, die aus den umliegenden Insektenbauten hervorquollen. Doch von den Qiraji selbst fehlte weiterhin jegliche Spur. Langsam beschlich Shiromar ein äußerst ungutes Gefühl. Es war ein böses Omen, dass sich die Meister der Silithiden so lange nicht hatten blicken lassen. Sie hatte Angst um Valstann, und sie konnte oftmals während kurzen Pausen im Kampf sehen, wie Fandral voller Sorge zum Horizont blickte, wo er im Stillen hoffte, seinen Sohn zurückkehren zu sehen.
Am dritten Tag, als die Sonne am höchsten Punkt stand, kehrten die Qiraji zurück. Das Summen der Insektenflügel erfüllte erneut die Luft; erneut verschlangen die zahllosen Soldaten der Insektenherrscher den Horizont. Sie reihten sich vor Fandrals Armee wie der Schatten einer gewaltigen Wolke auf, die die Sonne verdeckte ... und hielten dann inne.
Und warteten.
Fandral lies seine Truppen aufmarschieren und bezog selbst an vorderster Front Stellung, während Sturmkrähen am Himmel ihre Kreise zogen und Druiden in Bärengestalt erwartungsvoll im Sand scharrten. Die Masse der Insekten teilte sich vor ihnen. Die riesenhafte Gestalt des Generals trat hervor, in seinen Klauen einen geschundenen und blutüberströmten Körper. Rajaxx baute sich vor den Reihen der Qiraji auf und hob Valstann Hirschhaupt hoch, so dass ihn alle sehen konnten.
Eine Welle des Schreckens lief durch die Armee der Nachtelfen. Shiromar fühlte, wie eine unglaubliche Leere von ihrem Innersten Besitz ergriff. Fandral stand in der Mittagssonne, stumm, und wusste in diesem Moment, dass Südwind gefallen war, und sein Sohn mit ihm. Er verfluchte sich selbst dafür, dass er den Jungen hatte ziehen lassen, und so stand er da, erstarrt vor Angst, Schuld und Verzweiflung.
In den Klauen des Generals rührte sich Valstann plötzlich und sprach zu seinem Peiniger, doch er war zu weit weg um gehört zu werden.
Mit einem Mal war der Bann gebrochen, unter dem Fandral gestanden hatte. Wie ein zürnender Sturm schoss der Vater nach vorne, und auf seinen Ruf hin beugte sich die gesamte Macht der Nachtelfen dieser einen abscheulichen Kreatur entgegen… doch der Weg war zu weit. Noch bevor der General sich bewegte wusste Shiromar, dass sie Valstann niemals rechtzeitig erreichen würden.
Der Qiraji legte seine zweite Klaue um Valstanns mishandelten Körper, und drückte mit beiden einmal kräftig zu ... und zog sie auseinander. Die beiden Hälften des jungen Nachtelfen fielen bewegungslos zu Boden.
Fandral wurde langsamer, stoppte, und fiel auf seine Knie. Die nachrückenden Nachtelfen teilten sich um ihn, umflossen ihn wie ein reißender Strom aus Zorn und Stahl. Als die beiden Fronten aufeinanderprallten, wehte von Osten her ein Sandsturm über das Schlachtfeld, der alles Licht auslöschte. Hustend, geblendet fühlte Shiromar, wie der Wind sie unnachgiebig zu Boden zwang. Sie versuchte, ihre Augen so gut es ging zu schützen, während der Wind ihre Ohren betäubte und die Schreie ihrer Gefährten sanft überdeckte.
Inmitten des Chaos erblickte sie verschwommen die Gestalt des Generals der Qiraji, nicht weit von ihr, wie er durch die Reihen der Nachtelfen pflügte und mit seinen gewaltigen Klauen eine Spur verstümmelter Körper hinter sich her zog. Dann sah sie Fandral, der mit letzter Kraft den Rückzug befahl. Sie hatten versagt; Silithus war verloren.
Viele der folgenden Ereignisse schmolzen in ihrer Erinnerung zu wenigen Augenblicken zusammen, obwohl sie tatsächlich Tage gebraucht hatten. Fandral führte den kläglichen Rest seiner Armee aus Silithus und über die schmalen Bergpässe hinab in den Un’Goro Krater. Die Silithiden und die Qiraji folgten ihnen dicht auf den Fersen und verschlangen all diejenigen, die hinter den Schutz der elfischen Hauptstreitmacht zurückfielen.
Sobald sie den Un’Goro Krater erreicht hatten, geschah jedoch etwas seltsames. Anscheinend hatten sich die Qiraji zurückgezogen, als die Streitmacht den Rand des Kraters erreicht hatte. Der Erzdruide sammelte seine verbleibenden Truppen im Herzen des Kraters und gab den Befehl, die Stellung zu halten. Vorerst war das ständige Kämpfen, Fliehen und Sterben vorbei. Doch die Nachtelfen hatten eine bittere Niederlage einstecken müssen, und das Verhalten von Fandral Hirschhaupt hatte sich von Grund auf geändert.
Shirmor sah, wie Fandral Wache stand. Er blickte vom Feuersäulengrat hinab auf die Ebenen unter ihnen, den Dampf aus dem vulkanischen Gestein im Rücken. Das orangene Leuchten der Lava erhellte sein Gesicht, eine steinerne Maske, die ungeahnten Schmerz verbarg – Schmerz, den nur Eltern kennen, die ihre Kinder überlebt haben.
Der plötzliche Rückzug der Qiraji überraschte Shiromar. Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr erinnerte sie sich an die Legenden über den Krater, Gerüchte, dass er in vorgeschichtlichen Zeiten von den Titanen selbst geschaffen worden war. Vielleicht wachten sie immer noch über diese Gegend. Vielleicht lag auf dem Krater immer noch ihr Segen. Eines war auf jeden Fall sicher: Wenn sie nicht bald eine Möglichkeit finden würden, dem Vordringen der Insektenvölker Einhalt zu gebieten ...
…würde Kalimdor für immer verloren sein.
Der Krieg dauerte noch lange, schmerzhafte Monate. Igrendwie schaffte es Shiromar, eine Schlacht nach der anderen zu überleben, doch die Nachtelfen waren von nun an stets in der Defensive, stets unterlegen, und immer zum Rückzug gezwungen.
Aus Verzweiflung flehte Fandral den Schwarm der bronzenen Drachen um Hilfe an. Ihre ursprüngliche Weigerung, sich in die Angelegenheiten der sterblichen einzumischen, wandelte sich in Unterstützung, nachdem die Qiraji die Höhlen der Zeit angegriffen hatten, die Heimat und Brutstätte von Nozdormu, dem Zeitlosen.
Nozdormus Erbe, Anachronos, gewährte den Elfen die Unterstützung des bronzenen Drachenschwarms in ihrem Krieg gegen die Qiraji. Jeder Nachtelf, der ein Schwert tragen oder einen Zauber wirken konnte, schloss sich der Armee an, und mit vereinten Kräften machten sich die Nachtelfen und die Drachen auf, Silithus zurückzuerobern.
Doch selbst mit der Macht der Drachen auf ihrer Seite war die schiere Masse der Qiraji und Silithiden zu groß. Und so rief Anachronos die Nachkommen der übrigen Drachenschwärme zu sich: Merithra, ein Kind Yseras und Abgesandte des grünen Drachenschwarms; Caelastrasz, ein Kind Alexstraszas und Abgesandter des roten Drachenschwarms; und schließlich Arygos, ein Kind von Malygos und Abgesandter des blauen Drachenschwarms.
Die Drachen und die geflügelten Qiraji stießen am wolkenlosen Himmel über Silithus aufeinander, als die gesamte nachtelfische Streitmacht Kalimdors durch die Wüste zog. Doch selbst in diesem Augenblick war der Fluss der Qiraji und Silithiden ungebrochen.
Später hörte Shiromar Gerüchte, dass die Drachen bei einem Flug über die uralte Hauptstadt der Qiraji, aus der die Insekten herausströmten, etwas fürchterliches erblickt hatten, etwas, das auf eine noch viel ältere, schreckliche Präsenz hindeutete, die hinter dem Ansturm der Insekten lauerte.
Vielleicht war es diese Erkenntnis, welche die Drachen und Fandral zu ihrem endgültigen, verzweifelten Plan führte. Anstatt die Stadt einzunehmen würden sie die Qiraji dort hinter einer Barriere einsperren, die sie so lange festhalten würde, bis eine bessere Lösung gefunden werden konnte.
Und so begann mit der Hilfe der vier Drachenschwärme der letzte Marsch auf die Hauptstadt der Qiraji. Shiromar ritt hinter Fandral, während um sie herum die Leichen geflügelter Qiraji vom Himmel regneten. Hoch über ihren Häuptern dezimierten die Drachen die insektoiden Soldaten. Die Nachtelfen und die Drachen bildeten zusammen eine langsam vorrückende, unaufhaltsame Mauer, die die Qiraji immer weiter zu ihrer Hauptstadt Ahn’Qiraj zurückdrängte.
Doch vor den Toren der Stadt wandte sich das Blatt. Sogar die vereinten Kräfte konnten nur mit knapper Not ihre Stellungen halten. Ein weiteres Vordringen war unmöglich. Merithra, Cealestrasz und Arygos beschlossen, auf eigene Faust in die Stadt vorzustoßen und die Qiraji lange genug aufzuhalten, so dass Anachronos, Fandral und die verbleibenden Druiden und Priesterinnen die magische Barriere errichten konnten.
So stürzten sich die drei Drachen und ihre Gefährten in die Heerscharen der Qiraji, mitten in die Stadt, in der bangen Hoffnung, dass ihr Opfer nicht vergebens sein würde.
Außerhalb der Tore rief Fandral die Druiden zu sich, und gemeinsam mit Anachronos konzentrierten sie ihre Energien, während der Drache die magische Barriere errichtete. Innerhalb der Mauern fielen die Drachen vor der überwältigenden Macht der heranstürmenden Qiraji.
Shiromar sammelte ihre Energien und sprach den Segen ihrer Göttin Elune, als die Barriere vor den Augen der Nachtelfen Gestalt annahm. Fels, Stein und Wurzeln erhoben sich aus dem Sand und formten eine unüberwindbare Mauer. Sogar die geflügelten Soldaten, die versuchten über den Wall zu fliegen, wurden von einer unsichtbaren Barriere zurückgehalten, die sie nicht durchdringen konnten.
Die Qiraji, die außerhalb der Barriere waren, fielen innerhalb kürzester Zeit. Die Leichen zahlloser Qiraji, Nachtelfen und Drachen waren über dem weiten Wüstensand verstreut.
Anachronos deutete auf einen Skarabäus, der zu seinen Füßen im Sand krabbelte. Die Kreatur erstarrte und wurde mit einem Mal flach; der Drache hatte sie in einen riesigen metallenen Gong verwandelt. Steine in der Nähe des Walls gerieten in Bewegung und formten einen Altar, auf dem der Gong platziert wurde.
Der große Drache deutete auf ein Gliedmaß eines seiner gefallenen Gefährten. Anachronos stimmte einen stillen Singsang an, und kurz darauf verformte sich der Gegenstand zu einem Szepter.
Der Drache erklärte Fandral, dass der Gong nur mit dem Szepter geschlagen werden müsse, wenn jemals ein Sterblicher die magische Barriere der uralten Stadt überschreiten wolle. Mit diesen Worten übergab Anachronos das Szepter dem Erzdruiden.
Fandral betrachtete den Gegenstand, sein Gesicht verzerrt von Schmerz und Verachtung. „Niemals werde ich mit den Qiraji, mit Silithus oder mit Euch je wieder etwas zu tun haben! NIEMALS!“ Er schleuderte das Szepter voller Zorn gegen die magischen Tore. Das Szepter zerbarst in tausend Stücke. Fandral wand sich ab.
„Du würdest unseren Bund wegen deines Stolzes aufs Spiel setzen?“ fragte der Drache.
Fandral drehte sich Anachronos ein letztes Mal zu. „Die Seele meines Sohns wird in diesem leeren Sieg keinen Frieden finden, Drache. Aber ich werde ihn zurückholen. Auch wenn es mich Jahrtausende kosten wird ... ich werde meinen Sohn zurückholen!“ Und so schritt Fandral an Shiromar vorbei ...
…so voller Hass und Scham, ein gebrochener, einsamer Mann. Sie konnte ihn immer noch vor ihren Augen sehen, fast so, als wäre er hier und jetzt bei ihr, als läge all dies nicht bereits eintausend Jahre zurück.
Einer nach dem anderen schauten die vereinten Streitkräfte Kalimdors zu ihr auf. Sie warteten. So schritt sie nun auf den Altar zu, vorbei an Menschen und Tauren, Gnomen und Zwergen und sogar Trollen… all diesen Völkern, mit denen ihr eigenes Volk so lange gekämpft hatte. Sie alle waren nun vereint, die Bedrohung durch die Qiraji ein für alle Mal zu beenden.
Shiromar stand am Fuß der Stufen. Vor ihr lag der Altar, wartend. Lauernd? Sie holte tief Luft und schritt empor. Eine Sekunde lang hielt sie inne. Dann schwang sie in einem weiten Bogen das wiederhergestellte Szepter gegen den uralten Gong.
Ungebrochen von Micky Neilson
Alles, was existiert, lebt.
Die Worte sind in seinem Geist zu einem Mantra geworden, eine ständige Bestärkung in seinem neu gefundenen Verständnis. Sie waren eine göttliche Eingebung, der Schlüssel zu einem völlig neuen Universum an Wissen. Und diese Eingebung war der Grund, warum er hier war.
Die Worte trösteten Nobundo, als er langsam durch den Wald aus riesigen Pilzen der Zangarmarschen wandelte und das grüne und rote Leuchten der Sporen den frühen Morgennebel erhellte. Er überquerte die knarrenden Holzbrücken, die sich über das flache Wasser der Marschen erstreckten. Nur wenige Augenblicke später war er an seinem Ziel angelangt und blickte zu der strahlenden Unterseite eines Pilzes hinauf, neben dem alle anderen zwergenhaft erschienen. Dort oben auf seiner Kappe erwartete ihn Telredor, die Siedlung der Draenei.
Beklommen ging er weiter und stützte sich schwer auf seinen Gehstock ab. Er verfluchte die Schmerzen in seinen Gelenken als er auf die Plattform trat, die ihn nach oben bringen würde. Die Besorgnis lag ihm schwer auf der Seele, denn er wusste nicht, wie die anderen reagieren würden. Einst gab es eine Zeit, in der Seinesgleichen die Siedlungen der Unberührten nicht einmal betreten durften.
Sie werden mich nur auslachen.
Er füllte seine Lungen mit der kühlen, nebligen Luft der Marschen und bat sie um Mut für seine bevorstehende Herausforderung.
Die Plattform hielt an und Nobundo schleppte sich vorsichtig durch den bogenförmigen Eingang, einige schmale Stufen hinab bis hin zu der Terrasse, die den kleinen Marktplatz der Siedlung überblickte und auf der sich die Versammlung bereits zusammengefunden hatte.
Er blickte in die verhärteten Gesichter der verschiedenen Draenei, die mit Verachtung und Hochmut in den Augen zu ihm heraufstarrten.
Schließlich war er „Krokul“: „Zerschlagen“.
Ein Zerschlagener zu sein bedeutete, ausgestoßen und abgewiesen zu sein. Es war weder richtig noch gerecht, aber das war die Realität, die er gezwungenermaßen akzeptieren musste. Viele seiner unberührten Brüder und Schwestern konnten nicht verstehen, wie es zu der Verkümmerung der Krokul kommen konnte und vor allem, wie Wesen, die einst so vom Licht beschenkt und gesegnet waren, wie auch Nobundo, so tief fallen konnten.
Auch wenn Nobundo nicht genau wusste, wie es passiert ist, so wusste er jedoch wann. Mit überraschender Klarheit erinnerte er sich exakt an den Moment, an dem seine persönliche Verkümmerung begonnen hatte.
Der Himmel weinte, als die Orcs Shattrath belagerten.
Viele lange Monate war es her, seit das Land Draenor zuletzt mit Regen gesegnet wurde, doch nun zogen düstere Wolken herauf, als wollten sie sich gegen die drohende Schlacht auflehnen. Sanfte Schauer nieselten auf die Stadt und die Armee außerhalb ihrer Mauern nieder und wurden langsam zu einem gleichmäßigen Regenguss. Beide Seiten beobachteten und warteten.
Es müssen Tausende sein, schätzte Nobundo grimmig von seinem Platz hoch oben auf dem inneren Bollwerk. Jenseits der äußeren Mauer tanzten Schatten zwischen den mit Laternen erleuchteten Bäumen der Wälder von Terokkar. Wenn die Orcs sich mehr Zeit mit der Planung gelassen hätten, hätten sie vielleicht das umliegende Gebiet für ihren Angriff gerodet, doch die Orcs machten sich in diesen Zeiten nicht viel aus Strategie. Für sie zählte nur freudige Erwartung auf die Schlacht und die sofortige Befriedigung durch das Blutvergießen.
Telmor war gefallen, genauso wie Karabor und Farahlon. So viele der einst so majestätischen Städte der Draenei lagen nun in Schutt und Asche. Nur noch Shattrath war übrig.
Langsam nahmen die versammelten Orcs Stellung ein. Sie weckten in Nobundo das Bild einer großen, mit Fangzähnen bewehrten Schlange, die sich in Vorbereitung auf den Angriff wand … ein Angriff, der mit Sicherheit das Ende der Verteidiger von Shattrath bedeuten würde.
Als wäre unser Tod nicht ohnehin schon vorbestimmt.
Er war sich sehr wohl bewusst, dass er und die anderen, die sich heute Nacht hier versammelt hatten, als Opfer gedacht waren. Sie hatten sich freiwillig gemeldet, um zurückzubleiben und die letzte Schlacht zu schlagen. Die unweigerliche Niederlage würde die Orcs so sehr zufrieden stellen, dass sie die Draenei als quasi ausgestorben betrachten und ihre Verfolgung aufgeben würden. Diejenigen, die an anderen Orten Zuflucht gefunden hatten, würden überleben und eines Tages, wenn die Mengenverhältnisse besser wären, zurückschlagen.
So sei es denn. Mein Geist wird weiterleben und eins mit der Herrlichkeit des Lichts werden.
Mit neuem Mut richtete Nobundo sich zu seiner vollen Größe auf. Sein starker und athletischer Körper spannte sich an, bereit für das, was kommen mochte. Sein kräftiger Schweif schwang nervös hin und her, als er sein Gewicht gleichmäßig auf seine löwenartigen Beine verlagerte und die Spitzen seiner Hufe in das steinerne Mauerwerk grub. Er atmete tief durch und schloss seine Hände fest um seinen vom Licht gesegneten Kristallhammer.
Doch ich werde nicht leise gehen.
Er und die anderen Verteidiger, heilige Krieger des Lichts, würden bis zum Letzten kämpfen. Er warf einen Blick auf seine Brüder, die in regelmäßigen Abständen auf dem Absatz der Mauer postiert waren. Wie auch er standen sie gelassen und entschlossen da. Sie waren im Frieden mit dem Schicksal, das sie erwartete.
Außerhalb der Stadt waren die Kriegsmaschinen eingetroffen. Katapulte, Rammen und Ballisten – Belagerungsmaschinen aller Arten flackerten kurz im Fackelschein auf. Die schweren Konstruktionen knirschten und knarrten, als sie innerhalb der Reichweite der Mauer in Position geschoben wurden.
Trommelschläge erklangen, zuerst nur vereinzelt, dann immer mehr und mehr, bis der ganze Wald von einem Rhythmus erfüllt wurde, der sanft wie Regen begonnen hatte und nun zu einem andauernden Donnerschlag anschwoll. Nobundo flüsterte ein Gebet und bat das Licht um Kraft.
Ein dunkles Grollen ging durch die finsteren Wolken am Himmel und antwortete den rasenden Trommelschlägen. Einen Moment lang fragte sich Nobundo, ob das Licht wohl sein Gebet erhört hatte. Es schien, als wolle es seine unbändige Macht und seinen Zorn zur Schau stellen, eine Macht die größer war als alles, was er sich jemals zu rufen erträumt hätte und die die gesamte, rohe und blutdurstige Armee mit einem mächtigen Strahl heiligen Lichts auf einen Schlag auslöschen würde.
Es folgte in der Tat eine Zurschaustellung, aber nicht der heiligen Macht des Lichts.
Die Wolken donnerten, wirbelten umher und brachen auf, als riesige flammende Geschosse sie durchschlugen, die so schnell wie Meteore und mit einer Kraft, die Knochen zum Bersten brachte, zum Boden rasten.
Ein markerschütterndes Getöse dröhnte in Nobundos Ohren. Eines der Geschosse rauschte gefährlich nahe an ihm vorbei und zertrümmerte einen nahegelegenen Pfeiler, sodass Nobundo von den umherfliegenden Splittern getroffen wurde. Als ob sie nur auf dieses Signal gewartet hätte, stürmte die Menge draußen nach vorne. Ohrenbetäubende Kampfschreie donnerten über der Stadt, als sie sich mit einem einzigen Ziel vorschoben: alle, die ihnen in den Weg kamen, zu vernichten.
Der Regen wurde immer stärker und die äußersten Mauern zitterten unter den Einschlägen gewaltiger Steine, die die barbarischen Katapulte auf die Stadt schleuderten. Nobundo wusste, dass die äußeren Mauern nicht standhalten würden. Man hatte sie in aller Eile erbaut: die Mauern um den abgesenkten Boden des äußeren Rings wurden erst im letzten Jahr errichtet. Die methodische Ausrottung seines Volkes durch die Orcs machte diese Maßnahme notwendig. Schon da wussten sie, dass die Stadt einst ihre letzte Bastion sein würde.
Mehrere grobschlächtige Oger machten sich daran, einen Teil der Mauer zu durchbrechen, der durch die Meteoreinschläge bereits deutlich mitgenommen war. Zwei der hünenhaften Bestien bearbeiteten die Haupttore der Stadt mit einem riesigen Rammbock.
Nobundos Brüder starteten mehrere Angriffe auf den Feind. Doch immer, wenn einer der Draenei einen der Eindringlinge niedergestreckt hatte, nahmen zwei neue seinen Platz ein. Der beschädigte Teil der Mauer begann nun, vollständig in sich zusammenzufallen. Auf der anderen Seite grölte die Menge tobender Orcs und kletterte von blindem Blutdurst getrieben wild übereinander hinweg.
Die Zeit war gekommen. Nobundo erhob seinen Hammer gen Himmel, schloss die Augen und befreite seinen Geist von dem alles verschlingenden Missklang der Schlacht. Sein Geist rief. In seinem Körper fühlte er, wie die vertraute Wärme des Lichts ihn erfüllte. Der Hammer begann zu leuchten. Er konzentrierte sich auf sein Ziel und ließ die reinigenden heiligen Mächte auf die Oger unter sich herabfahren.
Ein greller Blitz erhellte für einen kurzen Augenblick das gesamte Schlachtfeld. Die Orcs an vorderster Front bellten überrascht auf, als das heilige Licht sie durchflutete, sie zum Schweigen brachte und gerade lange genug lähmte, damit die Draeneikrieger einen der riesenhaften Oger niederstrecken konnten.
Das kurze Gefühl der Erleichterung, das sich in Nobundo breitmachte, wurde schlagartig von dem Geräusch splitternden Holzes vertrieben. Unter einem letzten Schwung des Rammbocks zerbarst das Haupttor. Nobundo sah zu, wie die Verteidiger des unteren Viertels angestürmt kamen, um sich der Flut von Orcs und Ogern entgegenzustellen, und sofort niedergemetzelt wurden. Erneut rief Nobundo das Licht an und richtete seine heilenden Kräfte auf alle, die er erreichen konnte, doch die feindliche Übermacht war einfach zu groß. Sobald er einen verletzten Draenei geheilt hatte, musste derselbe Krieger nur Sekunden später erneut schwere Angriffe einstecken.
Immer mehr Oger machten sich an der geschwächten Stelle in der Mauer zu schaffen. Schließlich gelang es ihnen, sie zu durchbrechen. Die hoffnungslos unterlegenen Verteidiger gerieten auf allen Seiten in Bedrängnis.
Die Orcs waren wie wahnsinnig, betrunken von ihrer Blutlust. Als sich immer mehr von ihnen in den äußeren Ring drängten, konnte Nobundo ihre Augen sehen. Sie leuchteten und brannten vor blutrotem Zorn, der faszinierend und zugleich Furcht einflößend war. Nobundo und die anderen Verteidiger änderten ihre Taktik von Heilung auf Reinigung. Erneut wurde die Stadt in strahlende Helligkeit getaucht, als die Masse der Orcs vom Licht getroffen wurden. Für einen Moment erlosch das blutrote Leuchten in ihren Augen und sie stolperten nach vorne, wo die übrig gebliebenen Draeneikrieger sie bereits erwarteten.
Kra-wumm!
Die Mauer erzitterte und Nobundos Hufe gerieten auf dem regennassen Stein ins Rutschen. Er fand sein Gleichgewicht wieder und blickte hinab. Einer der Oger hieb mit einer Keule, die so groß wie ein Baumstamm war, auf einen der Pfeiler links von ihm ein. Nobundo hob seinen Hammer zum Himmel und schloss die Augen, doch seine Konzentration wurde schnell von einem anderen Geräusch gestört …
Kra-KABUMM!
Dieses Mal war es nicht der Oger, sondern eine Explosion, die von irgendwo unter ihm stammte, die Nobundo aus dem Gleichgewicht brachte. Er rollte sich auf die Seite und spähte über die Kante. Eine Wolke aus feinem rotem Staub breitete sich in Richtung des unteren Viertels aus. Die wenigen noch übrig gebliebenen Verteidiger brachen sofort hustend und würgend zusammen. Sie krümmten sich auf dem Boden und viele ließen ihre Waffen fallen. Die barbarischen Orcs metzelten die sich windenden Krieger rasch nieder. Ihre unbändige Freude an dem Blutbad war nicht zu übersehen.
Als das Massaker vorüber war, starrten sie nach oben. Ein tollwütiges Verlangen, die Verteidiger auf der Mauer in Stücke zu reißen, glänzte in ihren Blicken. Mehrere Orcs kletterten auf die Rücken der Oger und versuchten mit bloßen Händen die Mauer zu erklimmen. Ihre Aggressivität und ungezügelte Wildheit waren atemberaubend. Der Nebel hatte sich inzwischen über das gesamte untere Viertel ausgebreitet, stieg langsam auf und warf einen Schleier auf die Grausamkeit am Boden.
Nobundo vernahm einen Tumult hinter sich. Mehreren Orcs war es auf irgendeine Weise gelungen, durch die Verteidigung des inneren Rings zu brechen und auf den Absatz zu stürmen.
Kra-wumm!
Die Mauer erzitterte erneut und Nobundo verfluchte den Oger, der sich offensichtlich wieder dem Pfeiler zugewandt hatte. Eine zweite Salve flammender Meteore regnete vom Himmel herab, während Nobundo sich bereit machte, um der nahenden Flut von Angreifern entgegenzutreten.
Er richtete den Zorn des Lichts direkt auf den ersten Orc. Die Augen des grünen Biests trübten sich und der Orc fiel auf die Knie. Nobundo ließ seinen Hammer mitten auf den Schädel des Gegners herabfahren, riss ihn wieder in die Höhe und schwang ihn nach links, bis er das befriedigende Knacken vernahm, als die Rippen des Orcs brachen. Er drehte sich um die eigene Achse und führte den Hammer in einem Bogen nach unten, direkt auf das Bein eines anderen Orcs, und zertrümmerte seine Kniescheibe. Das Biest schrie vor Schmerzen auf und fiel kopfüber von dem Bollwerk.
Der Nebel hatte sich inzwischen den Weg zur Terrasse gebahnt, wo er sich ausbreitete und den steinernen Boden wie ein Teppich bedeckte. Er reichte ihnen schon bis zur Brust, doch Nobundo und seine Mitstreiter kämpften weiter, bis der Staub ihnen schließlich beißend in Augen und Lungen brannte.
Nobundo hörte die Todesschreie seiner Verbündeten, konnte sie jedoch in dem dichten roten Dunst nicht mehr erkennen. Zum Glück schienen die Angriffe auf ihn nachzulassen. Er taumelte einen Schritt zurück und unterdrückte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Sein Schädel fühlte sich an, als würde er gleich bersten.
Da vernahm er einen Kampfschrei aus dem Nebel, der so schrecklich war, dass ihm das Blut in den Adern gefror.
Ein Schatten kam auf ihn zu. Nobundo strengte sich an, um etwas zu erkennen, während sein Körper von Krämpfen geschüttelt wurde. Verzweifelt versuchte er, den Atem anzuhalten, als ein tätowierter Schrecken mit feurigen Augen aus dem blutroten Schleier trat… ein hünenhafter Orc, der über und über mit dem blauen Blut der Draenei besudelt war. Atemlos und mit einer bösartig aussehenden Zweihandaxt in den Händen stand er vor ihm. Sein rabenschwarzes Haar klebte ihm an Schultern und Brust, sein Unterkiefer war schwarz bemalt, was seinem Gesicht das Aussehen eines Schädels verlieh.
Hinter ihm strömten die Orcs auf den Absatz. Nobundo wusste, dass das Ende gekommen war.
Kra-wumm!
Ein weiteres Mal zitterte die Mauer. Der alptraumhafte Orc stürmte los. Nobundo versuchte auszuweichen. Die Klinge schnitt ihm in die Brust und beschädigte seine Rüstung. Seine linke Seite fühlte sich taub an. Nobundo konterte mit einem Schwung seines Hammers, der dem Orc die Finger seiner rechten Hand zertrümmerte und somit seine Waffe nutzlos machte. Und dann, zu Nobundos Entsetzen, begann die schreckliche Kreatur zu lächeln.
Der Orc packte ihn mit seiner guten Hand. Die beiden glühenden Feuer in seinen Augen bohrten sich in Nobundo hinein … bohrten sich durch ihn hindurch. Nobundo musste nach Luft schnappen. Er fühlte, wie die oberste Schicht seines eigenen Willens weggerissen wurde. Es war, als wäre eine dunkle, dämonische Magie am Werk, als ob ein Teil seiner eigenen Essenz vernichtet würde. Und er wusste nicht, was er diesem Angriff entgegensetzen könnte.
Kra-wumm!
Nobundo erbrach dickes Blut auf das Gesicht und die Schultern des Orcs. Er schloss die Augen, rief verzweifelt das Licht an und flehte, dass es den Orc nur für einen Augenblick außer Gefecht setzen möge, damit er sich verteidigen könne. Er rief …
Und zum allerersten Mal, seit er das Bündnis mit dem Licht eingegangen war und mit seinem heiligen Schein gesegnet wurde…
Erhielt er keine Antwort.
Starr vor Schreck öffnete er die Augen und blickte in die wahnsinnige, flammende Glut des Orcs, der seinen Mund öffnete und brüllte, sodass alle Geräusche umher verschlungen wurden und Nobundos Trommelfelle zu platzen drohten. Es schien, als wäre er plötzlich in einen schrecklichen, stillen Alptraum getaucht. Das Biest bog sich nach hinten und rammte seinen Kopf gegen Nobundos Gesicht. Nobundo stolperte mit wedelnden Armen nach hinten. Der Regen prasselte herab und der Anblick der glühenden Augen brannten sich in ihn, während er fiel … tiefer, tiefer, tiefer, durch den Nebel, und schließlich auf etwas Hartem aufschlug, das grunzte, als es unter ihm zusammenbrach.
Noch immer in seinem stummen Alptraum gefangen, sah Nobundo das Gesicht des Orcs von der Kante der Mauer verschwinden. In der Nähe gaben die beschädigten Pfeiler nach. Ein großer Teil der oberen Mauer stürzte ein, stahl ihm die Sicht auf den Regen und den Himmel und tauchte Nobundo in eine Welt aus stiller Dunkelheit.
Während er dort lag, dachte er an all diejenigen, die sich versteckt hatten. Diejenigen, von denen er hoffte, dass sie dem Gemetzel entkommen würden, diejenigen, die er liebte und schätzte, diejenigen, für die er sich geopfert hatte …
Leben. Aus irgendeinem Grund klammerte er sich immer noch ans Leben.
Nobundo tauchte aus der schwarzen Ewigkeit der Bewusstlosigkeit auf und fand sich in einem erdrückenden, blinden Gefängnis wieder. Sein Atem war nur ein hastiges, zitterndes Nach-Luft-Schnappen, aber er war am Leben. Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war seit … seit die Mauer eingestürzt war, seit…
Er ließ seinen Geist wandern. Sicher hatte er im Tumult der Schlacht es einfach nur nicht geschafft, sich stark genug zu konzentrieren, um das Licht zu erreichen. Aber jetzt, jetzt könnte er eine Verbindung herstellen. Jetzt könnte er es gewiss …
Nichts.
Keine Antwort.
Nobundo hatte sich noch nie zuvor so hilflos und einsam gefühlt. Wenn das Licht für ihn unerreichbar war und er hier sterben würde, was würde dann aus seinem Geist? Würde das Licht ihn dennoch aufnehmen? Wäre seine Essenz dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit durch die Leere zu wandeln?
Er hatte sein Leben in Ehre gelebt. Und doch … könnte das eine Art Bestrafung sein?
Während sein Geist nach Antworten suchte, streckte er die Hand aus und traf sofort auf kalten Stein. Er wurde sich langsam bewusst, dass er in einer merkwürdigen Position dalag, dass eine weichere, aber dennoch feste Masse dicht neben ihn gedrängt war und dass sein Bein mit Sicherheit gebrochen war.
Er rollte sich auf die rechte Seite und atmete tief ein. Den Schmerz in seinen Rippen und in seinem Bein versuchte er zu ignorieren. Ohne die Hilfe des Lichts konnte er sich nicht heilen, daher musste er fürs Erste mit dem Schmerz leben. Wenigstens war das Gefühl in seine rechte Seite zurückgekehrt. Und … er konnte die gedämpften Geräusche hören, die seine Bewegungen verursachten. Sein Hörvermögen war also ebenfalls wiederhergestellt.
Die Tatsache, dass er Luft einatmete, musste bedeuten, dass sie von irgendwoher zu ihm dringen musste. Als seine Augen sich ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er ein stecknadelgroßes Loch im Stein erkennen. Dahinter sah er kein Licht, jedoch war die Dunkelheit dort etwas heller als um ihn herum. Er ließ seine Hand am Boden entlang wandern und bekam einen vertrauten, zylinderförmigen Gegenstand zu fassen: den Schaft seines Hammers.
Mit der wenigen Kraft, die ihm noch übrig geblieben war, packte er den Griff direkt unter dem Kopf, hob den Hammer hoch und schleuderte ihn auf das Loch zu. Die steinernen Brocken gaben nach und eröffneten einen nur schwach erkennbaren Durchgang, der von den gefallenen Steinblöcken geschaffen worden war.
Sofort wurden seine Ohren mit dem Klang gedämpfter Schreie begrüßt. Angsterfülltes Wehklagen schallte aus einiger Entfernung zu ihm her. Er benutzte den Hammer, um seinen Oberkörper durch das Loch zu ziehen und sich in den schmalen Freiraum zu winden. Während er das tat, vernahm er ein tiefes Ächzen aus den Tiefen des Gerölls hinter ihm.
Die letzten ihm verbliebenen Kräfte sammelnd zog er sich vollständig in den Durchgang. Er erstickte einen Schrei, als sein gebrochenes Bein über den gezackten Steinrand schleifte und ein unerträglicher Schmerz durch seinen gesamten Körper jagte. Noch immer hörte er das gequälte Ächzen. Die Steine um ihn herum bewegten sich. Sand und Dreck rieselten durch die Ritzen herab. Er schleppte sich schnell zu einem unförmigen Ausgang, hinter dem er meinte, Licht ausmachen zu können.
Das Stöhnen des Wesens unter dem Geröll schwoll an. Nobundo ging davon aus, dass es sich um einen Oger handeln musste, und dass dieser verzweifelt versuchte, sich zu befreien. Nobundo rollte sich auf den Rücken und schob sich mit seinen Ellenbogen hinaus in die Nachtluft, während der Oger einen erneuten entschlossenen Versuch unternahm. Nobundo konnte jetzt den gesamten Schutthaufen sehen. Der Oger brüllte ein letztes Mal vor Zorn. Dann brach die gesamte Masse in sich zusammen. Staub wirbelte in alle Richtungen und kündete vom Scheitern seiner Bemühungen.
Sofort folgte ein weiterer Schrei aus einiger Entfernung: der Schrei einer verängstigten Frau.
Nobundo drehte sich um. Den Anblick würde er niemals vergessen, so sehr er es auch seit diesem Tag versuchen möge.
Die gesamte Fläche des unteren Viertels, das vom Mond und flackerndem Feuer beleuchtet vor ihm lag, war eine Lagerstätte der Leichen abgeschlachteter Draenei geworden. Der Regen hatte aufgehört, doch die Leichenhaufen glänzten feucht von Erbrochenem und Blut.
Eine unsichtbare eiskalte Hand krampfte sich um Nobundos Herz, als er Kinder unter den Toten erkannte. Trotz ihrer Jugend hatten viele sich freiwillig gemeldet, um bei ihren Eltern zurückzubleiben. Sie wussten nur zu gut, dass die Orcs misstrauisch würden, wenn sie eine Draeneistadt ohne Kinder vorfänden. Sie hätten sie gejagt, bis sie sich sicher wären, alle ausgerottet zu haben. Und doch hatte ein Teil von Nobundo mit aller Macht gehofft und gebetet, dass die Kinder verteidigt werden könnten, dass sie in ihren Verstecken, die man hastig in die Berge gegraben hatte, sicher sein würden. Eine törichte Hoffnung, das wusste er, doch er hatte sie dennoch nicht aufgegeben.
Kann es etwas Sinnloseres als das Töten von Kindern geben?
Erneut drangen die Schreie einer Frau an sein Ohr, begleitet von Hohn und Spott. Die Orcs feierten und schwelgten in ihrem Sieg. Er schaute nach oben und entdeckte die Quelle des Lärms: hoch oben ragte aus der Hügelwand die Aldorhöhe heraus. Die Orcs quälten eine arme Draeneifrau.
Ich muss versuchen, sie aufzuhalten.
Aber wie? Allein mit einem gebrochenen Bein gegen Hunderte … einer, der vom Licht verlassen und nur mit seinem Hammer bewaffnet war. Wie konnte er diesen wachsenden Wahnsinn dort oben aufhalten?
Ich muss einen Weg finden!
Wie im Rausch kletterte er über die Leichen, rutschte in den Flüssigkeiten aus und schob den Gestank der Fäulnis und der Gedärme weit aus seinem Kopf. Er kämpfte sich um den äußeren Ring des unteren Viertels hin zum Fuß der Klippen, wo die Mauer auf den Berg traf. Er würde einen Weg finden, dort hinaufzuklettern. Er würde …
Die Schreie verstummten. Er blickte hinauf und sah Umrisse im Mondlicht. Sie trugen eine leblose Gestalt zum Rand des Ausblicks, schwangen sie hin und her und schleuderten die tote Fracht in die Tiefen. Mit einem dumpfen Aufprall schlug sie unweit der Stelle auf, an der Nobundo reglos verharrte.
Er kroch vorwärts und hielt nach Lebenszeichen der Frau Ausschau … Shaka, das war ihr Name, stellte er fest, als er nahe genug gekrochen war, um ihre Gesichtszüge erkennen zu können. Er hatte sie schon oft gesehen, aber nur selten mit ihr gesprochen. Er hatte sie immer als angenehm und bezaubernd empfunden. Nun lag sie verletzt und geschlagen vor ihm, die Kehle durchschnitten und ihres Lebensblutes beraubt. Zumindest für sie war das Leiden zu Ende.
Von oben erklang ein weiterer Schrei, die Stimme einer weiteren Frau. Zorn stieg in Nobundo auf. Zorn und Frustration und ein unbändiger Durst nach Rache.
Du kannst nichts tun.
Verzweifelt umklammerte er den Hammer und versuchte noch einmal, das Licht anzurufen. Mit seiner Hilfe könnte er vielleicht etwas tun. Irgendetwas … Doch wieder begegnete ihm nichts als Stille.
Etwas in ihm drängte ihn, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden und die anderen, die sich versteckt hatten, zu finden, zu leben … um eines Tages ein höheres Ziel zu erfüllen.
Das ist feige. Ich muss einen Weg finden. Ich muss.
Doch tief in seinem Inneren wusste Nobundo, dass die Schlacht geschlagen war. Wenn ihn tatsächlich ein höheres Schicksal erwarten sollte, musste er unverzüglich fliehen. Er würde nur einen sinnlosen Tod sterben, wenn er versuchen würde, die Anhöhe zu erreichen. Erneut zerschnitten Schmerzensschreie die Nachtluft. Nobundo ließ seinen Blick zu einem Stück der äußeren Mauer wandern, das teilweise zerstört war. Ein gefährliches Hindernis, aber kein unüberwindbares. Und es war nicht bewacht.
Es ist an der Zeit. Du musst dich entscheiden …
Es war eine Chance. Eine Chance zu leben und eines Tages vielleicht wieder etwas verändern zu können.
Du musst es dort hindurch schaffen. Du musst weitermachen.
Wieder erklang ein langgezogenes Jammern, aber dieses Mal wurde es gnädigerweise abgeschnitten. Dann drangen orcische Stimmen von jenseits der inneren Mauer zu ihm. Es klang, als würden sie die Leichenhaufen durchwühlen, auf der Suche nach etwas oder jemandem. Seine Zeit war abgelaufen.
Nobundo nahm seinen Hammer. Auch wenn es beträchtlich viel Zeit und Anstrengung brauchte und er völlig ausgelaugt war, schaffte er es, sich über die restlichen Leichen und durch die Lücke in der Mauer zu hieven.
Als er langsam und voller Schmerzen in die Wälder von Terokkar taumelte, begannen die Schreie auf der Aldorhöhe von neuem.
„Euer Überleben muss ein Zeichen sein, eine Nachricht des Lichts.“
„Es segnet jeden von uns in seiner eigenen Weise. Wenn die Zeit gekommen ist, werdet Ihr es wiederfinden.“
„Ich hoffe, dass Ihr Recht habt, alter Freund. Es ist … ich … ich empfinde das anders. Etwas in mir hat sich verändert.“
„Unfug. Ihr seid müde und verwirrt, und nach allem, was Ihr durchgemacht habt, ist das auch kein Wunder. Ruht Euch aus.“
Rolc verließ die Höhle. Nobundo lehnte sich zurück und schloss die Augen…
Schreie. Das verzweifelte Flehen der Frauen.
Nobundo riss schlagartig die Augen auf. Er war nun schon seit ein paar Tagen hier in einem der wenigen Lager derjenigen, die sich vor der Schlacht versteckt hatten. Er konnte die herzzerreißenden Schreie der Frauen, die er dem Tod überlassen hatte, nicht abschütteln. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, riefen sie nach ihm und flehten ihn an, ihnen zu helfen, sie zu retten.
Du hattest keine Wahl.
Aber war das wirklich die Wahrheit? Er war sich nicht sicher. In letzter Zeit fand Nobundo es äußerst schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. In seinem Kopf war alles verschwommen und zusammenhangslos. Er seufzte schwer, erhob sich von der Decke auf dem Steinboden und ächzte, als seine Gelenke protestierten.
Er trat in die neblige Luft des Marschenlandes und schleppte sich durch ein aufgeweichtes Schilffeld. Die Zangarmarschen waren ein ungastliches Gebiet, doch vorerst waren sie sein Zuhause.
Die Orcs mieden das Sumpfland in der Regel, und sie hatten einen guten Grund dafür. Das gesamte Gebiet war mit flachem, brackigem Wasser bedeckt, die meisten Vertreter der einheimischen Flora und Fauna waren giftig, wenn man sie nicht richtig zuzubereiten wusste, und viele der größeren Kreaturen des Sumpflandes fraßen alles, was sie nicht zuerst fraß.
Als Nobundo um mehrere turmhohe Riesenpilze herumging, hörte er aufgebrachte Stimmen: ein Tumult am Ende des Lagers.
Er beeilte sich um herauszufinden, was dort vor sich ging. Drei verletzte Draenei, zwei Männer und eine Frau, wurden von Mitgliedern des Lagers an den Grenzwachen vorbeigeführt. Ein weiterer, bewusstlos, wurde hinter ihnen hergetragen.
Nobundo warf einer der Wachen einen fragenden Blick zu, welche die stumme Frage beantwortete: „Überlebende aus Shattrath.“
Wie elektrisiert folgte Nobundo der Gruppe zu den Höhlen, wo die Überlebenden vorsichtig auf Decken niedergelegt wurden. Rolc legte seine Hände zuerst auf den Bewusstlosen, konnte ihn jedoch nicht aufwecken.
Die Frau, die offensichtlich benommen war, murmelte vor sich hin. „Wo sind wir? Was ist passiert? Ich fühle nicht — etwas ist …“
Rolc trat zu ihr und beruhigte sie. „Entspannt Euch. Ihr seid jetzt unter Freunden. Alles wird gut.“
Nobundo fragte sich, ob tatsächlich alles gut würde. Orcische Jäger hatten bereits eines der Lager entdeckt und dem Erdboden gleich gemacht. Und diese Vier… wie konnten sie überleben? Welche Schrecken müssen die Frauen durchgemacht haben? Was hat den Bewusstlosen in diesen katatonischen Zustand getrieben? Ihr Aussehen, ihr Verhalten … Nobundo fragte sich, ob ihre Verletzungen mehr als nur physisch waren. Sie schienen leer und ihres Geistes beraubt.
Sie sahen aus, wie er sich fühlte.
Einige Tage später hatten die Überlebenden sich ausreichend von ihren Verletzungen erholt, sodass Nobundo es wagte, ihnen Fragen über Shattrath zu stellen.
Die Frau, Korin, sprach zuerst. Ihre Stimme war brüchig, als sie von ihren Erlebnissen berichtete. „Wir hatten Glück. Wir sind tief im Berg, in einem der wenigen Verstecke geblieben, das sie nicht entdeckt haben … zumindest nicht gleich.“
Nobundo sah sie verständnislos an.
„Irgendwann hat uns eine Gruppe der grünhäutigen Monster gefunden. Der Kampf, der folgte, war … Ich habe so etwas noch nie gesehen. Vier von unseren Männern, die sich freiwillig gemeldet hatten, um uns zu verteidigen, wurden abgeschlachtet, aber sie haben auch viele der Orcs getötet. Schließlich waren nur noch Herac und Estes übrig. Sie haben die restlichen brutalen Kreaturen umgebracht. Es waren wilde Bestien. Und diese Augen, diese schrecklichen Augen …“ Korin schauderte bei der Erinnerung daran.
Estes sagte: „Es gab eine Explosion. Augenblicke später drang giftiges Gas in unser Versteck, schnürte uns die Luft ab und verursachte in uns eine Übelkeit, die wir nie zuvor erlebt hatten.“
Nobundo dachte an den unnatürlichen roten Nebel und zwang die Erinnerung schnell wieder aus seinem Geist. Herac warf ein: „Es fühlte sich an, als ob wir sterben müssten. Die meisten von uns wurden ohnmächtig. Als wir aufwachten, war es Morgen. Die oberen Ebenen waren verlassen. Wir haben uns in die Hügelwand vorgekämpft und sind von dort aus nach Nagrand gezogen, wo man uns viele Tage später fand.“
„Wie viele wart ihr?“
Herac antwortete: „Zwanzig, vielleicht auch mehr. Hauptsächlich Frauen, ein paar Kinder. Tage später trafen weitere ein, so wie der, der bewusstlos in der Höhle liegt … Die anderen sagen, er hieße Akama. Wir haben gehört, dass er wohl mehr von dem Gas abbekommen haben soll, als viele andere Überlebende. Rolc ist sich nicht sicher, ob er jemals …“ Herac unterbrach sich und wurde still.
Estes fuhr fort: „Später wurden wir aufgeteilt und zu verschiedenen Lagern in den Zangarmarschen und Nagrand geschickt. Eine Vorsichtsmaßnahme, damit wir nicht alle getötet werden, falls die Lager von Orcs entdeckt würden.“
„Waren unter euch Priester oder Verteidiger – jemand, der das Licht nutzt?“
Alle drei schüttelten den Kopf. „Ich kann nicht für Akama sprechen, aber Estes und ich sind einfache Handwerker, die sich nicht auf das Führen einer Waffe verstehen. Daher hat man uns zu den Höhlen geschickt, als letzte Verteidigungslinie.“
Korin fragte Nobundo, „Haben es noch andere geschafft, als Ihr entkommen seid? Gab es noch mehr Überlebende? Wir haben die Orcs auf den unteren Ebenen gehört, aber wir hatten Angst, entdeckt zu werden. Daher sind wir geflohen.“
Nobundo dachte an die Leichenberge im unteren Viertel … hörte das Flehen von der Aldorhöhe und versuchte, die gequälten Schreie in seinem Geist zum Schweigen zu bringen.
„Nein“, antwortete er. „Ich weiß von keinen weiteren Überlebenden.“
Die Jahreszeiten zogen vorüber.
Velen, ihr prophetischer Anführer, hatte sie vor zwei Tagen besucht … oder waren es vier? In letzter Zeit fiel es Nobundo immer schwerer, einige Dinge zu behalten. Velen war aus einem der benachbarten Lager gekommen. Sein genauer Aufenthaltsort war ein streng gehütetes Geheimnis, falls einer von ihnen gefangengenommen und gefoltert werden sollte. Die Draenei könnten keine Informationen verraten, die sie nicht kannten. Jedenfalls hatte Velen zu ihnen über ihre Zukunft gesprochen, dass sie sich für eine ganze Weile ruhig verhalten mussten, wahrscheinlich für Jahre, und beobachten und abwarten mussten, wie sich die Orcs verhalten würden.
Laut Velen hatten die Grünhäute mit dem Bau von etwas begonnen, dass ihre gesamte Zeit und ihre gesamten Ressourcen in Anspruch nahm. Dieses Projekt lenkte sie offensichtlich davon ab, die überlebenden Draenei zu jagen, zumindest fürs Erste. Was die Orcs unweit ihrer Zitadelle in den versengten Landen bauten, schien eine Art Tor zu sein.
Velen schien wesentlich mehr zu wissen, als er sagte, aber schließlich war er ein Prophet, ein Seher. Nobundo dachte, dass der edle Weise sehr viele Dinge wissen musste, die er und die anderen ohnehin nicht verstehen könnten, weil sie dafür nicht weise genug waren.
Nobundo beobachte Korin, die mit ihrem Fischspeer in das Wasser watete. Etwas an ihr war anders. Es schien, als hätte ihr Körper sich in den letzten paar Wochen verändert. Ihre Unterarme waren ein wenig länger geworden, ihr Gesicht sah ausgelaugt aus und ihre Haltung hatte sich verschlechtert. So unwahrscheinlich es auch klang, es sah aus, als wäre ihr Schweif geschrumpft.
Herac und Estes liefen vorbei, und Nobundo hätte schwören können, dass er bei ihnen ähnliche Veränderungen bemerkte. Er warf einen Blick auf seine eigenen Unterarme. Bildete er sich das nur ein oder sahen sie geschwollen aus? Schon eine ganze Weile fühlte sich etwas nicht richtig an, seit … seit jener Nacht. Aber er hatte angenommen, dass er sich im Laufe der Zeit schon erholen würde. Nun wurde er jedoch immer besorgter.
Korin kam auf ihn zu. „Ich bin fertig für heute. Ich muss mich ein wenig ausruhen.“ Sie reichte Nobundo ihren Speer.
„Geht es dir gut?“ fragte er.
Korin schenke ihm ein wenig überzeugendes Lächeln. „Ich bin nur etwas müde“, antwortete sie.
Nobundo saß mit geschlossenen Augen auf den Bergen, die die Zangarmarschen überblickten. Er fühlte sich müde und die Erschöpfung kroch bis in seine Knochen. Er war hierher gekommen, um alleine zu sein. Korin hatte er schon seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen. Sie hatte sich mit den anderen beiden in einer der Höhlen verkrochen, und wenn er sich bei den anderen Lagerbewohnern nach ihrem Befinden erkundigen wollte, erhielt er nur ein unwissendes Achselzucken. Das gleiche galt auch für den, den sie Akama nannten. Trotz Rolcs ständigen Bemühungen war er immer noch nicht ansprechbar.
Etwas war gründlich falsch. Nobundo wusste es. Er hatte die Veränderungen an sich und den anderen Überlebenden, darunter auch Akama, gesehen. Der Rest des Lagers wusste es auch. Sie schienen nicht mehr so oft mit ihm sprechen zu wollen, sogar Rolc. Und kürzlich, als er mit ein paar kleinen Fischen ins Lager zurückgekehrt war, haben die anderen gesagt, dass sie genügend Fisch hätten und er ihn selbst essen solle … als ob diese unbekannte Krankheit, die ihn und die anderen befallen hatte, sich über das Essen, das er berührt hatte, ausbreiten könnte.
Das widerte Nobundo an. Zählten seine Dienste denn gar nichts? Inzwischen verbrachte er viel Zeit hier auf den Hügeln, dachte im Stillen nach und versuchte, seinen Geist zu konzentrieren. Verzweifelt versuchte er, das zu erreichen, was unmöglich war: eine Verbindung zum Licht. Es war, als hätte man ihm eine Tür vor der Nase zugeschlagen, als ob der Teil seines Geistes, der früher so leicht Kontakt herstellen konnte, nicht mehr funktionierte, oder noch viel schlimmer, nicht mehr existierte.
Sogar einfache Überlegungen wie diese bereiteten ihm Kopfschmerzen. In letzter Zeit wurde es immer schwieriger für ihn, seinen Gedanken Ausdruck zu verleihen. Seine Arme waren weiter angeschwollen, und die Schwellung wollte einfach nicht abklingen. Seine Hufe wurden brüchig. Teile davon waren bereits abgesplittert und wuchsen nicht mehr nach. Und die ganze Zeit über die Alpträume … Alpträume, die nicht verschwinden wollten.
Wenigstens sah man die orcischen Späher immer seltener. Es wurde berichtet, dass das, was immer die Orcs auch bauen mochten, fast fertig gestellt war. Und es schien in der Tat eine Art Tor zu sein, genauso, wie Velen es vorhergesagt hatte.
Gut, dachte Nobundo. Ich hoffe, dass sie das Tor durchschreiten und direkt in ihrem Untergang landen.
Er erhob sich und machte sich langsam und bedächtig auf den Weg ins Lager zurück. Der Hammer war ihm zu einer Stütze geworden, für die er sehr dankbar war. In den letzten paar Wochen war er ihm so schwer geworden, dass er ihn mit dem Kopf nach unten tragen musste, und ihn meist als Gehstock benutzte.
Stunden später kam er an seinem Ziel an und beschloss Rolc aufzusuchen. Zusammen würden sie eine Versammlung einberufen und das Problem der wachsenden Intoleranz durch die …
Nobundo machte am Eingang zu Rolcs Höhle halt. Dort lag Korin auf einer Decke. Sie hatte sich inzwischen so sehr verändert, dass sie gar nicht mehr wie eine Draenei aussah, sondern wie ein verzerrtes Abbild ihres Volkes. Krank und ausgemergelt sah sie aus. Ihre Augen waren milchig und ihre Unterarme waren beträchtlich angeschwollen. Statt ihrer abgefallenen Hufe waren nur noch zwei knochige Höcker zu sehen. Ihr Schweif war nur noch ein kleiner Stummel. Trotz ihres schwächlichen Befindens wehrte sie sich in Rolcs Armen.
„Ich will sterben! Ich will einfach nur sterben! Ich will, dass der Schmerz vorbeigeht!“
Rolc hielt sie fest. Nobundo trat schnell näher und beugte sich zu ihnen hinunter.
„Sei nicht dumm!“ Er schaute Rolc an. „Könnt Ihr sie nicht heilen?“
Der Priester sah seinen Freund finster an. „Ich habe es versucht!“
„Lasst mich gehen! Lasst mich sterben!“
Da begannen Rolcs Hände auf einmal zu leuchten. Er beruhigte Korin und bändigte sie sanft, bis ihr Strampeln weniger wurde und schließlich ganz aufhörte. Sie brach in krampfhaftes Schluchzen aus und rollte sich auf der Decke zusammen. Rolc bedeutete Nobundo mit dem Kopf, die Höhle zu verlassen.
Sobald sie im Freien waren, blickte Rolc Nobundo ernst an. „Ich habe alles getan, was ich konnte. Es ist, als ob ihr Körper, wie auch ihr Geist, zerschlagen wurde.“
„Es muss etwas geben, was — einen Weg, um — “ Nobundo versuchte angestrengt, seine Gedanken in Worte zu fassen. „Wir müssen etwas tun!“ platzte es schließlich aus ihm heraus.
Rolc wurde für einen Augenblick still. „Ich mache mir Sorgen um sie, um Euch. Es wurde uns berichtet, dass die Überlebenden aus Shattrath in den anderen Lagern ähnliche Veränderungen durchmachen. Was immer die Ursache sein mag, die Patienten sprechen auf keine Behandlung an und es geht auch nicht mehr weg. Unsere Leute fürchten, dass wir alle verloren sind, wenn wir keine Maßnahmen ergreifen.“
„Was sagt Ihr? Was ist passiert?“
Rolc seufzte. „Nur Gespräche. Fürs Erste. Ich habe lange Zeit versucht, für Euch und die anderen einzutreten. Und, um ehrlich zu sein, bin ich mir inzwischen nicht mehr sicher, ob ich das sollte.“
Nobundo war von seinem Freund bitter enttäuscht. Die einzige Person, von der er dachte, ihr vertrauen zu können, gab nun demselben engstirnigen Verfolgungswahn der anderen nach.
Sprachlose drehte Nobundo sich um und ging fort.
Korins Zustand verschlechterte sich weiter und schließlich wurde ein paar Tage später die Entscheidung getroffen, von der Rolc gesprochen und die Nobundo befürchtet hatte.
Nobundo, Korin, Estes und Herac standen vor den versammelten Mitgliedern des Lagers. Ihre Blicke waren zum Teil düster, zum Teil traurig und zum Teil ausdruckslos. Rolc sah aus, als befände er sich mit sich selbst im Widerstreit, und wirkte doch entschlossen. Fast wie ein Jäger, der lieber nicht töten würde, sich aber bewusst ist, dass er essen muss und sich darauf vorbereitet, seiner Beute den finalen Todesstoß zu versetzen.
Wie sich herausstellte, hatte das Lager Rolc zu seinem Sprecher gewählt. „Dies ist nicht leicht für mich, für keinen von uns …“ Er deutete mit einer Handbewegung auf die stumme Versammlung hinter sich. „Aber wir haben mit den Vertretern der anderen Lager gesprochen und sind gemeinsam zu einer Entscheidung gelangt. Wir glauben, dass es im besten Interesse für alle Beteiligten liegt, wenn diejenigen von Euch, die… betroffen sind, zusammen leben würden, jedoch getrennt von denen, die bei voller Gesundheit sind.“
Korin, die besonders hilflos aussah, fragte mit rauer und belegter Stimme: „Wir werden verbannt?“
Bevor Rolc Einspruch erheben konnte, schnitt Nobundo ihm das Wort ab. „Genau so ist es! Sie können unsere Probleme nicht lösen, also … also hoffen sie, dass sie uns ignorieren können! Sie wollen einfach, dass wir verschwinden!“
„Wir können euch nicht helfen!“ platze es aus Rolc heraus. „Wir haben keine Ahnung, ob euer Zustand ansteckend ist, und eure geminderten körperlichen Fähigkeiten und geschwächter Geist sind eine Bürde, die wir nicht tragen können. Es gibt nicht mehr genügend von uns, um Risiken eingehen zu können!“
„Was ist mit dem anderen, mit Akama?“ fragte Korin.
„Er wird hier in meiner Obhut bleiben, bis er erwacht“, antwortete Rolc. Dann fügte er hinzu „Falls er erwacht.“
„Wie freundlich von Euch“, murmelte Nobundo. In seinen Worten schwang deutlicher Sarkasmus mit.
Rolc schritt vor und stellte sich trotzig vor Nobundo. Trotz seiner mangelnden Gesundheit richtete Nobundo sich auf und blickte Rolc direkt in die Augen.
„Ihr habt gesagt, dass ihr Euch fragt, ob das Licht Euch vielleicht für Euer Versagen in Shattrath bestrafen möchte“, sagte Rolc.
„Ich habe in Shattrath alles gegeben! Ich war bereit zu sterben, damit ihr alle leben könnt!“
„Ja, aber Ihr seid nicht gestorben.“
„Was soll — wollt Ihr behaupten, dass ich ein Deserteur bin?“
„Wenn das Licht Euch verlassen haben sollte, hat es das sicher nicht ohne Grund getan. Wer sind wir schon, die Wege des Lichts in Frage zu stellen?“ Rolc blickte sich Unterstützung suchend zu den anderen um. Einige von ihnen schauten weg, aber viele erwiderten seinen Blick. „Was auch immer geschehen sein mag, ich glaube, dass es an der Zeit ist, dass ihr Euren neuen Platz im Gefüge der Dinge akzeptiert. Es ist an der Zeit, das Wohlergehen der anderen zu schützen …“
Rolc bückte sich und riss Nobundo den Hammer aus der Hand.
„Und ich glaube, dass es an der Zeit ist, dass Ihr aufhört etwas sein zu wollen, das Ihr nicht seid.“
Es war ein Fehler hierher zu kommen. Nichts hat sich geändert. Du bist immer noch Krokul – du bist immer noch ein Zerschlagener.
Nein. Sie würden auf ihn hören. Er würde sie dazu bringen. Schließlich gab es noch seine Eingebung. Nobundo zwang sich, seinen Blick von der versammelten Gruppe auf den Brunnen in der Mitte des kleinen Platzes zu lenken. Er bat das Wasser um Klarheit.
Er spürte, wie seine Gedanken sich konzentrierten und dankte dem Wasser. Schwer auf seinen Gehstock gestützt blickte er widerwillig auf das Meer aus missbilligenden Blicken hinab. Einen Moment lang herrschte ein unangenehmes Schweigen.
„Das ist doch Blödsinn“, hörte er jemanden Flüstern.
Als er das erste Mal anfing zu sprechen, war seine Stimme leise und heiser. Selbst in seinen eigenen Ohren klang sie weit entfernt. Er räusperte sich und setzte erneut an, diesmal lauter. „Ich bin gekommen, um … um mit euch über —“
„Wir verschwenden nur unsere Zeit. Was kann ein Krokul uns schon zu sagen haben?“
Weitere Stimmen schlossen sich dem Ruf an. Nobundo zögerte. Sein Mund bewegte sich, aber seine Stimme versagte.
Ich hatte Recht. Es war ein Fehler.
Nobundo wandte sich zum Gehen und blickte in die gelassenen Augen ihres Propheten, ihres Anführers, Velen.
Der Seher schaute Nobundo fragend an. „Wollt Ihr uns so schnell schon wieder verlassen?“
Nobundo saß auf einer der Klippen, die die versengten Lande überragten. Sie hatten sich kaum verändert, seit er … wie lange war es denn her, seit er das erste Mal hierher gekommen war?Fünf Jahre? Sechs?
Als er und die anderen zu dem neuen Lager der Krokul, wie man sie schließlich nannte, geschickt wurden, war Nobundo wütend, frustriert und deprimiert gewesen. Er ging so weit weg, wie es nur möglich war, und zwar in die einzige Richtung, die man ihm erlaubte. Er hatte sich schon immer vorgenommen gehabt, die Hügel am Rand der Zangarmarschen zu erkunden, aber am Fuße dieser Hügel waren die Lager der ,Unberührten‘, ein Gebiet, das von nun an für ,Seinesgleichen‘ Sperrzone war.
Und so reiste er durch die sengende Hitze, zu den Gipfeln hoch über den wohl trostlosesten Weiten von ganz Draenor: einer Wüste, über die sich einst grüne Wiesen erstreckt hatten, bevor die Orcs Hass und Mord brachten. Eine Wüste, die von den Hexenmeistern mit ihrer abartigen Magie erschaffen wurde.
Zumindest stellten die Orcs in diesen Tagen kein allzu großes Problem mehr da. Es gab zwar immer noch vereinzelt Patrouillen, die jeden Draenei, der ihnen in die Quere kam, sofort töteten, aber sie sind weniger geworden. Viele der grünhäutigen Wilden sind schon vor Jahren durch ihr Tor verschwunden und nie wieder zurückgekehrt.
Nobundo hatte gehört, dass sein Volk in Folge davon irgendwo in den Marschen eine neue Stadt errichtete. Auch egal, dachte er. Es ist eine Stadt, in der ich niemals willkommen sein werde.
Die Veränderungen an Nobundo und den anderen gingen weiter. Es wuchsen ihnen Fortsätze, wo zuvor keine waren. Flecken und Warzen und merkwürdige Auswüchse übersäten ihre Körper. Ihre Hufe, eines der typischsten Merkmale eines Draenei, waren ganz verschwunden und durch Dinge ersetzt worden, die missgebildeten Füßen ähnelten. Doch die Veränderung war nicht nur körperlich. Ihre Gehirne mussten sich immer mehr anstrengen, um höhere Funktionen aufrecht zu erhalten. Und einige von ihnen waren völlig verloren, wanderten ziellos umher und sprachen mit Gestalten, die nur in ihren Köpfen existierten. Einige dieser Verirrten wachten eines Tages auf und liefen einfach fort, ohne jemals wieder zurückzukommen. Der erste, bei dem dies geschah, war Estes. Nun hatte Korin nur noch einen Begleiter an der Seite, der die dunklen Zeiten in Shattrath mit ihr geteilt hatte.
Genug, dachte er sich. Hör auf, es hinauszuzögern. Tu endlich, weswegen du hierher gekommen bist.
Er zögerte es hinaus, weil ein Teil von ihm wusste, dass es dieses Mal nicht anders würde. Aber er würde es trotzdem tun. So, wie er es jeden Tag in den letzten paar Jahren getan hatte… weil ein Teil von ihm immer noch hoffte.
Er schloss die Augen, zwang alle störenden Gedanken aus seinem Kopf und griff nach dem Licht. Bitte, nur dieses eine Mal … lass mich wieder in deinen strahlenden Glanz eintauchen.
Nichts.
Versuch es stärker.
Er konzentrierte sich mit jeder Unze an Entschlossenheit, die ihm zur Verfügung stand.
„Nobundo.“
Fast wäre er vor Schreck aus der Haut gefahren. Er riss die Augen auf und stütze sich mit einer Hand ab, um sein Gleichgewicht wiederzufinden. Er schaute sich um, schaute zum Himmel.
„Ich habe dich gefunden!“
Er drehte sich um und sah Korin, atmete tief durch und schüttelte den Kopf.
Du hättest es besser wissen sollen als zu glauben, dass das Licht dir wieder gesonnen sei.
Sie kam zu ihm herüber und setzte sich neben ihn. Müde, verwittert und irgendwie verwirrt sah sie aus.
„Wie geht es dir?“ fragte er.
„Nicht schlimmer als sonst auch.“
Nobundo wartete darauf, dass sie noch mehr sagen würde, aber Korin starrte nur die trostlose Aussicht an.
Die beiden bemerkten die Gestalt nicht, die sich hinter einer in der Nähe befindlichen gezackten Steinformation versteckte und sie beobachtete, sie belauschte.
„Wolltest du mir etwas sagen?“
Korin dachte einen Moment lang nach. „Oh ja!“ rief sie schließlich. „Neues Lagermitglied ist heute angekommen. Sagte, dass die Orcs sich … neu sammeln. Bereiten sich auf irgendetwas vor. Sie werden von einem neuen … wie heißen die nochmal? Die, die dunkle Magie wirken?“
„Hexenmeister?“
„Ja, ich glaube, das war es.“ Korin stand auf und trat einen Schritt nach vorne und blieb nur Zentimeter vom Rand der Klippe entfernt stehen. Lange Zeit schwieg sie still.
Unweit verschwand die Gestalt hinter den Steinen, so leise, wie sie gekommen war.
Korins Augen schienen in die Ferne zu starren. Ihre Stimme war rau und klang, als wäre sie nicht wirklich hier. „Was glaubst du wird wohl geschehen, wenn ich noch ein paar Schritte nach vorne gehe?“
Nobundo zögerte. Er war sich nicht sicher, ob sie Scherze machte. „Ich glaube, du würdest hinunterfallen.“
„Ja, mein Körper würde fallen. Aber manchmal denke ich, dass mein Geist … fliegen würde?Nein, das ist nicht das richtige Wort. Wie heißt das … wenn man nach oben und nach oben geht, so wie fliegen?“
Nobundo dachte nach. „Aufsteigen?“
„Ja! Mein Körper würde fallen, aber mein Geist würde aufsteigen.“
Tage später wachte Nobundo mit Kopfschmerzen und leerem Magen auf. Er beschloss nach draußen zu gehen und zu schauen, ob noch ein paar Fische vom gestrigen Mahl übrig waren.
Als er aus der Höhle heraustrat, bemerkte er, dass sich die anderen versammelt hatten. Sie schirmten die Augen gegen die Sonne ab und starrten nach oben. Er trat unter einem riesigen Pilz hervor und hob den Blick. Auch er musste seine Augen mit der Hand schützen. Sein Mund klappte auf vor Erstaunen.
Ein Riss durchzog den blutroten Morgenhimmel. Es sah aus, als hätte sich eine Naht geöffnet, ein Riss im Gewebe der Welt, durch den schwirrende Lichter und eine rohe, unsagbar mächtige Energie eindrangen. Der Riss zitterte und tanzte wie eine riesige, glitschige Schlange aus purem Licht.
Der Boden begann zu beben. Ein Druck machte sich in Nobundos Kopf breit und drohte, durch seine Ohren zu explodieren. Die Luft knisterte vor Elektrizität. Nobundos Körperhaare standen ab. Und für einen kurzen, wahnsinnig machenden Augenblick schien es, als sei die Realität selbst zerstört.
Während Nobundo zuschaute, schien es für den Bruchteil einer Sekunde, als teilten sich die versammelten Zerschlagenen in mehrere Spiegelbilder: einige älter, einige jünger, einige überhaupt keine Zerschlagenen, sondern gesunde, unberührte Draenei. Dann verschwand die Illusion wieder. Es ging ein Ruck durch den Boden, als ob Nobundo auf einem Wagen stünde, der plötzlich anfuhr. Er und die anderen wurden in den Matsch geschleudert und blieben dort liegen, während das Beben weiterging.
Nach einigen Momenten ebbte das Beben ab und hörte schließlich ganz auf. Korin starrte mit aufgerissenen Augen zu dem Riss hinauf, der sich nun selbst wieder schloss. „Unsere Welt geht zu Ende“, flüsterte sie.
Ihre Welt ging nicht zu Ende. Aber es war nahe dran.
Als Nobundo am folgenden Tag zu seinem vertrauten Platz auf den Berggipfeln ging, erblickte er einen vollkommen wahnsinnig gewordenen Horizont. Rauch wehte über den Himmel und warf einen schwarzen Schatten über das Land. Die Luft brannte in seinen Lungen. Am Fuß der Klippe, auf der er stand, hatte sich eine große Kluft aufgetan. Dampf stieg daraus empor, und als Nobundo sich nach vorne beugte, konnte er tief in der Erde ein schwaches Leuchten erkennen.
Große Brocken waren aus dem Boden der Wüste herausgeschlagen worden, und aus einem unerklärlichen Grund schwebten sie hoch oben in der Luft. Und Teile des Himmels sahen fast aus wie Fenster zu … irgendwas. Beinahe schien es Nobundo, als könne er in den Fenstern andere Welten erkennen, einige weit entfernt, einige ganz nahe. Doch ob das alles wahr oder nur ein Trugbild der Katastrophe war, konnte Nobundo nicht sagen.
Und überall, überall legte sich eine Stille über das Land, als ob alle Wesen gestorben oder in ein fernes Versteck geflüchtet wären. Und doch spürte Nobundo, dass er nicht alleine war. Einen Moment lang glaubte er, im Augenwinkel eine flüchtige Bewegung bemerkt zu haben. Er suchte mit den Augen die Umgebung ab und vermutete schon fast, Korin zu sehen.
Nichts. Sein verwirrter Geist hatte ihm einen Streich gespielt.
Noch einmal warf Nobundo einen Blick auf den alptraumhaften Anblick vor sich und fragte sich, ob die nahe Zukunft wohl das Ende von allem, was er kannte, bringen würde.
Doch die Zeit verging und das Leben ging weiter. Im Lager kamen Berichte an, die erzählten, dass ganze Gebiete vollkommen zerstört worden waren. Und doch überlebte die Welt.
Zerbrochen, verdreht und gequält… Die Welt überlebte, und so auch die Zerschlagenen. Sie ernährten sich von Nüssen und Wurzeln und den wenigen Fischen, die sie in den Marschen finden konnten. Sie kochten ihr Wasser und suchten Zuflucht vor Stürmen, wie sie sie noch nie zuvor erlebt hatten, aber sie überlebten. Die Jahreszeiten zogen vorüber und die Tiere kamen zurück. Darunter auch Arten, die zuvor nicht existiert hatten, aber die Tiere waren zurückgekehrt. Wenn den Zerschlagenen das Glück einer erfolgreichen Jagd zuteil wurde, hatten sie Fleisch zu essen. Sie überlebten.
Zumindest die meisten von ihnen. Vor ein paar Tagen war Herac verschwunden. Viele lange Monate schon war er abwesend und verwirrt, und auch wenn Korin nicht darüber reden wollte, wusste sowohl sie als auch Nobundo, dass er kurz davor stand, zu einem der Verirrten zu werden. Herac war der letzte von Korins Verteidigern aus Shattrath gewesen, und Nobundo fühlte mit ihr.
Nobundo sprach mit niemandem darüber, aber er fragte sich, ob auch er eines Tages sämtliche Kontrolle über seinen Geist verlieren und in die Fremde ziehen würde. Ob auch er eines Tages nie nieder zurückkehren und nur noch, wenn überhaupt, eine Erinnerung sein würde.
Er fuhr mit seiner täglichen Wache fort und pilgerte auf seinen abgelegenen Berggipfel. Noch immer trug er die Hoffnung in sich, dass er eines Tages seine Buße beglichen haben und das ehrbare Licht wieder auf ihn herabscheinen würde.
Jeden Tag kehrte er enttäuscht ins Lager zurück.
Und jede Nacht litt er unter demselben schrecklichen Alptraum.
Nobundo stand außerhalb von Shattrath und hämmerte verzweifelt mit den Fäusten gegen das geschlossene Stadttor, während die Schreie der Sterbenden die Nachtluft zerrissen. Unterbewusst verstand er, dass dies nur ein weiterer Traum war, ein weiterer Alptraum, und er fragte sich geistesabwesend, ob dieser wohl derselbe sein würde, wie all die anderen.
Er schlug immer und immer wieder gegen das Holz, bis seine geschundenen Hände zu bluten begannen. Auf der Innenseite starben Frauen und Kinder langsame, schreckliche Tode. Ein Schrei nach dem anderen erstarb, bis nur noch ein letztes gequältes Klagen blieb. Er erkannte diesen Schrei. Es war die Frau, deren Stimme durch die Wälder von Terokkar gehallt hatte, als er aus der Stadt geflohen war.
Bald verklang auch dieser Schrei und hinterließ nichts außer Stille. Nobundo trat von den Toren zurück und blickte an seinem schwachen, unnützen Körper hinab. Er zitterte und weinte und wartete auf sein unvermeidliches Erwachen.
Ein Quietschen ertönte, als die Tore sich langsam öffneten. Nobundo schaut auf, die Augen weit aufgerissen. Das war noch nie zuvor passiert. Das war neu. Was sollte es wohl bedeuten?
Hinter den massiven Türen lag ein leeres unteres Viertel. Die inneren Mauern und Bollwerke wurden nur durch ein einzelnes großes Feuer erleuchtet, das im inneren Ring brannte
Nobundo trat, von der Wärme der Flammen angezogen, ein. Er schaute sich um, doch er konnte keine Leichen sehen. Nichts außer ein paar fallengelassener Waffen, die um das Feuer herum im Kreis lagen, ließ auf das Massaker schließen, welches hier stattgefunden hatte.
Donner grollte sanft und Nobundo spürte einen Regentropfen auf seinem Arm. Als er einen weiteren Schritt nach vorne trat, schlossen sich die Tore hinter ihm.
Dann hörte er Geräusche. Hinter dem Feuer erklang ein Schlurfen. Und es kam näher. Er trug keine Waffen bei sich, nicht einmal seinen Gehstock. Das Wissen, dass dies nur ein Traum war, konnte seine Furcht nicht mindern. Er bereitete sich schon darauf vor, ein Stück brennendes Holz aus dem Feuer zu nehmen, als er eine weibliche Draenei ins Licht treten sah.
Der schwache Regen hielt an.
Zuerst lächelte er und war erleichtert, dass jemand überlebt hatte. Doch sein Lächeln verschwand schnell, als er den langen, blutigen Schnitt an ihrer Kehle und die Verletzungen an ihrem Körper sah. Ihr linker Arm hing schlaff und leblos an ihrer Seite herab. Sie starrte ihn mit leeren Augen an, und doch war etwas an ihrem Verhalten … vorwurfsvoll. Als sie näher kam sah er, dass es Shaka war. Bald folgten ihr andere. Ganze Scharen von ihnen stolperten von allen Seiten herbei, die Augen trübe und die Körper mit schweren Wunden übersät.
Ein Windstoß kam und schürte das Feuer. Der Regen verwandelte sich in ein hartnäckiges Nieseln. Eine nach der anderen bückten sich die Frauen, hoben die verschiedenen Waffen vom irdenen Boden auf und kamen näher. Nobundo nahm eine Fackel aus dem Feuer.
Ich wollte euch retten! Ich konnte nichts tun, wollte er schreien, doch kein Wort verließ seinen Mund. Seine Bewegungen fühlten sich langsam und eingeschränkt an.
Der Wind wurde immer stärker und blies die Fackel in Nobundos Hand aus. Die erschlagenen Frauen kamen näher und erhoben ihre Waffen, während der raue Wind die Flamme des Feuers hin und her warf, bis auch sie erlosch. Nobundo war von völliger Dunkelheit umgeben.
Er wartete und lauschte… versuchte durch den strömenden Regen zu hören, wie sie auf ihn zukamen.
Plötzlich schloss sich eine eiskalte Hand um seinen Arm. Nobundo schrie …
Und wachte auf. Er fühlte sich ausgelaugt und müder als vor seinem Schlaf. Die Träume verlangten ihren Preis.
Er beschloss, dass die Morgenluft ihm gut tun würde. Vielleicht war Korin wach und er könnte sich ein wenig mit ihr unterhalten.
Er trat zu den anderen, die sich zum Frühstück versammelt hatten, und fragte eines der neueren Mitglieder des Lagers, ob Korin heute schon gesehen wurde.
„Sie ist fortgegangen.“
„Fortgegangen? Wohin? Wann?“
„Gerade eben. Sie hat nicht gesagt, wo sie hinwollte. Sie war irgendwie merkwürdig … sagte, sie wolle … wie heißt das nochmal?“
Der Zerschlagene dachte kurz angestrengt nach und nickte dann, als seine Erinnerung zurückkehrte.
„Genau! Sie sagte, sie wolle ,aufsteigen‘ gehen.“
Nobundo rannte so schnell ihn seine Beine trugen. Als er endlich die Berggipfel erreichte, brannten seine Lungen wie Feuer. Er hustete dicken grünen Schleim und seine Beine zitterten unkontrollierbar.
Auf der kleinen Anhöhe, die zur Klippe führte, sah er sie. Sie stand am Rand und schaute hinunter.
„Korin! Nicht!“
Sie blickte zu ihm herüber und schenkte ihm ein schwaches Lächeln. Dann drehte sie sich um, trat still einen Schritt nach vorne und versank in einer dicken Wolke aus Dampf.
Nobundo erreichte den Rand und blickte hinunter, doch er sah nichts außer dem schwachen Leuchten, weit, weit unter sich.
Du bist zu spät gekommen.
Und wieder hatte er versagt, so wie er dabei versagt hatte, die Frauen von Shattrath zu retten. Nobundo schloss die Augen und rief in Gedanken zum Licht: Warum? Warum hast du mich verlassen? Habe ich dir nicht stets treu gedient?
Wieder erhielt er keine Antwort. Nur eine sanfte Brise, die die Tränen auf seinen Wangen trocknete.
Vielleicht hatte Korin Recht. Tief in seinem Inneren wusste Nobundo genau, warum sie es getan hatte: sie wollte nicht so werden, wie die Verirrten. Vielleicht hatte sie den einzigen Ausweg gefunden.
In dieser Welt gab es nichts mehr für ihn. Es wäre so einfach, diese letzen Schritte zu gehen, über die Kante zu laufen und dem Elend ein Ende zu setzen.
Ganz in der Nähe trat eine Gestalt hinter den gezackten Felsen vor und machte sich bereit, laut zu rufen …
Doch selbst jetzt, da er von seinem eigenen Volk verstoßen wurde, vom Licht verlassen war und von den Seelen gequält wurde, die er nicht hatte retten können … konnte Nobundo nicht aufgeben.
Die Brise wandelte sich zu einem starken Wind, der die Dampfwolken zerriss und Nobundo kraftvoll vom Rand wegdrückte. In seinem Rauschen hörte er deutlich ein einzelnes Wort: Alles …
Nobundo lauschte angestrengt. Sicherlich hatte er jetzt ganz den Verstand verloren und sein Geist spielte ihm einen Streich.
Die Gestalt hinter den Felsen ging wieder in Deckung und beobachte weiter aus der Stille.
Der Wind wurde erneut stärker. Alles, was …
Mehr Worte. Welch Wahnsinn war das? Das war nicht das Werk des Lichts. Das Licht „sprach“ nicht. Es war Wärme, die den Körper erfüllte. Das war etwas Neues, etwas Anderes. Ein letzter Windstoß glitt über die Anhöhe und zwang Nobundo, sich zu setzen.
Alles, was existiert… lebt.
Nach all diesen Jahren des Flehens hatte Nobundo endlich eine Antwort bekommen. Eine Antwort, die nicht vom Licht kam …
Sondern vom Wind.
Nobundo hatte von Ritualen der Orcs gehört, die sich mit den Elementen befassten: Erde, Wind, Feuer und Wasser. Sein Volk hatte vor dem mörderischen Feldzug der Orcs einige der Mächte dieser „Schamanen“ beobachtet, doch solche Dinge waren für die Draenei völlig fremdartig.
In den nächsten Tagen kehrte Nobundo täglich zu der Klippe zurück, auf der er das Flüstern im Wind vernommen hatte. Es war für ihn die Gewissheit, dass er nicht alleine war und ein verlockender Hinweis, dass ein Schatz an Wissen ihn erwartete. Manchmal war die Stimme im Wind sanft und beruhigend, manchmal eindringlich und energisch. Hin und wieder nagte der Zweifel an Nobundo und er fürchtete, dass er vielleicht doch dem Wahnsinn verfallen war.
Am fünften Tag, als er nahe am Rand der Klippe saß, hörte er ein krachendes Geräusch wie Donner, obwohl der Himmel klar war. Er öffnete die Augen und sah, wie eine große Feuersäule jenseits des Klippenendes aus der Kluft in die Höhe schoss. Die Flammen breiteten sich aus. In ihrem flackernden Tanz konnte Nobundo sich wiegende, nebelhafte Gestalten entdecken. Als das Feuer sprach, klang es wie ein großer, mächtiger Sturm.
Geht zu den Bergen von Nagrand. Hoch oben auf den Gipfeln werdet Ihr einen Ort finden … an dem Eure wahre Reise beginnen wird.
Nobundo dachte kurz darüber nach und antwortete: „Um dorthin zu gelangen muss ich die Lager der Unberührten durchqueren, die für meinesgleichen verboten sind.“
Das Feuer wurde mit einem Schlag größer. Er konnte die Hitze auf seinem Gesicht spüren. Stellt die Gelegenheit, die Euch geboten wurde, nicht in Frage!
Die Flammen erloschen.
Geht mit hoch erhobenem Haupt, denn Ihr seid nicht mehr alleine.
Ganz in der Nähe duckte sich Nobundos ständiger Beobachter tiefer hinter seinem Versteck. Auch wenn er die Elemente nicht wie Nobundo hören konnte, hatte er die Flammen und ihre tanzenden Bilder gesehen. Es war nicht verwunderlich, dass Nobundo, wenn er in die Augen seinen Beobachter geblickt hätte, völliges Erstaunen gesehen hätte.
In den nächsten beiden Tagen machte sich Nobundo auf seine beschwerliche Reise. Der Wind lag ihm ständig im Rücken und flüsterte ihm ins Ohr. Er erfuhr, dass die Orcschamanen mit den Elementen gesprochen hatten, doch die Verbindung war abgebrochen, als sie sich der teuflischen Magie verschrieben hatten. Er hätte noch mehr erfahren können, doch Nobundo hatte oft Schwierigkeiten, alles zu verstehen. Es war, als ob das Gespräch gefiltert oder gedämpft wurde.
Mehrmals auf seinem Weg meinte er, Schritte irgendwo hinter sich zu hören. Immer wenn er sich umdrehte, hatte er das Gefühl, dass wer oder was auch immer ihm folgte sich im letzten Moment versteckte. Er fragte sich, ob es wohl die Elemente waren. Oder nur ein Hirngespinst.
Als er schließlich an den Lagern der Unberührten ankam, war die Sonne schon längst vom Himmel verschwunden. Dennoch hatten Wachleute sein Näherkommen schon bemerkt. Als er das Gebiet des Lagers erreichte, wurde er bereits von zwei Wächtern erwartet.
„Was wollt Ihr hier?“ fragte der größere der beiden Wächter.
„Ich möchte nur auf dem Weg zum Gebirge passieren.“
Einige Mitglieder des Lagers waren hergekommen und betrachteten Nobundo misstrauisch.
„Wir haben strenge Anweisungen. In den Lagern sind keine Krokul erlaubt. Ihr müsst woanders hingehen.“
„Ich möchte nicht in Eurem Lager bleiben, ich will nur hindurchgehen.“ Nobundo trat einen Schritt nach vorne.
Der größere der Wächter ließ seine Hand hervorschnellen und schob Nobundo zurück. „Ich habe Euch gesagt —“
Plötzlich zerriss ein ohrenbetäubendes Donnern die Luft und wo noch Sekunden zuvor klarer Himmel war, verdunkelten nun schwarze Wolken den Himmel und vergossen sintflutartigen Regen. Der Wind, der Nobundo sanft vorangetrieben hatte, wehte nun mit unfassbarer Stärke und drängte die beiden Wachen zurück. Das Unglaublichste war jedoch, dass der Wind und der peitschende Regen sich um Nobundo herum bewegten und die beiden Wachen bedrängten, die in den feuchten Schlamm fielen.
Nobundo verfolgte die Geschehnisse mit vor Verwunderung aufgerissenen Augen. „Das bedeutet es also“, sinnte er nach, „die Elemente auf seiner Seite zu haben.“ Er lächelte.
Die Mitglieder des Lagers flüchteten Schutz suchend in ihre Höhlen. Die Wachen starrten Nobundo furchterfüllt an. Nobundo ging einfach weiter. Auf seinen Stab gelehnt durchschritt er langsam das Lager, bis er schließlich an den Hügeln angekommen war und die Lagerbewohner geschockt, verängstigt und verwirrt hinter sich zurückließ.
Die Gestalt, die Nobundo gefolgt war, trat aus ihrem Versteck hinter einem der riesigen Pilze hervor. Sie wagte nicht, ihm zu folgen, denn schließlich war auch sie Krokul.
Doch die Geschehnisse, die Akama gerade beobachtet hatte, pflanzten einen Gedanken in ihm. Seit er aus seinem langen Schlaf erwacht war, fühlte er nichts außer Verzweiflung und einer quälenden Angst vor der Zukunft. Doch zu sehen, was dieser Krokul gerade vollbracht hatte, zu sehen, wie die Elemente sich zu seiner Verteidigung erhoben hatten, weckte in Akama ein Gefühl, von dem er lange Zeit geglaubt hatte, dass es für immer erloschen war.
Er fühlte Hoffnung.
Mit dieser neu gewonnenen Hoffnung wandte er sich um und glitt lautlos zurück in die Marschen.
Viele Stunden später und von Müdigkeit geplagt erklomm Nobundo die oberen Bereiche der Berge und erblickte Anzeichen einer frischen, grünen Pflanzenwelt. Wenn seine Schritte durch die Erschöpfung langsamer wurden, schob der Wind ihn vorwärts. Die Erde unter seinen Füßen schien ihm Kraft zu geben. Und auch wenn der Regen weiter fiel, fand kein Tropfen Nobundos Körper. Der Regen sammelte sich in erfrischenden Bächen, an denen Nobundo begierig seinen Durst stillte.
Als er sich den Gipfeln näherte, vernahm er in seinem Geist sich streitende Stimmen: eine tiefe und eindringliche Stimme, gefolgt von dem vertrauten Geräusch des Windes und schließlich das gelegentliche Donnern des Feuers. Die Stimmen schienen chaotisch und gerieten im Versuch, mit ihm zu kommunizieren, durcheinander. Der Missklang in seinem Kopf zwang ihn schließlich anzuhalten. Genug! Ich kann euch nicht alle auf einmal verstehen.
Nobundo sammelte alle Kräfte, die ihm noch zur Verfügung standen, und stieg auf einen Hügel, von dem aus sich ein wundervoller Ausblick auf die grünende Umgebung eröffnete. Vor ihm lag Draenor, wie es einst gewesen war. Fruchtbar und heiter, ein schöner Garten der Zuflucht mit springenden Wasserfällen und voller Leben.
Du musst ihnen vergeben. Es ist schon zu lange her, dass sie den Einfluss eines Schamanen gespürt haben. Sie sind wütend, verwirrt und noch immer verletzt durch die Enttäuschung, die sie hinnehmen mussten.
„Die Katastrophe“, sagte Nobundo, während er weiter in die ruhige Umgebung tauchte. Er kniete sich nieder, trank aus einem kleinen Teich und fühlte sich sofort jünger. Er spürte, wie sein Geist sich öffnete und seine Gedanken eins mit der Umgebung und die Umgebung eins mit ihm wurde.
Die Stimme, die ihm antwortete, war klar und beruhigend und stark und kräftig zugleich. Ja. Ich habe wahrscheinlich am wenigsten darunter gelitten, aber so war es schon immer gewesen. Es ist wichtig, dass ich mich schnell anpassen kann, da ich die Grundlagen des Lebens bieten muss.
„Wasser.“
Er spürte die Bestätigung mehr, als er sie hörte.
Willkommen. Hier in dieser stillen Zuflucht existieren die Elemente im Frieden miteinander, sodass unsere Unterhaltung mit Euch leichter vonstatten gehen wird, vor allem in der ersten Zeit Eurer Reise, bevor Ihr gelernt habt, unsere Absicht ohne Worte zu verstehen. Wahres Wissen und Verständnis wird Jahre benötigen, aber wenn Ihr Euch bemüht, werdet Ihr mit der Zeit in der Lage sein, uns zu rufen … doch niemals uns zu befehlen. Wenn Ihr uns jedoch mit Respekt begegnet und Eure Taten selbstlos bleiben, werden wir Euch nie verlassen.
„Warum habt ihr mich erwählt?“
Die Katastrophe hat uns in Aufruhr und Unsicherheit versetzt. Lange Zeit waren wir verloren. In Euch fanden wir einen verwandten Geist, genauso verwirrt und vernachlässigt. Es hat lange Zeit gedauert, bis wir uns ausreichend erholt hatten, um wieder Kontakt aufnehmen zu können, doch als wir es taten hofften wir, dass Ihr … empfänglich sein würdet.
Für Nobundo schien das alles fast zu schön um wahr zu sein. Aber was war mit dem Licht?Würde er es verraten, wenn er einen neuen Weg einschlug? Würde er ihm den Rücken kehren?War dies eine Prüfung?
Es wäre das Risiko wert, wenn …
„Werde ich diese Fähigkeiten einsetzen können, um meinem Volk zu helfen?“
Ja. Die Verbindung zwischen den Elementen und dem Schamanen basiert auf Geben und Nehmen. Der Einfluss des Schamanen hilft dabei, uns zu beruhigen und zu vereinen, so wie unser Einfluss den Schamanen bereichert und erfüllt. Wenn Ihr Eure Ausbildung abgeschlossen habt, könnt Ihr die Elemente anrufen, wenn Ihr in Not seid. Wenn die Elemente Eure Sache für würdig erachten, werden wir Euch auf jede erdenkliche Weise helfen.
Wahres Verständnis, wie das Wasser es versprach, benötigte Jahre. Doch schon bald begann Nobundo, die Lebensenergien um ihn herum zu verstehen. Er wurde sich mit Begeisterung bewusst, dass jedes existierende Ding, von den größten Tieren Nagrands bis hin zu einem scheinbar unwichtigen Sandkorn, mit Lebensenergie erfüllt war, und dass diese Energien miteinander verbunden und voneinander abhängig waren, ganz gleich, wo sie waren und wie unterschiedlich sie waren. Er konnte diese Energien fühlen, als wären sie ein Teil von ihm, und er verstand nun, dass sie das auch waren.
Die Elemente hielten ihr Versprechen und beschenkten ihn mit Aspekten ihrer Natur. Vom Wasser erhielt er die Klarheit und die Geduld. Zum ersten Mal seit vielen Jahren war sein Geist wieder ungetrübt. Vom Feuer bekam er die Leidenschaft, eine neue Freude am Leben und das Verlangen, alle Hindernisse zu überwinden. Die Erde schenkte ihm Entschlossenheit, einen eisernen Willen und eine unerschütterliche Überzeugung. Vom Wind lernte er Mut, Hartnäckigkeit und wie man trotz aller Steine im Wege immer noch weiter durchhalten konnte.
Und doch gab es eine entscheidende Lektion, die sich ihm entzog. Er konnte spüren, dass die Elemente etwas vor ihm zurückhielten. Etwas, für das er einfach noch nicht bereit war.
Und … die Alpträume blieben. Sie waren zwar etwas schwächer geworden, doch jede Nacht klopfte Nobundo an die Tore von Shattrath, während die Schreie der Sterbenden in seinen Ohren gellten. Und nun, wenn er durch die Tore schritt und beim Feuer stand, wenn die Toten vorwurfsvoll auf ihn zukamen, war Korin unter ihnen.
Er fühlte den beruhigenden Klang des Wassers. Wir spüren, dass Ihr immer noch … zerrissen seid.
„Ja“, antwortete er. „Die Geister derer, die in Shattrath dahingeschieden sind, suchen mich heim. Können mir die Elemente dabei helfen?“
Die Zerrissenheit liegt nicht in den Geistern der Verstorbenen, sondern in Euch. Ihr müsst diesen Zwiespalt alleine lösen.
„Wird dieser innere Kampf mich daran hindern, meine wahre Macht als Schamane zu entdecken?“
Ein Gefühl der Fröhlichkeit ging von den Teichen um ihn herum aus. Von allen Elementen war das Wasser das heiterste. Eure Zerrissenheit spiegelt sich im Himmel über Euch, im Boden unter Euch, in mir und besonders im Feuer wider. Es ist ein Spiegelbild des ewigen Kampfes der Natur, Gleichgewicht zu erreichen und zu bewahren.
Nobundo dachte einen Moment lang nach. „Ganz gleich, wie weit mich meine Reise führen mag … Ich nehme an, dass das wahre Verständnis in dem Wissen liegt, dass die Reise niemals enden wird.“
Gut … sehr gut. Es ist nun an der Zeit, dass Ihr den nächsten Schritt wagt, der vielleicht der wichtigste von allen ist.
„Ich bin bereit.“
Schließt Eure Augen.
Nobundo tat, wie ihm geheißen. Er spürte, wie die Erde unter ihm verschwand und wie die Elemente sich zurückzogen. Eine schreckliche Sekunde lang war sein Geist wieder in Shattrath, verlassen und der Dunkelheit ausgesetzt.
Dann fühlte er … etwas. Etwas, was vollkommen anders war, als die anderen Elemente. In seiner Gegenwart fühlte Nobundo sich sehr, sehr klein. Es fühlte sich riesig an: kalt, aber nicht abweisend. Dann sprach die Präsenz zu ihm mit dem Klang von tausend Stimmen, sowohl männlich als auch weiblich, eine harmonische Sinfonie in ihm und um ihn herum.
Öffnet die Augen.
Nobundo folgte der Aufforderung. Und wieder fühlte er sich klein und unbedeutend, als er auf eine dunkle, unendliche Weite blickte, in der Myriaden von Welten ruhten. Manche wie Draenor, manche große Kugeln aus Eis und Frost, manche mit Wasser bedeckt, manche leblos und brach.
Und plötzlich verstand Nobundo … es schien so einfach, und doch war dieses Konzept Nobundos Geist völlig fremd: es gab unzählige Welten. Soviel wusste er bereits, da sein Volk von Welt zu Welt gereist war, bis es sich auf Draenor niedergelassen hatte. Aber Nobundo hatte nie zuvor verstanden, dass auch die Kraft der Elemente viel weiter reichte. Jede Welt hatte ihre eigenen Elemente und ihre eigenen Kräfte, die sie rufen konnte.
Und es gab noch mehr. Hier draußen in der Leere war ein weiteres Element, das die Welten zu verbinden schien und das aus unaussprechlicher Energie bestand. Wenn er dieses Element rufen könnte – doch er wusste sofort, dass er zu diesem Zeitpunkt zu unerfahren war, um mit dem mysteriösen neuen Element zu kommunizieren. Dies war nur ein flüchtiger Eindruck, ein Geschenk des Verständnisses …
Eine Eingebung.
Velen begutachtete Nobundo mit seinen kristallblauen Augen. Nobundo protestierte, „Sie werden mir nicht zuhören! Ich glaube nicht, dass dies eine gute Idee war.“
Velen schürzte die Lippen. Wie einst gab sein Gesichtsausdruck Nobundo das Gefühl, dass der Prophet sich so vieler Dinge bewusst war, die Nobundos Verstand bei weitem überschritten. „Nach allem, was Ihr durchgemacht habt und nach allen Hindernissen, die Ihr überwunden habt, wollt Ihr nun wirklich aufgeben?“
„Ich kann sie nicht dazu bringen, in mir mehr zu sehen, als einen Krokul, völlig gleich, was ich ihnen beizubringen vermag.“
„Vielleicht liegt das wahre Problem nicht bei ihnen.“
Genau das haben die Elemente gesagt,, dachte Nobundo.
Aus früheren Gesprächen hatte Nobundo gelernt, gar nicht erst zu versuchen zu erraten, was der Prophet dachte. Daher blieb er still und wartete.
Velen fuhr fort, „Ich höre die Schreie in Eurem Geist: die Frauen von Shattrath. Ich weiß von der Last auf Eurem Herzen. Ihr fragt Euch, ob Eure Flucht eine feige Handlung war.“
Nobundo nickte und wurde plötzlich von Gefühlen überwältigt.
„Ein Teil von Euch wusste schon damals, dass Euer Überleben von äußerster Wichtigkeit war, um einem höheren Ziel zu folgen. Und auch wenn Ihr seit dieser Zeit so viele Prüfungen bestehen musstet, habt Ihr nie aufgegeben. Daher habe ich Euch erwählt. Daher haben die Elemente Euch erwählt. Unser Volk nennt Euch Krokul, Zerschlagene. Ich glaube jedoch, dass Ihr für uns die größte Hoffnung bedeuten könntet.“
Velen legte sanft seine Hand auf Nobundos Schulter. „Lasst sie gehen. Lasst die Schreie verklingen.“
Es war wahr. Er war kein Feigling. Ein Teil von ihm hatte es die ganze Zeit gewusst, doch im Laufe der Geschehnisse seit damals war dieser Teil völlig verloren gegangen. Nobundo seufzte tief. Und irgendwie wusste er schon jetzt, dass ihn heute Nacht, wenn er sich schlafen legte, kein Alptraum erwarten würde. Er spürte ein Gefühl der Freude von den Elementen, als wären sie … stolz.
Velen lächelte. „Und nun tut uns allen einen Gefallen und geht. Geht und erfüllt Euer Schicksal.“
Nobundo kehrte auf die Terrasse zurück. Die versammelten Draenei unterhielten sich miteinander und schenkten der schwächlichen Gestalt über ihnen keinerlei Beachtung.
Er hob seinen Stab. Wolken zogen am blauen Himmel auf und warfen dunkle Schatten auf die Siedlung. Die Gespräche der Draenei verstummten.
Nobundo fing an zu sprechen, und seine Stimme hallte durch die Marschen. „Schaut zu und lauscht.“
Regen ergoss sich in Strömen vom Himmel. Blitze tanzten zwischen den Lampen um den Platz herum, hin und her und zertrümmerten das Glas. Die versammelten Draenei bestaunten das Spektakel mit offenem Mund.
„Ihr seid hergekommen, um zu lernen. Um eines Tages diese Kräfte zu beherrschen: die Kräfte eines Schamanen.“
„Aber Schamanismus ist ein Brauch der Orcs!“ rief jemand aus dem Publikum. Andere schlossen sich den Rufen an.
„Ja. Ein Brauch, den sie zugunsten der dämonischen Magie aufgegeben haben. Nun werden wir den Weg des Schamanismus gehen, einen Weg, der uns in eine Zukunft führen wird, in der niemand unsere Frauen tötet …“
Nobundo unterbrach sich und bemühte sich, seine Stimme ruhig zu halten.
„Oder unsere Kinder. Wo die Krokul und die Unberührten zusammen an der Verwirklichung eines Traums unseres Volkes arbeiten, der vor langer Zeit in Vergessenheit geraten ist: wahre Freiheit.“
Die Mitglieder der Versammlung schauten sich an und suchten im Gesicht der anderen nach Zustimmung oder Ablehnung. Schließlich kamen sie alle zum gleichen Schluss: Sie würden zuhören.
„Eure Reise beginnt mit diesen einfachen Worten …“
Nobundo lächelte. Die Wolken am Himmel wirbelten umher. Die Blitze zuckten. Der Regen fiel.
„Alles, was existiert, lebt.“